Der moderne Tod - eine Negativ-Utopie von Carl-Henning Wijkmark
Heldenhaft sterben fürs ökonomische Gemeinwohl
von Otto Paul Burkhardt
Karlsruhe, 28. November 2007. Wie bei einer Tagung: Jeder Theaterbesucher bekommt ein "Gast"-Schild zum Anstecken. Man sitzt in kommunikativer Karree-Anordnung. An jedem Platz: ein Mineralwasser und eine Broschüre des Sozialministeriums "Mehr Ältere, weniger Junge." Ein Symposium? Offenbar, denn von einem solchen handelt Carl-Henning Wijkmarks "Der moderne Tod".
Der schwedische Autor (Jahrgang 1934) hat das Szenario bereits 1978 entworfen: So genannte "Experten" diskutieren einen ökonomisch sinnvollen Weg aus der "Überalterung" der Gesellschaft. Hört sich zunächst harmlos an. Doch nach etlichen Vorreden lassen Wijkmarks Fachleute die Katze aus dem Sack: Sie fordern eine endgültige Lösung", mit der man "Altenexplosion" und Pflegekosten in den Griff bekommen könnte - ein Gesetz, wonach alle Menschen ab 70 per Giftcocktail sterben sollen. Der Horror hat elegante Namen: "Demokratischer Tod" oder "freiwilliges Obligatorium".
Man muss nur genügend Werbung machen für den Tod
Zur Entstehungszeit vor rund 30 Jahren schien Wijkmarks Negativ-Utopie noch weit, weit weg zu liegen. Heute ist diese Vision bedrohlich gegenwärtig geworden angesichts des Sterbetourismus-Stroms in die Schweiz und die Niederlande und vor dem Hintergrund einer regen Sterbehilfe-Debatte. Die Idee eines "selbstbestimmten" Sterbens fürs Gemeinwohl (einer Art Heldentod) liegt gar nicht mehr so weit weg vom "sozialverträglichen Frühableben", jenem Diktum des Ärztekammer-Präsidenten, das 1998 zum "Unwort des Jahres" gekürt wurde.
Regisseur Donald Berkenhoff präsentiert in Karlsruhe ein behutsames Text-Update, bezieht den aktuellen Diskussionsstand en passant mit ein. Er schafft auf der Probebühne im Staatstheater Round-Table-Atmosphäre, denn ohne diese Integration des Publikums wäre, womöglich ferngerückt auf einem Bühnenpodest, nur papiernes, ödes Diskutier-Theater daraus enstanden. So aber, als Quasi-Teilnehmer, lauscht man den Ausführungen der im Publikum verteilten Experten, betrachtet per Overhead-Projektor diverse Altersdiagramme und prägt sich per Flipchart Begriffe wie den "Gesellschafts-Wert" von Menschen ein.
Überzeugende, entlarvende Regie sozialbürokratischer Sprechweisen
Berkenhoffs Regie dämonisiert und moralisiert nicht, sondern arbeitet subtil entlarvend: In scheinbar hochzivilisierter Debatte werden die wahnwitzigsten Gerontozid-Forderungen erwogen. Jochen Neupert moderiert die Runde als Sprecher von "Dellem", einer "Projektgruppe des Sozialministeriums", ebenso lässig wie clever - wer nicht genau aufpasst, überhört fast, dass dieser eiskalte Smartie von "immer höheren Lagerkosten" alter Menschen faselt und den Pflichttod als "positive Populationsregelung" schönredet.
Für notorische Skeptiker, die sich an die Euthanasie "unwerten Lebens" im Nazi-Regime erinnert sehen, hat er flugs eine passende Beschwichtigungsfloskel parat: "Wir von Dellem haben Hitler nicht vergessen, wir planen keinen Massenmord." Stefan Viering, rhetorisch mindestens ebenso aalglatt, gibt den eifrigen Vertreter eines obskuren "Instituts für medizinische Ethik": Das "humane Selektionsproblem" sei doch längst Realität, sagt er - schon heute habe, etwa bei Operationsengpässen, ein 45-jähriger "Familienversorger" doch Vorrang vor einer alleinstehenden 20-jährigen Pianistin, oder?
Rückgewinnung der Toten im industriellen Recycling
Ein Alibi-Pfarrer (Hannsjörg Schuster) scheint nur aus konferenzkosmetischen Gründen eingeladen zu sein: Er darf höchstens Luther-Zitate erläutern oder zur Diaprojektion das Saallicht löschen. Allein der Journalist Axel Rönning (Thomas Birnstiel) spricht sich wortreich, aber kühl gegen das "Reformprojekt" staatlicher Zwangssterbehilfe aus. Doch falls keine Mehrheit für die kollektive Selbstentsorgung ab 70 zustande kommen sollte, hat Eva Derleder als engagierte Anatomie-Expertin einen Plan B parat - die "Rückgewinnung" von Toten, das gewinnbringende, industrielle Recycling von Körperteilen und -substanzen. Eine starke Inszenierung, vordergründig unspektakulär zwar, aber dafür subkutan umso wirkungsvoller.
Der moderne Tod
von Carl-Henning Wijkmark
Aus dem Schwedischen von Hildegard Bergfeld
Regie: Donald Berkenhoff.
Mit: Jochen Neupert, Stefan Viering, Hannsjörg Schuster, Thomas Birnstiel, Eva Derleder.
www.staatstheater.karlsruhe.de
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