Knall. Peng. Tot.

von Petra Hallmayer

München, 16. November 2012. Es konnte jeden jederzeit treffen, an der Tankstelle, beim Rasenmähen, beim Einkaufen. 2002 versetzten John Allen Muhammad und Lee Boyd Malvo, die wahllos Menschen erschossen, Amerika wochenlang in Panik und entfachten ein mediales Dauerfeuerwerk. "Call me God" war auf einer Tarotkarte zu lesen, die sie nach einem Mord zurückließen. So lautet auch der Titel einer ehrgeizigen deutsch-italienischen Koproduktion, die nun im Marstall Premiere feierte.

CallMeGod2 hoch HansJoergMichel uLass mich Dein Todesengel sein: Thomas Gräßle und Genija Rykova © Hans-Jörg MichelEin Autorenteam, bestehend aus dem Italiener Gian Maria Cervo, dem Argentinier Rafael Spregelburd, Albert Ostermaier und Marius von Mayenburg, der zudem Regie führte, hat rund um den Fall der Beltway Sniper Attacks ein Bühnenstück gestrickt. Welche Passagen von wem stammen, lässt sich dabei nur erahnen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Realsatiren, Dokudrama, abgedrehter Fiktion, Krankenhausserien- und Krimiparodien und schrillem Kabaretttheater, die mit dem eitel geschwätzigen Monolog eines Intellektuellen beginnt, der mit feuilletonistischer Chuzpe über Kunst und Terror sinniert.

Der Zynismus medialer Inszenierungen

Vier Schauspieler leihen Dutzenden von Figuren ihre Stimme, sprechen für Polizisten, Vollzugsbeamte, Täter und Opfer. Kinogroße Videoprojektionen zeigen die Tatorte mit eingeblendeten Namen, vor denen Karikaturen von Durchschnittsamerikanern ihre Geschichte erzählen, ehe die Kugel sie trifft, sie knallpeng zu Boden sinken, während sich ein roter Fleck über dem Bild im Hintergrund ausbreitet.

Das kann man zynisch und obszön finden. Allein worum es hier geht, ist nicht das reale menschliche Leid, sondern der Zynismus seiner medialen Inszenierung und kommerziellen Ausbeutung. "Call me God" zeichnet mit knalligen Strichen eine kaputte Gesellschaft, führt das alle Schreckensmeldungen und Katastrophen begleitende TV-Theater mit Sprechblasen-Experten, eine schamlos publicitysüchtige Öffentlichkeit vor. Jeder will ein Stück vom großen Kuchen der Vermarktung abbekommen.

Konsenssichere Kritik

All die Ärzte, Angehörigen, Zeugen und Zaungäste haben flugs Bücher geschrieben mit Titeln wie "Auge in Auge mit dem Monster" oder "Sechs Minuten – Liebe ist schneller als der Tod", die sie zwischen Tränen und Betroffenheitspathos bewerben. Schöne, böse Einfälle wie diesen Running Gag gibt es einige, ebenso allerdings auch reichlich konsenssichere und plakative Amerika-Kritik. Mit dummdreister Weltmachtsarroganz erklärt uns eine Frau, Amerikaner müssten keine Angst haben, weil diese große Nation, die "Kartoffelchips, Toilettenpapier und den elektrischen Stuhl" erfunden hat, alles niederbombt, was sie bedroht.

Die CIA missbraucht die Serienkiller als Deckmantel und Alibi, um unliebsame Objekte zu eliminieren, völlig unschuldige Bürger zu zu ermorden. Und wenn superdämliche farbenblinde Cops versehentlich statt des gesuchten schwarzen Jugendlichen einen weißen Mann verhaften und blutig prügeln, dann geht das eigentlich nur mehr im Schmierenkabarett durch. Auch auf den Auftritt des megatrotteligen Riesenbabys Georg W. Bush unter Obhut von Condoleezza Rice hätten wir gern verzichtet. Im Theater darf man mehr erwarten, als die Bestätigung seiner eigenen Klischees.

callmegod 560 hansjoergmichel.ujpgEin OP-Grusel-Comedy-Moment  © Hans Jörg Michel

Am besten ist Mayenburgs Inszenierung dort, wo sie radikal in den Aberwitz abhebt, wenn etwa eine CIA-Agentin ein völlig verrücktes Bedrohungsmärchen rund um eine rote Insel spinnt oder die zuckersüßen Säuseleien einer Popsängerin die Wirkung von brutalen Stromschlägen entfalten. Katrin Röver, Genija Rykova, Thomas Gräßle und Lukas Turtur toben mit fantastischem Spielwitz durch den Irrsinn, meistern souverän die beständigen Rollenwechsel. Diesem jungen Ensemble zuzusehen, macht einfach Spaß.

Rotstift verzweifelt gesucht

Oft aber verzettelt sich der kollektive Patchwork-Text. Vielleicht ist es ja schwierig, bei solch einem demokratischen Gemeinschaftsprojekt, dessen unabhängig voneinander entstandenen Teile später zusammengeheftet wurden, zu kürzen und zu strukturieren. OP-Gruselcomedy-Momente, in denen das Blut spritzt, und herrliche Pointengewitter stehen im Marstall neben langatmigen Verbrecherjagdpassagen. Irgendjemand hätte den Rotstift ansetzen müssen bei den ausufernden Kino- und Krimianleihen, dem Endlos-Monolog einer hysterischen Mutter, den Versatzstücken aus Medienberichten. Ausführlich kriegen wir schließlich in fernsehspielbiederen Szenen die Eheprobleme und die möglichen, nie eindeutig geklärten Motive der Täter erläutert. So zieht sich der Abend am Ende ziemlich, den man sich immer wieder straffer und konzentrierter pointiert gewünscht hätte.

 

Call me God
von Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Rafael Spregelburd.
Regie: Marius von Mayenburg, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Malte Beckenbach, Licht: Uwe Grünewald, Video: Sebastien Dupouey, Dramaturgie: Laura Olivi.
Mit: Katrin Röver, Genija Rykova, Thomas Grässle, Lukas Turtur.

www.teatrodiroma.net
http://romaeuropa.net
www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Mayenburgs Aufführung beweise "mit beeindruckender Souveränität, dass Theater cooler sein kann als Kino", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (19.11.2012). Das passiere selten, "doch wenn, dann ist es wunderbar." Mit den "vier fabelhaften Darstellern" sei "an diesem Abend alles möglich, wird manche Länge wie ein Prolog über Cy Twombly spielerisch nivelliert. Medienschelte mittels erlesenem Videoeinsatz steht neben einem Krimi wie von den Coen-Brüdern, eine brillant inszenierte Notoperation in schönstem Splatter-Stil zu Klängen von Prokofjew wird neben eine abgedrehte Striptease-Persiflage von Frau Röver gestellt." Die Aufführung sei "so sexy wie lustig", alles sei "so prägnant, dass man trotz der Rasanz der Aufführung nie im Geschling der Stränge verloren geht." In der Überhöhung der Farce liege "ein Erkenntniswert, den so und so unmittelbar wohl nur das Theater bieten kann."

Was "Call me God" wage, sei, "sich gerade nicht in den Betroffenheitsmodus zu begeben und eben keine Kerze neben den Opfern aufzustellen. Im Gegenteil: im Münchner Marstall werden eher Witzfiguren aus ihrer heilen Mittelstandskitschwelt gerissen", sagt Sven Ricklefs auf Deutschlandfunk (18.11.2012). Es scheine bei dem montierten Text nicht wirklich wichtig, "welcher Text von welchem Autor stammt, wichtig ist, dass eine Art Kaleidoskop entstanden ist. Zugleich ermöglicht die Montage auch den schnellen Rhythmus dieser Uraufführungsinszenierung." Trotzdem verliere man "im Laufe der Zeit das Interesse an dem Stück", was vielleicht daran liege, dass es sich zu oft bestimmter Klischees bediene, "bewusst zwar, aber in der Häufung nutzen sich sexy Agentinnen, tumbe Polizisten, erbarmungswürdige Bürger und coole FBIler irgendwann ab." Die Aufführung sei über weite Strecken "well made, aber eben noch nicht well done".

Der Text verlange "das ambitionierte Kunststück, dokumentarisches Schauspiel und Mediensatire gleichzeitig zu spielen", meint Mathias Hejny in der Abendzeitung München (19.11.2012). Von Mayenburg lasse "die Szenen unterschiedlos als eine Art Vaudeville-Comedy-Splatter-Revue mit Slapstick in der Todeszelle spielen." Das gelinge "eher aufgeregt als aufregend", es werde "viel überillustriert".

Teresa Grenzmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.11.2012): "Bitter und böse, pointiert parodistisch und auch ein bisschen poetisch" seien die Variationen, die die vier Dramatiker zehn Jahre nach den "Beltway Sniper Attacks" geschrieben haben. Ihre Motivation: "Der mediale Sensationstourismus kocht unverändert, der politische Konflikt zwischen gemeinschaftlicher Sicherheit und Freiheit des Einzelnen ist allgegenwärtig". Die ironische Distanz, aus der Regisseur von Mayenburg mit den vier Schauspielern "etliche schöne Momente zwischen Naivität, Abgebrühtheit und Bosheitsfaszination" in den "absurden Wahnsinn" schnippe, mache diesen "besonderen Theaterabend" aus. Die Zeit vergehe meistenteils "recht flott", fließe jedoch zäh, wenn die Texte in "aberwitzige Verschwörungstheorien um versunkene rote Inseln" abdrifteten oder ernsthaft versuchten Täterprofile von Terroristen zu rekonstruieren.

 

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