Emotional, europäisch, jung

von Alexander Kohlmann

Braunschweig, 17. November 2012. Ein europäisches Festival der jungen Regie. Das Fast Forward-Festival in Braunschweig hat den Anspruch, eine Lücke zu schließen. Während landauf, landab zum Beispiel beim Körber-Studio in Hamburg Regiestudenten und Nachwuchsregisseure der üblichen Institutionen zusammenkommen und innerhalb der immer gleichen Diskursgemeinschaft verhandeln, welche neuesten ästhetischen Verwerfungen gerade in sind, wagt Fast Forward ganz bewusst den Blick über den Tellerrand. Den Blick auf Länder mit "unterschiedlichen Theatertraditionen", wie es bereits im Vorwort heißt.

Ein Blick, der allerdings mit Kuratorin Barbara Engelhardt steht und fällt, die auch in der zweiten Ausgabe wieder alleinverantwortlich acht Produktionen aus sechs Ländern eingeladen hat. Immerhin hat die Fachjury, zu der neben dem Intendanten des Braunschweiger Staatstheaters Joachim Klement auch der nachtkritik-Redakteur Christian Rakow, die Dramaturgin Beatrix Bühler und der italienische Regisseur Paolo Magelli gehören, einen wirklich attraktiven, im Falle Klements auch mutigen Hauptpreis zu vergeben. Es winkt eine Inszenierung am Braunschweiger Staatstheater in der kommenden Spielzeit. Und wohin so etwas führen kann, war vor einem Jahr bereits in Jonas Corell Petersens versifftem "Othello"-Abend zu sehen, mit dem leider die Euphorie nach der ersten Ausgabe ein vorläufiges Ende fand. Schön, dass man trotzdem an der Freikarte festhält, die auch dem Gewinner dieser Ausgabe wieder winkt.

fastforward korijolanusz 280h  danielborovi u"Korijolanusz" im Postkommunismus
© Dániel Borovi
Postkommunistischer Schick

"Unterschiedliche Theatertraditionen", wie die aussehen können, war bereits am Auftaktabend eindrucksvoll zu beobachten. Der ungarische Regisseur Csaba Polgár (Jahrgang 1982) schreibt zwar brav "nach William Shakespeare" über seine "Korijolánusz"–Inszenierung, aber diese Distanzierung vom Originaltext ist für unsere Verhältnisse eine bloße Behauptung. Sicher, der Bühnenraum ist eine Art postkommunistisches Büro mit alten DDR-Sesseln und Neonlampen und die Plebejer tragen Jogging-Schlabberklamotten, während die Patrizier im Anzug daherkommen.

Aber die Aktualisierungen sind nur Oberfläche, während die Struktur von Shakespeares Text unangetastet bleibt. Schauspieler spielen, ohne ein einziges Mal aus ihren Figuren zu fallen, und lassen so ganz unaufgeregt und klug Shakespeares Politthriller entstehen, der, auch wenn alle Darsteller Togen trügen, uns in dieser ganz auf die Schauspielführung konzentrierten Inszenierung ebenso erreichen würde wie in diesem durchaus schlüssigen Nachwende-Set.

Israelische Fahne auf Halbmast

Mit großem Ernst kommt auch die Performance "Jérusalem Plomb Durci" des israelisch-französische Duos "Winter Family" daher, ein Abend, den die junge Ruth Rosenthal alleine auf einer fast leeren Bühne vor einer Videoleinwand bestreitet. Einen Fahnenmast gibt es, mit der Fahne des Staates Israel auf Halbmast, und viele kleine und große Lautsprecherboxen. Als "eine halluzinierte Reise in eine Gefühlsdiktatur" beschreibt das Duo seine erste gemeinsame Bühnenarbeit, die in den folgenden 60 Minuten das Zerrbild einer angeblich militarisierten israelischen Gesellschaft zeigt. "Mit der Schule sind wir bei Ausflügen oft durch Orte gefahren, in denen der Lehrer sagte, früher hatten sie einen arabischen Namen. Warum hat er nicht gesagt. Und wir haben nie gefragt", erzählt Rosenthal eine Erinnerung an ihre Schulzeit. Im Hintergrund wird eine morgendliche Gedenkstunde zur Shoa eingeblendet, bei der sie sich wie viele andere nur das Lachen habe verkneifen können, indem sie die Zahl sechs Millionen immer wieder innerlich wiederholt habe.

Es folgen militärische Übungen, junge Menschen im Gleichschritt, und auch die zierliche Rosenthal marschiert jetzt in ihrem Kleid zackig über die Bühne und zertrampelt dabei eine Reihe Plastiksoldaten, die sie aufgestellt hat, um einen von Israels angeblichen Angriffskriegen nachzuspielen. Wie bei jeder Halluzination bleibt unklar, was dieses Zerrbild eines Staates in einem andauernden Bedrohungszustand mit der Realität zu tun hat, wie viele dieser audiovisuellen Erinnerungen tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen.

fastforward jerusalem 560 matthieuvirot u"Jerusalem"- Spielerin Ruth Rosenthal von "Winter Family"  © Matthieu Virot

Um die radikale Subjektivität aufzubrechen, hat "Winter Family" als vermeintlich objektiven Gegenpol Resolutionen des UN-Sicherheitsrates eingebaut, die von den 40er Jahren bis in unsere Gegenwart ausschließlich Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverstöße israelischer Soldaten anprangern. Diese Textprojektionen sind ganz sicher keine Halluzinationen, sondern eine Realität. Sie zeigen zunächst einmal, dass Gut und Böse in jedem Krieg verschwimmen und die moralische Überlegenheit auch durch eingeblendete Fernsehshows nicht gerettet werden kann. Ein berührendes Seelenbild, das vor allem durch seinen radikal-persönlichen Zugriff packt. Und vielleicht gerade deshalb so intensiv ist, weil es aus einem Land kommt, das sich im permanenten Ausnahmezustand befindet, in einer unerträglichen Spannung seit Jahrzehnten, die sich an diesem Abend auch in der Kunst wiederfindet.

Ein Videoabend mit Peter Brook

Radikal subjektiv ist auch der Zugriff des niederländisch-indischen Duos Marjolijn van Heemstra und Satchit Nikhil Puranik auf ein indisches Nationalheiligtum, genauer die ganz persönliche Verarbeitung eines besonderen Videoabends. Auf grünem Sofa unter einem Glühbirnenhimmel lassen sie uns daran Teil haben, wie sie gemeinsam Peter Brooks Verfilmung des "Mahabharata" sahen und sich dachten, man müsste sie doch einmal wiederbeleben, diese große interkulturelle Utopie der Menschlichkeit, die fortan Kriege und Gewalt verhindern könnte.

fastforward mahabharata 560 annavankooij uPeter Brook sehen und sterben: "Mahabharata" © Anna van Kooij
Der ganze Abend käme grenzenlos infantil und idealistisch daher, wenn da nicht von Beginn an noch eine andere Ebene wäre, eine ironische Distanz, die beide Performer zu ihrer eigenen (?) Geschichte einnehmen, etwa wenn sie in fünf Minuten in indischen Kostümen Peter Brooks siebenstündiges Epos nacherzählen. Und wenn nicht jenseits dieser Ironie noch eine andere Verbindung, vielleicht sogar eine Romanze, immer deutlicher zu spüren wäre. Worin die tiefere Ursache der gemeinsamen Weltenflucht in das "Mahabharata" bestehen, kommt nur kurz an die Oberfläche.

Berührendes Kammerspiel

Beide Protagonisten sind einem Mordanschlag nur knapp entkommen und suchen von dieser existentiellen Erfahrung menschlicher Abgründe Linderung, zunächst in Brooks Film und später in einer fast bedingungslosen Hingabe an das "Mahabharata". Zum Schluss zitieren sie nochmal Brook, der zu ihrer Enttäuschung einmal sinngemäß gesagt hat, "man kann mit einem Film nicht die Welt verändern". "Macht aber nichts", entgegnet Satchit Nikhil Puranik, die Auseinandersetzung mit Brooks Film und dem "Mahabharata" "hat uns verändert". Ein vor allem durch das entwaffnend ehrliche Spiel der Performer berührendes Kammerspiel ist das, das so privat erscheint, dass man gar nicht genau wissen will, was von dem Geschehen auf der Bühne tatsächlich der Wirklichkeit entspricht. Und ein symptomatischer Abend für diesen Festivalauftakt, an dem weniger ästhetische Diskurse, sondern vielmehr emotionale Teilnahme bei den gesehenen Abenden im Vordergrund standen.

 

Fast Forward
Europäisches Festival für junge Regie

Korijolánusz (Coriolanus)
nach William Shakespeare
Ungarisch mit deutschen Übertiteln
Inszenierung: Csaba Polgár, Bühne und Kostüme: Dániel Borovi, Lili Izsák, Licht und Ton: János Rembeczki, Musikalische Leitung: Tamás Matkó.
Mit: Imre Baksa, Richárd Barabás, Diána Drága, Zoltan Friedenthal, Tamás Herczeg, Péter Jankovics, Diána Magdolna Kiss, Zsolt Máthé, Támas Milán Schruff, Katalin Szilágyi, Nóra Diána Takács, Sándor Terhes.
Länge: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

http://hoppart.hu


Jérusalem Plomb Durci
(Jerusalem, gegossenes Blei)
von Winter Family (Ruth Rosenthal, Xavier Klaine)
Französisch mit deutschen Übertiteln
Konzept und Regie: Winter Family, Bühne: Winter Family, Ton: Xavier Klaine, Video: Xavier Klaine, Licht: Julienne Rochereau.
Mit: Ruth Rosenthal
Länge: 1 Stunde, keine Pause.

www.winterfamily.info


Mahabharata

von Marjolijn van Heemstra
Niederländisch mit deutschen Übertiteln
Konzept und Regie: Marjolijn van Heemstra, Bühne: Ramses van den Hurk, Licht: Ramses van den Hurk, Ton: Roald van Oosten, Dramaturgie: Willem de Wolf.
Mit: Marjolijn van Heemstra, Satchit Nikhil Puranik.
Länge: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

www.theaterfrascati.nl
www.staatstheater-braunschweig.de

 

Das Siegerstück Magnificat der polnischen Regisseurin Marta Górnicka wurde in der zweiten Hälfte des Festivals gezeigt. 

 

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Alle Texte des Niedersachsenschwerpunkts in dieser Spielzeit hier.

 

Kritikenrundschau

"Marta Górnicka und zwei Dutzend Chorfrauen an ihrer Seite beglaubigten beispielhaft wie niemand sonst beim Festival die überwältigende Kraft einer klugen Idee im Einklang mit den ursprünglichsten Energien des Theaters", schreibt Michael Laages in der Welt (23.11.2012). In scharf akzentuierten Sprechchören gelange sie von der Abtreibungsdebatte über Kochrezepte bis zum Hohelied Salomos. Und noch eine osteuropäische Produktion bewies außergewöhnliche Klasse: "Korijolánusz", eine Shakespeare-Bearbeitung vom Ungarn Csaba Polgár, der die Fabel des Klassikers rotzfrech in die ungarische Nachwendewirklichkeit versetze. "Aber Vorsicht – zwar nimmt Polgár das Ungarn von heute ins Visier, doch befragt er jenseits der eigenen Heimat auch generell die Demokratietauglichkeit moderner Gesellschaften." Das Festival unter dem ideellen Dach der European Theatre Convention (ETC) nehme den allgegenwärtigen Schnelldurchlauf ins Visier, dem sich junge Regietalente europaweit ausgesetzt sehen – kaum der Hochschulausbildung entronnen, müssen sie funktionieren auf einem Markt, der Talente bekanntlich eher verschleiße als fördere. "Anders als das ähnlich motivierte Körber Studio Junge Regie in Hamburg, öffnet das Braunschweiger Festival den europäischen Horizont und will mithelfen, den Übergang zu bewältigen, und auf Dauer ein Netzwerk entwickeln, das den Theatergrößen von morgen den Boden bereitet."

"An sich qualitätvoll" fand Andreas Berger das Festival, der in der Braunschweiger Zeitung (19.11.2012) einen Überblick gibt. Gegenüber den deutschen Regie-Schulen erwiesen sich die auf nicht staatlich subventionierten Wegen auf die Bühne drängenden Teams der Nachbarländer performativ stärker. "Sie sind es offenbar gewöhnt, sich zu behaupten." Weder große Stücke noch großer Aufwand seien ihnen möglich, aber ihre Nische besetzten sie oft einfallsreich. Die deutschen Arbeiten sieht Berger dagegen in der "Performance-Falle". An der Gewinnerarbeit von Marta Górnicka lobt er "die Vereinbarkeit mit einem Staatstheatersystem, das große Stoffe umsetzen will".

 

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