Vom Tod des Autors

von Kai Krösche

Wien, 21. November 2012: Sich selbst sterben zu sehen, ist eine Erfahrung, die in Alpträumen und Nahtoderlebnissen begegnet – sich selbst sterben zu lassen, jedenfalls einmal fiktiv, ist hingegen der geniale Kniff, den sich der französische Schriftsteller Michel Houellebecq für seinem 2010 erschienen Roman, "Karte und Gebiet" einfallen ließ. Houellebecq erzählt darin beinahe die gesamte Lebensgeschichte des Künstlers Jed Martin, der mit fotografischen Aufnahmen von Michelin-Landkarten sowie später einer Serie von Gemälden "einfacher Berufe" zu internationalem Ruhm und Reichtum gelangt.

Auf seinem Lebensweg begleiten ihn sein Vater, die schöne Russin und Michelin-Mitarbeiterin Olga, sein Galerist sowie, zumindest für ein paar kurze, aber intensive Treffen: Michel Houellebecq, der Schriftsteller. Dass die aufkeimende Freundschaft nur kurz anhält, liegt an dem bestialischen Mord, dem Houellebecq und sein Hund recht bald zum Opfer fallen. Doch "Karte und Gebiet" macht nur einen kurzen Ausflug ins Krimigenre: Am Ende bleibt der Roman eine äußerst zarte, bewegende und dennoch humorvolle Geschichte über Vergänglichkeit, über Kunstmarkt und Künstler, schließlich über die Liebe: zu den eigenen Eltern, zu einem Partner, zur Kunst.

KarteundGebiet2 560 YasminaHaddad uAutorenkopf: Alexander Simon im Videoscreen, darunter: Florian Carove. © Yasmina Haddad

Weltanschauung unsentimental

Für die dramatische Adaption des 400 Seiten schweren Romans auf der Bühne der Wiener GARAGE X setzt Regisseur Ali M. Abdullah auf eine radikale Verknappung: In zweieinhalb Stunden ist der Abend erzählt, sind wir durch ein ganzes Künstlerleben gereist. Dass dabei dennoch keiner der wichtigsten Handlungsstränge auf der Strecke bleibt, ist der klugen und bedacht auswählenden Textfassung zu verdanken: Houellebecqs sprachlich schnörkelloser, dabei zugleich an bestimmten Stellen sich bewusst im Weltanschaulichen verlierender Stil wurde hier nicht einfach kopiert, sondern durch einen leichten, humorvollen Ton bühnentauglich gemacht.

Zwar laufen die Figuren dann und wann Gefahr, zu "talking heads" zu werden, vor allem in Augenblicken, in denen ihnen allzu philosophische Gedanken, die im Buch teils lange Absätze einnehmen, in den Mund gelegt werden. Die meiste Zeit jedoch gelingt die Gratwanderung, direkte Sprache mit Gedanken des Protagonisten sowie Kommentaren des namenlos bleibenden Erzählers in Dialogform sprechen zu lassen. Das zeugt von einem großen Gespür dafür, was auf der Bühne funktioniert und was nicht – und vermeidet vor allem die Gefahr des Abdriftens ins Sentimentale.

Unterm singenden klingenden Weihnachtsbaum

So gerät das weihnachtliche Abschiedsessen zwischen Jed und seinem krebskranken Vater zum kleinen Glücksfall, indem das Gespräch über den Selbstmord der Mutter, die Krankheit des Vaters und dessen verpasste berufliche Chancen immer wieder durchbrochen wird von der (wahrlich kuriosen!) Absurdität eines singenden Weihnachtsbaums mit beweglichen Augen und Mund. Am Anfang lachen Jed und sein Vater noch über die kitschige Dekoration mit scheinbarem Eigenleben. Mit zunehmender Ernsthaftigkeit und Tiefe des Gesprächs werden sie immer genervter, wenn der Baum zum x-ten Male Weihnachtslieder trällert und lautstark ein "Happy New Year" wünscht.

Ein ebensolches Kunststück liegt im Treffen zwischen Houellebecq und Jed: Während der reale Houellebecq in "Karte und Gebiet" das sehr düstere und traurige Bild eines einsamen, verschrobenen Alkoholikers zeichnete, gelingt dem Schauspieler Alexander Simon eine überspitzte, beinahe virtuose, aber völlig berechtigte Darstellung des Autors. Er schafft den Spagat, einen ironischen Abstand zur Rolle zu wahren und dabei trotzdem eine lebendige, bewegende Figur zu schaffen; er zeichnet einen am Leben leidenden Autisten, um im nächsten Augenblick den scharfsinnigen und feinfühligen Künstler zu geben – und wird auf diese Weise, ohne die anderen Akteure an die Wand zu spielen, gewissermaßen zum Star des Abends.

karteundgebiet 560 yasmina haddadWo die Musik spielt: Alexander Simon, Aylin Esener, Dennis Cubic und Florian Kmet.
© Yasmina Haddad

Französische Musikalität

Der gekonnte Einsatz von Gesang und E-Gitarren-Livemusik verhindert nicht nur jegliche Längen, sondern bringt ebenso den leichten und dabei dennoch sanft-melancholischen Grundton des Romans zum Ausdruck. Unter den ausschließlich französischen Liedern sind auch die im Roman erwähnten Songs. Wenn am Ende die Darsteller gemeinsam den Refrain des französischen Schlagers "Salut les amoureux" anstimmen – ein Moment, der in seiner Schönheit an die leisen Augenblicke bei Christoph Marthaler erinnert –, dann leistet sich der Abend schließlich doch einmal eine Sentimentalität, die er vorher bewusst vermied.

Doch hier am Ende ist diese Sentimentalität genau richtig. Durch die Auslassung der letzten Zeile des Refrains – "Aux adieux qui quelque fois se passent un peu trop bien" (dt. "An die Abschiede, die manchmal ein wenig zu gut verlaufen") – entsteht am Ende des gefühlvollen, aber nie gefühligen Abends eine Leerstelle, die schrecklich und wunderschön zugleich ist. "Ich will ganz einfach die Welt darstellen" steht in großen Lettern über der Bühne – ein bisschen (und dieses "Bisschen" ist eine ganze Menge) ist es Abdullah und seinem Team an diesem Abend gelungen.

Karte und Gebiet (ÖEA)
nach Michel Houellebecq
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Für die Bühne bearbeitet von Ali M. Abdullah und Hanna Lioba Egenolf

Regie: Ali M. Abdullah, Bühne/Kostüme: Renato Uz, Musik: Florian Kmet, Dramaturgie: Hannah Lioba Egenolf, Mitarbeit: Anna Schober.
Mit: Aylin Esener, Florian Carove, Dennis Cubic, Horst Heiss, Alexander Simon und Florian Kmet.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

Eine Produktion der GARAGE X in Koproduktion mit der ARGEkultur Salzburg

www.garage-x.at


Kritikenrundschau

In der Presse schreibt Thomas Kramar (23.11.2102) unter der Überschrift "So lässt sich Houellebecq nicht inszenieren": Man erlebe viel "Klamauktheater", "etliche Matratzenstürze, einen singenden Weihnachtsbaum, viel verschütteten Kaffee". "Ob das Stück einem gefallen könnte, der den Roman nicht kennt? Das ist zu bezweifeln. Dazu ist es zu wenig stringent." Auch wenn am Schluss von den Schauspielern doch noch der richtige Ton getroffen werde, hofft Kramar, dass der Trend zur Dramatisierung von bühnenfremden Stoffen endlich abnehme.

Im Kurier legt Peter Temel (23.11.2012) auführlich die Geschichte bzw. deren Kürzungen dar und kommt zum Fazit: "Während dieser Abschied des Künstlers von der Welt im Roman mit viel Ironie und für Houellebecqsche Verhältnisse sanft daherkommt, gehen diese Zwischentöne in der Garage X im grotesken zweiten Teil des Abends etwas unter. Zumindest die Sentimentalität, die im Roman mitschwingt, wurde mithilfe der Musik herübergerettet."

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