Knast als Gesellschaft

von Nikolaus Merck

Berlin, 22. November 2012. Dass Friedrich Schiller den deutschen Fernsehkrimi erfand, ist bekannt. Der frühe Meister des Spannungsplots gab enthüllende Einblicke in Regierungskabinette, die organisierte Bandenkriminalität oder das nationalistische Umstürzlerwesen. Und: Er kümmerte sich als erster um die Mörder. Sein Christian Wolf, der Verbrecher aus verlorener Ehre, erschien 1786 als früher Vertreter einer bald endlosen Reihe von Mördern und Totschlägern, die inzwischen allabendlich deutsche Fernsehapparate bewohnen.

Wolf gab den Prototyp ab für den von der Natur, der Klassengesellschaft oder einfach dem Lieben Gott Benachteiligten, der kraft widriger Umstände ins Verbrechen abrutscht. Wolfs Umstände heißen Hässlichkeit, eine blöde Mutter, ein trunksüchtiger Vater, miese Wirtschaftslage. Dazu kommt eine unglückliche Liebe, Geldprobleme und soziale Ausgrenzung nach zwei Knastaufenthalten. Er wird zum Mörder, zum Chef einer Räuberbande und stellt sich schließlich der Obrigkeit, die ihn ums Leben bringt.

Das Ohr an Schiller

Der Regisseur Simon Solberg, Jahrgang 1979, verehrt Schiller. Er zerrt und schleppt ihn überall hin. Verpflanzt ihn in die Pharmaindustrie, unterwirft ihn dem Überwachungsstaat oder liest mit ihm dem Kolonialismus die Leviten. Meistens nimmt er sich ein paar Topfstauden mit auf die Reise, allerlei Perücken, Videoclips, Werbejingles und einen Riesenhaufen Musik aller erdenklichen Genres. Solberg ist ein kritischer Geist. Er deutet auf die Zustände, auf Unterdrückung, Ungerechtigkeit, politischen Hirnriss und ruft: Das kann so nicht bleiben! Recht hat er!

In den Kammerspielen zu Berlin hat er sich von Jelena Nagorni ein doppelstöckiges Labor bauen lassen. Mit Bar, einer fahrbaren Knastzelle, einem zeltgroßen Herzen, antiquierten Messgeräten, Büchern, Schillerbildern. Darin lässt er fünf verrückte Wissenschaftler Schillers "wahre Geschichte" vortragen, die Topfpflanzen spielen den Wald. "Rasch, ziehen wir uns Kostüme über", da, rechts vom Ständer! "Den Christian Wolf spielt Christoph, schließlich gibt's in Franken wieder Wölfe." Wenns um Wolfs missratene Physiognomie geht, kriegt Franken Tesastreifen ins Gesicht: "Darf ich vorstellen: Miss Lungen", yeah, ein kichernder Saal ist einfach nicht zu verachten.

verbrecher 560a arnodeclair hDie Zurichtung des Herrn Wolf alias Christoph Franken © Arno Declair

Elias Arens' Förster tarnt sich als Lampe und schickt ein großes Papp-Ohr aus, Wolf zu belauschen, der Hannchen auf dem Balkon ein Liebeslieder-Potpourri darbringt. Özgür Karadeniz schrammelt hingebungsvoll, Kathleen Morgeneyer ringt die Hände, Solberg macht Stimmung. Natürlich nur als Zitat. Manchmal treten die fünfe auch daneben, in den "Faust" oder "Kabale", den "Werther". Die gelben Reclamhefte halten alle parat. Vor allem aber Tempo, Tempo, Tempo. Solberg nennt das: Mash Up. Im Grunde ist es Stegreiftheater, Marktplatz, Moritat.  

Das kann so nicht bleiben

Dann kommt das Eigentliche. In Videoeinspielungen, oben, sprechen die Ex-Sträflinge Norman Bürger und Markus Pohle über den Weg ins Verbrechen, Verhaftung, die archaische Brutalität im Knast. Oben verankert sich der Abend in Realität, unten geht das illustrierende Spiel weiter oder pausiert. Helmut Mooshammer liest einen Zeitungsbericht vor, wie ein 20-Jähriger 2006 in der JVA Siegburg von seinen Zellengenossen gefoltert und ermordet wurde. Mooshammer isst dabei, sehr effektvoll, einen Apfel. Der Bericht ist bedrückend, mucksmäuchenstill der Saal. Solche Zustände herrschen in diesem Land. Unerhört! Das kann so nicht bleiben!

Unerfindlich, warum Solberg bei dieser Engführung des Themas – Wolf im Knast, Zustände im Knast, damals wie heute – nicht stehen bleibt. Er öffnet ins Historische. Die zwanziger Jahre! Wieso bloß? Um Gründe zu geben, warum einer kriminell wird? Später noch die Finanzkrise mit ihren Rebellionen, Regierungskrisen, Verelendungen. Noch mehr Witzchen, noch mehr Tempo, man mag nicht mehr folgen.

Ironisierter Lösungsvorschlag

Schwerer allerdings wiegt: Solberg meidet das Drama. Alle wuseln, tanzen, singen, skizzieren. Und wenn das Tempo wechseln müsste, wenn das Drama begönne, wenn Woyzeck wäre und Biberkopf, das alles hat er ja selber angelegt mit den Wissenschaftlern, dem Stehen und Starren von Christoph Franken, seinem Toben in der Zelle, schwarz und weiß auf den Screen gebeamt, wenn also Kälte zu erspielen wäre, Einsamkeit, die Zerstörung eines Menschen, tut sich: nichts. Die Dramaturgie, ein ernstes Thema in Einfälle zu verpacken – sie trägt nicht bis ins Ziel.

Am Ende betreten die redenden Köpfe Norman Bürger und Markus Pohle leibhaftig die Bühne. Das ist überraschend, das ist auch schön. Hätten sie nur nicht den Zeitungsartikel mitgebracht, der den Reformknast Bastøy in Norwegen als leuchtende Alternative zum herrschenden Wegsperrsystem schildert. Denn allsogleich wirft sich der Regisseur wieder in die Illustration, zaubert ein Idyll mit Schafschur, Pudelmützen und Waffelspeisung des Publikums hervor. Ein Abschluss für diesen seltsam angerissen wirkenden Abend ist das nicht, vor der leidvollen Dunkelzone Gefängnis wirkt dieses ironische Bühnenutopia vor allem unangemessen und deplatziert.

 

Verbrecher aus verlorener Ehre
nach Friedrich Schiller
Regie: Simon Solberg, Bühne: Jelena Nagorni, Kostüme: Maike Storf, Video: Bert Zander, Recherche und Interviews: Dirk Schneider, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Elias Arens, Christoph Franken, Özgür Karadeniz, Helmut Mooshammer, Kathleen Morgeneyer, Norman Bürger, Markus Pohle.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Unterhaltung und Empathie", rufe der Regisseur, so Andreas Schäfer im Tagesspiegel (24.11.2102). Man sei geschockt und unbeteiligt: "Auf diesen Widerspruch läuft der Abend hinaus, diesen Widerspruch inszeniert er und lässt ihn stehen." Auftritt der Ex-Häftlinge: "Er ergreifen einen mit Wucht, dieser bewegende Moment tiefer Anteilnahme. Auch wenn die abschließende Moral – unser Gefängnisalltag generiert neue Verbrechen, während fortschrittliche Methoden in Skandinavien auf die Selbstachtung der Verurteilten setzen – allzu plakativ gereicht wird."

"Sie haben versucht, unser Herz zu erwärmen, auf dass wir an den bösen Verhältnissen etwas zu ändern vermögen. Schön wär's." So endet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (24.11.2012). Er hat sogar die heiterkeitsfeindlichen Theatergänger schmunzeln sehen, ob der Kalauer und Namenswitze. Doch die "Szenenspaßturnerei" sei "bestenfalls Beiwerk für die Auftritte der Ex-Häftlinge".

"Eine Zeit lang nimmt man fasziniert und amüsiert zur Kenntnis, welch unerschöpfliches Füllhorn an Inszenierungseinfällen hier im Sekundentakt ausgegossen wird", schreibt Matthias Heine in der Welt (27.11.2012). Doch die Aufführung wolle mehr: "Sie stellt unter allem Gejuxe ganz ernst die Fragen nach persönlicher Schuld und Resozialisierung". Wäre Christian Wolf vielleicht kein Räuber geworden, wenn er nach seiner ersten Verurteilung im modernen therapeutischen Strafvollzug gelandet wäre? "Da windet sich der zynische Zuschauer. Das Positive provoziert mehr als jeder Penis."

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