Ein Märchen von Männern und Memmen

von Andreas Wicke

Kassel, 23. November 2012. "Wann ist ein Mann ein Mann", möchte man grönemeyern, wenn in Rebekka Kricheldorfs neuem Stück "Testosteron. Eine schwarze Parabel" Männlichkeitsideale hinterfragt werden. Ist er es, wenn er sich als erfolgreicher Arzt mit Freundin und Vater ängstlich in seinem holzgetäfelten Wohnzimmer einigelt und die Sorge um das Böse in der Welt mit bourgeoisem Gutmenschentum übertüncht? Oder ist er es, wenn er furchtlos und gewaltbereit mit testosterongeschwängerter Macho-Attitüde und einem Patronengürtel um den Hals durch die Welt zieht?

Wenn das Gute beim Bösen Hilfe sucht

Doch fangen wir vorne an: "Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen". Diese Konstellation aus Grimms "Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" ist die Folie für "Testosteron", nur kann das Gut-Böse-Schema des Märchens hier zu keinem glücklichen Ende kommen. Denn nach der Entführung der designierten Braut des guten Sohns durch einen Zuhälter, der außerdem der Vater jenes gefallenen Mädchens ist, das der gute Teil der Familie so selbstgefällig unterstützt, hilft nur noch brutale Gewalt. Nachdem der böse Bruder gerade enterbt worden war, muss man sich nun hilfesuchend an ihn wenden. Plötzlich ist das Gute nämlich hilflos und das Böse wird zum neuen Guten, dabei verändern sich auch die vorher so klaren erotischen Allianzen. Immer wieder werden die Männlichkeitsmythen überdacht, immer wieder werden in Ibsen'scher Manier die Lebenslügen in "Gutes Viertel" bloßgestellt, immer wieder die Frage, ob und wie glückliches Leben gelingen kann. Doch auch das Schlusstableau mit Hochzeitskleid bleibt nicht ungetrübt, das ideale Männerbild – sei es medial gebrochen oder verzweifelt gemischt – ist alles andere als märchenhaft.

Zwischen Konzept und Kollaps

Nach "Rosa und Blanca", Das Ding aus dem Meer und Robert Redfords Hände selig ist "Testosteron" Kricheldorfs vierte Uraufführung am Staatstheater Kassel, die zweite unter der Regie von Schirin Khodadadian, die 2011 mit "Robert Redford" zu den Berliner Autorentheatertagen eingeladen wurde. Die Vertrautheit von Autorin, Ensemble und Regie zeigt sich in der aktuellen Produktion: Aus Märchenparodie, Gesellschaftskomödie und bitterer Parabel ein überzeugendes, temporeiches und hochkomisches Ganzes zu arrangieren, bei dem auch die Auftritte toter Väter, wild durch die Luft splatternde Körperteile, permanente Videoeinspielungen und rasante Slapstickeinlagen nicht als leerer Aktionismus daherkommen, gelingt dem Team mit pointierter Sicherheit.

testosteron1 560 N.Klinger uTestosteron im Bild © Nils Klinger

Das liegt an der sehr präzisen Bildsprache, die aus dem Bühnenbild ein Bild auf der Bühne macht, indem es sie mit einem goldenen Kitschrahmen umgibt, aus dem man kurzzeitig herausfallen kann. Aber auch die Figuren sind so sprechend choreographiert, dass die Inszenierung jeden Bühnenfotografen in Begeisterung versetzen sollte. Die Qualität lässt sich vielleicht damit erklären, dass es Khodadadian gelingt, ständig zwischen minutiösem Konzept und scheinbarem Kollaps zu changieren, das Chaos zu strukturieren, ohne es zu beseitigen, Märchenbezüge deutlich zu machen, ohne sich von ihnen bestimmen zu lassen, und den Mut zur Opulenz aufzubringen, ohne damit etwas überspielen zu wollen.

Rasant-raffiniert statt gesellschaftlich relevant

Das Schauspielensemble läuft dabei zu komödiantischer Bestform auf und hat großen Anteil am Gelingen dieses eminent unterhaltsamen Abends – kaum möchte man einzelne Leistungen hervorheben. Wie sich mit kleinen Gesten der Besorgtheit und einer minimalen Mimik des Entsetzens eine Rolle zeichnen lässt, zeigt Björn Bonn als guter Sohn Dr. Ingo Klemmer, außerdem beherrscht er das Cello beim häuslichen Musizieren meisterhaft, obwohl er keinen Ton spielt. Aljoscha Langel als Ingos Bruder Raul ist so beweglich, dass man ihn aus jedem Wohnzimmerschrank zaubern kann, darüber hinaus hat er das größte Parodiepotential, indem er sich mit schmächtiger Statur in alle nur denkbaren Rambo-Posen begibt. Ähnlich kontrastiv wie die Brüder sind die beiden Frauengestalten angelegt, Anke Stedingk als Ingos Braut und Therapeutin Solveig und Alina Rank als gefallenes Mädchen Silvana versuchen beide, die eigene Position zu festigen, indem sie mit den Posen der jeweiligen Gegnerin spielen, auch hier haben eine ausgefeilte Körpersprache und eine wohldosierte Verachtung große Wirkung. Für die beiden Väter, Jürgen Wink als Patriarch und Vater von Ingo und Raul sowie Enrique Keil als Zuhälter und Vater Silvanas, aber auch für das ganze Ensemble gilt, dass das virtuose Spiel mit Boulevardklischees nie Gefahr läuft, aus Kricheldorfs Stück plumpes Unterhaltungstheater zu machen, weil jedes Bild sofort als Pose entlarvt und per Video gespiegelt wird.

Wer auf der Suche nach rasant-raffiniertem Spiel und vielschichtig-satirischem Text ist, dürfte von "Testosteron" nicht enttäuscht werden, wer freilich auf Fragen nach ästhetischer Innovation oder gesellschaftlicher Relevanz von Theater pocht, der wird keine endgültigen Antworten bekommen. Aber wie soll man die Frage nach dem einzig richtigen Männerbild auch abschließend klären? "Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich", behauptet zumindest Herbert Grönemeyer.

 

Testosteron. Eine schwarze Parabel (UA)
von Rebekka Kricheldorf
Regie: Schirin Khodadadian, Ausstattung: Ulrike Obermüller, Musik: Katrin Vellrath, Video: Stefano Di Buduo, Dramaturgie: Christa Hohmann.
Mit: Jürgen Wink, Björn Bonn, Aljoscha Langel, Anke Stedingk, Enrique Keil, Alina Rank.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 
Kritikenrundschau

Kricheldorfs Stück sei eine "genau beobachtete, toll geschriebene schwarze Parabel", schreibt Bettina Fraschke in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (26.11.12). In ihrer Uraufführungsinszenierung stelle Schirin Khodadadian das Thema Schein oder Sein ins Zentrum. "Wo charakteristisch fürs Märchen gerade ist, nichts zu hinterfragen, bleiben hier keinerlei Gewissheiten übrig." Haltungen würden anprobiert wie Kleider, minütlich andere Küchentischweisheiten verkündet – gern im Chor der Bildungsbürger, die dafür kollektiv ihre Gelehrtenbrillen abnehmen. "Was macht einen Mann aus? Wie kann ich mein Glück finden?" Die Figuren versuchten, ihr gesellschaftliches Milieu nach oben oder unten zu verlassen – kämen dort aber nicht an. "Das Ensemble brilliert bei den derben Krachern ebenso wie bei fein nuancierten Stimmungswechseln."

"Das Stück ist ein bisschen durcheinander, weil es so unglaublich viele Themen hat", sagt Michael Laages im Gespräch für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (23.11.2012). Kricheldorf setze auf "schnelle Szenenwechsel", und "von Szene zu Szene wechselt auch der Fokus auf diese Geschichte." Um "die verschiedenen Entwürfe von Männlichkeit" und das titelgebende Testosteron gehe es "eigentlich eher am Rand". Die Geschichte werde durch den sozialen Konflikt vorangetrieben, in einer Stadt, in der sich die Klassen "wie in Gotham City" nur noch in "kriegerischen Auseinandersetzungen" begegnen. Von der Blankverssprache und dem ironischen, teils bis in die Farce zugepitzten Darstellungsmodus zeigt sich der Kritiker überzeugt. Die Uraufführungsregie sei "der Farce als Farce gefolgt" und werde "schnell, frech" und auch "ein bisschen albern".

Joachim F. Tornau schreibt in der Frankfurter Rundschau (27.11.2012): Rebekka Kricheldorf "lässt Männlichkeitsklischees mit Wucht gegeneinander krachen", und das "alles geschieht, wie bei Kricheldorf üblich, eher wenig subtil, dafür jedoch in wohlgesetzten Versen." Regisseurin Schirin Khodadadian "trägt noch eine Spur dicker auf. Ihre Inszenierung, für die Ulrike Übermüller eine scheußliche Schrankwand in einen riesigen Goldrahmen gebaut hat, setzt voll auf Groteske. Schnell, mit Spaß an der Überzeichnung und gelegentlich ein bisschen überdreht. Das ist kein großer Wurf. Aber höchst unterhaltsam allemal."

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