Krasse Gegensätze

Nicht nur Cineasten beeindruckt seine Verkörperung des Bond-Antagonisten Goldfinger (1964) noch heute. Sean Connery sieht in ihm gar seinen besten Gegenspieler überhaupt. Doch nicht nur diese, seinen Weltrang begründende Rolle ist ursächlich dafür, dass Gert Fröbe (1913-1988) einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler des 20. Jahrhunderts war. Als Leinwandgröße und als Persönlichkeit birgt das Leben des gebürtigen Sachsen reichlich Stoff für eine literarisch-dokumentarische Verarbeitung.

coverstraubefrobeMichael Strauven ist das auch aufgefallen. Er hat nun, kurz vor Fröbes 100. Geburtstag, eine Biographie über "Jedermanns Lieblingsschurke" vorgelegt. Mit leichter Feder zeichnet Strauven in seinem unterhaltsamen Buch private Facetten (u.a. fünf Ehen, Wirbel um NSDAP-Mitgliedschaft, finanzielles Harakiri) des Zwickauers nach, blickt aber vor allem auf dessen berufliche Bandbreite. Bis ins Mark erschütternd etwa ist einerseits seine Darstellung des Kindermörders in der Dürrenmatt-Verfilmung "Es geschah am hellichten Tag" (1958), zugleich aber nimmt man ihm umstandslos den liebenswerten Trottel ab, wenn er den "Räuber Hotzenplotz" (1974) mimt.

Strauven schildert diese Meilensteine in Fröbes Karriere überaus anschaulich. Von ihm stammt bereits das 45-minütige Fernsehporträt Fröbes im Rahmen der erfolgreichen ARD-Reihe "Legenden" aus dem Jahr 2010. Die Möglichkeit, "Zwischentöne" einfließen zu lassen und inhaltlich weiter auszuholen, bezeichnet der Autor in seinem Vorwort nun als wichtigen Beweggrund, das Buch zu schreiben. Genutzt hat er diesen evidenten Vorteil bei allem Lesegenuss aber nicht. Wer den Dokumentarfilm gesehen hat, erfährt aus dem Buch nicht viel Neues.

Über vieles, das Strauven oberflächlich behandelt, wüsste man gerne mehr. Da wäre Fröbes Haltung zur DDR, in die er regelmäßig zu seiner geliebten Familie reiste. Überhaupt verliert er außer einem Hinweis auf das gute Verhältnis zu Genscher oder Strauß kein Wort über Fröbes politisches Denken, stattdessen finden des Autors Lieblings-Anekdoten vom sächsischen Mephisto über Morgensterns Schnecke bis zur Geschichte um einen feuchten Furz am Filmset mit der pikierten Zizi Jeanmaire eine überbordende Betonung. Auch eine Deutung des bisweilen eiskalten Umgangs mit seinen zahlreichen Frauen, der in krassem Gegensatz zur ihm immer wieder attestierten Gutmütigkeit steht, fehlt völlig.

Famos hingegen ist der fast 100 Seiten starke Anhang. So erfreulich detailliert, wie Strauven die von ihm kommentierte Filmographie zusammengestellt und Fotos aus prägnanten Lebensabschnitten ausgewählt hat, findet man es heutzutage selten in populären Sachbüchern. Gemeinsam mit dem konzis verdichteten Haupttext ermöglicht Strauven damit einen kurzweiligen, wenn auch oft etwas zu flüchtigen Gang durch das Leben jenes Mannes, dem zeitlebens die bewundernde Anerkennung seiner Kunst das Allerwichtigste war. (Christian Baron)

 

Michael Strauven:
Jedermanns Lieblingsschurke.
Gert Fröbe. Eine Biographie.
Rotbuch Verlag, Berlin 2012, 304 S., 19,95 Euro.

 

Von Gießen nach Gießen

Eine anmaßende Geste ist dieser Titel, eine Anmaßung, die die Herausgeberinnen Annemarie Matzke, Christel Weiler und Isa Wortelkamp nicht einmal thematisieren: "Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft" heißt der Sammelband, der nun just zum 30jährigen Bestehen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft erschien.

coverangewandtetheaterwissenschaftEinst von Andrzej Wirth begründet, wird im Gießener Nirgendwo noch heute hartnäckig das befragt, was Theater sein kann und sollte, wobei sein gesellschaftlicher Kontext stets mitgedacht wird. So ist auch das Buch weniger ein umfangreiches Nachschlagewerk als eine handliche, gut lesbare Einleitung in die Geschichte der "Gießener Schule" oder vielmehr des "Gießener Denkens". Im Zentrum stehen Selbstreflexionen und auch Selbsterklärungen: Theoretiker und Künstler, die in den 1990er Jahren hier lernten und lehrten, untersuchen die künstlerischen Arbeiten anderer Absolventen – oder die eigenen.

So stellt etwa Annemarie Matzke, selbst Teil des Kollektivs She She Pop und Professorin für Theaterwissenschaft, die Arbeit des Autors und Regisseurs René Pollesch vor, Veit Sprenger schreibt über seine Gruppe Showcase Beat Le Mot, der Theaterwissenschaftler André Eiermann untersucht die Inszenierungen des Regietrios Rimini Protokoll. Aber auch jüngere Absolventen wie Auftrag: Lorey und Herbordt/Mohren werden vorgestellt.

So wird aus unterschiedlichen Perspektiven jener Ansatz umkreist, der den Gießener Studiengang besonders macht: die Verquickung von Theorie und Praxis, genauer die Annahme, dass Theater und Wissenschaft verschiedene Praxen sind, mit deren spezifischen Handwerkszeug die jeweils andere Praxis wirksam befragt und untersucht werden kann. Diese wechselseitige Befruchtung wissenschaftlicher und künstlerischer Strategien hat der heutigen Mode der – häufig nur so genannten und kaum ausgeübten – Verschränkung von Theorie und Praxis weit vorausgriffen.

"Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft" wirft also einen möglichen Blick von Gießen nach Gießen, der einiges griffig klärt und notwendig vieles ausspart. Zweifellos hätte man diesen Blick öffnen können: Die eine oder andere Außenperspektive hätte gut getan. Auch bleibt das große Mittelfeld jener in Gießen Ausgebildeten gänzlich ausgespart, die weder zu den Polen Kunst noch Theorie gehören, sondern heute als Fernsehredakteure, Dramaturgen oder Festivalmacher tätig sind. Und nicht zuletzt wirkt der Band oft konventioneller, als das Studium es ist. Zweifellos ist Matzke, Weiler und Wortelkamp eine solide Eröffnung gelungen, die Ausweitung des Spielfelds steht noch bevor. (Esther Boldt)

 

Annemarie Matzke, Christel Weiler, Isa Wortelkamp (Hg.):
Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft.
Alexander Verlag, Berlin/Köln 2012, 336 Seiten, 24,90 Euro

 

Schlimmer kommts immer

Am Ende gibt es den Moment eines kleinen Glücks. Man hätte es fast überlesen angesichts all der Gemeinheiten, die Toto zuvor durchlebt hat. Toto, Hauptfigur in Sibylle Bergs jüngstem Roman, sitzt schon todkrank und allein im Heim, voll auf Morphium, verstrahlt durch eine obskur einoperierte Sonde, aber sie gewinnt die Aufmerksamkeit der anderen Heimbewohner, und wie groß dieses Glück wirklich ist, lässt sich in "Vielen Dank für das Leben" am besten über das Ausmaß des Unglücks erkennen.

coversibyllebergvielendankBerg erfindet für ihre Figuren, ob nun in den Romanen oder Theaterstücken, stets leidensreiche Wege, in denen das Schicksal es schlecht meint. Doch diesmal hat sie sich noch übertroffen und wirklich nichts ausgelassen. Denn nicht nur, dass Toto in der grauen DDR der sechziger Jahre als Kind einer alleinstehenden Alkoholikerin zur Welt kommt, bald im Waisenhaus landet, dann bei tierhaltenden Pflegeeltern. Nein, als Hermaphrodit erhält sie nach der Geburt das männliche Geschlecht zugeteilt, wird später bei einer verkappten Nierenspende zur Frau operiert und bleibt doch stets gemobbt, ausgegrenzt und misshandelt. Eine, zu der noch eine von Toto gepflegte Todkranke sagt: "Geh weg, du ekliger Freak".

In scharfzüngiger Lakonie werden die Zeitgenossen porträtiert, denen man im Laufe eines Lebens notgedrungen begegnet: die mitleidlose Hebamme, fiese Lehrer, die erste Liebe, eine vegane französische Polizistin, die Toto mit Vergnügen wegsperrt. Und immer wieder taucht Kasimir auf, der einzige scheinbare Freund, eine frühe Bekanntschaft aus dem Waisenhaus, der reich geworden nur deshalb Totos Liebe gewinnt, um sich genüsslich sadistisch an ihm auszulassen: "Das Gute sterben sehen, damit ich im Recht bleibe".

Wie ihn provoziert Toto die ganze Welt damit, dass er stets freundlich bleibt, an anderen Anteil nimmt, Unschuld bewahrt. "Der perfekte Mensch. Der Prototyp. So war das Universum geplant gewesen, und dann war irgendetwas schiefgelaufen." Fast etwas Heiliges schenkt die Autorin ihrer Figur auf ihrem Weg durch die Gegenwart, egal, ob nun die DDR, die Schwulenszene der achtziger Jahre oder eine überregulierte Vernunftwelt im Jahr 2013 vorgeführt wird. Und doch bekommt auch Totos ungebrochener Glaube ans Gute genügend Spott ab, von Erlöserfantasien oder Heilserwartungen hat ihn Berg gründlich befreit. Es sind die spitzen Halbsätze, über die man sich beim Lesen vor allem freut, der lakonische Ton, der falsche Ideologien, fehlgeleitete Frustrationen und übertriebene Machthierarchien satirisch hochnimmt, und es ist der dunkle Zustand der Welt, den Sibylle Berg in diesem Roman erschreckend körperlich fühlbar macht. (Simone Kaempf)

 

Sibylle Berg:
Vielen Dank für das Leben
Carl Hanser Verlag, München 2012, 400 Seiten, 21,90 Euro

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