Schläge ins Herz 

von Nikolaus Stenitzer

Lüneburg, 29. November 2012. "Erinnerung – was ist das?“ Zu sich selber scheint er das zu murmeln, der Mann im verdreckten Sakko, der zwischen Kisten voller Altwarentand über die Studiobühne des Lüneburger Theaters stolpert. Aber Igor Schwab, der hier den Erzähler und Ex-Boxer Hans spielt, will es vom Publikum wissen: "Was ist Erinnerung?" "Zigeuner-Boxer" von Rike Reiniger ist ein Stück für Jugendliche ab zwölf Jahren. Und Erinnerung – das kann vorweggenommen werden – ist Pädagogik und Politik.

Das Stück, 2011 beim Heidelberger Stückemarkt mit dem Publikumspreis ausgezeichnet und in Karlsruhe uraufgeführt, ist an die Lebensgeschichte des Boxers und Sinto Johann "Rukelie" Trollmann angelehnt, der 1933 den Titel als deutscher Meister im Halbschwergewicht errang und 1943 im KZ Wittenberge ermordet wurde. In den erzählten Erinnerungen seines Freundes Hans heißt der Boxer Wilhelm Weiß und wird Ruki gerufen.

Die Jungen kommen beide aus einem Elendsviertel. Sie freunden sich im Box-Club Borussia an, wo der talentiertere Ruki seinen Freund lehrt: "Wut kann helfen, muss aber nicht! Im Ring brauchst du Schläge, die vom Herzen kommen."

Gequälter Mensch im Boxring

Es ist eine Heldengeschichte, die hier erzählt wird: Ruki ist charmant und attraktiv – im Ring ein Tänzer, treibt er seine Gegner zur Weißglut, weil er ihnen durch seine außergewöhnliche Technik nicht nur überlegen ist, sondern zwischendurch auch noch Zeit findet, den am Ring anwesenden Frauen Kusshände zuzuwerfen.

Rike Reiniger nutzt die semifiktionale Form, um Ruki als leichtlebigen und dabei verantwortungsbewussten Menschen zu zeigen, der sich seiner Familie wegen nicht vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Ausland rettete, als er die Möglichkeit dazu hatte. Seine Beschreibung kommt ohne Brüche aus. Vielfach gebrochen ist dagegen Hans, was das Spiel von Igor Schwab zuerst als Wut und Verwirrung vermittelt. Das führt zu einer schnellen Abfolge nervöser Höhepunkte, die etwas überfordernd und auch überfordert wirkt.

ZigeunerBoxer2 560 AndreasTamme uIgor Schwab im "Zigeuner Boxer" © Andreas Tamme

Johan Heß lässt seinen einzigen Schauspieler schon toben, ehe das Stück noch richtig begonnen hat. Hier soll ein gequälter Mensch gezeigt werden. Das gelingt später auf andere Weise besser, nämlich dann, wenn Schwab beginnt, mit der sehr gut gemachten Bühnenausstattung von Simone Anton-Bünting zu spielen: Die Kisten und Container voller Schrott, die Absperrgitter, ein Tisch und zwei Bänke können vielfach verwandelt werden, in einen Boxring, eine Eisenbahn, ein Lokal, ein ganzes Stadtviertel. In der Benutzung dieses Raumes gelingen Schwab mehr Nuancen, und die Spannung, die er aufbaut, hält.

"War doch nicht bös' gemeint"

Rike Reinigers Stück wendet sich mit seiner tragischen Geschichte vor allem an Jugendliche. Das drückt sich auch in der linearen Erzählung und der Einfachheit der Sprache aus. Eine Einfachheit, die zur Vereinfachung wird.

Das zeigt sich etwa, wenn der Begriff "Zigeuner" problematisiert wird: "Meine Freunde nennen mich Ruki. Zigeuner nennen sie mich nicht", sagt Ruki zu Hans. Damit wäre die Sache eigentlich geklärt (und der Nachdenk-Raum für das Publikum geschaffen). Hans' nachfolgende Rede indes erzählt genau in die entgegengesetzte Richtung – man sei doch gemeinsam im Elend aufgewachsen, weswegen klar sei, dass man den anderen mit Achtung behandle. 

Sowohl Autorin als auch Regie wollen hier offenbar einen Menschen im Konflikt zeigen – Hans ist unglücklich darüber, dass er seinen Freund beleidigt hat. Aber die Figur bleibt eindimensional – ein Mensch, der gequält ist von der Erinnerung, dessen Denken sich aber dabei in zwanzig oder dreißig Jahren nicht weiterentwickelt hat. In all der Zeit ist Hans zum Wort Zigeuner nicht mehr eingefallen, als dass es "vielleicht etwas ausdrückt, das die, die selber Zigeuner sind, nicht gerne hören".

Hier wird eine Möglichkeit verspielt. Das rassistische Wort mit seinen abwertenden Implikationen, das zuerst in Frage gestellt wird, erfährt am Ende eher eine Verstärkung: Es gibt die, die "Zigeuner sind", auch wenn ihnen an der Bezeichnung etwas nicht gefallen mag.

Historische Naivität

Der Abend erzählt Geschichte aus der Sicht des kleinen Mannes. Die Erzählerfigur eignet sich zur Identifikation gerade für Jugendliche, denn Hans hat gelitten und leidet noch an der Vergangenheit. Seine Ausführungen bekommen dadurch allgemeinen Charakter: Ihm glaubt man und soll man glauben, was er erzählt.

Das Problem dabei – und auch die Lüneburger Inszenierung mit ihrem Versuch, die Betonung auf das Verzweifelte des Charakters zu legen, kann es nicht lösen – ist, dass die geschichtlichen Ereignisse dabei ganz äußerlich bleiben. Es ist etwas geschehen in Deutschland, aber was? Eine Invasion? Ein Einmarsch? Wer hat plötzlich "die Ordnung" eingeführt, mit der Hans so sehr zu kämpfen hat, wer schafft es, die Massen, die ihren Ruki lieben, so einzuschüchtern, dass sie sich einfach nicht mehr trauen, zu jubeln?

Mit der Figur des Hans können solche Fragen nicht geklärt werden, weil ihm, trotz KZ-Aufenthalt und persönlicher Tragödie, immer noch die Naivität des Zwanzigjährigen eignet, der mit seinem Freund, dem "Zigeuner-Boxer", zum Tanzen geht.

In einem Stück für Jugendliche würde man sich wünschen, dass eher gegen als für die historische Naivität gearbeitet wird. "Zigeuner-Boxer" lässt diese Möglichkeit aus.

Zigeuner-Boxer
von Rike Reiniger
Regie: Johan Heß, Ausstattung: Simone Anton-Bünting.
Mit: Igor Schwab.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause.

www.theater-lueneburg.de

 

Andere Inszenierungen des Trollmann-Stoffs: das Schauspiel Hannover erarbeitete Trollmanns Kampf. Mer Zikrales im April 2010 mit jugendlichen Sinti und Roma.

 

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Kritikenrundschau

"Ein einstündiges, am Ende heftig beklatschtes Solo" hat ein anonymer Rezensent in der Landeszeitung für die Lüneburger Heide (1.12.12.) erlebt, "in dem Hans mächtig randaliert mit seinem Schrott." Das Alteisen berge auch viele Erinnerungsstücke, der Mann arbeite sich ab an dieser wiedererstarkten Wohlstandsgesellschaft, der er nicht mehr angehört. "Da gibt es einige lustige Momente und viele dramatische, Wut und Zärtlichkeit und vor allem die Fassungslosigkeit darüber, wie Geschichte funktioniert."

 

 

Kommentare  
Zigeuner-Boxer, Lüneburg: Theaterkritiker-Pflichten
Eine nette Kritik. Schade nur, dass Sie sich die ganze 2 Hälfte Ihres Beitrages mit Literaturkritik beschäftigen die in eine Inszenierungskritik nichts zu suchen hat... Die Leser einer Theaterkritik interessieren sich selten für Ihre subjektive Meinung zu der literarischen Vorlage, eine Meinung welche zudem aus der dramaturgischen Sicht sehr unangemessen erscheint. Sie könnten genau so gut Shakespeare vorwerfen, dass er beim "Kaufmann von Venedig" versäumt hat die gesellschaftliche Stellung der Juden im 16ten Jahrhundert und deren geschichtliche Entwicklung dazwischen zu schieben! Sollten Sie den Wunsch haben in der Zukunft als Theaterkritiker zu arbeiten, bleiben sie bei ihrer Aufgabe und Thema, dramaturgische Kenntnisse wären auch vom Vorteil. Schreiben Sie mehr über die Inszenierung, um dem Leser ein klareres, objektives Bild zu verschaffen.
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