Im Minimundus der 50er Jahre

von Esther Slevogt

Berlin, 29. November 2007. Vermutlich muss man das erst mal so zur Kenntnis nehmen: dass jungen, in den 70er Jahren geborenen Dramatikerinnen und in den 80er Jahren geborenen Regisseuren kaum Konkreteres zum Deutschland der 50er Jahre einfällt als merkwürdig steife Benimm-Direktiven für Frauen aus dem Fundus früher Werbespots, die ihnen helfen sollen, trotz Unterdrückung die Kontenance zu wahren; als hysterisch-suizidale Teenager mit Sehnsucht nach dem ganz Anderen: nach Sex mit Elvis nämlich; als der grotesk-gruselige Biedermann-Humor der Edgar-Wallace-Krimis; als kriegsversehrte Männer und ein verstümmeltes Land. Und eine irgendwo tief vergrabene und nicht wirklich greifbare Katastrophe mit Millionen Ermordeten, deren Organe nun irgendwie im Design wiederkehren: als millionenfach reproduzierter Nierentisch.

Impressionistische Flüchtigkeiten

"Deutschlandsaga" heißt ein Projekt der Berliner Schaubühne, das sich mit Blick auf das Jahr 2009 Fragen der deutschen Nachkriegsidentität angenommen hat – wenn sich die Gründung der beiden Nachkriegsrepubliken DDR und BRD zum 60. und der Mauerfall zum 20. Mal jähren wird. Zu diesem Zweck wurden zu je einem Jahrzehnt Stückaufträge an junge DramatikerInnen vergeben.

Nun waren also zum Auftakt die 50er Jahre dran, die in drei kurzen Stücken von Ulrike Syha ("Rialto"), Rebekka Kricheldorf ("Backfischtod in Bad Nauheim") und Johanna Kaptein ("Fräuleinwunder") verhandelt wurden. Das heißt, verhandelt wurden sie eigentlich nicht, denn dafür waren die Texte viel zu flüchtig, impressionistisch, um nicht zu sagen: oberflächlich. Und vor allem: es ging eigentlich nur um vage Motive aus der jungen Adenauer-Republik, während die Gründungsjahre der DDR zwischen sozialistischem Aufbaupathos und antikommunistischer Revolte, Stalin und dem Versuch eines echten Neubeginns nach der Nazikatastrophe vollkommen unter den Tisch gefallen sind.

Volker Schlöndorff als Praktikant

Die drei Stücklein, jedes für sich kaum mehr als eine Fingerübung, führen uns also im Studio der Schaubühne zunächst ins Büro einer Filmproduktion ("Rialto"), die mit der Entwicklung des Fifties-Klassikers "Der Frosch mit der Maske" beschäftigt ist. Dabei sind wir eigentlich noch nicht mal in den 50er Jahren. Ist Ulrike Syhas kleine Szenenfolge ganz bewusst als Hybrid zwischen den Zeiten konzipiert, nähern sich auch die fünf Akteure der Sache aus der Sicht des Heute an, während am Rand schon ein Praktikant namens Volker Schlöndorff sitzt, der, bevor man in den 50er Jahren überhaupt angekommen ist, bereits das Oberhausener Manifest von 1962 verteilt.

Rebekka Kricheldorfs kleine dramatische Studie "Backfischtod Bad Nauheim" führt in die stickige Welt zwischen Restauration, kriegstraumatisierten Vätern und dem beginnenden Pop-Age, das hier allerdings vorläufig noch mit einer blutig verlaufenden Abtreibung endet. Die 50er Jahre treten in Form einer Dame im gelben Petticoatkleid auf, die eigentlich ein Mann ist (Niels Bormann) und ständig Weisheiten aus der Werbung zitiert. "Fräuleinwunder" von Johanna Kaptein schließlich verrührt Klischeefetzen über Kriegs- und Fluchterfahrung mit untergründig dräuenden Anspielungen auf Zusammenhänge zwischen Sein und Design der 50er Jahre, die gelegentlich die Grenzen des guten Geschmacks deutlich unterschreiten.

Bedeutungsschwangere Fuchtelei

Zur Verdeutlichung des im Wesentlichen eher im Vagen, Klischeehaften Wabernden, das alle Stücke gemeinsam haben – die sich im höchsten Fall mit Mikroaspekten des beobachteten Zeitraums befassen –, haben auch die von Robert Borgmann und Jan-Christoph Gockel besorgten Inszenierungen kaum etwas hinzuzufügen. Im Gegenteil, den Figuren wird mit den Mitteln der Karikatur oder der schrillen Übertreibung von vorneherein der Garaus gemacht.

Und wo, wie bei Rebekka Kricheldorf oder Johanna Kaptein, zumindest ansatzweise versucht wird, ernsthaft einen Punkt zu verhandeln, nämlich den missglückten Ausbruchsversuch eines jungen Mädchens aus der stickigen Nachkriegswelt oder die brüchige Identität eines Kriegskindes, ertränken die Inszenierungen jede Genauigkeit in bedeutungsschwangerer Fuchtelei. Da steht dann eine jüdische Menora neben einem Totenschädel, findet sich ein Kriegskrüppel zum Totentanz mit einer deutschen Hausfrau ein. Wird mit dramatischem Vibrato das Lied vom Maikäfer aus dem abgebrannten Pommernland und alsbald auch die zweite Strophe der Nationalhymne intoniert.

All das wäre eigentlich kaum der Rede und erst recht nicht der Kritik wert gewesen, hätte es sich auf einer kleinen Offbühne zugetragen. Doch hier tritt ein großes Theater mit großer Geste und einem wichtigen Thema an, das dann lediglich in Teilaspekten und deutlich mehrere Nummern zu klein verhandelt und insgesamt komplett unangemessen angegangen und umgesetzt worden ist.

 

Deutschlandsaga – Die 50er Jahre
Die ersten Uraufführungen

Rialto
von Ulrike Syha
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther
Krapiwnikow, Musik: Alexander Britting.
Mit: Lore Stefanek, Ina Tempel, Niels Bormann, Felix Römer und Stephanie Eidt

Backfischtod Bad Nauheim
von Rebekka Kricheldorf
Regie: Robert Borgmann, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther Krapiwnikow,
Musik: Alexander Britting.
Mit Lore Stefanek, Ina Tempel, Niels Bormann, Felix Römer und Stephanie Eidt

Fräuleinwunder
von Johanna Kaptein
Regie: Robert Borgmann, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther Krapiwnikow, Musik: Alexander Britting.
Mit: Lore Stefanek, Ina Tempel, Niels Bormann, Felix Römer und Stephanie Eidt

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (1.12.2007) weigert sich Andreas Schäfer mehr als die Hälfte seines ohnehin kurzen Artikels auf das konkrete Geschehen zu verwenden. Zuerst deutet er auf die "aufwendige Diskurs- und Unterhaltungsmaschinerie", die jedes Theater, "das wichtig sein will", heutzutage unterhalte. Räsoniert darüber, was das bringen könnte: "im besten Falle interessante Gedanken und jede Menge Spaß". Um derart kontextualisiert, sein Entsetzen über die "Deutschlandsaga" zu formulieren. "Nur auf die naheliegendsten Assoziationen" kämen die drei jüngeren Autorinnen Syha, Kricheldorf und Kaptein für ihre Auftragswerke über die fünfziger Jahre, das zeuge von einer "Unbedarftheit, bei der man sich verwundert die Augen reibt". Die ebenso unreflektiert arbeiteten die Regisseure und insegesamt herrsche " eine seltsame, verstiegen ernste Mischung aus übertriebener Empörungseinfühlung und arroganter Denunziation".

Mit "Armes Deutschland!" überschreibt Spiegel online (30.11.2007) die Besprechung von Christine Wahl. Und der erste Satz macht die Haltung wirklich unmissverständlich klar: "Wenn so die deutsche Vergangenheitsbewältigung aussieht, dann gute Nacht". Nur "Klischees und Klamauk" böten die drei je 20-minütigen Auftragswerke, für die die beiden ehrgeizigen Jungregisseure alles auf die Bühne zauberten, "was der Jungregiehandwerkskasten hergibt". Die Schauspieler bemühten sich redlich, allein: "Gemessen an den Textchen, wirkt der inszenatorische Aufwand peinigend bedeutungshuberisch und rutscht gern mal ins unfreiwillige Komikfach".

Dirk Pilz schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (1.12.2007), wollte man aus dem ersten Abend der Deutschlandsaga "auf den Gehalt des historischen Bewusstseins der jüngeren Generation schliessen, müsste man sehr ins Grübeln kommen". Die "meist verdrängten fünfziger Jahre" würden "genauso blass und muffig" auftreten, "wie sie in der kollektiven Wahrnehmung verankert" seien. Gerade mal einen "schmerzhaften Erinnerungspunkt" und ein "gehaltvolles Bild" verzeichnet Dirk Pilz für den Abend, sein Fazit dieser "Unglückstrilogie": "Eine triftige, nachhaltige, sinnstiftende Beschäftigung" lasse sich per Auftragskunst nicht verordnen.

In der FAZ (1.12.2007) bilanziert Irene Bazinger den Abend mit: "flaue Luft über fader Klischeesülze". Etwas abgewinnen kann sie allein der Szene "Fräuleinwunder" von Johanna Kaptein. Dieser Beitrag artikuliere "ansprechend die Verstörung der Jugendlichen zwischen schlimmer Vergangenheit und schöngefärbter Gegenwart". Auch rege diese Skizze die Regisseure zu "einigen symbolhaft expressiven Ideen" an. Überzeugend sei auch die Besetzung dieser Szene mit Lore Stefanek, die "die historische Distanz samt den mentalen Spätfolgen eindringlich zu vermitteln" vermöge.

Peter Michalzik schreibt in der Frankfurter Rundschau (3.12.2007), er habe eine "ziemlich lustige Groteske von Ulrike Syha", die zudem "selbstreflexiv" sei, ein "Elvisdrama", mit dem sich Rebekka Kricheldorf "zwischen die Stühle gesetzt" habe und Johanna Kapteins "Fräulreinwunder", in der Regie von Robert Borgmann, als einen "großen Moment kleinen Theaters" gesehen. Borgmann inszeniere "den Text mit mutiger, wilder und gefühlvoller Phantasie, sicher im Umgang mit vielen Ebenen". Nierentisch und Judenmord gingen hier "eine metaphorische Verbindung" ein, eine "krasse Phantasmagorie auf einer hochgradig metaphorischen und subjektiven Ebene". So, schreibt Herr Michalzik abschließend, "haben wir die 50er Jahre und das Weiterleben der Zeit zuvor tatsächlich noch nie gesehen".

 

Kommentare  
Deutschlandsaga: Texte in Regie ersoffen
Die Texte sind durch die Regie versoffen - das war wirklich problematisch -
Deutschlandsaga: Vielleicht entspanntere Regisseure?
Ich fand es problematisch, dass Robert Borgmann diese Texte so mit Kunstgewerbe zugekleistert hat, dass man nicht mehr erkennen konnte, wovon diese Stücke überhaupt handeln - vielleicht sollte man neue Texte doch lieber von Regisseuren inszenieren lassen, die nicht so unter Druck stehen, sich beweisen zu müssen und zeigen zu müssen, was sie alles auf dem Kasten haben - und ehrlich gesagt: Der Abend war so unerträglich öde - hat die Schaubühne eigentlich keine Dramturgen, die sich sowas angucken, bevor es rauskommt - oder gibts da eine künstlerische Leitung, die dann so einem nicht ganz so begabten Jungregisseur mal zur Seite steht und dem ein paar Tips geben kann - oder werden da die jungen Autoren und die Regieschüler sich selbst überlassen, weil Ostermeier gerne junge Künstler abstürzen sieht?
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