Das Spiel der Klangfarben

von Herwig Lewy

Cluj, November/Dezember 2012. Nach drei Länderquerungen und zweiundzwanzig Eisenbahnstunden nähere ich mich Cluj. Beim letzten Zugwechsel in Bratca vor 100 Kilometern hatten wir Reisenden auf einem keinen halben Meter breiten und wenige Zentimeter hohen Bahnsteig gewartet. Eben erzählte mir die Mitreisende Timea von ihren Zahnschmerzen und dem Mangel an Narkosemitteln in öffentlichen Krankenhäusern Rumäniens. Der Nebel wird dichter, als wir die Stadt mit den drei Eigennamen unterhalb des Karpatenbogens erreichen: Cluj, Kolozsvár, Klausenburg. Es ist eine Gegend mit vielen Völkern und vielen Sprachen: rumänisch, ungarisch und deutsch. Sie scheint wie geschaffen für ein Internationales Theaterfestival mit dem Titel "Interferences". Überschneidungen, Gewohnheit im Umgang mit diversen kulturellen Praktiken und Ausdrucksformen haben in dieser heterogenen Landschaft Tradition.

theater und studio 280 herwig lewy uMit weißer Kuppel: das ungarische Nationaltheater in Cluj © Herwig Lewy

Internationalität in Transsilvanien

Ich bin zu Gast bei der dritten Ausgabe dieses "Interferences"-Festivals, das vom 27. November bis 9. Dezember am Ungarischen Theater in Cluj stattfindet. Bis 1918 gehörten die Stadt und die Region Siebenbürgen/Transsilvanien zu Ungarn, ehe sie dem Staatsgebiet Rumäniens zugesprochen wurden. Das 1792 gegründete ungarische Nationaltheater befindet sich heute in einem repräsentativen Kuppelbau am Somesch-Fluß. Die politischen Gräben zwischen den Völkergruppen, von denen noch die zahlreichen Denkmäler in der Stadt künden, sind in der Theaterpraxis längst überwunden. Auch weil sich der aktuelle Intendant, Gabor Tompa (angetreten 1990) nationalistischen Vereinnahmungsversuchen widersetzen konnte.

Unter ihm arbeiten an dem vom Kultusministerium in Bukarest finanzierten Haus internationale Regisseure wie David Zinder, Mihai Măniuţiu, Andrei Şerban und Matthias Langhoff. Rumänisch-sprachige Regisseure wechseln sich mit ungarisch-sprachigen oder Regisseuren aus anderen Sprachfamilien ab. Cluj bildet dabei keine Ausnahme. Im transsilvanischen Theater spielten immer schon "Rumänen auf Ungarisch, die Ungarn auf Rumänisch, die Regisseure, die Bühnenbildner wechseln zwischen den beiden Kompanien", erklärt der Theaterwissenschaftler Zeno Fodor. "Es ist eine großartige Kraft. Das Theater kann seinen Beitrag leisten, den anderen kennen zu lernen und anzuerkennen."

Mit dem diesjährigen Motto "Stimmen im Dialog" nahm das "Interference"-Festivals nicht nur die regionale Gemengelage auf, sondern befragte auch elementare Zusammenhänge performativer Kunst: das Ineinander von Musik, Ausdruck und Darstellung, das Spiel der Klangfarben. Gezeigt wurden 21 Produktionen aus neun Ländern, in drei bis vier Sprachen übertitelt und simultan übersetzt.

ukchuk-ga 560 lg arts center"Mutter Courage" trifft auf koreanische Pansori-Kunst © LG Arts Center

Brechts "Mutter Courage" als faszinierendes koreanisches Solo

Highlight des Festivals war die Adaption der "Mutter Courage" durch das Pansori Projekt ZA aus Südkorea, von Sängerin Jaram Lee und Regisseurin Inwoo Nam. Bertolt Brechts Mutter zieht hier nicht im 30jährigen Krieg umher, sondern als gebürtige Koreanerin in China. Die Inszenierung speist sich aus Erfahrungen der koreanischen Geschichte und Gegenwart, aus den Identitätsproblemen der heutigen Mittdreißiger, der Verschlossenheit der Elterngeneration und der fortwährenden Frage nach dem Gelderwerb. Brechts parabelhafte Kriegswelt ist in den Horizont des chinesischen Kapitalismus gerückt.

Lee spielt alle Charaktere selbst, begleitet von Musikern. Elegant wechselt sie Rollen und Ausdrucksformen: vom jungen träumerischen Mädchen bis zum gewaltverzerrten Schrei einer um ihre Kinder gebrachten Mutter (sie hält den Schmerzenston fast 10 Sekunden!). Die epische Darbietungsform verbindet sich dabei mit der Ästhetik des Pansori, eine im 17. Jahrhundert in Korea entstandene und etwa der Commedia dell'Arte vergleichbare Aufführungspraxis.

mutter courage 280 lg arts centerJaram Lee ist Mutter Courage © LG Arts CenterInteraktiv und poetisch wird die Imagination des Zuschauers aktiviert: durch Chuimsae (Ermutigung durch das Publikum), Balim (körperliche Aktivität), Aniri (Wörter ohne Melodie), Chang (Geschichte mit Melodie und Rhythmus). Ein enger Kontakt mit dem Publikum ist gesucht. Die Performerin fordert uns, sie mit Ermunterungsrufen anzufeuern (für das eher passive europäische Publikum übernehmen die Musiker diese motivierende Funktion). Später wird Reiswein serviert. Wir erleben ein physisches Ausdrucksspiel getragen von Percussion. In völliger Simultanität mit dem Schlag der Trommeln bewegt sich die Künstlerin. Musikalisch untermalte und rein gesprochene Erzähltexte wechseln sich ab. Ein eindrucksvolles kollektives Theatererlebnis.

Im Labor der Zweifel mit Heiner Goebbels' "Max Black"

In eine ganz andere Welt der Klänge tauchten wir am Eröffnungsabend mit Heiner Goebbels' Komposition "Max Black". Wir können getrost die Augen schließen, wenn uns der Akteur André Wilms in seinen Kosmos mitnimmt. Im wirklichen Leben war Max Black der angenommene Name eines exilierten russischen Philosophen, der die Fuzzy-Logik entdeckte. Auf der Bühne aber steht er allgemein für das abendländisch-wissenschaftliche Begehren, die Elemente zu beherrschen.

max black 560 biro istvanKlangvolle Wissenschaftstheorie: André Wilms in "Max Black" © Biro Istvan

Wilms nimmt den Zuhörer mit auf einen Spaziergang in die Fabrik der Zweifel, Wünsche und Träume. Texte von Wittgenstein, Lichtenberg, Black und Valéry testen die Grenzen des sprachlich Sagbaren, führen uns zu den Selbstzweifeln des Naturforschers. Wilms' Reise beginnt beim Betreten des Saals und wird mit dem Satz "Die Anzahl der verschiedenen Sitzordnungen von 10 Personen auf 10 Stühlen beträgt p(10) = 10! = 3 628 800" eingeleitet. Einem Raumschiff gleich destabilisiert das Theater die Formen der Erinnerung: Drei Zettel mit den Anfangsbuchstaben der Worte "Körper", "Geist" und "Welt" verbrennen auf der Bühne. In einem Labor stößt Wilms auf Gegenstände, die ihm bei jeder Berührung abgespeicherte Sätze entgegenschleudern. So münden die selbstquälerischen Reflexionen des Forschers in eine kleine Geräusch-Symphonie.

Comicstrip im Krankenhaus: "Anamnesis" von Victor Bodó

Es war fraglos ein Festival der Klänge. Die heisern-flüsternde Stimme Marias am Ende von David Martons Wozzeck-Inszenierung bleibt mir in Erinnerung; die abfedernden Töne eines Saxophons, mit denen in Josef Nadjs "Les Corbeaux" eine ganze Breite möglicher Gefühlsschwankungen herbeimusiziert wurde, während sich ein Mensch in den titelgebenden schwarzgefiederten Raben verwandelte.

Die audiovisuelle Performance von Viktor Bodó schuf mit "Anamnesis" einen Comicstrip über die realen Zustände in ungarischen Krankenhäusern: Eine schrille Bühne gibt Platz für tussig-geiles Pflegepersonal, ignorante Verwaltung und gewinnsüchtig Ärzte. Dagegen steht die Einsamkeit von Patienten. Konterkariert wird diese Darstellung durch Videosequenzen, in denen reale Rettungssanitäter und Ärzte aus ihrem Alltag erzählen. Dass der Tod in der ungarischen Kultur ein Tabu ist, wird durch manche ausweichende Antwort offensichtlich. Im Comicstrip auf der Bühne wird diese Verdrängung – auch durch die an Mike Patton erinnernde, Fantômas-ähnliche Musik – in schauerlich schreckliche Begeisterung und Intensivstation-Slapstick überführt.

anamnesis 560 kekes szaffiÄrzte auf dem Höhenflug in "Anamnesis" von Viktor Bodó. © Kekes Szaffi

Spirituelles Puppenspiel in "Hand Stories" von Yeung Fai

Geradewegs entgegengesetzt dazu erscheint die audiovisuelle Performanz "Hand Stories" des jungen Franzosen mit chinesischem Hintergrund Yeung Fai. Der Puppenspieler sitzt im Schneidersitz, abgestützt auf seine gespreizten Finger, Energie sammelnd, bevor er sich zu seinen Puppen begibt. Anders als in "Max Black" werden die natürlichen Elemente hier nicht auf ihre Beherrschbarkeit hin befragt. Sie erscheinen als Kraftströme, an denen sich der Geist ausbalancieren muss. Der Körper sucht nach Übereinstimmung mit seiner Umgebung. Es ist beeindruckend, wie vital Fais Puppen animiert sind, wie sie den Fluss der Kräfte und Energien verinnerlichen. Fai nimmt die seit der Kulturrevolution in China als volksfeindlich verunglimpfte Tradition des Marionettentheaters wieder auf, die von seinem Vater nicht mehr ausgeübt werden konnte. So hat seine spirituelle Suche nach dem Fühlbarmachen der Elemente auch eine starke politische Dimension.

Lauschangriff in Gabor Tompas "Leonida Gem Session"

Dezidiert politisch ist auch die Adaption von Ion Luca Caragiales "Leonida", die Festivalleiter Gabor Tompa gemeinsam mit Andras Visky für die Studiobühne seines Theaters erarbeitete hat. Caragiales Komödie aus dem späten 19. Jahrhundert wird dabei zu einem angstvoll schlotternden Gespräch zwischen dem kommunistischen Staatschef Ceausescu und seiner Frau kurz vor ihrer Verhaftung eingeschmolzen und durch Dokumentarmaterialien zur Diktaturgeschichte vor 1989 gerahmt.

leonida 560 biro istvanDer Geheimdienst lauscht mit: "Leonida Gem Session" © Biro Istvan

"Leonida Gem Session" lässt Securitate-Mitarbeiter mit Stasi-Mänteln, Schnauzbärten und E-Gitarren in einem kulturpalastähnlichen Ambiente, das bei näherem Hinsehen auch als einfacher Plattenbau durchgehen könnte, aufmarschieren und die Akten von Delinquenten aus dem Theatermilieu verlesen, die aus den Beständen von Regisseur und Dramaturg stammen. Auf Knopfdruck werden Neubaublocks samt Radioantennen hochgefahren und eine Observation angeordnet. Inkriminiert ist etwa die Darstellung von Frauen durch Männer auf der Bühne. Geheimdienstlogik eben. Folgerichtig besetzt Tompa in seiner Komödien-Persiflage rund um Ceaucescus auch die Diktatorengattin als Mann. Eine politische Travestie.

Flüchtlingsgeschichten in Israel: "The Promised Land" von Shay Pitovski

Auch dem Konflikt mit Einwanderern aus dem Sudan innerhalb der israelischen Gesellschaft wurde auf dem Festival eine Stimme gegeben. "The Promised Land" ist der Titel einer Produktion des Habimah-Theaters Tel Aviv, die im Rahmen des UTE-Projektes "Emergency Entrance" entstanden ist. Autor und Regisseur Shay Pitovski zeigt eine auf Recherchen basierende lose Szenenfolge über die Lebenserfahrungen von Kriegsflüchtlingen. In einer Wartesaalatmosphäre konfrontiert er nationalistisch-fremdenfeindliche Bürger und dienstbeflissene Beamte mit den Sudanesen. Es entfaltet sich ein Konflikt um Würde und Anerkennung, mit eindringlichen Bildern wie das jener sudanesischen Mutter, die an einer Sammelstelle Geld für die eigentlich kostenlose Kleidung ihres Kindes zahlt. Ein eindringliches Statement gegen all jene Nationalisten, die in Ausländern nur Parasiten sehen.

promisedland 560 gerard allonDas eingezäunte Paradies: "The Promised Land" © Gerard Allon

Zurück in der doch recht homogen anmutenden Heimat bleibt Freude und Hoffnung, dass ein Europa der Kulturen zumindest in Transsilvanien die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen nicht scheut. Das Festival mit seiner Suche nach Stimmen und Klangfarben zeigt sich in seiner heterogenen Region gut verankert. Alle Veranstaltungen im Studio waren ausverkauft, im großen Haus gab es keinen Abend unter 500 verkauften Karten. Und wenn die "Interferences" auch als Schaulaufen für die Bewerbung Clujs um die Kulturhauptstadt Europas 2021 gedacht sind, dann kann man nur sagen: Auf geht's!


Ukchuk-Ga
nach Bertolt Brechts "Mutter Courage"
Regie: Inwoo Nam, Text und Komposition: Jaram Lee, Inspizientin: Jimyeong Kim, Bühne: Yeojung Won, Kostüme: Junghwa Kang, Licht: Yujin Lee, Musik: Taesoon Jang.
Mit: Jaram Lee, Musiker: Hyuckjoe Jang, Hongsik Kim, Hyangha Lee.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
Eine Koproduktion des Pansori Project ZA mit dem LG Arts Center, Süd-Korea.

Max Black
Mit Texten von Paul Valéry, Georg Christoph Lichtenberg, Ludwig Wittengenstein und Max Black
Konzeption, Musik und Regie: Heiner Goebbels, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Pyrotechnik: Pierre-Alain Hubert, Kostüme: Jasmin Andreae, Klangraum: Willi Bopp, Musikalische Zusammenarbeit und Live-Sampling: Markus Hechtle, Dramaturgie: Stephan Buchberger
Mit: André Wilms.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
Eine Koproduktion des Théâtre Vidy-Lausanne (Schweiz), TAT Frankfurt, deSingel (Anvers), Bayrisches Staatsschauspiel Marstall (München)

Anamnesis
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Juli Balázs, Kostüme: Fruzsina Nagy, Licht: Tamás Bányai, Musik: Klaus von Heydenaber, Gábor Keresztes, Text: Baróthy, Dramaturgie: Júlia Róbert.
Mit: István Dankó, Gábor Fábián, Károly Hajduk, Adél Jordán, Péter Jankovics, Tamás Keresztes, Lehel Kovács, Vilmos Kun, Bence Lajkó, András Lajos, Ferenc Lengyel, Béla Mészáros, Éva Olsavszky, Hanna Pálos, Zoltán Szabó, Rozi Székely, Ági Szirtes, Ferenc Simon Tóth, Vilmos Vajdai.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Eine Koproduktion des Katona József Színház und der Szputnyk Hajózási Társaság, Ungarn

Hand Stories
Konzept und Puppen: Yeung Fai, Musik: Colin Offord, Video: Yilan Yeh, Licht: Christophe Kehrli, Blick nach Draußen: Pauline Thimonnier, Licht und Management: Adrien Gardel, Musik und Video: Patrick Ciocca.
Spieler: Yeung Fai.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Eine Koproduktion des Théâtre Vidy-Lausanne (Schweiz) zusammen mit dem Théâtre Jeune Public de Strasbourg, CDN Alsace und dem Théâtre des Marionnettes de Genève.

Leonida Gem Session
Regie: Gábor Tompa, Bühne und Kostüme: Carmencita Brojboiu, Dramaturgie: András Visky, Musik: Vasile Şirli, Choreographie: Ferenc Sinkó, Inspizient: Borsos Levente, Nagy Yvonne.
Mit: András Hatházi, Zsolt Bogdán, Miklós Bács, Gábor Viola, Loránd Farkas, Szabolcs Balla, Róbert Laczkó Vass, Kati Panek.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Eine Produktion des Kolozsvári Állami Magyar Színház, Rumänien.

The Promised Land
Text: Shay Pitovski, Shahar Pinkas
Regie: Shay Pitovski, Bühne: Kineret Topaz, Musik: Hilit Rozental, Choreographie: Sharon Gal, Inspizient: Dror Mendelson, Licht: Ziv Voloshin.
Mit: Naama Armon, Oded Erlich, Lea Gelfenstein, Harel Morad, Elinor Raz, Shahar Raz, Yuval Shlomovitch.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Eine Produktion des Habimah Nationaltheater, Israel

www.huntheater.ro/interferences


Offenlegung: Die Übernachtungskosten des Autors wurden vom Festival "Interferences" übernommen.

Kommentar schreiben