Bienen in einer Wabe

von Beat Mazenauer

Zürich, 15. Dezember 2012. Im Haus des idealistischen Wissenschaftlers Pawel Protassow lebt eine kleine Gemeinschaft ungerührt und unberührt von den Konflikten draußen in der Welt. Die Cholera soll grassieren, heißt es, doch davon ist drinnen kaum etwas zu spüren, außer der Schlosser Jegor poltert mal herein. Maxim Gorki schrieb dieses Stück im Jahr 1905, als er wegen revolutionärer Umtriebe für vier Wochen in Festungshaft saß. Erstaunlicherweise tritt die Revolution darin aber kaum in Erscheinung. Die Unruhe unter den Figuren rührt eher daher, dass nicht jede Liebe wie erhofft erwidert wird.

Die Regisseurin Daniela Löffner und die Dramaturgin Barbara Sommer folgen weitgehend der Vorlage Gorkis, abgesehen von ein paar retuschierten Nebenfiguren und einem einsamen, verlorenen Hinweis aufs Internet als utopischer Repräsentation. Mit dieser Texttreue werden auch ein paar Längen mitgenommen, die dem Stück anhaften. Gorki schwankte zwischen Sozialdrama und Beziehungskomödie. Oder zwischen Sozialkomödie und Beziehungsdrama? So einfach ist das nicht zu entscheiden. In der Zürcher Aufführung wird diese Unschärfe beibehalten. Im Kern geht es dabei um die Frage: Wer ist ein Mensch? Und gibt es andere Menschen außer mir selbst?

Die Welt zum Verrücktwerden

Das bestechend schöne Bühnenbild von Claudia Kalinski zeigt einen einfachen Innenraum mit Wänden aus Bienenwaben – dem Geruch nach zu urteilen aus echtem Wachs. Es erinnert unwillkürlich an die "Bienenfabel", worin der Arzt Bernard Mandeville anfangs des 18. Jahrhunderts scharfsinnig und satirisch den Egoismus und die Selbstsucht als gesellschaftliche Triebkräfte darstellte.

Auch Gorkis kleine Gemeinschaft lebt danach, jeder für sich allein und einsam – am lebhaftesten der Hausherr selbst. Von Rainer Bock mit Charme, Schalk und Raffinement gespielt, ist Pawel von einer Vision beseelt. Die guten Menschen, die Kinder der Sonne, streben zu Höherem: zur Menschheit. Wenn er diese Vision vorträgt, erheben sich die Herzen. Allein das Menschliche überfordert ihn heillos, seine Begriffsstutzigkeit ist kolossal.

KinderDerSonne2 560 TanjaDorendorf uKinder der Sonne: v.l.n.r. Franziska Machens, Isabelle Menke, Sean McDonagh, Rainer Bock, Julia Kreusch © Tanja Dorendorf/ T+T Fotografie

Solche Gelassenheit geht den andern Figuren ab, vielmehr werden sie von Ängsten aller Art geplagt. Sean McDonagh bringt sie in der Rolle des Tierarztes Boris Tschepurnoj etwas überspannt, aber grotesk komisch auf die Bühne. Seine Annäherung an Pawels Schwester Lisa muss scheitern, weil er ihre labile Psyche nicht beruhigen, sondern nur zusätzlich traumatisieren kann. Lisa bildet insgeheim den Gegenpol zum ungerührten Pawel. Während dieser sich hinter seiner idealistischen Ignoranz versteckt, fühlt sie sich dem Zwiespalt der Welt ausgesetzt. Julia Kreusch bringt diese Spannung mit verblüffend zurückhaltender Intensität auf den Punkt, indem sie ihre seelische Zerrüttung mit subtiler Zurückhaltung Zeichen markiert und sich zuletzt still in sich kehrt. Die Welt, wie sie wirklich ist, sie ist zum Verrücktwerden.

Hehre Utopie und die Realität

Auf der Achse Lisa–Pawel baut die Aufführung in Zürich auf. Die weltfremde (oder revolutionäre) Utopie vom guten Menschen zerbricht an der realen Bedrohung durch die Außenwelt, die punktuell immer wieder in das Stück hereinbricht. Der ungehobelte Jegor (Ludwig Boettger) steht stellvertretend für die "Bestialität" des Volkes, vor allem wenn er betrunken ist und laut wird. Aber im entscheidenden Moment, als er Hilfe für seine an Cholera erkrankte Frau sucht, fordert auch er seine Rechte ein: "Sind wir denn keine Menschen?"

Jegor ist es auch eine Szene früher, der die titelgebende Utopie mit seinem Poltern zerstört – und rettet! Denn der idealistische Überschwang führt das Stück auf dem Höhe- zugleich an einen dramatisch toten Punkt. Man trägt sich artig Gedichte vor und nickt brav dazu – bis Jegor auftritt. 

Komödiantisches Spiel mit Moll-Tönen

Innerhalb der Hausgemeinschaft wird zwischen den sporadischen Auftritten des Volks fleißig Beziehungsarbeit geleistet. Alle sind sie auf der Suche nach einer Liebe. Das Motto dafür stammt abermals von Pawel, der die Menschen liebt, weil es sich dabei um "erstaunlich interessante Geschöpfe" handelt. Aber hat er neben seiner Arbeit auch Zeit dafür? Und erkennt er die Menschen überhaupt?

Alles ist Konversation in diesem Stück. Dabei lässt Daniela Löffner ihren Figuren viel Zeit, sich innerhalb des engmaschigen Beziehungsnetzes zu entfalten. Sinnbildlich dafür gibt es auf der Bühne weder Tür noch Fenster, einzig der Weg zum Publikum hin ist frei. Deshalb sitzen die Schauspielerinnen und Schauspieler – ein feiner Regieeinfall – in der ersten Reihe, von wo sie über eine Rampe auf- oder wohin sie abtreten. Das Publikum wird so insgeheim Teil des Geschehens.

Die in seiner Haltung sich manifestierende Komik ist es im Endeffekt, die "Kinder der Sonne" zu einer amüsanten, vielschichtigen und gerade deshalb auch berührenden Aufführung macht. Nebst den Genannten überzeugt das ganze Ensemble in unverschämt komischen und grotesk naive Rollen. Weil so die Vielschichtigkeit des Spiels wie des Stücks gewahrt ist, bleibt es auch haften – repräsentiert durch das überraschende Schlussbild auf der Bühne. Verdientermaßen erhielt das  Ensemble als Ganzes, das zuletzt nur gemeinsam "vor den Vorhang" trat, dafür reichen Beifall.


Kinder der Sonne
von Maxim Gorki, Deutsch von Ulrike Zemme
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Claudia Kalinski, Kostüme: Sabine Thoss, Dramaturgie: Barbara Sommer.
Mit: Rainer Bock, Ludwig Boettger, Julia Kreusch, Barbara Lotzmann, Franziska Machens, Sean McDonagh, Isabelle Menke, Nicolas Rosat, Friederike Wagner, Milian Zerzawy.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause.

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu Kinder der Sonne der jüngeren Zeit: Nurkan Erpulat inszenierte das Stück im April 2012 in Wien, Stephan Kimmig im Oktober 2010 in Berlin, Luk Perceval im März 2010 in Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (17.12.2012) vermag das Bühnenbild – eine "schiefe Bienenmetapher" – nicht zu überzeugen, es figuriere "hauptsächlich als Dekoration". Daniela Löffner wiederum habe "ihr Ensemble ganz und gar auf Komödie" getrimmt, "um nicht zu sagen auf Klamauk. Die politische Dimension hat wenig verloren in ihrer Inszenierung". Immerhin biete das Beziehungsgeflecht "viel Futter für die Schauspieler, und sie nehmen es dankbar auf." Unterhaltsam sei das allemal, "aber so unentschieden zwischen polternder Überzeichnung, biederer Konvention und blitzenden Glanzmomenten, dass sich in der verworren mäandernden Story verliert, was Daniela Löffner vor dem gelben Hintergrund eigentlich erzählen will."

Im "bedeutungsschwangeren Bühnenbild" wolle "uns die Regisseurin zeigen, wie aus der wohligen Wärme der familiären Grossgemeinschaft eine 'hitzige Atmosphäre der Isolation' entsteht", schreibt Andreas Tobler im Tages-Anzeiger (17.12.2012). "Aber ach, von diesem Forschungsvorhaben ist (…) nichts zu sehen." Löffner pendle "ständig zwischen existenziellem Drama und den "witzigen Wurstigkeiten des Boulevard", der "First-Class-Schauspieler" Rainer Bock müsse den Protassow "zum Chemiebauskasten-Kind" verzwergen, und so sitze man und denke "knapp drei Stunden lang: Nein, so verblendet wie diese Figuren und diese Inszenierung sind wir nicht."

Daniela Löffner führe "dem Publikum vor Augen, wie wenig das Gefühl der Gefühle zur Weltflucht taugt", schreibt Stephan Reuter in der Basler Zeitung (17.12.2012). "Das Ensemble folgt Gorki aufs Wort, spielt ausnahmslos stark, spielt direkt, federt Vergeblichkeit mit pointierter Komik ab." Rainer Bock als Protassow etwa knautsche "sich diese Paraderolle der russischen Moderne ganz herrlich zurecht." Bock spiele "ein grosses Kind in der Haut von Papa Studienrat; einen Kauz, der sein egoistisches Wesen mit Laisser-faire verwechselt." Fazit: "Das ist Schauspielertheater im besten Sinne."

 

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