Es ist nicht alles unpolitisch

von Dirk Pilz

Dezember 2012. Gut, noch einmal zum so betitelten politischen Theater, der am meisten befehdeten, gern belächelten, jüngst aber auch wieder verherrlichten Erscheinungsweise des Bühnenspiels.

cover derandereraumKönnen wir uns darauf einigen, dass es keinen Sinn ergibt, unterschiedslos jedes Theater politisch zu nennen, also mit einem Begriff zu hantieren, der alles Tun und Lassen als irgendwie politisch nimmt, was bereits deshalb unsinnig ist, weil erstens Begriffe, die keine Differenzen setzten, keine sind und es zweitens ja auch gar nicht stimmt? Und können wir uns zudem darauf einigen, dass Kunst nicht mit ihrem Inhalt zusammenfällt, dass demnach kein Kunstetwas auf eine Botschaft zu verkleinern ist, weil es erstens fürs Botschaftsübermitteln nicht die Kunstumwege bräuchte und zweitens jede Botschaft, sollte es sie geben, auf diesen Umwegen sowieso ihre Eindeutigkeit verlöre? Können wir all diese boulevardistischen Unterstellungen einfach mal beiseite lassen? Danke.

Die Frage nach der Grenze

Dann kann man ja mal überlegen statt zu polemisieren und verunglimpfen. Sind Menschen mit Behinderung auf einer Bühne Ausdruck eines bestimmten politischen Theaters? Wie ist es mit Arbeitslosen oder, zum Beispiel, Schwarzgeschminkten? Dokumentieren oder präsentieren sie etwas, die so genannte Authentizität vielleicht?

Es lohnt, hierfür das Buch "Der andere Raum" von Benjamin Wihstutz zu lesen; es schafft Klarheit, ein bisschen zumindest. Wihstutz macht zunächst eine einfache Beobachtung. Er schreibt, angesichts der Tatsache, dass nunmehr seit über zehn Jahren sozial benachteiligte Akteure vermehrt als 'sie selbst' die Bühnen erobern, sei es "überraschend, dass diese bisher vor allem auf eine Diskussion von Authentizität und des Dokumentarischen reduziert werden, jedoch kaum auf eine politische Dimension des Theaterraumes und seiner Verhandlung sozialer Grenzen bezogen wurden".

Das ist verwunderlich, ja. Allerdings nicht, wenn man bemerkt, dass in den Debatten um das politische Theater zumeist das Politische und die Politik vermengt werden. Wihstutz unterscheidet deshalb, wie in der Philosophie, vor allem der französischsprachigen derzeit üblich, zwischen den Praktiken der Machtorganisation und Durchsetzung (gleich Politik) und jenen Elementen des Widerstreits und Konflikts (gleich das Politische), die nicht einfach die Gültigkeit einer Praxen der Politik, sondern ihre Weisen der Machtsetzung bestreitet. Politisches Theater ist demnach eines, "das diesen gesellschaftlich konstitutiven Antagonismus ästhetisch sichtbar macht".

Die Sache mit dem Sozialen

So weit, so üblich in der momentanen Debatte um Politik und Theater. Wihstutz versucht aber nun darüber hinaus,  das Politische im Theater "konsequent räumlich zu denken". Heterotopie ist hier das Stichwort, Michel Foucault der Begriffsgeber. Verkürzt genommen: Jede Aufführung hat mit der "Janusköpfigkeit des Theaters als Kunst und als sozialer Raum" zu schaffen, denn nie ist eine Aufführung weder bloß ein ästhetisches Objekt noch nur eine öffentliche Versammlung. Das Ästhetische, das Soziale und das Politische sind im Theaterraum "immer schon aufs Engste ineinander verwoben".

So ist es, jeder Zuschauer weiß das auch, nur dass es in der (Theater)Theorie sonderbarerweise gern vergessen (oder verdrängt?) wird. Wihstutz erinnert daran. Wenn heute Behinderte, Arbeits- und Obdachlose, Straftäter oder Asylbewerber geholt werden, dann habe man es folglich, schreibt er, weniger mit einem neuen politischen Ansatz zu tun, sondern mit Versuchen einer "Rückbesinnung" auf ein mit dem Theater eng verknüpften "Moment des Politischen", mit dem einzigen Unterschied, dass diese heute "häufig mit postdramatischen oder performativen Mitteln" erfolge.

Immer schon schuf das Theater demnach Spiel-Räume, in denen sich soziale und ästhetische Praxen kreuzen, in Widerstreit geraten. Der Witz ist, dass man als Zuschauer (im gelungenen Fall), nie genau zu sagen wüsste, auf welche Praxis das Spiel jeweils bezogen ist. Daher all die Ambivalenzen: Jedes Erscheinen des Fremden auf der Bühne hat eine Kehrseite des Exotismus, jeder Auftritt sozial Benachteiligter hat auch kompensatorische, "konsequenzvermindernde" Folgen.

Das mit der Ethik

Die Sache mit dem politischen Theater so zu nehmen, hat Vorteile. Das Chortheater Volker Löschs ist für Wihstutz mit dem plumpen Vorwurf der Agitation eben gerade nicht erfasst; derlei Vorhaltungen polemisieren (und boulevardisieren) an der politischen Sache vorbei. An Marat, was ist aus unserer Revolution geworden? zeigt er, dass nicht die Choraussagen der Armen auf der Bühne dem Abend politische Brisanz verleihen, sondern die juristischen Klagen der vom Chor angefeindeten Reichen (hier die Dokumentation der gesamten, bei Wihstutz seltsamerweise arg verkürzt geschilderten juristischen Debatte). Sie würden nämlich, so sein Argument, zu jenen gemacht, die vom Theaterraum ausgeschlossen werden, die nicht mitspielen dürfen.

Erst durch diesen Einbruch des Sozialen (der realen Reichen-Klagen) ins Ästhetische werde die genuin politische Frage aufgeworfen, wer im Theater auftreten und seine Stimme erheben darf und wer nicht. Volker Lösch müsse sich folglich bei den Reichen bedanken, "sie haben seine Inszenierung überhaupt erst politisch gemacht". Interessante Wendung.

Das politische Theater konsequent räumlich zu denken, hat allerdings auch Nachteile. Dass man sich als Besucher der Parallelweltinstallationen von Signa, in Die Erscheinungen der Martha Rubin oder The Dorine Chaikin Institut, in einem "irritierenden Schwellenraum" befinde und dabei die "verstörende Erfahrung" mache, "mitspielender, aber ahnungsloser Fremder, Teilnehmerin und Ausgeschlossener einer spielenden Gemeinschaft zugleich zu sein", ist dann doch eine eher dürftige Einscht; die Diskussion unter den nachtkritik-Kommentatoren (hier zum Beispiel) ist weitaus erhellender, weil sie den spezifisch ethisch-ästhetischen Konflikt zu erfassen versucht. Wihstutz' Argumentation fehlt ein gehaltvoller Begriff von Ethik, es fehlt vielleicht generell eine konsequent räumlich gedachte Ethik.

Trotzdem, dieses Buch ist hilfreich. Es schärft den Blick. Dass es größtenteils halbwegs gut lesbar ist, also zumeist auf Theorienebelwerferei verzichtet, und der Autor zudem im Theater wirklich hinschaut und nicht nur seine Vorannahmen abzugleichen sucht, sei auch erwähnt. Es kommt selten genug vor. Und dass die Geschichte des politischen Theaters keineswegs abgeschlossen ist, dass sie, der Sache nach, nie abzuschließen ist, ist nicht die geringste Einsicht, die sich hier mitteilt.

Am Ende, im Nachwort, kommt Wihstutz zum Beispiel auf die Blackfacing-Debatte zu sprechen. Die Frage sei doch, ob das Anliegen, "rassistische Praktiken an deutschen Bühnen zu beenden", nicht doch Gefahr laufe, eine Entpolitisierung des Theaters zu fördern. Das ist die Frage, ja. Man sieht: Es bleibt noch viel zu diskutieren.

 

Benjamin Wihstutz:
Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater.
diaphanes, Zürich 2012, 304 S., 24,95 Euro

 

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