Schattenkriege im Zettelkasten

Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist eine zähe Lektüre, ein Ringen mit dem Zettelkasten eines Mannes, der viel weiß, viel zu viel, und wohl auch längst die Distanz zu seinem Gegenstand verloren hat. Davon zeugt auch der joviale, oft schnodderige und vereinnahmende Ton, in dem der westdeutsche Brechtspezialist Jan Knopf sein Werk verfasste, vom Verlag als "erste große Biografie über Bertolt Brecht nach der deutschen Wiedervereinigung" angekündigt.

cover knopf brechtUnd es wären hier ja wirklich Entdeckungen zu machen, gerade in Brechts letzten Lebensjahren in der DDR, deren Betrachtung bislang nur in der ideologischen Färbung der jeweiligen Seite von Deutschdeutschland erfolgte, aus Ost- oder Westsicht also. Doch gerade in den Jahren 1945-1956 wird Knopfs Buch nachgerade anämisch, dünn, vage und ungenau. Es erzählt auf den letzten, knapp sechzig Seiten kaum mehr als die uralte und nicht besonders originelle Geschichte vom listigen BB und den dummen Parteifunktionären. Dabei will man doch wirklich wissen, nachdem Knopf zuvor so überdetailliert auf 500 Seiten Brechts Leben bis 1945 aufgeblättert hat: Wie trafen sie alle wieder aufeinander, die Überlebenden, denen es gelang, aus der Sintflut des 20. Jahrhunderts wieder aufzutauchen: die Freunde und Feinde an den politischen und ästhetischen Fronten der Jahre 1923 bis 1945, viele von ihnen auf die unterschiedlichste Weise schuldig geworden, in der Emigration, in Nazideutschland oder im Stalinismus?

Knopf jedoch zieht keine Linien von der Vorkriegs- in die Nachkriegszeit. Sieht auch nicht auf die Zeit vor 1945 mit dem geweiteten Blick heutiger Tage – über zwanzig Jahre, nach dem die Zeit, für die Brechts Leben und Denken so exemplarisch ist, wirklich vergangen scheint. Augenscheinlich ist Knopf auch nie in die Tiefen des Parteiarchivs gestiegen, das heute die Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR des Berliner Bundearchivs verwahrt, um beispielsweise einen vorurteilsfreien Blick auf die Kunstdebatten der 1950er Jahre zu werfen, die einmal ernst zu nehmen sich durchaus lohnt, wie etwa die fulminante Dokumentation des Skandals um Brechts Oper "Das Verhör des Lukullus" des Musikwissenschaftlers Joachim Lucchesi beweist. Stattdessen wendet Knopf das Material, das er schon kennt und verliert sich und seinen Gegenstand am Ende darin.

Dabei ist die Konzeption des Literaturwissenschaftlers Knopf, die hin- und wieder doch zu kleinen Glückmomenten während der Lektüre führt, durchaus zwingend: nämlich Brecht aus seinen Texten heraus zu entwickeln. Besonders am Beginn dieser Biografie gelingt das immer wieder glänzend: wenn Knopf den jungen Dichter in seinen Münchner und Augsburger Jahren aus dessen frühen Arbeiten heraussteigen lässt und materialisiert, deren Entstehungsbedingungen er ebenso kundig wie mitreißend zu schildern versteht. Samt des Personals um Brecht: den Vater und dessen Haushälterin und Geliebte, die Mutter, den Bruder. Brechts Freundinnen oder Schulfreunde, mit denen ihn oft eine lebenslange Freundschaft verband. Doch bald kommt Brecht in dem Material seines Biografen abhanden, der sich immer wieder in überflüssigen Seitensträngen und Deutungen verliert. Hier noch eine Textinterpretation, die keinen weiter bringt, dort noch eine Salve von Zusatzinformationen, die eher den Druck des Biografen offenbaren, mit seinen Kenntnissen zu prunken, als dass sie dem Leser wirklich Material zu liefern vermögen, um dieses komplexe und schillernde Leben und Werk erschließen zu helfen.

Ermattet vom Infooverkill lässt man immer wieder das Buch sinken. Ermüdet auch von den (mitunter sehr rechthaberisch geführten) Schattenkriegen, die Knopf zwischendurch mit anderen Brechtexegeten und –spezialisten um Detailfragen auszufechten scheint. (War Brecht wirklich Kommunist? War seine Kleidung tatsächlich so sorgsam proletarisiert, wie es immer heißt?). Doch auch dies geht ins Leere, weil man nie wirklich erfährt, worauf genau sich Knopfs Verteidigungsfuror eigentlich bezieht. Wer die Feinde seines hochverehrten Meisters BB denn sind, gegen die er sich permanent in Stellung bringt. Und so bleibt dieses Buch ein gigantischer und von ein paar Goldadern durchzogener Materialsteinbruch für eine wirklich erste Brechtbiografie nach dem Ende des Kalten Krieges. (Esther Slevogt)

 

Jan Knopf:
Bertolt Brecht. Lebenskunst in finstern Zeiten.
Carl Hanser Verlag, München 2012, 559 S., 27,90 Euro

 

Ferner Schrecken

Am 11. September 1827 kommt es im Pariser Théâtre de l'Odéon zu einer folgenreichen, sagenumwobenen Premiere von Shakespeares "Hamlet". Im Publikum sitzt auch der 29jährige Maler Eugène Delacroix mit seinen Freunden Victor Hugo, Théophile Gautier, Alexandre Dumas und Hector Berlioz. Für Berlioz, so erinnert er sich später, war dies "das größte Drama meines Lebens". Er konnte nicht mehr schlafen, irrte ziellos durch die Straßen und schwor, sich "nie wieder dem Feuer Shakespeares auszusetzen". Er hielt sich nicht daran, denn nicht nur Shakespeare hatte es ihm angetan, sondern vor allem die Ophelia-Darstellerin Harriet Smithson; sie wurde fünf Jahre später seine Frau. Da sieht man, was Theater anzurichten vermag.

cover hamlet delacroixUnd auch Delacroix wurde von dieser Theatererfahrung regelrecht verfolgt: Mehrfach malte er in den Jahrzehnten danach "Hamlet"-Szenen, am berühmtesten sind seine zwischen 1834 und 1843 entstandenen 16 Lithografien; 13 davon publizierte er 1843 auf eigene Kosten, versehen mit kurzen Zitaten der jeweiligen Textstelle. Die Auflage betrug 80 Stück, die Bände gingen größtenteils an Freunde und Kritiker. Er fand damit keinen Anklang und gab seinen Plan einer "Hamlet"-Edition mit der kompletten Serie auf. Erst 1913 erschien eine (deutsche) Ausgabe sämtlicher Lithografien samt Shakespeares Text (in der Schlegel-Übersetzung) im Insel-Verlag, ein Folioband, großzügig gesetzt, der wohl am ehesten den Vorstellungen des Malers entsprach. 615 Exemplare erschienen damals.

Jetzt gibt es diese Ausgabe wieder, in einem sehr liebevoll edierten, großformatigen, edlen Band. Ein Liebhaberstück. Und eine Einladung zum Bild-Studium. Denn es tritt einem in diesem Lithografien ein zugleich fremder und seltsam vertrauter Hamlet entgegen, fremd in seinem Melancholiepathos, vertraut in seiner Unentschlossenheit.

Hamlet ist bei Delacroix nicht nur die Hauptfigur, sie ist das Energiezentrum, das Magnetfeld. Wenn er Polonius ersticht, stehen ihm die Haare zu Berge, wenn er dem Geist begegnet, scheint er in Sturm geraten. An den Gestalten um Hamlet fallen die aufgerissenen Augen und entsetzten Münder auf. Hamlet war diesem Maler ein Magier, einer, der sich und die Seinen im haarsträubenden wie seelenzerwühlenden Sinne in den Bann schlug. Es muss damals im Théâtre de l'Odéon ein offenbar tolle Inszenierung zu sehen gegeben haben, eine toll machende, die den  Zuschauern die Sinne zerwirbelte. Die Bilder Delacroix' scheinen jedenfalls Versuche zu sein, den erlebten Theaterschrecken zu bannen. Sie lassen ihn noch heute spüren. (Dirk Pilz)

 

William Shakespeare:
Hamlet. Illustriert von Eugène Delacroix.
Mit einer kunsthistorischen Einleitung von Anja Grebe.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2012, 152 S.,
49,90 Euro (ab 1. Februar 2013 69,90 Euro)

 

In Phantasiewohnungen

Realismus im Theater, hat Peter Zadek gern gesagt, sei keineswegs eine Methode, sondern eine Haltung. Und Haltung meint dabei nicht nur die moralische oder politische Perspektive, die man einnimmt, sondern der Lebens- und Wirklichkeitsrahmen für diese Perspektiven selbst, die Halterungen des Blickwinkels, wenn man so will. Insofern sind Bühnenbilder nie nur der Hintergrund eines vermeintlich "eigentlichen" Geschehens. Gerade für Zadek, den gelernten Bühnenbildner, waren sie es nie.

cover zadek buehnenbildnerSehr schön deshalb, dass es jetzt einen Band gibt, der die verschiedenen Zusammenarbeiten Zadeks mit seinen Bühnenbildnern dokumentiert. Elisabeth Plessen, Zadeks Lebensgefährtin, stellt in Gesprächen und Auszügen aus seinen Büchern, in großen, aussagekräftigen Fotografien, Zeichnungen und Modellabbildungen alle seine Bühnenbildner vor. Karl Kneidl, der Bühnenbildner für Zadek letzte Inszenierung, Major Barbara, in Zürich, Wilfried Minks, Peter Papst, Johannes Grützke oder den Ostberliner Künstler Horst Sagert etwa, den Zadek mit besten Gründen zu "den ganz großen Bühnenbildnern dieser Welt" gerechnet hat, "dessen Arbeit" aber "im Westen fast unbekannt ist". Leider. Der Raum, so sagt es Plessen, waren für den gelernten Bühnenbildner Zadek immer "Phantasiewohnungen", nie bloßer Spielrahmen. Gerade mit seinen Bühnenbildnern sei er stets "künstlerische Liebesverhältnisse" eingegangen. (Dirk Pilz)

 

Elisabeth Plessen:
Peter Zadek und seine Bühnenbildner.
Akademie der Künste, Berlin 2012, 216 S., 24 Euro

 

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