Das Haar in der Suppe

von Sabine Leucht

München, 3. Januar 2013. Zum Schlussapplaus zieht er sie beide zu sich her: Der große Mann des neuen Residenztheaters die großen Damen einer verblichenen Ära. Eine öffentliche Umarmung des Intendanten Martin Kušej mit den Schauspielerinnen Sibylle Canonica und Cornelia Froboess mag noch so spontanen Ursprungs sein, und herzlich und persönlich obendrein, sie besitzt immer etwas Demonstratives. Umso mehr, als es das erste Mal ist, dass der Regisseur Kušej mit den zwei Publikumslieblingen aus der Zeit seines Vorgängers Dieter Dorn gearbeitet hat. Und die Geste zudem vergrößert wird von der Vorgeschichte dieser Premiere, die nach zweimaliger Verschiebung am 15. Dezember abgebrochen werden musste, weil Cornelia Froboess mit Grandezza gerade noch einen Schwächeanfall vor den Augen des Publikums verbergen konnte.

Im Kreuzverhör 

Dass die Cathy, die sie in der deutschsprachigen Erstaufführung von David Mamets "Die Anarchistin" spielt, vor der Endlosschleife eigenartiger Fragen ihrer Bühnenkontrahentin Ann Kopfweh und mehr bekam, konnte man freilich nur zu gut verstehen. Viel besser jedenfalls als Anns hartnäckiges Insistieren auf scheinbar unbedeutende Details wie vergessene französische Verben oder ihr verbissen wirkendes Suchen nach dem Haar in der Suppe, die Cathy ihr doch so glaubwürdig aufgetischt hat: mit schlafwandlerischer Klarheit, einem ausreichendem Maß an Selbsterkenntnis und Reue und einer gehörigen Portion religiösen Erweckungszaubers. Für den man als Zuschauer etwas übrig haben sollte, denn als dritter Weg zwischen Rebellion und Unterwerfung kommt der (katholische) Glaube hier in aller Ausführlichkeit zur Sprache.

Nein, es ist wahrlich kein großer Text, den der amerikanische Drehbuchautor ( "Wenn der Postmann zweimal klingelt") und Dramatiker ("Oleanna") da aus seiner Schreibstube gelassen hat. Das beginnt schon damit, dass er viel zu lange verschweigt, dass die verurteilte Linksradikale Cathy schon ganze 35 Jahre im Gefängnis ist, offenbar noch immer ihre Komplizin und Geliebte deckt und Ann vor allem die Aufgabe hat, ihr Entlassungsgesuch zu prüfen. Ganz neutral, mit der Witwe eines von Cathys Opfern praktisch permanent an der Strippe.

Entrüstung und Leidenschaft

Spannender wird der Text durch diese Verschleppungsstrategie nicht. Im Gegenteil: "Die Anarchistin" ist dialogisches Schwarzbrot der trockensten Sorte, dem die Bürde auferlegt wurde, andauernd mehr scheinen zu müssen: Saftiger, gehaltvoller, raffinierter. "Bedeutungsheischend" ist so ein unschönes Wort. "Aufgeblasen" auch. Doch für die mühsam gewonnene finale Erkenntnis, dass die Inquisitorin im Dienste von Staat und Gesetz der zweifachen Mörderin und Ex-Terroristin an Fanatismus nicht nachsteht, hätte man kein neues Stück gebraucht.

anarchistin3 560 matthiashorn uAnarchistInnen: Cornelia Froboess, links, und Sibylle Canonica © Matthias Horn

Und während die Froboess zur müden Kämpferin Cathy einen unverkrampft-burschikosen Zugang gefunden hat, der die Figur fast sympathisch wirken lässt, scheint die Canonica mit einem schwer angelernt wirkenden Repertoire von verklemmten bis hysterischen Gesten permanent (und zunehmend verzweifelter) darum bemüht, ein paar dramatische Funken aus ihrer papiernen Rolle zu schlagen. So wirkt die Entrüstung wie die Leidenschaft, die sie spielt, oft merkwürdig losgelöst von dem Text, den sie zu sprechen hat.

Kleine Welt mit großer Schuld

Und Kušej macht es seinen Protagonistinnen nicht eben leichter, wenn er sie immer wieder neu vor einer Wand aus Leuchtstoffröhren platziert, die zwischendurch so hell aufleuchtet, dass die beiden Menschen vor ihr ihre Individualität verlieren und dunkel werden wie Scherenschnitte.  
Jawohl, das sagt auch der Schluss so bündig wie platt: Menschen - und "Taten der Menschlichkeit" - sind rar in einer Welt, die die Prinzipien von Macht, Schuld und Strafe verinnerlicht hat. Amen!

anarchistin2 280 matthiashorn u© Matthias HornManch einer, zumal in den USA, ist wild entschlossen, auch in Mamets neuestem Stück Spuren der politischen Kehrtwendung zu orten, die der einst gläubige Linke vor einigen Jahren vollzogen hat. Wahnsinnig weit kommt man damit allerdings nicht. Und inwiefern die sensationell kurze Aufführungsdauer der erst im November vom Autor selbst besorgten Uraufführung der "Anarchistin" am Broadway auch mit der Skepsis gegenüber dem Mitt-Romney-Unterstützer zu tun hat, lässt sich aus der Ferne nicht beurteilen. Es scheint, als hätten auch Patti LuPone und Hollywoodstar Debra Winger dem toten Stück Papier nicht auf die Beine helfen können. Der entschlossene Applaus im Residenztheater lässt allerdings darauf schließen, dass München länger bei der Stange bleibt. Und sei es nur aus Treue gegenüber den geliebten großen Damen.


Die Anarchistin (DEA)
Von David Mamet, Deutsch von Bernd Samland
Regie: Martin Kušej, Bühne: Stefan Heyne, Kostüme: Sabine Volz, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Sibylle Canonica, Cornelia Froboess.
Dauer: 90 Minuten

www.residenztheater.de


Kritikenrundschau

Cornelia Froboess und Sibylle Canonica zeigten mit ihrer ganzen schauspielerischen Stärke, "wie die scheinbar festgelegten Rollen ins Rutschen kommen und zwischendurch vertauscht werden", findet Rosemarie Bölts im Deutschlandfunk (4.1.2012). "Während die Langzeitinsassin eher lauernd ihre verbalen Pfeile abschießt, läuft die kühle Vertreterin der Staatsmacht immer nervöser hin und her und verliert schließlich ihre Contenance." In dem "handlungsarmen Stück" würden große und größte Themen verhandelt, "Sinnfragen des menschlichen Daseins, Schuld und Strafe, Scham und Buße, Reue." Und daneben gehe es um die kleinen gemeinen Themen, "Sexualität, Verlassenwerden, Intimitäten, die die andere bloß stellen und das intellektuelle Gleichgewicht durcheinanderbringen." Bölts zeigt sich beeindruckt davon, wie die beiden Darstellerinnen "aus der Kargheit eines Hörstücks ein Schauspiel weiblicher Expressivität par excellence zelebriert haben." Und auch von Martin Kusejs "immer wieder erstaunlicher Sensibilität für die Inszenierung weiblicher Psychologie".

Es geht in David Mamets Stück um so viel, bis es vor lauter ausgefransten Motivsträngen um gar nichts mehr gehe, schreibt Alexander Altmann im Merkur (4.1.2012). Dem Rezensenten bleibt rätselhaft, "warum Intendant Martin Kušej ausgerechnet dieses kunstgewerbliche Diskurs-Melodram auch noch brav werktreu inszeniert, statt es kräftig gegen den Strich zu bürsten." Wenn Kusej auf den psychologischen Realismus des traditionellen Illusions- und Mitfühltheaters setze, wirke das speziell am Anfang unangenehm betulich. "Da müssen die beiden Darstellerinnen pathetische Kunstpausen einlegen und sich so furchtbar bedeutungsvoll anblicken, dass es schon an Energieverschwendung grenzt, zwei Schauspielstars derart theatern zu lassen." Erst gegen Ende, wenn sie sich echauffierten, dürften Sibylle Canonica und Cornelia Froboess zu voller Größe auflaufen. "Ohne solche Schauspielerinnen wäre der Abend wesentlich schwerer erträglich."

Eine ganze Morphologie des Terrorismus hätte sich aus diesem Stoff vielleicht entwickeln lassen, eine Geschichte über das Wechselspiel von Intelligenz und Wahn, für das die beiden Frauen eigentlich sehr prototypisch stehen könnten, spekuliert Paul Jandl in der Welt (5.1.2012). Das, was David Mamet draus gemacht habe, sei aber etwas, "bei dem auch der wahrlich weibsteufelerprobte Martin Kušej scheitern muss". Denn Mamet, der sonst sehr direkt ins Leben greife, wolle es diesmal ganz hintergründig und prinzipiell. "Aus den markenzeichenartig kantigen Dialogen, für die er eigentlich berühmt ist, sind philosophelnde Satzkaskaden geworden, Ungetüme eines Thesentheaters, das gar nicht genug große Themen verhandeln kann." Kušej habe sich für eine milde Variante des Strenge-Kammer-Spiels entschieden, die mit zwei großen Damen stehe und falle. "In diesem Fall: leider eben trotzdem fällt." Immerhin sei Cornelia Froboess "als große Grübelkünstlerin" zu erleben, "die diesem schändlich unterschätzten Fach immer neue Nuancen abgewinnt." Aber insgesamt runde sich an diesem Abend nichts, "es bündelt sich nicht einmal etwas zu irgendeiner Behauptung."

"So gut die Aufführung ist, so schlecht ist das Stück", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (7.1.2012). "Mamet wollte einen letztgültigen Text zu Schuld und Sühne, Gnade und Strafe schreiben, heraus kam ein einfältiges Geseire über Glauben und Vergebung". Allein die schauspielerische Leistung wiegt für Tholl vieles auf, insbesondere die von Cornelia Froboess als Anarchistin Cathy. Sie wirke "beeindruckend jung mit ihren 69 Jahren" und "widmet sich mit Lust Mamets Rhetorik. Sie nölt nicht mehr, hat jeden Manierismus verloren, wirkt faszinierend 'echt', beharrt auf der Bedeutung einzelner Worte, dreht und wendet diese, sinniert über Sprache. Sehr klug, sehr wach ist sie." Mit seiner "seiner minutiös gearbeiteten Schauspielarbeit" verneige sich Regisseur Martin Kušej "vor zwei großen Damen des einstigen Dorn-Ensembles".

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