Unser grimmig entschlossenes Amüsierbedürfnis

von Nikolaus Merck

Berlin, 12. Januar 2013. Vor fast genau 20 Jahren schrieb Helmut Schödel in der Zeit: "Eine Zeitlang dachte man, die Wirklichkeit hätte die Phantasie der Autoren überflügelt, sei schärfer als die Satire, absurder als die Groteske", dann aber sei Werner Schwab dahergekommen und die Literatur habe sich mit mehreren Nas'längen Phantasie und Übertreibung vor der Wirklichkeit ins Ziel geworfen. Nun, nur 20 Jahre später, ist doch alles gekommen, wie der Graz-Schwab es in seinen 16 Dramen aufgeschrieben hat. Eine Leich' im Keller scheint im Fritzl- und Kampusch-Österreich, wo die Pfarrherren die Ministranten missbrauchen wie nur irgendwo sonst im Katholischen Reich, eh ein jeder zu haben; dass der Vater sich an der Tochter vergeht im Ehebett, ist unser täglich Zeitungsbrot und die Sprache, das Schwabdeutsch, die nur mehr Hülse ist und Ausgestanztes aus der Werbebeilage, die herrscht im Privatfernsehen, beim Superstar wie im Dschungelcamp schon lange.

Alte Kunst vs. neue Wirklichkeit

So gesehen, ist eine Aufführung von Werner Schwabs Erfolgsstück "Die Präsidentinnen" ein ganz und gar nostalgisches Unternehmen, eine Erinnerung an den in der Silvesternacht 1993 gestorbenen Schwab, eine Art geistigem Onkel von Zeitgenossen wie Ewald Palmetshofer, Erinnerung an die Zeit, in der das Theater den Kleinbürger im Parkettbürger noch schrecken konnte mit seinen Übertreibungsgrimassen. Weshalb es auch ganz folgerichtig ist, dass eine solche Aufführung im Berliner Ensemble statt hat, dem Haus des 75-jährigen Patriarchen Claus Peymann (dessen einziger Schüler, Peter Wittenberg, 1994 "Die Präsidentinnen" zur Theatertreffen-Einladung erfolgsinszenierte), der unverdrossen darauf besteht, auch alte Kunst könne die neue Wirklichkeit entlarvend aufschließen.

praesidentinnen3 560 RuthWalz uCarmen Maja-Antoni, Ursula Höpfner-Tabori und Swetlana Schönfeld  © Ruth Walz

Was aber wird entlarvt, wenn die Kunst des Werner Schwab zum Schock nun nicht mehr taugen mag? Welches falsche Bewusstsein kann durch die Rede vom harten und weichen Stuhl, vom Ausräumen diverser Kloanlagen mit bloßer Hand, vom Herrmann, der jederzeit einen Verkehr haben könnte, aber keinen Verkehr haben will, was er die frömmlerische Mama verlässlich per Postkarte wissen lässt, in den Schwitzkastengriff der Aufklärung genommen werden? Vermutlich entlarven "Die Präsidentinnen" heutzutage nichts und niemanden mehr. Allenfalls unser grimmig entschlossenes Amüsierbedürfnis, dem die Aufführung von Regisseur Günter Krämer, auch er mit 72 Jahren ein Veteran vergangener Theaterstürme, dann auch beflissentlich obliegt.

Strapse unterm Kittelkleid

Wie jede Inszenierung der "Präsidentinnen" funktioniert auch diese hier zuvörderst als Schauspielerinnenfest. Die drei Putzfrauen Carmen Maja-Antoni, Swetlana Schönfeld und Ursula Höpfner-Tabori haben das Publikum schon nach fünf Minuten durch gemeinschaftliches Intonieren des Andachtsjodlers "Tjo Tjo Ti-ri" am Schlaffittchen. Daran halten sie es 100 Minuten fest. Die Schönfeld gibt Grete als reifen Sexpfropfen mit Kippstimmenakrobatik und Strapsenesteln unterm Kittelkleid. Maja-Antoni spielt die frömmlerische Herrmann-Mutter Erna, ihres Zeichens Besitzerin einer Pelzhaube von der Mülldeponie, mit Tattoo am linken Fußknöchelgelenk als Variation ihres pragmatischen Stehauffrauchens mit Schnarrstimme. Und Höpfner-Tabori verleiht, 20 Jahre nach ihrer Wiener Rollen-Gestaltung, der Wiederauflage ihres Mariedls abermals die leicht somnambule Vokaldehnung, als hätte sie ihre tänzerischen Fertigkeiten vom Leib in die Stimmführung verlegt. Auf die Halbdebilität der früheren Version verzichtet sie weitgehend. Augen rollen, Arme gestikulieren, Höpfner biegt sich, ins Groteske, ins Schrille, ins schier Phantastische führt jedoch kein spielerischer Weg.

praesidentinnen1 560 MartinWalz u"Tjo Tjo Ti-ri ... Tjo Tjo Ti-ri"   © Ruth Walz

Nun kann man vom Berliner Ensemble des Claus Peymann wohl kaum erwarten, dass es plötzlich seiner Spielweise untreu würde, die Figuren immerzu leicht besserwisserisch auf dem Silbertablett zu präsentieren. Allerdings jedoch ließe sich denken, dass "Personen", die davon träumen, mit dem Papst ins Bett zu gehen, wie Erna, die, wie Mariedl, den Frieden auf Erden in den Tiefen verstopfter Aborte mit der bloßen Hand aufzuspüren suchen oder, wie Grete, noch die eigene Tochter einem alles sprengenden sexuellen Furor zu opfern, sich selbst und das Wohlgefühl der Zuseher anders in Gefahr brächten als im BE. Da nämlich geschieht nicht mehr, als dass der Bühnenboden samt Klo, Frisierkommode, Küchentisch, Stühlen, Garderobe mit eingelassenem Aquarium und Stehlampe einmal in die Senkrechte hoch fährt, auf dass die Damen wie aufgespießte Schmetterlinge am Mobiliar hängen.

Himmlischer Leib auf der Hinterbühne

Wie es dazu kommen kann, dass dem Mariedl im zweiten Teil, wenn sich die Träume vom ultimativen Bier- und Selchfleischfest mit Sex und Liebe und triumphaler Kloreinigung ineinander verschlingen, plötzlich Rachephantasien aufsteigen, in denen sie Grete und Erna genüsslich dahinrafft, bleibt ungeklärt. Viel zu lieb und viel zu brav hat Krämer bis dahin den Text des Berserkers Schwab illustriert. Da hilft es dann auch nichts mehr, dass, sobald der Bühnenboden zurück in die Waagrechte gefahren ist, Mariedl mit abgetrenntem Kopf in den Müllsäcken der Freundinnen landet, während ihr himmlischer Leib zugleich auf der Hinterbühne im Goldstaub tanzt. Im Berliner Ensemble zerrt Schwabs Sprache, das berühmte Diktum des Autors abwandelnd, nicht die Personen, sondern die ganze Inszenierung hinter sich her, wie Blechbüchsen, die man an einen Hundeschwanz angebunden hat. Das Publikum jubelte trotzdem.

 

Die Präsidentinnen
von Werner Schwab
Regie: Günter Krämer, Bühne: Jürgen Bäckmann, Kostüme: Falk Bauer, Dramaturgie: Hermann Wündrich, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Carmen-Maja Antoni, Swetlana Schönfeld, Ursula Höpfner-Tabori.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 


Kritikenrundschau

Kritik am Regiekonzept verbindet Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (14.1.2013) mit nachdrücklichem Lob für das Schauspiel. "Wo Schwab sich also tief in die Niederungen des Begehrens versenkt und in den Auslassungen der Kleinmütigen und Beschränkten eine ureigene Gossen-Poesie entdeckt, fällt Regisseur Krämer und seinem Bühnenbildner Jürgen Bäckmann nicht mehr ein, als dem Text ein Theatermuseum zu bauen." Ihr Ambiente sei "so clean, dass man fürchten muss, es könnte von den Schwab'schen Unflat-Sätzen beschmutzt werden." Dagegen steht des Kritikers Eloge auf die drei Darstellerinnen: "Dass der Abend trotzdem nicht im kunstgewerblichen Kitsch versinkt, ist den drei furiosen Schauspielerinnen zu verdanken, die sich in den bis zur Zerfleischung forcierten Rausch aus Religiosität, Geilheit und Kleinbürgermuff schrauben."

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