Emil und die Halbwelt-Dilettanten

von Wolfgang Behrens

Berlin, 2. Dezember 2007. Erich Kästners "Emil und die Detektive" enthält ein Prolog-Kapitel: "Die Geschichte fängt noch gar nicht an". Darin gibt Kästner so etwas wie sein ästhetisches Credo ab, und zwar ein realistisches: "das beste wird sein", lässt sich der Autor dort von einem kunstverständigen Oberkellner raten, "Sie schreiben über Sachen, die Sie kennen. Also von der Untergrundbahn und Hotels und solchem Zeug. Und von Kindern, wie sie Ihnen täglich an der Nase vorbeilaufen."

Und im Folgenden zeigt sich dann, dass die Welt, die Kästner kennt, auch eine Welt ist, die man verstehen kann: Er scheidet fein säuberlich zwischen gut und böse, die Geschichte rollt unaufhaltsam auf ihr voraussehbares Happy End zu.

Man muss Übergänge schaffen, sagt Emil

Auch Frank Castorf mag in seinen Inszenierungen von Dingen erzählen, die er kennt – und jedenfalls erzählt er nicht von einem Jungen im blauen Sonntagsanzug, sondern von einem mit rotem Anorak und cooler Rapper-Pudelmütze. Doch sein Credo hält das Fein-Säuberliche auf Abstand – mitten in seiner "Emil und die Detektive"-Version an der Berliner Volksbühne (die ab 17 Jahren, eine ab 9 wird einen Tag später folgen) lässt Castorf den kleinen Emil-Darsteller David Gabel in die wieder einmal fleißig eingesetzte Handkamera hinein agitieren: "Man muss Übergänge schaffen zwischen den verschiedenen Stilen und Genres" usw.

Es klingt wie ein Echo aus dem Interview, das Castorf kürzlich Ulrich Seidler für die Berliner Zeitung gab: "Jetzt wird wieder öfter eine Klarheit, eine Reinheit auch des Stils angemahnt. Aber das fällt mir schwer, das kann ich nicht, und das will ich auch nicht." Castorf will es schmutzig.

Und so besteht Castorfs Hauptarbeit in seinem "Emil" darin, Kästners überschaubare Welt in eine des Übergangs und der Unklarheit zu verwandeln. Der Nollendorfplatz des Buches liegt nun irgendwo zwischen Döblins Alexanderplatz und St. Pauli, zwischen Moskau ("Jackpot" steht in kyrillischen Leuchtbuchstaben neben der Leinwand, die das Bild der Handkamera wiedergibt) und dem Mexiko von Robert Rodriguez (das in Filmeinspielungen daherkommt).

Detektive auf dem Alexanderplatz

Kästners Gut und Böse weicht moralischen Grautönen: In Milan Peschel fließen die Figuren des verwerflichen Gauners Grundeis, der sogar harmlose Kleinbürgersöhne bestiehlt, und des immer strebend sich bemühenden Döblin’schen Franz Biberkopf zusammen. Denn in einem mitunter ausufernden Nebenstrang erzählt Castorfs Inszenierung jene "Berlin Alexanderplatz"-Episode nach, in der Biberkopf sich gutgläubig mit der Verbrecherbande des Pums gemein macht: der Gauner als Opfer.

Bleibt der Übergang von der Erwachsenenwelt zu den Kindern, die immerhin in Dutzendzahl am Volksbühnen-"Emil" mitwirken. Die Großstadt, in der es sich die Erwachsenen eingerichtet haben, ist in Bert Neumanns Container-Bühnenbild (das Castorfs "Berlin Alexanderplatz"-Produktion entstammt) eine Halbwelt aus Bordell, Spielhölle, Rummelplatz, Box-Gym und Büdchen. Die Kinder erobern sich dieses ihnen im Grunde feindlich scheinende Terrain wie einen Abenteuerspielplatz, auf dem sie ihre Stärken – Spontaneität und Fantasie – behaupten können, auf dem sie aber genauso schnell in die Verhaltensmuster der Erwachsenen fallen: und dann sitzen sie eben auch am Spielautomaten oder stehen – wie der korpulente Petzold – plötzlich zum Amoklauf bereit, mit dem Gewehr im Anschlag.

Typen, Knallchargen und Brüllaffen

Ein schauspielerisches Niveaugefälle zwischen den jugendlichen und den erwachsenen Darstellern gibt es nicht. Das liegt nur zu einem Teil daran, dass sich die fünf Mädchen und sieben Jungen mit Verve ihrer Aufgaben bemächtigen und dabei auch gerne mal in Volksbühnen-Manier lautstark austicken. Das liegt vor allem daran, dass Castorf die Grenzen zwischen Schauspielerei und fröhlichem Dilettantismus längst aufgelöst hat.

Man wird schon sagen dürfen, dass Milan Peschel sich in seiner bisherigen Karriere als ein Darsteller von mittleren Gnaden gezeigt hat, nicht unbegabt, aber in seinen Mitteln eklektizistisch und begrenzt: Hier, in diesem Umfeld, ist er der handwerkliche Star. Denn um ihn herum toben die Unschauspieler, die Typen und Originale, die Knallchargen und Brüllaffen. Michael Schweighöfer spielt Emils Oma dämlich travestierend und dauerlaut mit Thierse-Bart, Kopftuch und Baseballschläger; Volker Spengler spielt Volker Spengler; und die schauspielerische Leistung der Damen Luise Berndt und Ewa Mostowiec ist nach konventionellen Maßstäben eigentlich gar nicht bestimmbar.

Ratloses Fazit

Aber Castorf will es ja schmutzig, und ein Schuft, wer ihn deshalb kritisiert! Und so wird Kästners irgendwie noch heile Welt zweieinhalb pausenlose Stunden lang – endlos lange Stunden! – nach allen Regeln der Kunst und Nicht-Kunst in die ästhetische Anarchie gejagt. "Lässt sich daraus was lernen?" fragt Kästner in seinem letzten Kapitel. Bei Castorf lautet die Antwort wohl: "Nein."

 

Emil und die Detektive
nach Erich Kästner unter Verwendung von Texten aus
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz"
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Dramaturgie: Dunja Arnaszus, Licht: Lothar Baumgarten.
Mit: Luise Berndt, Georg Friedrich, Michael Klobe, Henry Krohmer, Ewa Mostowiec, Milan Peschel, Michael Schweighöfer, Volker Spengler, Catalina Bigalke, Clara Behmenburg, Zosia Coly, Jacob Funke, David Gabel, Viktor Groß, Christopher Gruner, Marcel Heuperman, Titus Hetzer, Béla Jellinek, Rosa-Rebecca Jellinek und Luise Schumacher.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Bernhard Doppler im Deutschlandradio (Fazit, 2.12.2007) kann direkt nach der Premiere nur Gutes berichten: Frank Castorf, der zum ersten Mal mit Kindern gearbeitet hätte, sei "nicht der Versuchung erlegen, deren Welt gegen die der Erwachsenen auszuspielen oder sie als Opfer zu heroisieren". Seine Inszenierung, deren ästhetischer Ansatz die Filmübermalung sei (drei "Emil"-Verfilmungen kämen vor, Fritz Langs "M" sowie der "bei ihm unvermeidliche Tarantino"), zeugt ihm keineswegs von einer "künstlerischen Auszehrung der Volksbühne". Die "an Erich Kästner direkt anschließenden Teile" seien "komödiantisch, bisweilen kabarettistisch umgesetzt", Michael Schweighöfer, Milan Peschl und der aus Ulrich Seidl-Filmen bekannte Georg Friedrich gefielen ihm sehr.

Auf Spiegel Online (3.12.2007) und bei Christine Wahl steht die Erzählung vom Abstieg hingegen im Zentrum. Das Haus stecke "tief in der Krise, prägende Dramaturgen haben sich reihenweise verabschiedet, die einst theaterrevolutionären Mittel sind zur hohlen Form erstarrt – und von den Schauspielern, die sie zum Niederknien beherrschten und gestalteten, ist keine Handvoll fest am Haus verblieben." Die Rettung durch "Emil" im Bühnenbild von "Berlin Alexanderplatz" bliebe aus. Zwar sei es "interessant", den bösen Dieb als Wiedergänger Franz Biberkopfs zu sehen, als "schwachen Kleinkriminellen, dem es selbst ständig an den dreckigen Kragen geht", aber Castorfs "alte Theatermittel" wirken "nur noch schal und abgestanden". Die "Alt-Schauspieler" könnten die "schlaffe alte Hülle" nicht mehr füllen, die "Neuzugänge" "nerven nurmehr als Nachahmungsvollstrecker" und die Kinder seien zwar "niedlich", aber kein Konzept für Krisenmanagement.

Matthias Heine in der Welt (4.12.2007) haut in die gleiche Kerbe. Die "Ruine eines Genies" sei am Rosa-Luxemburg-Platz zu besichtigen. Castorf sei in den letzten 20 Jahren der bedeutendste Theatermann der Welt gewesen und hätte nicht nur Menschen verändert, sondern auch die Stadt Berlin. Das sei nun vorbei. Dass Castorf die Theaterkrise als Krise der Kritiker interpretiere, kann Heine in Teilen bestätigen: Tatsächlich blicke man "mit müdem Gefühl" auf die Bühne und betrachte "wehmütig" die Nachahmerinnen von Kathrin Angerer und Sophie Rois. Das derzeitige "Trauerspiel" bringt er in Zusammenhang mit der Chefdramaturgin Gabriele Gysi. "Die gescheiterte Regisseurin sitzt nun auf dem Stuhl, auf dem einmal ein kluger Stratege wie Matthias Lilienthal saß." Das Wort von der Volksbühne als "Wärmestube für verhärmte PDSler" – für "die Leitungbsebene des Hauses" stimme es jetzt.

Im Berliner Tagesspiegel (4.12.2007) zielt Rüdiger Schaper ebenfalls aufs Allgemeine. Aus dem "Sponti" Castorf, dem "großen Erneuerer des Hauptstadttheaters" sei ein "Ewigkeitsabkanzler von Helmut-Kohlschen Graden geworden". Außerdem sei (wohl ebenfalls ein Hinweis auf Gabriele Gysi) "die Volksbühne offenbar nach russischem Muster in schwer durchschaubare, semidiktatorische Verhältnisse" zurückgefallen. Die Inszenierung selbst gefällt Schaper dann aber gar nicht so schlecht. Diesseits der "tiefen Löcher", die die "unkonzentrierte Regie" lasse, funktioniere die Sache als "giftiges Weihnachtsmärchen". Die Kinder seien "wunderbar", Michael Schweighöfer und Volker Spengeler, die beiden "Brüller", auch. Trotzdem bekomme das Publikum der Volksbühne derzeit vor allem "den eigenen Alterungsprozess gnadenlos vorgeführt".

Mit eher sachlicher Ratlosigkeit blickt Katrin Bettina Müller in der taz (4.12.2007) derzeit auf die Volksbühne. An "Emil" gefällt ihr Milan Peschel als "Underdog", und dass Luise Berndt nicht nur Mutter Tischbein, sondern auch die Großstadtfrauen spielt, findet sie "keine schlechte Idee, um von Emils und Erich Kästners hypertropher Mutterliebe zu erzählen". Auch die Inszenierung der Kinder beschreibt sie mit Sympathie. Aber um diese dreistündige Arbeit wirklich zu verstehen, müsse man auch den fünfstündigen "Alexanderplatz" gesehen habe, und das scheint ihr doch ein "seltsamer Umgang mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit" zu sein, "der aber doch eines der Probleme des Hauses recht gut illustriert: die Selbstbezüglichkeit, das Schmoren im eigenen Saft".

Dazu und zu einer Attacke im Spiegel (Ausgabe 48/2007, nicht mehr kostenlos online) hatte Müller zuvor die Chefdramaturgin befragt, die von Krise jedoch nichts wissen wollte: "'Es wird etwas geschehen, so oder so. Der nächsten Generation werden Räume geöffnet', sagt Gabriele Gysi, etwas vage die Befürchtungen abwehrend, dass alles so bleibt, wie es ist."

Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.12.2007) hat sich aufs Kritisieren beschränkt: "Die Kinder spielen mit großartigem Laien-Mut. Es gibt schrille Kreischanfälle, linkische Verliebtheitsszenen – und allesamt passen sie in einen Müllcontainer. Die Erwachsenen im Milieu unterscheiden sich in der Spielweise gar nicht so sehr vom Nachwuchs. Die Frauen – Luise Berndt (Emils überforderte Mutter, die im goldenen Kleid am Alex als Hure wieder auftaucht) und Ewa Mostowiec (als gute Polin) – wirken im Vergleich zu den Kindern sogar recht blass. Milan Peschel aber pendelt als Grundeis/Biberkopf immer volle Pulle zwischen Bösewicht, der Emil ein Schlafmittel in die Cola mischt, und armem Würstchen, das am Ende in einen Teppich gerollt und entsorgt wird." Die Erich Kästner-Frage, ob man aus all dem etwas lernen könne, beantworte Castorf "mit einem schmuddeligen Nein". Dennoch "scheint durchaus die weihnachtliche Sehnsucht nach einer Welt auf, die man Kindern zumuten kann, die aber nicht auf Lügen gebaut ist".

Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.12.2007) startet seine Kritik wiederum mit einer ausführlichen Krisen-Suada und kolportiert auch interne Stimmen zur Chefdramaturgin Gysi, mit der man nicht reden wolle, und die Bernhard Schütz als "Politkommissarin" bezeichne. Die Inszenierung selbst findet er "vollautomatisch und selbstreferentiell". Die Kinder seien "eine Freude", aber: "Das Ganze wirkt wie eine schlechte Kopie eines Castorf-Epigonen, in der Milan Peschel noch einmal den Kleinkriminellen macht und Volker Spengler noch einmal gefährlich dröhnt."

Als "grob und schludrig zusammengebastelt" beurteilt Irene Bazinger die "Emil"-Inszenierung in der FAZ (4.12.2007). (Ihrerseits verwechselt sie dann aber Michael Schweighöfer mit Georg Friedrich...) Die Kinder "nölen, zetern, rackern sich eifrig an eingebauten Theoriebrocken ab, geraten brüllend außer sich – und sind überdies fast nie zu verstehen." – "Ist diese Aufführung reiner Zynismus mit Kindern als liebreizenden Schutzschildern, hinter denen sich der berechnende Regisseur versteckt, oder bereits die inoffizielle Demission mit dem salopp ausgedrückten Wunsch, die nächste Generation möge den Karren aus dem Dreck ziehen?" Zum Abschluss weist auch sie auf die bereits sehr lange Amtszeit Castorfs hin.

In der Neuen Zürcher Zeitung (5.12.2007) schreibt Dirk Pilz: "Aus der einst ästhetisch gesuchten Anarchie ist hier banales Chaos geworden; früher rückte Castorf der Gesellschaft mit wütender Analyse zu Leibe, jetzt hat man es mit trotzigem Parolentum zu tun." Castorf inszeniere Kästners Kinderroman vor allem, "um ihm das Happy End streitig zu machen". Emil wie Grundeis sind Opfer der Verhältnisse, bei Castorf. Die Inszenierung wolle wissen, "warum es in dieser, unserer Welt Diebe und Bestohlene, Gewinnler und Verlierer überhaupt gibt. Allerdings wird einem nichts Genaueres darüber erzählt, sondern lediglich die Schlechtigkeit der Welt beschworen." Aber soviel können Emil und die Zuschauer doch lernen: "Für den Mittellosen hält die Geld-Gesellschaft allenfalls Mitleid bereit. Das ist die Lektion, die Castorf seinem Emil erteilt."

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