Fremdheitserfahrung ohne Exotisierung

von Günther Heeg

Hildesheim, 16. Januar 2013.

These 1

Das deutsche Stadttheater nährt sich vom Phantasma der Nationalkultur

Das deutsche Stadttheater ist ein Mythos. Aber es ist ein Mythos, der sich auch in seiner Verfallsphase immer noch gespenstisch am Leben erhält. Seine Energien bezieht er vom Phantasma der Nationalkultur. Damit ist nicht die Beschränkung auf nationale Themen und Stoffe gemeint. Sondern eine bestimmte Anordnung der einzelnen Theaterelemente Drama, Sprache, Körper, Gestik, Bewegung usw., die einen symbolischen Raum kreieren, der geschlossen und repräsentativ ist und zur Identifikation einlädt. In der Praxis zeigt sich die Wirkung des Phantasmas in der nach wie vor herrschenden Überzeugung, ein Stadttheater habe im Kern die Dramen eines klassischen Kanons auf der Bühne verkörpernd und interpretierend umzusetzen. Damit stellt das Theater ein Szenario imaginärer Gestalten bereit, die sich als Objekte des einfühlenden Begehrens und der affektiven Abgrenzung anbieten. Sie ermöglichen die Trennung von Drinnen und Draußen, Eigenem und Fremdem und bewirken die emotionale Bindung an den symbolischen Raum der vermeintlich eigenen Kultur.

 

These 2

Die Entwicklung der Stadtgesellschaft zieht dem Phantasma des Stadttheaters den Boden unter den Füßen weg

Das Modell der Marktplatz-Öffentlichkeit, in der das Theater seinen festen Platz hatte, hat sich dezentralisiert und partikularisiert in viele konkurrierende Öffentlichkeiten, die um Anerkennung ringen. Die immer schon scheinhafte Homogenität der bürgerlichen Nationalkultur sieht sich durch die offensichtliche und greifbare kulturelle Hybridisierung, durch Sub- und Parallelkulturen ihres Scheins beraubt. Migrationsbewegungen, transnationaler Kapitalflow und ubiquitäre Medienpräsenz machen die Stadt zu einem Ort des Glocal, der von den Dynamiken der Globalisierung und ihren Bewegungen der De- und Re-Territorialisierung erschüttert wird.

 

These 3

Die Stadt als Ort des kulturellen Andersseins erzeugt die Angst vor dem Fremden

Bereits 1908 hat der Soziologe Georg Simmel den Fremden als Strukturfigur der modernen Großstadt beschrieben. Zur Stadt heute gehört die Omnipräsenz des kulturellen Andersseins. Aber rivalisierende kulturelle Orientierungsmuster und Praktiken bewirken nicht gleichsam naturwüchsig harmonisches, multikulturelles Zusammenleben. Sie sorgen für Desorientierung und Ängste, die zu Abgrenzung und Exklusionsbestrebungen und der Sehnsucht nach althergebrachten Weisen der kollektiven kulturellen Identifikation führen. Dass sich Theaterleute, Politiker und Zuschauer in dieser Situation an das Phantasma des Stadttheaters klammern, ist Teil der Reaktionsbildungen auf die Verflüssigung der alten städtischen Strukturen und der damit einhergehenden Angst vor dem Fremden.

 

These 4

Die Begegnung mit dem Fremden verlangt nach einem transkulturellen Theater

Die Begegnung mit dem Fremden rückt das Nahe in die Ferne und lässt uns das Eigene mit fremdem Blick sehen. Dass diese Grunderfahrung des Fremden im Eigenen ihr Potential eines gelingenden Umgangs mit dem Fremden entfalten kann, ist die Herausforderung des Theaters heute. Das Stadttheater, das sich ihr stellt, muss sich als transkulturelles Theater verstehen. Anders als das sogenannte interkulturelle Theater und seine Theorie geht das transkulturelle Theater nicht von abgeschlossenen, distinkten Kulturen aus, die es miteinander in Kontakt zu bringen sucht. Es setzt an der Fremdheitserfahrung im Inneren der kulturellen Phantasmen an, die uns umgeben. Wo auch immer das Theater sich auf die Suche nach dem Fremden macht, bei den Randgruppen und Parallelkulturen, den Armen und den Dropouts der Stadt, bei den Klassikern oder im Apparat des eigenen Hauses, entscheidend ist, dass es das Fremde nicht exotisiert. Dass es sich nicht anmaßt, stellvertretend für andere zu sprechen und sie zu repräsentieren, sondern dass es unsere Wahrnehmung des Fremden verfremdet als Wahrnehmung eines Entzugs und einer Abwesenheit im Eigenen. Deshalb ist es für ein transkulturelles Theater unabdingbar, immer erneut seine Darstellungsmittel zu überdenken und auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Erfahrung des Fremden hinzu befragen.

 

These 5

Das Stadttheater geht perspektivisch in einer transkulturellen Theaterlandschaft auf

Das transkulturelle Theater erwächst nicht aus dem Gegensatz zum Stadttheater, sondern durch die Aushöhlung seines Phantasmas. Dies kann von innerhalb und außerhalb geschehen, verstärkt von Grenzgängern, die sowohl mit dem Stadttheater als auch mit anderen Häusern und Produktionsformen vertraut sind. Das unterspült die herausgehobene Position, die das Stadttheater bislang ökonomisch und seinem Anspruch auf Repräsentation nach innehat. Ein Stadttheater als transkulturelles Theater nähert sich den anderen Theaterhäusern der Stadt an. Tendenziell wird es sich von den anderen Theatereinrichtungen nicht mehr grundsätzlich unterscheiden, sondern nur noch graduell durch die jeweilige Akzentsetzung der Häuser. Mit anderen Worten: Das Stadttheater wird sich auflösen, wird Teil unter Teilen, ein Haus unter anderen Häusern der Stadttheaterlandschaft sein. Die Auflösung des Stadttheaters könnte zugleich die Lösung für das städtische Theater sein. Die Voraussetzung dafür ist, dass sich damit auch die bisherige extreme Asymmetrie der ökonomischen Mittel zugunsten einer gerechten Verteilung auf die einzelnen Spielstätten auflöst. Der einzuschlagende Weg ist der des Abbaus von Asymmetrie und Abhängigkeit, des Rückbaus von hierarchischen Strukturen, des Umbaus von Spielstätten und einer wechselseitigen Vernetzung in einer Theaterlandschaft in der Stadt und über deren Grenzen hinaus.

 

guentherheegGünther Heeg ist Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Von 1977 bis 1992 unterrichtete er als Lehrer am Spessart-Gymnasium Alzenau, bevor er seine Habilitation an der Universität Frankfurt am Main begann und 2003 schließlich die Professur in Leipzig antrat. Aktuelle Forschungsprojekte sind "Das Transkulturelle Theater" und "Geschichte aufführen – Re-enacting History". Er ist Vizepräsident der International Brecht Society.

 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden.

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

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