Rasend humorlos im Schwank gestrandet

von Andreas Klaeui

Zürich, 17. Januar 2013. Ein Lustspiel geht anders aus. Im "Menschenfeind" gibt es am Ende ja nichts als Einsamkeit, Verlust, Konflikt. Hochzeiten sind weit entfernt. In Barbara Freys Zürcher Inszenierung gehören die letzten Augenblicke einem wehmütigen Pianisten (Iñigo Giner Miranda, auch er hat in Zürich einen Korb zu verkraften). In melancholischen Klaviertakten löst sich auf oder vielmehr: löst sich eben nicht auf, sondern bleibt schweben, was eine Komödie nur deshalb ist, weil sich die Wirklichkeit im Witz nun einmal besser abbilden lässt als im Ernst (denn das ist sie ja im besten Fall selber, die Wirklichkeit: ein Witz).

Tölpel, Hexe und Skandalon

Barbara Frey zeigt es mit Schärfe. Die Figuren in Alcestes Welt sind Witzfiguren. Die Tölpel Acaste und Clitandre (Siggi Schwientek, Christian Baumbach), der Diener Basque (Samuel Braun), der sich beim Abgehen jedesmal den Kopf anschlägt, als käme er direkt aus einem britischen Schwank, die Dame Arsinoé, der Gottfried Breitfuss im Chanel-Kostüm die ganze Üppigkeit einer heuchlerischen Hexe mitgibt, Matthias Bundschuhs Oronte, der sein Leben mit Hasenlächeln aufsagt wie Kinderverse im Weihnachtsmärchen.

menschenfeind2 hoch matthiashorn uMichael Maertens als Alceste © Matthias Horn Sie kommen zusammen in einer etwas abgebrauchten Brasserie (auf der Bühne von Bettina Meyer), eine Welt, die ihr Goldenes Zeitalter jedenfalls hinter sich hat; hier hält Célimène Hof, die zwanzig- (in Zürich aus was für Gründen auch immer um zehn Jahre gealterte und nun dreißig)jährige Jungwitwe (Yvon Jansen), sie sonnt sich im Kreis ihrer Verehrer und der eigenen Unverbindlichkeit, einzig Alceste bestaunt sie, er würde ihr schon gefallen.

Vom Wahne umwebt

Michael Maertens als Alceste nun ist ein gewaltiges Skandalon in dieser Welt, überhitzt in allen Belangen, seine Kompromisslosigkeit ist rasend, nicht bloß wahnhaft alimentiert, sondern durchaus auch von einer beträchtlichen Eitelkeit. Er ist genauso maßlos im Weltekel wie in der Liebe, nie brüllt er so verletzt, wie wenn er über Orontes sentimentale Gedichtverse schimpft, die falsche Gefühligkeit, nie ist er so verzückt, wie wenn er ganz innerlich "du meine Célimène" haucht. Maertens' Alceste ist ein Künstler; sein Plaidoyer für Wahrhaftigkeit auch ein ästhetisches. Dass er am Ende mit abgekappten Fäden an allen Beziehungsenden dasteht, ist nur folgerichtig; er bleibt ungreifbar, weil er letztlich doch nur um sich selber kreist.

Wehmütig verweht

"Alle / reizen meine Galle", heißt es in der witzigen deutschen Versfassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens: Maertens' Alceste ist die zur Tragödienfigur geronnene Humorlosigkeit – in einem Schwank. In einer Welt rund um ihn her, die bloß noch zum Lachen ist. Ausgenommen den erdverbundenen Philinte (Thomas Loibl), ausgenommen die ernsthafte Eliante (Olivia Grigolli), die beide weder der einen noch der anderen Sphäre ganz angehören und bei Molière immerhin Chancen haben, hier ebenfalls zugrunde gehen – und mit Ausnahme der Musik (der Kunst?), in der am Ende alles ein wenig wehmütig verweht.

 

Der Menschenfeind 
von Molière 
Deutsch von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens 
Regie: Barbara Frey, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Esther Geremus, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Thomas Jonigk.
Mit: Michael Maertens, Yvon Jansen, Thomas Loibl, Matthias Bundschuh, Olivia Grigolli, Gottfried Breitfuss, Siggi Schwientek, Christian Baumbach, Samuel Braun, Iñigo Giner Miranda, Denise Frei. 
Dauer: 2 Stunden, keine Pause. 

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr zum moliéreschen Menschenfeind: viele wesentliche Inszenierungen des Stücks sind in den letzten Jahren wohl nicht zustande gekommen. Beachtet wurde Ivo van Hoves Version im modernen Ambiente in der Berliner Schaubühne 2010. Lars Eidinger spielte Alceste und steckte sich Würstchen in den Po.

 

Kritikenrundschau

Barbara Frey, "die lockere Wörtlichnehmerin unter den Regisseuren", habe das Stück "wunderleicht" inszeniert, schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.1.2013). Bei ihr sehe man den Alceste – "wie man ihn selten sieht – als wahrhaft Verrückten, buchstäblich aus aller Welt und der Gesellschaft hinausgerückt. Vollständig in sich hinein." Michael Maertens, "einer der groß-alerten, tückeneleganten Nervensäge-Virtuosen unter den Schauspielern", sei ein "von seinen Launen, seiner brüllenden, die Fäuste auf den Tisch hauenden, hoch hin jaulenden und fahrenden Ekstase schier krankhaft selbstgenießerisch geschüttelter Verwundeter. Eine Bombe, die dauernd Zünder an sich selbst hinschraubt."

Mit der "bedingungslosen Unterstützung" von Michael Martens "und einem hingebungsvoll vergnügten Ensemble spendiert die Zürcher Intendantin dem Publikum des Schauspielhauses einen Molière zum Lachen", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (19.1.2013). Maertens treibe den "äußerlich smarten, hinsichtlich seiner Sozialkompetenz aber absolut unterdotierten Alceste immer wieder ans Limit. Trotzdem ringt er dem permanenten Amoklauf mit einer Art Druckwellentechnik Nuancen, Variationen und Steigerungen ab. Vor allem bleibt er, auch wenn der Reibungsverlust Schweissspuren hinterlässt und Heiserkeit provoziert, elegant."

Wie für Michael Maertens gemacht erscheint auch Bettina Schulte von der Badischen Zeitung (19.1.2013) der Molière'sche "Menschenfeind". Maertens treibe Molières Titelhelden "weit über seine Rolle des moralischen Anklägers einer verlotterten Hofgesellschaft hinaus. In seinen hysterischen Wutausbrüchen, deren Heftigkeit in diametralem Gegensatz zum nichtigen Anlass steht, bricht sich die Verzweiflung eines an der Welt grundsätzlich leidenden Melancholikers Bahn, der seinen Platz hienieden nie finden wird." Dabei werde die Inszenierung allerdings nicht zur Tragödie. Die "perfekt getimte Inszenierung hält bis zuletzt die Balance zwischen Amüsement und melancholischer Erkenntnis."

Ein "Komödie hart an der Grenze zum Tragischen" habe Barbara Frey inszeniert, wisse dabei aber mit "dem Geist des Werks" von Molière "wenig anzufangen", schreibt Klara Obermüller in der Welt (22.1.2013). Freys Inszenierung sei "voller Brüche und Unstimmigkeiten. Es gibt starke Momente, rührende Augenblicke und herrliche komische Szenen. Als Ganzes aber wirkt sie seltsam disparat und unentschlossen." Als "eigentlich tragende Figur" dieser Inszenierung entpuppe sich Yvon Jansen in der Rolle der Célimène. "Sie ist klug, kess, scharfzüngig und durchtrieben, aber auch liebevoll und liebebedürftig: ein Mensch in seinen Widersprüchen wie Alceste, dem sie als Einzige ebenbürtig ist."

Kommentare  
Menschenfeind, Zürich: mit Melancholie und Humor
was für ein gelungener genauer abend mit einem wundervollen gleichwertigen präsenten ensemle.leicht und unverkrampft mit viel melancholie und unangestrengtem humor.vielen dank.
Menschenfeind, Zürich: Fernsehschwank
Ich kann nicht verstehen, wie man sich über so eine altbackene Regie freuen kann, der zu Moliere nichts weiter einfällt, als ihn in einem biederen Bühnenbild zum Fernsehschwank verkommen zu lassen.
Stadelmeyers Vergleich mit Marthaler / Viebrock in der FAZ ist eine Beleidigung für diese beiden, die es verstanden haben, im Hässlichen den Charme erblühen zu lassen, das Erbärmliche rührend und das Alberne sehr still und bescheiden zu zeigen.
Menschenfeind, Zürich: gegen die Stempelchen
Ich möchte vorschlagen, Worte wie "altbacken" und "bieder" einfach mal aus der (kritischen) Beschreibung von Nicht-Boulevard-Theateraufführungen wegzulassen. Es war zwar wirklich irgendwie ein bisschen Fernsehschwank-mässig und hier sind ehrliche Meinungen gefragt: aber das ist so verdammt laaaaangweilig. Immer die gleiche Leier: das ist cool, das ist uncool... mach ich gleich mal mein Stempelchen drauf.
Im Gegensatz zu (interessant angelegten) "Elektra" haben -aus meiner Sicht- hier alle Schauspieler die Art der Inszenierung mitgetragen oder konnten gut damit umgehen. Also bitte wieder Luft reinlassen in die Diskussion und raus aus dem muffigen Geschmacksblabla
Der Menschenfeind, Zürich: ein bisschen mehr Mut zum Fehler
@Selim.
Duden Definition von bieder: etwas einfallslos, hausbacken und unoriginell; langweilig und ohne Reiz.
Meiner Meinung nach eine nicht Unzutreffende Beschreibung des Abends und nicht einfach nur das Gegenteil von Cool.Stimmt die Schauspieler haben alle in gleicher geschmacklichen weise agiert, die Regie hatte die volle Kontrolle und in der Puppenstube die entsprechenden Arrangements entworfen. Nur ist Kontrolle und stilistische Homogenität noch nicht aufregend und auch nicht per se Qualität. Ein bisschen weniger bewusste Gestaltung,etwas unvorhersehbarer es Spielen und Kontrollverlust hätte der Sache sicher nicht geschadet. Oder anders gesagt ein bisschen Mut zum "Fehler" täte gut.
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