Punktejagd mit Bombenstimmung

von Leopold Lippert

Graz, 19. Januar 2013. Genau durchnummeriert nehmen die fünfzehn Spieler am hinteren Bühnenrand Aufstellung. In schlabbrigen Arbeitsuniformen treten sie zu einer schweißtreibenden Gameshow an, bei der nur einer übrig bleiben wird – der letzte Mensch in Graz. Zehn weiße und fünf schwarze Spieler gibt es: die weißen Kandidaten sind Mitglieder von Viktor Bodós ungarischer Szputnyik Shipping Company, die "schwarze Minderheit" stammt aus dem Ensemble des Grazer Schauspielhauses.

"Last Man in Graz" ist die erste Station einer europäischen Wanderproduktion, die unter anderem auch in Leipzig und Mainz gastieren wird, jeweils mit Beteiligung lokaler Schauspieler. Entsprechend einfach ist daher das Bühnenbild (von Juli Balázs): einige Stühle, eine Leinwand, die obligatorische Live-Kamera und ein paar Instrumente für die musikalischen Einlagen.

Das Politische als Spektakel

Die Show, zu der der Grazer Faust Jan Thümer dann im knallroten Moderatoren-Einteiler lädt, findet zwar am Theater statt, ist in ihrer Form aber unmissverständlich von der Ästhetik des Privatfernsehens geborgt. Die großen Themen sind hier: Spiel, rasant, grell, exzessiv und nicht immer kohärent. Die pathosgeladenen Aufmarschinszenierungen totalitärer Systeme, die Kacke auf der Bühne, das traurige Lied des kleinen Mädchens aus dem Kosovo, die Straßenkampf-Folklore der globalisierungskritischen Multitude oder die stilsicher animierte Retro-Grafik, die alle je auf der Welt gezündeten Atombomben zeigt: alles ist in hübsche Häppchen portioniert und zur problemfreien televisionären Verdauung aufbereitet. Hauptsache spektakulär!

21774 560 lupi spuma uSpieler zur Sonne, zur Freiheit! © Lupi Spuma

Laut Programmzettel zeigt eine solche Spielanordnung eine "Metapher auf die moderne Gesellschaft". Aha. Also: Tempo! Lautstärke! Überforderung! Das Politische als Spektakel! Das Soziale als Punktecontest! Wenn das Viktor Bodós Erkenntnis an diesem Abend ist, dann holt sie wohl nicht mal mehr den letzten Menschen in Graz hinter dem Ofen hervor. Dass Kriege und Flüchtlingskatastrophen eher mal als entkontextualisierter TV-Newsflash ins westliche Bewusstsein dringen, hat uns Jean Baudrillard schon vor Längerem erklärt. Und Big Brother mit seiner Logik des Rausvoten-bis-einer-übrigbleibt ist als gesellschaftskritischer Vergleich denkbar abgelutscht.

Militärmärsche und Chöre

Den schalen Eindruck verstärkt eine gewisse Einfältigkeit der inszenatorischen Verknüpfungen und Kontraste. Auf Maschinengewehrfeuer lässt Bodó Heavy Metal vom Band folgen, auf Militärmärsche die Chöre von Fußballfans. Nach einer brutalen Vergewaltigungsszene wird ein zuckersüßes "I wanna be loved by you" intoniert, und der Spielanweisung "Bildet eine Gemeinschaft!" kommen die Schauspieler mit – erraten! – einer gesummten "Internationale" nach, dicht gefolgt vom Beatles-Klassiker "Help!"

Interessant wird der Abend dafür in den Momenten, in denen Gesellschaftskritik nicht derart plakativ herbeiassoziiert wird, sondern dem Gameshow-Genre slapstickartig immanent ist. Dann nämlich, wenn die Kandidaten mit verbissenem Ernst und unter großer Kraftanstrengung versuchen, absurde oder für die Zuschauer unverständliche "Spielregeln" einzuhalten. Wie etwa bei einer wortlosen Kampfchoreographie, bei der nach und nach immer mehr Kandidaten aus absolut unklaren Gründen ausscheiden. Oder beim Ankämpfen gegen eine Zeituhr, die allmählich immer schneller wird. Oder schließlich beim "Kerzenschwimmspiel", in dem Teelichter in einer kleinen Wasserlache schwimmend auf einer riesigen Plastikplane bewegt werden – ein Balanceakt, der nie genau vorhersehbar und beeinflussbar ist. Auf ein solches Spiel kann man sich weder vorbereiten, noch kann man sich dagegen absichern. Man kann nur irgendwann erschöpft aufgeben.


Last Man in Graz: Social Error
von Viktor Bodó und der Szputnyik Shipping Company
Regie: Viktor Bodó, Bühne und Kostüme: Juli Balázs, Sound-Design: Gábor Keresztes, Media-Design/Musik: András Juhász, Gábor Karcis, Dramaturgie: Tamás Turai, Júlia Róbert.
Mit: Gábor Fábián, Gabriella Hámori, Károly Hajduk, Péter Jankovics, Pál Kárpáti, Löte Koblicska, Florian Köhler, Niké Kurta, András Lajos, Laurenz Laufenberg, Verana Lercher, Katharina Paul, Kata Petö, Seyneb Saleh, Zoltán Szabó, Jan Thümer.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com


Kritikenrundschau

15 Kandidaten würden "in einem Mix aus Strategiespiel und Talenteshow alles geben", vermeldet Colette M. Schmidt im Standard (21.1.2013). Viktor Bodó verzichte dabei "auf seine bekannten opulenten Bilder. Die Schulterkamera, die Angst, Schmerz und Lust in den Gesichtern der Spieler und manchmal das Publikum auf die Bühnenwand projiziert, ist zwar wieder mit dabei. Doch das Bühnenbild besteht nur aus Stühlen und Hilfsmitteln wie Frischhaltefolie oder Zelten". Das "Grazer Premieren-Bürgertum war am Samstag alles andere als verstört, eher gut unterhalten". Aber: "Wie diese Produktion am National Theater Budapest ankommen wird, ist offen. Jedenfalls ist klar: Was in einem Land harmlos ist, kann in einem anderen durchaus mutig sein."

Es sei "ein heimtückisches, zynisches, doppelbödiges, mit viel Galgenhumor und Improvisationskunst angereichertes Spiel, das Viktor Bodó in seiner jüngsten Produktion betreibt", meint Werner Krause in der Kleinen Zeitung (21.1.2012). "Aber es ist vor allem eine Demaskierung, die auch den Rahmen des konventionellen Theaters weit hinter sich lässt." "Last Man in Graz" liefere "eine Essenz all der schwachsinnigen, hirnrissigen Reality- und Gameshows, die ja ihrerseits längst die Scheinwelt des Fernsehens verlassen haben." Die Akteure führten "eine Gesellschaft vor Augen, die sich das bloße Schauen und Zuschauen zur Lebensaufgabe gemacht hat, die meint, frei verfügen zu können, aber bloß verfügbar, manipulierbar und abgestumpft der Magie der Drucktaste ausgeliefert ist, um abzustimmen, was gefällt und was missfällt." Und die "perfekt eingespielte Truppe" der Szuptnyik Shipping Company habe "den Slapstick und die Situationskomik ebenso im kleinen Finger wie die Instrumente, auf denen sie es rocken und rollen lassen."

 

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