Zwischen uns und unseren Wünschen

von Esther Slevogt

Dresden, 19. Januar 2013. "Wenn man immer vorher wüsste, was noch kommen wird", sagt die Frau im grünen Kleid am Ende. Sie sitzt an der Rampe und das Stück ist vorbei. Sie ist eine Überlebende – die überlebende Protagonistin aus Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel" und gleichzeitig ihre Erzählerin. Hannelore Koch spielt diese Frau, eine das Ensemble des Staatsschauspiels Dresden durch die vergangenen vier Jahrzehnte fast durchgehend prägende Schauspielerin. Und fast scheint es (nicht allein wegen des getragenen Theatertons ihrer Diktion), als spiele sie nun auch Erinnerungen an viele Theaterfiguren mit, die sie auf dieser Bühne gewesen ist – eine reif gewordene Iphigenie vielleicht, die hier Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr von der Insel Tauris noch mal die Bilanz ihres Leben zieht.

14831 himmel1hp0641 560 david baltzer hMatthias Reichwald reißt den Himmel herunter, Lea Ruckpaul, Philipp Lux, Ahmad Mesgarha und Albrecht Goette halten Luftballons. © David Baltzer

Doch hier ist Hannelore Koch die ins heute transportierte Protagonistin Rita aus der berühmten Erzählung "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf, die 1963 erschien und wesentlich im Jahr des Mauerbaus spielt. Der 1979 in Weimar geborene Tilmann Köhler hat diesen Schlüsseltext jetzt auf die Bühne gebracht. Ein intensiver, zarter Abend, der die Geschichte auch gegen die leisen totalitären Ansprüche seiner Autorin an das Leben ihrer Protagonistin verteidigt. Und der doch ein halbes Jahrhundert, nachdem diese paradigmatische Erzählung entstand, noch einmal die Frage nach dem Opfer stellt, das Wolfs Protagonistin Rita bringt: die ihre große Liebe aufgibt, um in der DDR zu bleiben.

Köhler und sein Bühnenbildner Karoly Risz finden wunderschöne wie naive Bilder auf der weitgehend nackten Bühnenschräge, die sich immer weiter anhebt, je unbedingter die Lebens- und Liebesansprüche der Protagonisten werden: Das Werk, in dem Rita neben ihrer Lehrerausbildung Erfahrungen in der Produktion sammelt, produziert Luftballons, die im Übereifer, der bei ihrer Produktion aufgewendet wird, leicht zerplatzen. Und als am Ende Rita ihr gebrochenes Herz notdürftig gekittet hat und wieder ins DDR-Leben zurückkehrt, da hängen die sozialistischen Vertreter des Lebens, für das sie sich gegen ihre Liebe entschied, wie Fallschirmspringer, die strampelnd ins Nichts springen, über der leeren weiten Bühne.

Drei Mal Rita

In gleich drei Ausführungen begegnet Rita uns auf der Bühne: einmal als die Neunzehnjährige, die sie ist, als sie Manfred zuerst trifft. Die junge Lea Ruckpaul spielt sie mit kraftvoller Unschuld und großer Traumbesessenheit. Annika Schilling ist Rita nach dem Zusammenbruch, den sie in Folge der Trennung erlitt. Diese Figurenaufteilung folgt damit auch der Erzählstruktur Christa Wolfs, die ihre Protagonistin im Krankenhaus noch einmal die Geschichte ihrer Liebe und deren Zerbrechen an den Zeitverläufen reflektieren lässt: Mit bitterer Trauer sieht Annika Schilling ihrem noch ungebrochenen Alter Ego auf der Bühne zu. Und dann ist da eben Hannelore Koch, die diese Figur ins Heute bringt: Auch am Anfang des Abends hat sie schon an der Rampe gesessen und Sätze aus Christa Wolf letztem Buch "Stadt der Engel" gesprochen, in denen es um die Frage geht, welches denn das richtige Leben hätte sein können. Am Ende des Abends sitzt sie nun wieder hier. Hat sie eine Antwort bekommen? Haben wir? "Wir gewöhnen uns wieder, ruhig zu schlafen", hören wir jetzt, nachdem alles vorüber ist. "Wir leben aus dem Vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen."

Aus diesem Stoff Leben ist auch der Himmel gemacht, der sich in Tilmann Köhlers Inszenierung über Allen spannt: dem Chemiker Manfred (Matthias Reichwald), der sich in Rita verliebt, dem linkischen jungen Werksleiter Ernst Wendland (Philipp Lux), der Rita ebenfalls liebt; über dem Brigadeführer Meternagel (mit eiserner Melancholie: Ahmad Mesgarha) und Manfreds verbitterten Eltern. Das Dresdener Theaterurgestein Albrecht Goette mischt hier (als Vater Manfreds und Herbert Kuhl, vormals Wehrmacht, später SED) wunderbar miefige Minen ins poetische Spiel.

Doch anders als bei Christa Wolf teilt sich bei Köhler der Himmel nie. Allerhöchstens vermehren sich seine Stoffmassen ins Unübersichtliche, lassen die Menschen sich darin verheddern, bringen sie zum Stolpern oder lassen sie darin verloren gehen. Denn der Stoff, aus dem der Himmel ist, bildet – man entdeckt das spät – auch den Grund, auf dem die Figuren sich bewegen. Und der ihnen irgendwann unter den Füßen fortgezogen wird.

Wie Yin und Yang

Am Anfang hängt er wie ein schwerer Baldachin über der kahlen Bühne. Als Videoprojektionen kann man darauf wie Luftspiegelungen manchmal schwarz-weiße bewegte Bilder sehen: ein Dorf, eine Schneelandschaft oder Bilder von Juri Gagarin, wie er gerade als erster Mensch ins Weltall geschossen wird. Auch das war ja 1961, im Jahr, als die Berliner Mauer gebaut wurde, die am Ende nicht nur den Himmel, sondern auch ein Liebespaar zerteilt. "Heutzutage ist Liebe nicht möglich", heißt es einmal. "Lächerlich, gegen die Kräfte anzugehen, die zwischen uns und unseren Wünschen stehen. Ihre Allmacht können wir uns nicht vorstellen."

Aber diese Allmacht, das führt uns dieser Abend vor, besteht allein im unterschiedlichen Wollen der Menschen. Das ist es, was sie auseinander bringt, nicht die Zeitverläufe. Das ist mit großer Kraft auch gegen Christa Wolf erzählt, als Geschichte einer an ihren (totalitären) Unbedingtheitsansprüchen scheiternden Liebe, die Köhler und seine Schauspieler Lea Ruckpaul und Matthias Reichwald auch immer wieder in kraftvolle Körperbilder übersetzen: Manfred und Rita, die sich ineinander verkeilen, wie Yin und Yang, sich gegeneinander werfen oder ineinander kriechen. Rita, die das klaustrophobische Liebes-Bild einer einzige Haut für zwei Menschen formuliert; Manfred, der den Pullover, den er trägt, einmal auch über Rita streift, um seinen Besitzanspruch geltend zu machen. Und sie am Ende trotzdem verliert.

Der geteilte Himmel (UA)
nach der Erzählung von Christa Wolf
Für die Bühne eingerichtet von Felicitas Zürcher und Tilmann Köhler unter Mitarbeit des Ensembles 
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht und Video: Michael Gööck, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Lea Ruckpaul, Annika Schilling, Hannelore Koch, Matthias Reichwald, Philipp Lux, Ahmad Mesgarha, Albrecht Goette, Maria Stosiek (Violine).
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Ein kluger Abend über die DDR", so Andreas Berger bei Radio Sachsen vom MDR (21.1.2013), weil sich Tilmann Köhler nicht anmaße, zu richten, sondern stattdessen den Abend mit viel Fantasie "immens vitalisiere" und der Geschichte einer scheiternden Liebe in Zeiten des Mauerbaus eine sehr poetische Dimension hinzufüge. Das Beeindruckendste des Abends sei, dass er beide Lebensentwürfe der Liebenden gleichberechtigt erzähle. Denn damit kommt die Inszenierung aus Sicht des Kritikers ganz im Heute an: denn es gehe immer um die Entscheidung - die Entscheidung zwischen Realität und Ideal.

Tilmann Köhlers Inszenierung sei ein "vorsichtiges Abschreiten der Erinnerungslandschaften", und überhaupt sei es "sehr von Vorteil für diesen Abend, dass Köhler das Lieben und Ringen seiner Figuren ernst nimmt, ohne moralische und historische Urteile zu fällen", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau (21.1.2013). Köhler schäle "aus der Vorlage eine Lebenskrisengeschichte heraus, die nicht auf Ost und West und Himmelsrichtungen geeicht ist, sondern auf das Großexistenzielle ." Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" sei ein Buch, das an "Illusionen glauben machen" wollte, es "wollte verkünden, dass der DDR-Sozialismus trotz Mauerbau noch zu retten sei. Es glaubten viele offenbar. Aber warum? Wie ging das zu?"  Das seien heute "die entscheidenden Fragen, und Tilmann Köhler stellt sie." Er treibe "die Illusionen auf den Verpuffungspunkt, die Figuren über die Grenzen ihrer Gefühle hinaus – in jene zugige Gegend, in der das Erinnern seine wollige Harmonie, seine Selbstschutzwärme verliert. Wir werden uns künftig eben dort aufzuhalten haben, wenn wir wissen wollen, was war und was bleibt – auch das legt diese Inszenierung nahe."

"Tiefste DDR mit wenig Tiefgang" betitelt die Sächsische Zeitung (21.1.2013) die Kritik von Silvia Stengel, die befindet, der Abend wolle mit Ausnahme seines letzten Drittels "nicht so recht in Fahrt kommen". Wenngleich die Schauspieler sie ebenso überzeugen wie das Bühnenbild "in seiner Schlichtheit", und die Darstellerinnen der Rita einen sogar "in den Bann" ziehen würden, bleibe doch manches in der Geschichte "fremd". Genervt zeigt sich die Kritikerin von einigen "albern" wirkenden Szenen und Regieeinfällen, die als "krampfhafter Versuch daher (kommen), die Geschichte aufzulockern".

Tilmann Köhler habe vor der Aufgabe gestanden, "den dicken Firnis aus Vorurteilen, plakativen Deutungen der Geschichte im Großen wie im Kleinen sorgsam abzutragen – oder ihn einfach zu ignorieren", schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (21.1.2013). Köhler arbeite "mit einer Mischung aus beiden Methoden". Er versuche "gar nicht erst, ein gar zu genaues Sittenbild vom Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre zu zeichnen. (…) Statt den Zuschauer mit einer Überfülle an Details anzustrengen (…), überlässt er die Illustration der Vorgänge weitgehend dessen Fantasie". Die "Mühe des Ringens" um den Stoff bleibe "spürbar, aber das gibt der Aufführung zumal im Kontext des öffentlichen Umgangs mit der Biografie von Christa Wolf auch eine besondere Glaubwürdigkeit, eine Redlichkeit, die sich auch im Verzicht auf spektakuläre Deutungen und Zuspitzungen erweist."

"In Dresden ist ein starker, poetisch-politischer Theaterabend zu bewundern", sagt Hartmut Krug in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (19.1.2013). Köhler habe die Geschichte "ohne Nostalgie und Abbildrealismus inszeniert", sondern als "zugleich kräftiges wie zartes Menschentheater voller poetischer und sinnlicher Bilder". Er nehme "die Gefühle der Menschen ernst, ohne sie, wie Christa Wolf, allzu schematisch (und politisch austariert) vor allem von der gesellschaftlichen Situation bestimmen zu lassen".

"Mit größter Behutsamkeit, ohne wohlfeile Herablassung, mit gleichermaßen starker wie nüchterner Empathie für eine himmelstürmende Vergeblichkeit" habe Tilmann Köhler Wolfs Stoff inszeniert, findet Reinhard Wengierek in der Welt (23.1.2013). Zwar offebarten "das comichafte, plakative Skizzieren der realsozialistisch üblen Zustände, die überhaupt antipsychologische Spielweise" kühl "das tragödienhafte Konstrukt des Romans" und gingen zulasten der Einfühlung ins Liebesleben seiner Protagonisten. Dies werfe aber unaufdringlich ein etwas anderes Licht auf Christa Wolf: Nicht als "sentimentales Rührstück mit korrekter Durchhalteparole", nicht nur "als Warnbild vor dem zerstörerischen Stalinismus. Sondern als unerhört frühe, tieftraurige Grablegung einer schönen Idee. Ein verständnisvoll kopfschüttelnder Blick der ums Verstehen ringenden Enkel auf die bis ins Heute wehenden Schmerzen der Altvorderen."

Eine "laue Klamotte" hat hingegen Till Briegleb gesehen, wie er in der Süddeutschen Zeitung (23.1.2013) schreibt: Was Köhler auf einem riesigen Tisch mit Tischtuch erzähle, bestehe im Kern aus Romantik: Tatsächlich liefern Lust und Trauer dieses Gefühlsdramas die einzigen ernsten Szenen einer Inszenierung, die vor allem Anspruch auf Mitgefühl erheben möchte. Der ganze historische Umstand wird dagegen gnadenlos verulkt oder spreizt sich im peinlich Pathetischen."

Ganz anders Joachim Lange in der tageszeitung (23.1.2013): "Köhler gelingt es, weder die Utopie zu denunzieren noch aus Manfreds Pessimismus und Lebensanspruch eine alternative Klarsicht zu machen. Seine Stärke besteht darin, der zeitlosen Suche der Jüngeren nach dem inneren Antrieb, dem eigenen Selbstverständnis und dem Anspruch an das Leben nachzuspüren. Damit wird dieses Stück aus der Zeit des Mauerbaus auch zu einem von heute." Bei allem erstaune "die geradezu poetische Melancholie", mit der der für seine beschleunigt gegenwärtige Bühnensprache bekannte Dresdner Hausregisseur diesmal zu Werke gehe.

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