Listenkandidat auf Abwegen

von Ute Grundmann

Magdeburg, 25. Januar 2013. Martin ist neu. Und jung. Und engagiert. Also stellt er einen Antrag, mit dem sich seine Polit-Kollegen befassen müssen, obwohl sie lieber zu Frau und Kindern gehen oder ihr baufälliges Haus trösten würden. So beginnt Kai Ivo Baulitz' neues Stück "Die Fraktion", das in der Studiobühne des Theaters Magdeburg uraufgeführt wurde.

Der historische Hintergrund ist gewichtig: 80 Jahre "Machtergreifung" durch die Nationalsozialisten. Dazu macht man nicht nur Anfang Februar ein Themenwochenende über die anscheinende Faszination totalitärer Systeme, sondern wollte sich auch über den Zustand unserer Demokratie kundig machen. Also begaben sich Autor, Regieteam und fünf Schauspieler in einen dreiwöchigen Workshop, in dem sie improvisierten, Politikprotokolle lasen und mit Politikern und Bürgern sprachen. Danach schrieb Baulitz sein Stück. In dieser Arbeitsweise entstand schon sein An kalten Tagen bitte Türen schließen, 2010 in Magdeburg uraufgeführt.

An die Lebenden mahnen!

Nun also "Die Fraktion". Für die hat Doris Dziersk in den kahlen, schwarzen Raum der Studiobühne zwei Holzbänke und fünf überlebensgroße Wahlplakate stellen lassen – vor denen die Politikerdarsteller alsbald auf Normalmaß schrumpfen. Da entpuppt sich der Fraktionsvorsitzende Jens (Axel Strothmann) schnell als einer, der über den Sprachfehler einer Radio-Frau lästert (was zum running gag wird), die Assistentin Elena (Katharina Schlothauer), hier Controllerin genannt, hat ein Praktikum in Chile absolviert, ergeht sich in Optimierungssprech und hantiert mit dem Handy.DieFraktion 560 NilzBoehme uKleine Politiker (Größe M) vor großen Plakaten (Größe XXL) © Nilz Boehme

In diese oberflächlich-kalte Atmosphäre gerät der Politik-Neuling Martin (Peter Weiss). Er fordert eine "Sondersitzung des Fraktionsausschusses Gedenkstätten", um seinen Antrag für eine Stele durchzubringen, die nicht an die Toten, sondern an die Lebenden mahnen soll. Dumm nur, dass er sich dafür den Standort des neuen City-Centers ausgesucht hat und ebenso dumm, dass alle seine Kollegen eigentlich was Besseres vorhaben.

Abwärts auf der Skipiste der Umfragewerte

Dieses Hin-und-Her und Hickhack, das sich Fraktionssitzung nennt, hat Regisseur Enrico Stolzenburg zügig, mit Witz und Pointen in Szene gesetzt – und mit einem guten Ensemble. Gisela Hess spielt Renate, auch "die Schildkröte" genannt, weil sie immer schon dabei war, wunderbar schnoddrig und spitz. Sebastian Recks Robert ist der Öko, dem dummerweise sein wärmegedämmtes Haus zerfällt und der Geld dringender braucht als eine politische Sitzung. Doch er muss bleiben, nicht nur aus Fraktionszwang, sondern weil der Hausmeister alle Türen mit Getränkekisten zugestellt hat (warum und wie die Kisten plötzlich verschwinden, ist einer der losen Fäden dieses Stücks).

Und natürlich wird aus der Diskussion um die Stele, die Martin mit salbungsvollen Reden anpreist, schnell die auch persönliche Auseinandersetzung der Politiker. Da gibt es das Vorwürfchen der Korruption gegen Jens, weil der einen kostenlosen Caterer "klargemacht" hat. Und aus routiniertem Wortgeklingel werden Beschimpfungen: "Listenkandidat", "Brandstifter", "Funktionär" sind nur einige der Nettigkeiten, die sich die Damen und Herren um die Ohren hauen. Elena steuert bei, dass Jens' Sympathiewerte wie auf einer Skipiste steil nach unten gehen. Und als zwei der Kollegen genauso lukrative Aufsichtsratsposten haben wollen, wie Jens schon einen in der Tasche hat, schimpft der sie "lächerliche Zwergenparlamentarier". Und natürlich wird Martin all das in ein Internetblog stellen, um alles ganz transparent zu machen – ein Schelm, wer dabei an die Piraten denkt.

Ein unmotivierter Zeitsprung

Das ist hübsch anzuschauen, oft auch komisch, aber mit seinem Politiker-Bashing und -Bloßstellen doch auch vorhersehbar. Und dann macht Baulitz auch noch einen ziemlich unmotivierten Zeitsprung: Aus der schief gelaufenen Fraktionssitzung geht's gleich in die Phase, als der Antrag von der übergeordneten Instanz abgelehnt, Robert von seiner Frau verlassen wurde, Martin und Elena sich lieber wieder siezen und sie erneut nach Chile will. Insgesamt ist "Die Fraktion" eine nette, nicht sehr scharfe Polit-Satire, vor dem selbst herbei zitierten historischen Hintergrund gerät sie aber doch ziemlich leichtgewichtig.

 

Die Fraktion
von Kai Ivo Baulitz
Uraufführung
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne/Kostüme: Doris Dziersk, Musik: Kirsten Reese, Dramaturgie: Dag Kemser.
Mit: Peter Weiss, Katharina Schlothauer, Sebastian Reck, Axel Strothmann, Gisela Hess.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-magdeburg.de

 

Nachtkritiken zu weiteren Stücken von Kai Ivo Baulitz: An kalten Tagen bitte Türen schließen (Theater Magdeburg) und Transporter (Schauspiel Frankfurt).

 

Kritikenrundschau

"Die Fraktion" sei "trotz geschliffener und pointierter Dialoge keine leichte Kost. Das Lachen gefriert mitunter im Umfeld von Hoffnungs- und Machtlosigkeit", schreibt Rolf-Dietmar Schmidt in der Magdeburger Volksstimme (28.1.2013). Doch so realitätsnah sich die fünf Darsteller "unter der Regie von Enrico Stolzenburg mit schauspielerisch hervorragenden Leistungen einbringen, überdeckt dies doch nicht eine Schwäche des Stücks. Menschliche Unzulänglichkeiten mögen für das Scheitern demokratischer Prozesse mit verantwortlich sein, nicht minder ursächlich sind jedoch ausgeklügelte politische Strukturen, die nur dem Machterhalt dienen." Für "kontroverse Diskussionen, ob der Mensch in der Lage ist, in Freiheit eine Gesellschaft zu gestalten", sei das Stück trotzdem "bestens geeignet".

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