Der Krise mit Theater trotzen

von Ute Nyssen

Paris, Januar 2013. Das erste Drittel der Saison neigt sich dem Ende zu. Nach der Pause zum Jahreswechsel heißt es wieder neues Spiel, neues Glück. Ist der Lack ab in Paris, in der Krise? Vor den Ausstellungen sind die Schlangen so lang wie eh und je, gefühlte 500 Meter bei Dali. Aber im Gastgewerbe lauert Krisenangst, wird es bei der Anzahl der Touristen bleiben, der aus Italien, Spanien? Die Hotelpreise schießen trotzig in die Höhe. Teure Events im Restaurant allerdings fallen schon länger flach und damit auch einige hundert Euro Trinkgeld, erzählt ein Garcon. Doch niemand klagt.

Die Theater, touristenunabhängig, bewähren sich in Wind und Wetter, trotz erheblicher Etatkürzungen. In der Comédie Française war die gesamte Serie für den "Florentinerhut" (Regie: Giorgio Barberico Corsetti) Wochen vorher ausverkauft. Starker Andrang auch in den großen Privathäusern. Doch wichtiger noch, neben den Highlights für ein gut zahlendes Publikum bietet die Capitale Verlockendes auch mit dem einfallsreichen Programm kleinerer Bühnen. Ihre unverdrossene Entdeckerfreude hält der Krise stand. Der Lohn ist die anhaltende Lust am Theater.

Welche Visionen habt ihr noch?

"Living", schon der Titel klingt wie ein Fanal. Unter diese Überschrift stellt Stanislas Nordey seine Inszenierung mit 16 Absolventen der berühmten Schauspielschule des Théâtre National Strasbourg (TNS), in Paris zu sehen im Théâtre des Quartiers d'Ivry in der südlichen Banlieu. Er konfrontierte seine jungen Schauspieler mit Texten von Julian Beck und Judith Malina, den Gründern des amerikanischen Living Theatres.

Bereits das Vorspiel stellt klar, dass dieses Theater politische Einmischung einfordert und nicht passiven Kunstkonsum. Die Schauspieler nämlich haben den Zuschauerraum "besetzt" und drängen uns, die Theaterbesucher, auf die Bühne. Hinsetzen dürfen wir uns erst nachdem sie uns mit den Grundfragen des Living Theatres attackiert haben: Wozu geht ihr ins Theater? Wie kann das Theater radikal die Gesellschaft verändern? Welche Visionen, welche Träume habt ihr noch? Erst danach beginnt die Aufführung.

Mit leichter Hand

Auf der Bühne steht ein hohes Rohrgerüst, das eine zweite Spielfläche bietet. Hinter einem Vorhang sichtbar wie im Schattentheater, wartet auf der einen Seite das Kollektiv, während auf der anderen jeder Schauspieler für sich allein seine Perspektive auf die Botschaft des Living Theatres entwickelt. Mit leichter Hand – ein Qualitätsmerkmal des französischen Theaters – schafft der Lichtwechsel Beziehungen zwischen beiden Ebenen, erfindet er für jeden individuellen Auftritt eine eigene Farbe, einen unterschiedlichen Reiz.

living1 280 brigitte enguerandGrafische Bühne in "Living" © Brigitte Enguerand

Die zentrale Utopie von der Abschaffung des Geldes freilich, der vom Ende der zwischenmenschlichen Entfremdung, klingt irrealer denn je. Aber im Munde eines jungen Wesens mit Pelzweste auf nackter Haut, sich leicht wiegend auf langen Beinen, gewinnt sie etwas sirenenhaft Verführerisches. Auch wenn dramaturgisch gelegentlich die Nummernfolge durchhing, Nordeys Reaktivierung der Aufbruchstimmung des Living Theatres bringt starke Anregungen. Und ein Satz, wie er auf den Demonstrationen gegen den Flughafen in Nantes zu hören war, hätte auch von den jungen Schauspielern kommen können: "on va se créer notre monde". Auch ihr Tenor: Sehnsucht nach frischem Wind, und stamme er aus der Vergangenheit.

Die hässliche Seite Frankreichs

Jedenfalls: Das Engagement für politisches Theater lebt in Paris. Die Verantwortlichen des Théâtre Le Tarmac fühlen sich ganz der zeitgenössischen frankophonen Szene verpflichtet. In dieses sehr schöne Theater im 20. Arrondissement führen oft auch Lehrer ihre Schüler, zumal Donnerstagnachmittags, wenn ein Sonderpreis von 5 Euro angeboten wird. Hier bekommen die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen die Gelegenheit, mal nicht den "Cid" oder "Cyrano de Bergerac" kennen zu lernen, sondern die hässlichste Seite der Geschichte Frankreichs: die Sklaverei.

"Die Affäre Furcy", ein vielfach ausgezeichnetes Buch von Mohammed Aissaoui, beschreibt den sensationell kühnen Prozess eines afrikanischen Sklaven. Dieser wagte es 1817 seinen unrechtmäßigen Herrn, Besitzer von 16.000 Sklaven, zu verklagen. Furcy verliert, wird verkauft, auf eine andere Insel abgeschoben und gewinnt 1843 schließlich doch seine Freiheit und stellvertretend den Kampf für die Menschenrechte. Die Schüler erlebten eine Reading Performance, begleitet von Projektionen gezeichneter Illustrationen, mit dem afrikanischen "Barden" Hassane Kassi Kouyaté. Seine temperamentvolle Erzählweise versetzt das Publikum in ferne Welten und zugleich in die nahe, problematische Gegenwart.

regardez-mais-ne-touchez-pas-615 lotLe Lucernaire: "Regardez mais ne touchez pas" 
© Lot
Im Unterschied zur schweren Geschichtslast begegnet man in der Mantel- und Degenkomödie "Regardez mais ne touchez pas" von Théophile Gautier und Bernard Lopez der leichten Muse. Enthusiastisch von Le Monde als Wiederentdeckung gefeiert, gibt es diese Form weder in den Boulevard- noch im seriösen Subventionstheater, wohl aber ganz unverbraucht in dem fabelhaften Théâtre Lucernaire (6. Arrondissement, mit einem Angebot von täglich 8 Stücken). Gautier, der 1872 starb, war einer der einflussreichsten Kunstessayisten des 19. Jahrhunderts, bekennender Bohémien und Erfinder des Begriffs L'art pour l'art. Seine ästhetisch hochkarätigen Gedichte, seine Reisebeschreibungen und die oft verfilmten Romane, treffen bis heute auf begeisterte Leser (unter anderem mich). Die Neuinszenierung von "Ansehen aber nicht anfassen" hingegen ist die erste nach der Uraufführung von 1847, einhelllig vom Publikums gefeiert. Die zunächst geplante Laufzeit wurde mehrfach verlängert.

Der dramatische Konflikt resultiert aus dem sprichwörtlichen Verbot, jemals die spanische Königin zu berühren, zuwiderhandeln bedeutete Todesstrafe. Gautier nun, auch hier von seinem historistischen Faible beflügelt, lässt die spanische Königin Elisabeth Farnese (1692-1766) vom Pferd stürzen und in Lebensgefahr geraten. Zwei Retter treten auf – ein echter und ein angemaßter –, und ihre Konkurrenz führt zu den verzwicktesten Intrigen. Ende gut natürlich.

Als Meister des Pastiche wird Gautier mit seiner Komödie eingestuft. Gemeint ist seine sehr feine Kunst der Verballhornung, der burlesken Parodie von (spanischer) Ehre, Pathos, Etikette, Verachtung irdischer Güter. Gespielt wird mit rollenden Augen, rollendem "r", Kinnvorstrecken, Aufstampfen. Der Regisseur Jean-Claude Penchenat choreographiert spannende Duelle, mit markiertem Degen aber desto ausgefalleneren Fechtfiguren. Alles Theater auf dem Theater, aus Pappe, doch die Pappe als solche ist echt bei Gautier, und das verblüfft, irritiert und gefällt.

Raffinierte Scheinmanöver

Von der Enthaltsamkeit des französischen im Gegensatz zum deutschen Theater gegenüber dem Einsatz von Film, Video, Musik, war schon im Theaterbrief 6 die Rede. Wie wenig diese eingesetzt werden, war jetzt verstärkt zu beobachten und in schlechten Zeiten beurteilt man den Verzicht auf technologischen Glamour noch anders, als fokussierende Beschränkung vielleicht auf das Spielen selber. Diese Einstellung aus bewußter Bescheidenheit steht nicht dem Experiment entgegen. Dafür ein besonderes Beispiel: "Je suis un metteur en scène japonais" (Ich bin ein japanischer Regisseur) lautet der Titel eines Tanzprojekts von Fanny de Chaillé im Théâtre de la Cité Internationale, einer erfolgreichen Bühne mit hohem diskursivem Anspruch.

japonais1 280 marc domageFanny de Chaillé: "Je suis un metteur en scène japonais" © Marc Domage Die Tänzerin und Schauspielerin de Chaillé zeichnete zum erstenmal als Regisseurin eines szenischen Gesamtkunstwerks verantwortlich und kam auf Anhieb damit an. Sie unternimmt den Versuch, das Bunraku, eine traditionelle Richtung des japanischen Theaters, auf die europäische Bühne zu bringen. Doch ihr Interesse ist nur ein raffiniertes Scheinmanöver. Sie war nie in Japan, und ihre Kenntnisse des Bunraku stammen nicht aus eigener Anschauung.

Fanny de Chaillé liebt Manipulation und Travestie und da, wo das eigentliche Bunraku mit Gliederpuppen arbeitet, ersetzt sie diese, so wie die Marionettenspieler selber, durch Tänzer. Das japanische Kinderspiel Origami, in Frankreich sehr beliebt, liefert ihr die Figuren, verschiedene Tiere, eine Prinzessin. In Wahrheit geht es ihr um Verwandeln, darum, etwas in Bewegung zu versetzen.

Als ironisches Mittel der Sinnerklärung dient Thomas Bernhards Monodrama "Minetti". Zunächst von einem Musiker/Tänzer gelesen, scheint der Text selber zur körperlichen Gestalt zu drängen: er mutiert und wird zur sprechenden Figur auf der Bühne. Gespielt wird Minetti von eben jenem Musiker/Tänzer/Leser, der mit einem Wutgeschrei dem Hass des alten Schauspielers auf die Klassiker freien Lauf lässt, unter Verrenkungen wie ein japanischer Dämon.

Der Inhalt seiner Minetti-Suada spiegelt und parodiert zugleich Fanny de Chaillés Umgang mit klassischen Theatermitteln, sowie umgekehrt ihre Inszenierung seine Suada verspottet. Alle ihre verrenkten und gelenkten Geschöpfe, die virtuosen Tänzer/schwarz maskierten Schauspieler/Origami-Frösche verzaubern wie die Musik, die sie abstrakt-elektronisch oder illustrierend-emotional einsetzt. Zum Schluss gerät die ganze japanische Berglandschaft aus Pappelementen mit Hilfe der Tänzer in Bewegung. Noch einmal ein schönes Bild dafür, dass alles im Fluss, das klassisch Beständige nur eine Sinnestäuschung ist – ein "Phantasma" wie die Künstlerin sagt.

Vereint in Heuchelei und Gier

In die Nähe der Travestie, der Parodie, des Pastiche gehört auch die Satire, und wenn man so lachen kann wie bei Murray Schisgals Komödie "Le Ministre japonais du Commerce extérieur" (Der japanische Außenminister), ist sie das beste Rezept gegen Krisen-Katzenjammer. Die Wahl des amerikanischen Autors bedeutet abermals Wiederentdeckung, denn er erlebte seine internationalen Glanzzeiten in den 60er und 70er Jahren, auch als Filmautor ("Tootsie"). Man muss dem Regisseur und Bearbeiter Stéphane Valensi für die Uraufführung des 1992 geschriebenen Stücks dankbar sein, denn es trifft in seiner hemmungslosen Übertreibung haargenau die Mentalität, die die Krise erst ermöglichte. Schisgal, ein Verehrer Nicolai Gogols, verwendet Motive aus dem "Revisor".

japonais 13 Théâtre 13: "Le Ministre japonais du Commerce extérieur" © Théâtrauteurs.comSchauplatz ist ein Provinznest namens Duckpond (Ententeich) in New Jersey. Dessen Honoratioren sind entsprechend "amerikanisiert": Geschäftsleute, Immobilienmakler, Bürgermeister, (schwarze) Polizeichefs, jederzeit zum Betrug bereit. Vereint in Heuchelei und Gier erwarten sie den Besuch des japanischen Außenministers. Sie meinen ihn gefunden zu haben in Gestalt eines Schauspielers im japanischen Kostüm, der mit seiner Gefährtin an einem Miss-Saigon-Wettbewerb teilnahm. Schnell kapiert dieser die Lage, spielt mit japanischer Grandezza seine Ministerrolle und holt dabei das Beste für sich heraus, in Cash. Jene, die ihm aufsitzen wiederum, sind der Überzeugung, mit diesem Japaner die Spekulationsmillionen – aber nicht doch, Milliarden! sagt der Immobilienhändler – sicher in der Tasche zu haben.

Der Angepasstheit entfliehen

Eine aberwitzige Situation reiht sich an die nächste und mit erbarmungsloser Chuzpe werden die Werte dieser Gesellschaft, Geld, Familie, Religion, karrikiert und dem Gelächter preisgegeben. Aber Schisgal macht seine Protagonisten nicht nur lächerlich. Denn einerseits bleiben sie die sich selbst betrügenden armen Teufel, die sie ihr Leben lang waren. Und andererseits entwickeln sie eine Energie, eine Lust am Spiel, dass man sie noch in ihrer totalen Niederlage mag. Ihr Charme erinnert an den der Marx Brothers. Der klassische jüdische Witz des Autors schafft etwas Befreiendes. Geld futsch, der Lover der Bürgermeistertochter entschwunden, na und?

Die Inszenierung mit ihrem gelungenen Mix aus französischem Vaudeville und angelsächsischem nonsense Theater passt genau in das kleinbürgerliche Ambiente des sympathisch schmucklosen Théâtre 13 (im 13. Arrondissement). Die Metropole Paris scheint in diesem Quartier genauso weit entfernt, wie Duckpond von der Schimäre New York. Allen voran glänzt Marc Berman als Bürgermeister, der sich immer dem Publikum zuwenden muss, und, um seiner Angepasstheit zu entfliehen, auch schon mal eine kleine Stepptanzeinlage bietet. Wieso aber war man wirklich angerührt? Vielleicht weil im Spiel der, teilweise älteren, Schauspieler noch etwas von ihrer eigenen ungesicherten Existenz als Schauspieler mitschwang, von der Enttäuschung, nicht ganz nach oben gelangt zu sein. Ein selten uneitler Abend im Theater.

Ökonomisch gefährdet sind alle diese Pariser Bühnen, aber desto stärker ist ihr "carpe diem" zu spüren.

Ute Nyssen
Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von Wolfgang Bauer, Elfriede Jelinek, Brendan Behan, Thomas Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.

 

Mehr zum Theater in Frankreich gibt im nachtkritik-Lexikon. Zuletzt erschien der Theaterbrief (8) über Stéphane Braunschweig, der als Leiter des Pariser Théâtre de la Colline der zeitgenössischen Dramatik Breitenwirkung verschafft. Fanny de Chaillés Stück "Je suis un metteur en scène japonais" hat am 17. April 2013 auf PACT Zollverein Essen seine Deutschlandpremiere.