Altjüngferliche Stiefsohnliebe

von Georg Kasch

Berlin, 30. Januar 2013. Für diesen genervten Blick gibt's zustimmendes, erleichtertes Gelächter aus dem Publikum: Önone rollt die Augen, ihr Mund zuckt spöttisch. Schließlich hat sie's nicht leicht mit ihrer Herrin Phädra, die eben ihrem Stiefsohn ihre sie innerlich verzehrende Liebe gestanden hat, und nun, da dieses Bekenntnis offensichtlich nicht so gut ankam, so lange grübelt, bis ihr ein Grund für seine Zurückweisung eingefallen ist: War der Junge vielleicht überfordert, weil er noch keine Erfahrung mit Frauen hatte?

Önone soll's also mal wieder richten, und das, wo doch im Renaissance-Theater ihr und uns längst klar ist, dass es für diese Phädra keine Rettung gibt: Blass und verheult tastet sie sich an der Klagemauer entlang, die sich mitsamt einem Steg schräg ins Parkett schiebt. Schmal wirkt sie, ausgelöscht, leer stiert der Blick ihrer geröteten Augen in die Ferne. Phädra leidet – und lässt es jeden wissen, auf der Bühne und im Zuschauerraum.

Pflicht gegen Leidenschaft

Derart freudlos, ja altjüngferlich ist wohl selten geliebt worden. Denn an der trockenen Hysterie dieser Königin wird sich auch in den nächsten knappen zwei Stunden nichts ändern. Wenn Corinna Kirchhof "Ich lüüübe" gurrt und dazu Hippolytos übers Knie legt, dass sich eine merkwürdige, aber immer noch erotikfreie Pietà formt, dämmert's: Leidenschaftlicher wird's nicht.

Womit das zentrale Problem dieser "Phädra" umrissen wäre. Denn mit dieser misslaunigen Trauerweide lässt sich so gar kein Identifikations-Spiel treiben, das sonst so oft den Reiz von Jean Racines Dramen ausmacht. Weil man sowohl die rationalen Gedankengänge der Protagonisten nachvollziehen kann wie die Gefühle, die sie durchkreuzen. Pflicht gegen Leidenschaft? Geschickt ausgespielt geht einen dieser Konflikt auch heute noch was an, auch wenn damit eigentlich die höfische Gesellschaft des französischen Sonnenkönigs gemeint war.

Sprache und überschaubare Gesten

Dabei macht Regisseur Torsten Fischer, der relativ kurzfristig für Gisbert Jäkel eingesprungen ist, vieles richtig. Von Johannes Schütz hat er sich womöglich zur reduzierten Bühne inspirieren lassen, von Oliver Reese zum reduzierten Spiel. Wie Kleist funktioniert Racine nur dann, wenn man die Sprache atmen lässt. Fischer konzentriert sich in seiner auf knappe zwei Stunden eingedampften Version auf Simon Werles reimlose, klassisch-zeitlose Nachdichtung. Und darauf, dass im Leidenschaften-Zirkus niemand die Hände ringt. Stattdessen gibt's überschaubare Gesten vor der weißen Wand, die sich zuweilen expressiv als Schatten doppeln: hier ein freundschaftliches Balgen, dort ein zartes, flüchtiges Hand-Ergreifen, dazu lange Blicke quer durchs Parkett.

Hier plänkeln Jakob Diehls grenzhysterischer Hippolytos und Meriam Abbas' Arikia miteinander, hier knarzt und spreizt sich Wolfgang Michaels eitler Theseus zwischen Mick Jagger und Dr. Caligari und macht mit wenigen Machtgesten – ein Genickgriff hier, ein zu naher Körperkontakt da – klar, dass der Chef wieder im Haus ist.

Der Blick von unten aufs Königsdrama

Vor allem aber die confidants, die Vertrauten, die immer wieder an die Vernunft ihrer Chefs appellieren, bringen den Abend dann doch noch auf Temperatur: Bei Annika Mauers reicher Stimmfarbpalette kann schon ein beiläufiges "Der König kommt" wie ein Fanal klingen. Und wenn Robert Gallinowski oben über der Mauer als Hippolytos-Erzieher Theramenes vom Tod des Prinzen berichtet, mit bluttriefenden Händen, folgt man gebannt einem packenden Ein-Mann-Hörspiel.

In diesen – eminent wichtigen – Nebenfiguren deutet sich an, wobei es bei allem Liebe- und Rachefuror ja auch geht: um die Macht, ihr Erringen, ihren Erhalt, den die liebenden (Möchtegern-)Herrscher allzu oft als ihre Privatangelegenheit ansehen. Mit ihrer starken Besetzung füllen die confidants die Lücke, die Kirchoffs fahle Phädra und die etwas blassen Königskinder reißen: Wenn man mit Susanne Barths Önone stärker fühlt als mit dem Leid der Königin, wenn einen Mauers Schmerzblick stärker angreift als Arikias Probleme, dann ist das vielleicht eine ungewollte Perspektivverschiebung. Aber der Blick von unten bekommt diesem Königsdrama ganz gut.

 

Phädra
von Jean Racine, Deutsch von Simon Werle
Regie und Bühne: Torsten Fischer, Kostüme: Jessica Karge.
Mit: Corinna Kirchhoff, Wolfgang Michael, Susanne Barth, Jakob Diehl, Robert Gallinowski, Anika Mauer, Meriam Abbas.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.renaissance-theater.de

 

Mehr zu Torsten Fischer: Vor Jahresfrist inszenierte er – ebenfalls am Renaissance-Theater – Daniel Kehlmanns Geister in Princeton.

 

Kritikenrundschau

Hochgespannt würden die Schauspieler alle zusammen die "Phädra" zum Genuss machen, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.2.2013). "Alle reden wunderhübsch und wunderklug – und sich dabei um Kopf und Kragen." Corinna Kirchhoff, "die sich die Rolle der Phädra wie ein lang gewünschtes Sehnsuchtskostüm anverwandelt hat, reizt den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung mit höchstem Risiko aus." Und weiter heißt es: Angesichts der vielen läppischen Jux-und-Dollerei-Inszenierungen zumal auf den Berliner Bühnen besteche diese hochkonzentrierte Aufführung mit radikalem Formbewusstsein und künstlerischer Kompromisslosigkeit.

Dagegen schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (1.2.2013): "Was um alles in der Welt spielt Corinna Kirchhoff da? Mit einer Stimme, die entweder nach Grabkammer oder Geschmetter klingt, lässt sie es beben und wogen". Sagenhaft komisch wirke "dieser hohle Pathos-Ton, der von Phädras intriganter Amme Önone – herausragend selbstbeherrscht von Susanne Barth gespielt – mit entsprechendem Augenrollen quittiert" werde. "Da muss ein Konzept dahinterstecken. Bloß welches?" Fazit: Fischers Inszenierung vermittele nicht den Eindruck, als würde sie sich für die machtpolitische Dimension des Mythos interessieren, "sie bleibt im Ungefähren, wie die heutigen Kostüme, die eine Zeitlosigkeit signalisieren, die sich ansonsten nie einlöst."

Diese "Phädra" sei "ein Theater der groß ausgestellten Pathosformeln", meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.2.2013). "Das hat in seinem Kunstwollen etwas Rührendes. Aber da all die Verzweiflungsgesten nicht mit Bedeutung gefüllt, sondern bloß manieriertes Gespreize sind, wirkt das erst unfreiwillig komisch und dann schwer sedierend". Die Inszenierung verrenne "sich in einen prätentiösen, etwas zu sehr von sich selbst ergriffenen Formwillen". Corinna Kirchoff wolle als Phädra "eine Heroin des verzweifelten Begehrens geben, in ihrer Unbedingtheit des Gefühls ist sie eine schillernd Schmerzensreiche. Wolfgang Michael als ihr schroffer, seine Wut wiederkäuender Theseus ist das andere schauspielerische Großkaliber auf der Bühne. Um sie herum: Verse-Geratter, Vokal-Gehubere, Finger-Gespreize, Bedeutungs-Geraune."

 

 

 

Kommentare  
Phädra, Berlin: Das Identifikations-Spiel
Aber Herr Kasch, muss denn immer das Identifikations-Spiel betrieben werden? Vielleicht wollte Madame Kirchhoff auf etwas anderes hinaus, und nicht auf Identifikation.
Phädra, Berlin: Dann lieber Klamotte
Das trifft es ziemlich genau. Ich hatte auch gestern Abend ständig den Eindruck, dass Susanne Barth die Ex-Schaubühnen-Diva förmlich an die Wand spielt. Zur Tragödin ist Corinna Kirchhoff wahrlich nicht berufen. Vor allem nicht mit der Stimme. Tut mir echt leid, das war unterste Charge. Eine Selbstdemontage, fast peinlich. Dann doch lieber Klamotte am BE.
Phädra, Berlin: Andere Besetzung?
Klingt wirklich traurig, Stefan, ...aber warum dann gleich zur Klamotte greifen? Wie wäre es mit einer anderen Besetzung?
Phädra, Berlin: BZ Link
Ich glaube, ich schau mir das doch an,...schon seltsam hier die BZ zu posten, aber bitte:

http://www.bz-berlin.de/kultur/buehne/kirchhoff-als-phaedra-im-racine-klassiker-article1631778.html
Phädra, Berlin: Schreibfehler
@ 4
Ist das jetzt ein Beispiel für Ironie, Herr Baucks?
So wie "Altjüngerliche Stiefsohnliebe"? Oder doch nur verschrieben?
Phädra, Berlin: Korrektes Zitat Tagesspiegel
Wenn Sie zitieren, sollte schon richtig zitiert sein, nicht wahr?
Es heißt bei Patrick Wildermann im "Tagesspiegel" bezogen auf die Darstellung der Phädra von Corinna Kirchhoff: "Sagenhaft komisch wirkt dieser hohle Pathos-Ton, der von Phädras intriganter Amme Önone - herausragend selbstbeherrscht von Susanne Barth gespielt - mit entsprechendem Augenrollen quittiert wird.

(Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben den Fehler korrigiert, die Redaktion)
Phädra, Berlin: Was ist los?
Sehr geehrter Herr Kasch ,
ja, ich stimme Ihren Eindrücken in meinen Worten zu: dieser Abend ist ein ganz großer Käse.
Wobei er darin keine Überraschung birgt; das hat man sich in dieser Konstellation doch eigentlich fast denken können.
Allerdings ist Ihre Kritik in Ihren Einzelheiten auch ein ganz großer Käse:

"...Dabei macht Regisseur Torsten Fischer, der relativ kurzfristig für Gisbert Jäkel eingesprungen ist, vieles richtig. Von Johannes Schütz hat er sich womöglich zur reduzierten Bühne inspirieren lassen, von Oliver Reese zum reduzierten Spiel...."

Genau damit macht Fischer ( oder Jäkel oder beide ) ja eben so ziemlich alles falsch.
Die DVDtheken werden immer umfangreicher, jeder hat von jedem alles gesehen und sich nicht nur eine Meinung, sondern auch eine Bühne gebildet, inklusive Regiekonzept.
Mir machen den Guten alles nach und im Gegensatz zu den Schlechten alles besser.
Und damit alles falsch, weil sich keiner mehr aus seinem eigenen Bau traut.
Die Langeweile ist vorprogrammiert.

"...Wie Kleist funktioniert Racine nur dann, wenn man die Sprache atmen lässt..."

Aha , Herr Kasch. Das ist ja ein Ding! Funktioniert übrigens bei allen AutorenInnen so. Also das mit dem Atmen.

"...Bei Annika Mauers reicher Stimmfarbpalette kann schon ein beiläufiges "Der König kommt" wie ein Fanal klingen...."

Herr Kasch, was ist los? Reiche Stimmfarbpalette? Wollen Sie einen ersten Vorschlag für das Unwort des Jahres 2013 liefern? Oder Frau Mauer mit dieser verstaubten Beschreibung in den Wahnsinn treiben?
Phädra, Berlin: das ist los
@7

1. Besser gut geklaut als schlecht erfunden, finde ich. Eine "Phädra" am Renaissance-Theater muss zuerst an diesem Ort für dieses Publikum funktionieren, nicht zwangsläufig im (inter)nationalen Kontext. Außerdem kann es durchaus sein, dass Torsten Fischer beim Erarbeiten der Inszenierung auf ähnliche Lösungen gekommen ist wie die erwähnten Kollegen.

2. Das sehe ich anders. Ein Shakespeare z.B. funktioniert auch in der Übertragung von Senkel/Zaimoglu. Auch die meisten anderen verslos schreibenden Autoren lassen sich ziemlich gut ergänzen, erweitern und heutig sprechen lassen, ohne dass es ihre poetische Kraft schmälert. Wie schlaff Racine wirkt, wenn die Sprache nicht Richtung Pathos gebürstet, sondern ins Private vernuschelt wird, hat Percevals "Andromache" vor Jahren gezeigt (trotz der ansonsten starken Inszenierung – die Bearbeitung von Luk und Peter Perceval in Reiner Kerstens Übersetzung und wie die Schauspieler sie vortrugen, hat aus dem Drama eine ziemlich banale Geisterschau gemacht).

3. Die "reiche Stimmfarbpalette" kürzt ab, was mich an Annika Mauer faszniniert: Dass sie ihre Sprech- wie eine Singstimme einsetzt, um Bedeutungen zu nuancieren. Dass sie dabei eine enorme Stimmbreite besitzt vom sonoren Alt bis zum peitschenden Sopran, und dass sie genau zu wissen scheint, was sie damit anstellt, macht die Sache für mich noch beeindruckender. Wenn Sie meine Unfähigkeit, das in angemessene Worte zu fassen, nicht schlafen lässt, können Sie mir Alternativem vorschlagen – ich lerne gerne dazu.
Phädra, Berlin: lieb gewonnen
Danke für Ihre Erläuterungen.
Mit dem " Besser gut geklaut als schlecht erfunden " bringen Sie es sehr schön auf den Punkt.
Lieber beschreibe ich etwas mir Bekanntes, dann kann ich es auch noch trefflich fachidiotisch vergleichen.
Genau dieser komplett unkünstlerischer Vorgang seitens einer Regie und Ihre ebenso uninspirierte Rezension, deren Qualität Sie allerdings mit der Mehrzahl Ihrer Zunft teilen, die kann einen in der Tat schlaflose Nächte bereiten.
Ich fände es beglückend, wenn sich das Feuilleton seiner handwerklichen Fähigkeiten wieder bewußt wird und nicht selbstreferenziell im Kreis dreht.
Und dass gilt ebenso für die Theater, deren MitarbeiterInnen sich bitte nicht dem copy & paste- Trend verschreiben sollte, sondern auf der Suche nach neuen Bildern grossen Mut beweisen und keine Angst vor dem Scheitern haben sollte.
Und die "reiche Stimmfarbpalette", die habe ich schon richtig lieb gewonnen.
Echt!
Phädra, Berlin: Nachfrage
@9 Jetzt würde mich aber doch interessieren, wie Ihrer Ansicht nach eine inspirierte Rezension dieser Aufführung ausgesehen hätte.
Phädra, Berlin: der Kerr musste auch erst üben
Eine inspirierte Rezension, ich bitte Sie.
Herr Kasch, Herr Behrens ,
nur Mut, Sie schaffen das schon !
Der Kerr musste auch erst noch üben.
Und wenn es dem mal ganz fad war, dann hat er halt nichts geschrieben.
Kommentar schreiben