Dornröschens dunkle Seite

von Grete Götze

Frankfurt am Main, 10. Februar 2013. Um gleich mit der kritischen Tür ins Haus zu fallen: Die Uraufführung von "Sleepless in my dreams – Ein Dornröschen-Erweckungskuss" will bedeutungsvoll sein, nur fragt man sich als Zuschauer, was sie ihm bedeuten soll. Aber zurück auf Anfang, schließlich gehen auch die drei Schauspieler im Abend immer wieder zurück auf Anfang, um die Geschichte vom Dornröschen der Brüder Grimm anders zu beginnen oder enden zu lassen als bekannt.

Auf drei Stühlen sitzen also drei Schauspieler des Nachwuchsstudios vor dem dunklen Zuschauerraum der Box und erzählen bekannte Märchengeschichten neu: Hinter den sieben Bergen stehen die sieben Zwerge nicht etwa Schneewittchen mit Rat und Tat zur Seite, sondern es werden Menschen geköpft. Die Zwerge sind hinterlistig. Und Dornröschen sticht sich nicht in einem alten Turm mit einer Spindel in den Finger, um sich und das ganze Königreich in einen langen, rettenden Schlaf zu versetzen.

Wünsche wahr werden lassen

In der Inszenierung von Pedro Martins Beja, der für das Schauspiel Frankfurt zuletzt mit "Red Light Red Heat" das Bahnhofsviertel erkundete, erspindelt sich das neue "Röschen" mit einem schwarzen Lippenstift selbst und macht dazu splatterartige Blutgeräusche. Oder sie schminkt sich ihr Gesicht weiß und verschwindet mit den beiden Männern in einem Kabuff rechts der Bühne, von dem aus eine Kamera ihre Gesichter auf den Bühnenvorhang projiziert. Das ist bisweilen unheimlich.

Es ist ein Alptraum-Szenario, in dem Röschen als Atomuboot oder Weltraumrakete bezeichnet wird. Zwischendurch brechen die drei Darsteller aus der Fiktion des Dargebotenen aus und fragen: Was machen wir denn jetzt? Oder sie verstehen einander bewusst falsch: "Ich bin auf einer Leiter?" "Was, so kommen wir nicht weiter?" Das ist bisweilen lustig. Aber was will es bedeuten?

sleepless 560 carolinback u Düster geschminkt © Karolin Back

Noch ein Schritt zurück. Im Märchen geht es um Gegenräume, um utopische Welten, in denen eine andere Logik gilt als im Diesseits. Auch im Text der österreichischen Autorin Gerhild Steinbuch geht es um utopische Welten, darauf weisen schon die Namen der drei Hauptfiguren hin: Peter, Wendy und Nibs entstammen James Matthew Barries' Kindergeschichten von Peter Pan, der im Neverland, auf einer fiktiven Insel wohnt. An einem Ort, an dem Wünsche wahr werden, wenn man nur fest an sie glaubt und Kinder nicht erwachsen werden. Peter Pan erlebt dort Abenteuer mit den Kindern, bevor sie wieder ins normale Leben zurückkehren. In der Fortsetzungsgeschichte kehrt der Traum an diese Zeit immer wieder zurück. Das wird zum Albtraum.

Flucht aus der Lüge

In Steinbuchs Text ist der Schlaf, der Albtraum, die Suche nach dem Glück ein wiederkehrendes Motiv. Der Text hat etwas Wütendes, sich (auch der Form eines Stückes) Verweigerndes, etwas Kindliches. "Der Text ist ein pathologischer Lügner", stellt die Autorin ihm denn auch als Motto voran. Er ist gegen das Lügen, in dem er sagt, dass immer gelogen wird, vor allem im Märchen. Wer überleben will, der schläft. Wer Kind oder Teenager ist, will alles kaputt machen und neu erzählen, von Anfang an.

sleepless3 280 karolin back u© Karolin Back

Und so erzählen auch Katharina Bach, Christian Erdt und Daniel Rothaug ihre Großstadtmärchen immer wieder neu, und wenn sie noch so grausam sind, die Figuren wollen der Lüge etwas entgegensetzen. Mal singend, mal im Nebel, mal von der Diskokugel beleuchtet. Sie machen das ordentlich, und Katharina Bach scheint als hysterisches, elfenartiges, immer androgynes Röschen tatsächlich aus einer anderen Welt zu kommen. Dass das Stück allerdings in vier Teile untergliedert sein möchte, merkt keiner. Und dass es kritisch ist, auch nicht, selbst wenn es mal heißt: "Wir sind eine Gemeinschaftlichkeit, die gegen alles besteht außer gegen sich selbst." Zu sehr geht das alles in der Unterhaltungshaltung der Inszenierung unter.

Logik des Betriebs

Vielleicht ist ein Problem des Abends, dass da zwei für den Theaterbetrieb noch verhältnismäßig junge Menschen sich ihm verweigern wollen, um ihre Geschichten neu zu erzählen, und trotzdem nach der Logik dieses Betriebs funktionieren müssen. Steinbuch, indem sie zwar einen kritischen, bedeutungsoffenen Text mit Figuren geschrieben hat, obwohl sie Figuren eigentlich zu misstrauen scheint. Und Martins Beja, in dem er zwar die Fiktion des Stadttheater-Erzählens immer wieder durchbrechen lässt, dann aber doch nicht wagt, wirklich auf die Mittel der Illusionsmaschine zu verzichten.

 
Sleepless in my dreams – Ein Dornröschen-Erweckungskuss (UA)
Text von Gerhild Steinbuch
Regie: Pedro Martins Beja, Bühne / Kostüme: Michaela Kratzer, Musik: Jörg Follert, Dramaturgie: Johanna Vater.
Mit: Katharina Bach, Christian Erdt, Daniel Rothaug.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (12.2.2013) hegt angesichts von Martins Bejas Inszenierung den dringenden Wunsch, der Regisseur und die Autorin "könnten ihre Dornröschen-Ideen zu Ende denken. Ausdenken, sozusagen". Auf die eigentlich spannende Frage "Was war vor dem Märchen, was steckt dahinter?" hätten die beiden leider "nicht nur keine Antwort", sondern breiteten dies auch noch "in einem von Allgemeinplätzen durchsetzten Schwall ausführlich" aus, von den Schauspielern immerhin "mit großem Engagement" dargelegt. Misstrauisch macht auch: "ein Unterfangen, bei dem der Zuschauer sich alle drei Minuten vorm Schlusstableau wähnen kann".

Die Idee einer „spielerischen Diskurskomödie" hat Stefan Michalzik von der Offenbacher Post (12.2.2013) in diesem Abend ausgemacht, doch lasse die Inszenierung eine "klare Richtung" vermissen. Rahmenbildende Thesen zur "Müdigkeitsgesellschaft im Zeichen des ständigen Geweses in unserer Gesellschaft" würden eher im Programmheft denn auf der Bühne vermittelt. Dort sei alles "in einer überdrehten Weise" inszeniert und "auf ein Komödiantentum fokussiert". Allein der Auftritt der jungen Schauspielerin Katharina Bach – "Eine Entdeckung!" – verleitet den Kritiker zum reichhaltigen Lob "ihrer körperlichen Präsenz und der in jeder Sekunde scharfen Konturierung ihres gradlinig-unkapriziösen Spiels".

"In einem reichlich unübersichtlichen Märchendurcheinander" fand sich Astrid Biesemeier von der Frankfurter Neuen Presse (13.2.2013) wieder. "Warum dieser Text unbedingt auf die Bühne musste, bleibt unklar." Weder biete er "eine neue Lesart" für die Märchen, noch besitze er "szenisches Potential".

 

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