Abenteuerplatz Straße

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 16. Februar 2013. Die Schlacht von Worringen wurde bereits 1288 geschlagen. Sie ging zugunsten Bergs und Brabants aus und beendete die Vormachtstellung Kurkölns am Niederrhein – so weiß es der Brockhaus. In Nurkan Erpulats Projekt mit Texten von Anne Jelena Schulte geht es allerdings nicht um einen mittelalterlichen Krieg, sondern um Fehden der Jetztzeit: um knappen Wohnraum, um Drogenabhängige, um Obdachlose, um soziale Härten. Denn der Worringer Platz, unweit des Hauptbahnhofs und der Nebenspielstätte "Central" gelegen, gilt in Düsseldorf auch nach seiner Renovierung vor Jahren als Fluchtpunkt der Randständigen: Wer sich hier Gute Nacht sagt, das möchte man in Oberkassel und Angermund lieber nicht so genau wissen. Die zentrale Drogenberatung liegt ganz in der Nähe, und auf die Trebegänger (so sagte man früher), die sich hier gern aufhalten, hat das Sicherheitspersonal der Bahn AG ein besonders wachsames Auge.

Stadt in ihren schönsten Farben

"Platzbegehung und Minidrama" nennt das Projekt sich im Untertitel. Man sollte sich warm anziehen, aber die strengste Kälte ist Mitte Februar vorbei, der Abend wirkt beinahe vorfrühlingshaft mild, und auch in der Drogenberatung ist es schön geheizt. Doch begonnen hat alles in einem Flur im Central mit einer Ansprache des Schauspielers Christian Ehrich, der in Anzug und Krawatte offenbar eine Art (Ober-)bürgermeister darstellen soll: Er schildert seine Stadt, das blühende Düsseldorf (und damit meint er ausdrücklich nicht nur die 400.000 Sommerpflanzen, die ausgesät worden seien), in den schönsten Farben, während eine Japanerin im Hintergrund ergeben lächelt. Nach dem kabarettistischen Auftakt geht es dann hinaus ins Freie, in vier Gruppen an vier Schauplätze wirklichen Lebens.

In der Drogenberatungsstelle unterhält eine Reporterin oder Sozialarbeiterin (Simin Soraya) sich mit "Jane", einem männlichen Klienten, den Jonas Anders brillant spielt – allerdings erfolgt die Befragung derart oberflächlich und wenig einfühlsam, dass es Jane ein Leichtes ist, den Fragen auszuweichen und sie im Zweifelsfall lieber nicht zu beantworten. Es bleibt bei einer virtuos ausgeführten Etüde.

Zwischen Billardsalon und Tramhaltestelle

Zweite Station: eine winzige Wohnung in der Nähe, zwei Zimmer, nur mit einem Bett möbliert. Ein bärtiger junger Mann in Unterwäsche, der in dieser beklemmenden Umgebung einen Freier (oder Geliebten?) zu erwarten scheint. Sein Deutsch ist nur schwer zu verstehen; einmal sagt er: "Obwohl ich Türke bin, bin ich der Grieche deines Lebens."

Weiter geht es zum Billardsalon an der Ecke, der seit über zwanzig Jahren existiert. Im zweiten Stock darf geraucht werden, und eine Frau, die hier arbeitet, wie sie erklärt (Elena Schmidt), schenkt eine Runde Killepitsch aus (ein in Düsseldorf beliebter süßlicher Kräuterlikör). Sie nennt sich Marie und beichtet dann, sie sei in einem Konflikt und habe sich zwischen zwei Männern zu entscheiden: Es stellt sich heraus, dass es sich bei dieser Geschichte um eine Paraphrase des "Woyzeck" handelt. Am Ende der kurzen und schlichten Erzählung möchte Marie von ihren Zuhörern "beraten" werden.

Und schließlich landet man im Glashaus: einem kleinen Ort an der Straßenbahnhaltestelle, der gelegentlich für Ausstellungen genutzt wird. Im Playback-Verfahren synchronisieren zwei Schauspieler das Statement eines Obdachlosenpärchens im O-Ton: ein Gemisch aus verzweifelter Anpassung an die unwirtliche Realität und sanfter Auflehnung. Eigentlich ein beklemmendes Dokument – warum man es durch die Doppelung karikieren muss, erschließt sich nicht recht.

Fragmentarische Realität

Nurkan Erpulat verfügt als Regisseur durchaus über eine schöne Portion Humor. Zudem scheint er unter den drei Düsseldorfer Hausregisseuren derjenige zu sein, der sich am meisten auf die Gegebenheiten der Stadt einlässt. Dennoch sind diese "Worringer Schlachten" eher ein unfreiwilliges Plädoyer für die Macht der Fiktion und nicht etwa für deren Durchdringung und Vermischung mit dokumentarischer Realität. Letztere bleibt in allen Fällen unausgeprägt, fragmentarisch und dünn – wie ein Abzeichen schlechten Gewissens auf dem, was Topographie und Zeitgeschichte so hergeben.

worringerschlachten1 560 sebastian hoppe uWorringer Schlachten © Sebastian Hoppe

Das bestätigt sich auch in der abschließenden Episode, die im Central gespielt wird. Eine vierköpfige Familie, er ist Architekt und baut, wie es heißt, die Staatskanzlei – das ist schon ein paar Jahre her und steht für den Aufbruch Düsseldorfs in die architektonische Postmoderne. Sie bleibt zu Hause und langweilt sich. Irgendwann brechen Gestalten von außen in die Nicht-Idylle ein und fordern "bezahlbaren Wohnraum" anstelle des herrschenden Postulats "Wer nicht reich ist, muss raus". Das Problem ist, dass Erpulat sich zwar sehr für den Auftritt der realistischen Schreckgespenster, aber kaum für die zugrundeliegende familiäre Situation interessiert. Deshalb verbindet sich beides nicht miteinander, sondern mischt sich allenfalls. Und der ganze Abend nistet sich, vom Abenteuer-Effekt der Platzbegehung abgesehen, im Bewusstsein der Zuschauer/Teilnehmer nicht nachhaltig ein.

Worringer Schlachten Teil 3. 
Platzbegehung und Minidrama. Ein Projekt von Nurkan Erpulat mit Texten von Anne Jelena Schulte
Regie: Nurkan Erpulat, Ausstattung: Simone Grieshaber, Video: Felipe Calvo-Montero, Dramaturgie: Marie Milbacher.
Mit: Jonas Anders, Christian Ehrich, Elena Schmidt, Simin Soraya sowie Laien.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Amüsant, die Einstimmung des Anzugträgers in OB-Wahlkampf-Dukutus, danach geht's raus zum Abgleich: Drogenambulanz, private Absteige, Glashaus. Da berühren die knappen Porträts – ob Flaschensammler oder Kellnerin, fein ausbalanciert zwischen Nähe und Distanz von den Schauspielern", schreibt Ulrike Merten auf dem WAZ-Portal derwesten (18.2.2013). Und auch wenn man sich als Zuschauer dann schwer tue mit dem Karaoke-Einstieg ins Mini-Drama um die erodierende Familie, bei dem das Eindringen realer Figuren zu modellhaft und politisch korrekt wirke, ist es "ein anregender Abend für gemischte Gefühle".

Im Gegensatz zu den starken Szenen, die Erpulat im ersten Teil der Wirklichkeit abringt, wirke die Wirklichkeit auf der Bühne brav inszeniert, findet Dorothee Krings in der Rheinischen Post (18.2.2013). Trotzdem habe sich Erpulats Kontaktaufnahme mit Düsseldorf gelohnt: Aus dem Zuschauer werde ein Betrachter verdrängter sozialer Realitäten. "In einer Gesellschaft zunehmender Abschottung zwischen den Schichten ist auch das eine Aufgabe des Stadttheaters."

"Eine nachdenkliche Collage, die anrührt und den Blick schärft für das, was tatsächlich vorgeht auf den Bühnen der Stadt", meint Wera Engelhardt in der Westdeutschen Zeitung (18.2.2013). Erpulat gewäre Einblicke in ein Düsseldorf, "das vielleicht nur die wenigsten kennen".

 

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