Rauchen, loben, spielen

Der Briefwechsel zwischen Bertolt Brecht und Helene Weigel umfasst 250 Briefe, Karten, Telegramme und Billette. Sie reichen von 1923, dem Jahr des Kennenlernens, bis zum Juni 1956, zwei Monate vor Brechts Tod im August. Der Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs Erdmut Wizisla hat sie in einem gewohnt gediegen aufgemachten Suhrkamp-Band versammelt und mit Anmerkungen, Register und Nachwort versehen.

coverbrechtDer überwiegende Teil der schriftlichen Einlassungen stammt von Brecht, darunter auch jene bislang unbekannten, im Nachlass des Schweizer Freundes Victor N. Cohen aufgefundenen Briefe, die Brecht Mitte der 40er Jahre aus New York nach Kalifornien schrieb. Von der nach eigenem Dafürhalten schreibfaulen Weigel stammt nur rund ein Viertel des Konvoluts, großteils aus den Jahren 1949 bis 1956, als das Paar im sowjetischen Sektor Berlin sein Theater, das Berliner Ensemble aufbaute und internationale Erfolge erzielte. Am Schiffbauerdamm fungierte Weigel als Intendantin, im Hintergrund zog der kränkelnde Brecht die Fäden. Ihm war in künstlerischen Dingen das letzte Wort vorbehalten. Dieser Abschnitt, der Engagements, Gagen, Spielplanüberlegungen mitteilt, bildet eine Fundgrube für Spezialisten, die sich der Frühgeschichte des BE verschrieben haben.

Die halbwegs in Brechtiana bewanderte Leserin erfährt weniger Neues. Oder überrascht jemanden die Chuzpe, mit der Brecht, kaum ist Weigel 1924 von ihm schwanger, sie als Sekretärin in Dienst stellt und von ihr verlangt, ihre Wohnung an ihn abzutreten? Die meisten seiner Briefe beinhalten Aufträge, nur halbwegs versüßt durch den schriftlichen Kuss am Schluss, dafür gerne unterstrichen mit dem Zusatz "das ist entscheidend". Weil es ja zumeist um "das Werk" geht, Brechts Schriften und die gemeinsame Theaterarbeit, muss der Autor um jeden Preis arbeitsfähig bleiben. Dieser "dritten Sache", dem Werk ihres Mannes, hat sich Weigel mit Haut und Haaren verschrieben. Sie richtet die Häuser und Wohnungen ein, versorgt die Kinder (eigene und die der anderen Brecht-Frauen), organisiert und beschafft das Benötigte, beherbergt Freunde und Mitarbeiter, spielt Theater. Brecht schreibt, raucht, lobt das Spiel der Weigel und lebt mit anderen Frauen.

In wenigen Briefen werden die Kränkungen offenbar, die eine offene Beziehung jenseits einer "mit Stempel versehenen Ehe" (Weigel) besonders für Weigel bedeuteten. 1933, wenige Tage vor dem Machtantritt Hitlers schreibt Brecht, sie müsse Rücksicht nehmen auf seine anstrengende Arbeit und nicht streiten, man könne doch auch das "Körperliche" vom "Psychischen" trennen (im Klartext: miteinander schlafen, obwohl Brecht vornehmlich mit seiner Geliebten Margarete Steffin zusammenlebt). Von 1944 stammt einer der seltenen Brief(entwürf)e, in dem Weigel sich beschwert, dass Brecht es Ruth Berlau gestatte, Ausschließlichkeits-Ansprüche auf ihn zu erheben. 

Wer sich tiefere Einsichten in die politischen und die Lebensverhältnisse der Familie Brecht in der Weimarer Republik, im Exil und später der DDR erhofft, wird enttäuscht werden. Wizislas knappe Hinweise helfen, ersetzen aber nicht die hinreichende Kenntnis der Biographien. Immer scheint ausreichend Geld (oder Gönner) vorhanden für Reisen vom dänischen Exil nach London oder Paris oder New York. Die Familie leistet sich eine Haushälterin. In Wirklichkeit war die materielle Situation viel prekärer. Auch die Bedrängnisse durch die Nazis bleiben weitestgehend unerwähnt, ebenso die Gefahren für den mit oppositionellen Kommunisten befreundeten Autor in der Sowjetunion von 1941.

Dafür erfährt man durchaus überrascht, dass Brecht, als er auf sich allein gestellt in New York mit Charles Laughton an der Aufführung des "Galileo Galilei" arbeitet, endlich einmal "gläser + tassen spülen" und Müll raustragen lernt. Mehr noch, als Weigel versucht, in der Exilzeit Engagements zu ergattern, hütet Brecht gelegentlich sogar die Kinder. BB, unterstützt von einer Haushälterin, als alleinerziehender Vater, in den Brecht-Biografien hatte man's allzu rasch überlesen.

Angeblich versammelt der Band alle heute bekannten Briefe. Weil aber die Briefe oft ins Leere gehen, die zu den gestellten Fragen gehörigen Antworten fehlen, ist es, als lese man zufällig aufgefundene Fetzen. Verloren sind auch die Liebesbriefe, die Brecht laut Weigels späterer Auskunft mitunter auf Klopapier verfasste. Die blaue Kiste, in der Weigel sie verwahrte, gilt als verschollen. (Nikolaus Merck)

 

Bertolt Brecht, Helene Weigel:
"ich lerne: gläser + tassen spülen". Briefe 1923–1956
Herausgegeben von Erdmut Wizisla
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 402 S., 26,95 Euro


Noch nicht, nicht mehr

Texte haben ihre Konjunkturen und Re-Lektüren, die immer auch etwas über die Zeit aussagen, in der sie wiederentdeckt werden. Nun kann man nicht gerade behaupten, es wäre je still um Bertolt Brechts "Fatzer" gewesen, seit man 1976 Brechts Zettelkasten als Stück das erste Mal auf die Bühne brachte. Doch scheint gerade in einer Krisenwelt, in einer Zeit aus den Fugen, die Beschäftigung mit dem unerhörten Individuum Fatzer besonders produktiv.

coverfatzer"Ein harter Bissen, ich baue immer noch am Rahmen herum", hielt Brecht über seinen dramatischen Versuch fest. Bruchstücke, Unvollständiges, Nichtfertiges – Fragmente zeichnet gemeinhin das Merkmal des "Nicht mehr" und "Noch nicht" aus, und das gilt für "Fatzer" insbesondere. Hier hat eine Gruppe Deserteure keine Lust mehr auf Krieg und versteckt sich. Wie es weiter geht, wissen sie nicht, begehren aber die ungewisse Zukunft, immerhin: Es kann nur besser werden. Dadurch ist der Text für ein Theater der Auseinandersetzung geradezu geschaffen, und einem solchen fühlen sich die Mülheimer Fatzertage, die 2011 erstmalig stattfanden, verpflichtet.

Was kann uns das Fragment sagen, stört seine Unfertigkeit oder macht sie es umso fruchtbarer? Der Band "Kommando Johann Fatzer" versammelt die beim Festival aufgeführte Auseinandersetzung und eröffnet zugleich die Reihe Mülheimer Fatzerbücher. Versammelt sind ausführliche Dokumentationen und Diskussionen der Festivalbeiträge. Darunter sind FatzerBratz von andcompany&Co. und ein "Fatzer" für Kinder. Besonders interessant ist der Ansatz einer Produktion des Leipziger Spinnwerk: ein Stück als individuelles Mosaikspiel. Die Produktion versuchte nicht, die Sehnsucht nach Revolution in einer bestimmten Reihenfolge aufzuschließen und damit zu richten. Der Zuschauer läuft nach seinem Gusto Stationen ab, und der Text setzt sich en passant zusammen.

Wird hier der Verzicht aufs Ganze und harmonische Fügung/Verfugung als Chance erkannt, so trifft das aufs gesamte Buch zu: "Fatzer" ist besser schlaglichtartig denn in der Totalen anzugehen. (Tobias Prüwer)

 

Alexander Karschnia und Michael Wehren (Hg.):
Kommando Johann Fatzer
Neofelis Verlag, Berlin 2012, 213 S., 18 Euro

 

Zwei Lehrstücke

Es gibt keine Zensur in Russland. Das sagen jene, denen die Macht gegeben ist, Zensur auszuüben, jener Clique um Putin herum, zu der auch die Oberen der Russisch-Orthodoxen Kirche gehören; sie bekämpft, was ihrem Machterhalt gefährlich werden könnte. Das weiß die Welt seit dem Prozess gegen die Punk- und Performance-Gruppe Pussy Riot, spätestens.

coverpussyriotWegen "Rowdytums aus religiösem Hass" wurden am 17. August 2012 drei Mitglieder von Pussy Riot zu zwei Jahren Straflager in Sibirien verurteilt. Das Urteil für eine von ihnen, Jekaterina Samuzewitsch, wurde später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, der Antrag von Marija Aljochina auf Haftaufschub wegen des jungen Alters ihres Kindes abgelehnt.

Das aber ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass dieser Prozess nicht nach strafrechtlichen, sondern einzig nach politischen Kategorien geführt wurde. Denn der Auftritt von Pussy Riot im Februar 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale war strafrechtlich betrachtet allenfalls eine mittelschwere Ordnungswidrigkeit. Weil die Gruppe damals ein so genanntes Punk-Gebet mit der Textzeile "Jungfrau Maria, räum Putin aus dem Weg!" vortrug, und weil sie mit der Wahl des Ortes die unheilige Allianz von russisch-orthodoxer Kirche und Politik anklagten, wurde ihr Auftritt zu einer Provokation für die Machthaber: Die kurze, lediglich 40 Sekunden dauernde Performance demaskierte das System Putin, ließ es korrupt und denkbar undemokratisch aussehen. Deshalb, nur deshalb wurde Pussy Riot verurteilt.

Jetzt versammelt ein schmaler Band jene Dokumente, die das Skandalöse des Prozesses offenlegen. Briefe der Bandmitglieder aus dem Untersuchungsgefängnis, das Plädoyer der Staatsanwaltschaft, die Ansprachen der drei Frauen vor Gericht und mehrere ihrer Gedichte. Dass dieser Gerichtsvorgang mit erfundenen Akten, grotesken Unterstellungen und hanebüchenen Verfahrensfehlern geführt wurde, dass er Ausdruck einer autoritären Herrschaft ist und die Richter folglich nur Attrappen – man zweifelt keine Sekunde daran.

Das allerdings ist auch die Schwäche dieses kleinen Bandes. Man wünschte sich eine etwas distanziertere, kühlere Analyse der politischen Hintergründe. Nicht um Putins poststalinistisches Reich zu entschuldigen, sondern um es genauer zu verstehen. Dieses Buch will aber vor allem eine Kampfschrift sein, ein flugschrifthafter Aufruf zur Rebellion; dafür ist es hervorragend geeignet.

Die politischen und religiösen Hintergründe, die Analyse des Putin-Staates liefert dagegen ein Band, der sich mit einem russischen Zensurfall aus dem Jahr 2006 beschäftigt. Im Moskauer Andrej-Sacharow-Zentrum fand 2006 eine Ausstellung statt, "Verbotene Kunst" betitelt, die ebenfalls zum Gegenstand einer Gerichtsverhandlung wurde, weil sie den Machthabern die Maske abriss. Zu sehen waren damals Kunstwerke, die vornehmlich in Akten vorauseilender Selbstzensur aus Galerien und Museen entfernt worden waren, weil sie sich explizit als politisch verstanden, eine Arbeit von Alexander Sawko etwa, die eine Mickey Maus beim Verlesen der Bergpredigt zeigt, oder einen Ikonenbeschlag mit einer Füllung aus schwarzem Kaviar, die Alexander Kosolapow angefertigt hat. In einem aufwendigen Verfahren wurden der Kurator Andrej Jerofejew und der Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, zu hohen Geldstrafen verurteilt, mit der Begründung, sich des "Schürens von religiösem und nationalem Hass" schuldig gemacht zu haben.

coververbotenekunstDie Zeichnerin Wiktoria Lomasko und der Künstler Anton Nikolajew haben diesen Prozess seinerzeit verfolgt, vielerlei zusätzliche Materialen gesammelt und daraus eine grafische Gerichtsreportage geschaffen, die in ihrem geglückten Zusammenspiel von Zeichnungen und Texten bestens geeignet ist, die himmelschreiende Instrumentalisierung dieser Veranstaltung zu entlarven: Was damals in Moskau stattfand, war ein Schauprozess in stalinistischer Tradition. Angeworbene Quasi-Zeugen, die "geprobte" Aussagen machten, instruierte Richter, erfundene Tatbestände. Man liest ein Lehrstück, nicht nur über politische Willkür, sondern auch über die Reaktionen der Künste auf ein repressives, angst- und entsprechend gewaltbereites System. Und, vor allem, über die Unmöglichkeit, religiöse oder nationale Gefühle zum Rechtsgegenstand zu machen.

"Man hat im Augenblick das Gefühl, wir befänden uns nicht im Russland des 21. Jahrhunderts, sondern in einem Paralleluniversum, in einem Märchen wie 'Alice im Wunderland' oder 'Alice hinter den Spiegeln'." Das sagte Violetta Wolkowa, die Verteidigerin von Pussy Riot, im August 2012 in ihrem Schlussplädoyer; es ließe sich auch über den Prozess gegen Samodurow und Jerofejew sagen.

Der viel strapazierte (und häufig allenfalls auf der Trivialebene zutreffende) Theatervergleich, die Rede von Theatralisierung des öffentlichen Raumes, trifft hier (ausnahmsweise) übrigens zu, wie die Übersetzerin und Wissenschaftlerin Sandra Frimmel in einem instruktiven Nachwort schreibt: Man hatte es bei dieser Verhandlung nicht mit einem Gerichtsprozess, sondern mit "Gerichtstheater" zu tun, allerdings mit gänzlich untheatralischen, harten Folgen für die Verurteilten. Womöglich ist genau dies auch das Kalkül: Die Urteile entfalten gerade dadurch ihre Härte, weil sie in einem theatralen Rahmen entstanden, aber im außertheatralen Raum Geltung haben.

In diesem Sacharow-Zentrum, das seinerzeit "Verbotene Kunst" und 2003 bereits die ebenfalls befehdete Ausstellung "Achtung! Religion" zeigte, wird Anfang März übrigens Milo Rau mit Die Moskauer Prozesse eben diese drei Prozesse – gegen Pussy Riot, "Verbotene Kunst" und "Achtung! Religion" – drei Tage lang wiederaufnehmen und neu verhandeln lassen, mit Anwälten, Zeugen und einer Jury aus sieben Moskauer Bürgerinnen und Bürgern. Es werden dabei zum Beispiel Anna Stavickaja, die Verteidigerin in den Prozessen um "Achtung! Religion" und "Verbotenen Kunst", Alexander Chuev, der den Prozess gegen "Achtung! Religion" angestrengt hat, Michail Ryklin, dessen Frau die Hauptangeklagte im "Vorsicht! Religion"-Prozess war, und Katja Samuzevitsch, das auf Bewährung freigelassene Mitglied von Pussy Riot teilnehmen. Der Ausgang dieser neuen, von Milo Rau initierten Prozesse, die Anton Nikolaev als Gerichtsreporter und Wiktoria Lomasko als Zeichnerin begleiten werden, ist bewusst offen. Es wird, so gilt zu hoffen, ein Schau-Spiel über Macht, Zensur und Kunst. (Dirk Pilz)

 

Pussy Riot:
Pussy Riot! Ein Punk-Gebet für die Freiheit
Mit einem Vorwort von Laurie Penny, aus dem Englischen von Barbara Häusler
Edition Nautilus. Hamburg 2012. 128 S., 9,90 Euro

Wiktoria Lomasko/Anton Nikolajew:
Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung. Gerichtsreportage.
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Sandra Frimmel
Matthes & Seitz, Berlin 2013, 172 S., 19,90 Euro

 

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Rauchen, loben, spielen

Der Briefwechsel zwischen Bertolt Brecht und Helene Weigel umfasst 250 Briefe, Karten, Telegramme und Billette. Sie reichen von 1923, dem Jahr des Kennenlernens, bis zum Juni 1956, zwei Monate vor Brechts Tod im August. Der Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs Erdmut Wizisla hat sie in einem gewohnt gediegen aufgemachten Suhrkamp-Band versammelt und mit Anmerkungen, Register und Nachwort versehen.

coverbrechtDer überwiegende Teil der schriftlichen Einlassungen stammt von Brecht, darunter auch jene bislang unbekannten, im Nachlass des Schweizer Freundes Victor N. Cohen aufgefundenen Briefe, die Brecht Mitte der 40er Jahre aus New York nach Kalifornien schrieb. Von der nach eigenem Dafürhalten schreibfaulen Weigel stammt nur rund ein Viertel des Konvoluts, großteils aus den Jahren 1949 bis 1956, als das Paar im sowjetischen Sektor Berlin sein Theater, das Berliner Ensemble aufbaute und internationale Erfolge erzielte. Am Schiffbauerdamm fungierte Weigel als Intendantin, im Hintergrund zog der kränkelnde Brecht die Fäden. Ihm war in künstlerischen Dingen das letzte Wort vorbehalten. Dieser Abschnitt, der Engagements, Gagen, Spielplanüberlegungen mitteilt, bildet eine Fundgrube für Spezialisten, die sich der Frühgeschichte des BE verschrieben haben.

Die halbwegs in Brechtiana bewanderte Leserin erfährt weniger Neues. Oder überrascht jemanden die Chuzpe, mit der Brecht, kaum ist Weigel 1924 von ihm schwanger, sie als Sekretärin in Dienst stellt und von ihr verlangt, ihre Wohnung an ihn abzutreten? Die meisten seiner Briefe beinhalten Aufträge, nur halbwegs versüßt durch den schriftlichen Kuss am Schluss, dafür gerne unterstrichen mit dem Zusatz "das ist entscheidend". Weil es ja zumeist um "das Werk" geht, Brechts Schriften und die gemeinsame Theaterarbeit, muss der Autor um jeden Preis arbeitsfähig bleiben. Dieser "dritten Sache", dem Werk ihres Mannes, hat sich Weigel mit Haut und Haaren verschrieben. Sie richtet die Häuser und Wohnungen ein, versorgt die Kinder (eigene und die der anderen Brecht-Frauen), organisiert und beschafft das Benötigte, beherbergt Freunde und Mitarbeiter, spielt Theater. Brecht schreibt, raucht, lobt das Spiel der Weigel und lebt mit anderen Frauen.

In wenigen Briefen werden die Kränkungen offenbar, die eine offene Beziehung jenseits einer "mit Stempel versehenen Ehe" (Weigel) besonders für Weigel bedeuteten. 1933, wenige Tage vor dem Machtantritt Hitlers schreibt Brecht, sie müsse Rücksicht nehmen auf seine anstrengende Arbeit und nicht streiten, man könne doch auch das "Körperliche" vom "Psychischen" trennen (im Klartext: miteinander schlafen, obwohl Brecht vornehmlich mit seiner Geliebten Margarete Steffin zusammenlebt). Von 1944 stammt einer der seltenen Brief(entwürf)e, in dem Weigel sich beschwert, dass Brecht es Ruth Berlau gestatte, Ausschließlichkeits-Ansprüche auf ihn zu erheben. 

Wer sich tiefere Einsichten in die politischen und die Lebensverhältnisse der Familie Brecht in der Weimarer Republik, im Exil und später der DDR erhofft, wird enttäuscht werden. Wizislas knappe Hinweise helfen, ersetzen aber nicht die hinreichende Kenntnis der Biographien. Immer scheint ausreichend Geld (oder Gönner) vorhanden für Reisen vom dänischen Exil nach London oder Paris oder New York. Die Familie leistet sich eine Haushälterin. In Wirklichkeit war die materielle Situation viel prekärer. Auch die Bedrängnisse durch die Nazis bleiben weitestgehend unerwähnt, ebenso die Gefahren für den mit oppositionellen Kommunisten befreundeten Autor in der Sowjetunion von 1941.

Dafür erfährt man durchaus überrascht, dass Brecht, als er auf sich allein gestellt in New York mit Charles Laughton an der Aufführung des "Galileo Galilei" arbeitet, endlich einmal "gläser + tassen spülen" und Müll raustragen lernt. Mehr noch, als Weigel versucht, in der Exilzeit Engagements zu ergattern, hütet Brecht gelegentlich sogar die Kinder. BB, unterstützt von einer Haushälterin, als alleinerziehender Vater, in den Brecht-Biografien hatte man's allzu rasch überlesen.

Angeblich versammelt der Band alle heute bekannten Briefe. Weil aber die Briefe oft ins Leere gehen, die zu den gestellten Fragen gehörigen Antworten fehlen, ist es, als lese man zufällig aufgefundene Fetzen. Verloren sind auch die Liebesbriefe, die Brecht laut Weigels späterer Auskunft mitunter auf Klopapier verfasste. Die blaue Kiste, in der Weigel sie verwahrte, gilt als verschollen. (Nikolaus Merck)

 

Bertolt Brecht, Helene Weigel:
"ich lerne: gläser + tassen spülen". Briefe 1923–1956
Herausgegeben von Erdmut Wizisla
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 402 S., 26,95 Euro


Noch nicht, nicht mehr

Texte haben ihre Konjunkturen und Re-Lektüren, die immer auch etwas über die Zeit aussagen, in der sie wiederentdeckt werden. Nun kann man nicht gerade behaupten, es wäre je still um Bertolt Brechts "Fatzer" gewesen, seit man 1976 Brechts Zettelkasten als Stück das erste Mal auf die Bühne brachte. Doch scheint gerade in einer Krisenwelt, in einer Zeit aus den Fugen, die Beschäftigung mit dem unerhörten Individuum Fatzer besonders produktiv.

coverfatzer"Ein harter Bissen, ich baue immer noch am Rahmen herum", hielt Brecht über seinen dramatischen Versuch fest. Bruchstücke, Unvollständiges, Nichtfertiges – Fragmente zeichnet gemeinhin das Merkmal des "Nicht mehr" und "Noch nicht" aus, und das gilt für "Fatzer" insbesondere. Hier hat eine Gruppe Deserteure keine Lust mehr auf Krieg und versteckt sich. Wie es weiter geht, wissen sie nicht, begehren aber die ungewisse Zukunft, immerhin: Es kann nur besser werden. Dadurch ist der Text für ein Theater der Auseinandersetzung geradezu geschaffen, und einem solchen fühlen sich die Mülheimer Fatzertage, die 2011 erstmalig stattfanden, verpflichtet.

Was kann uns das Fragment sagen, stört seine Unfertigkeit oder macht sie es umso fruchtbarer? Der Band "Kommando Johann Fatzer" versammelt die beim Festival aufgeführte Auseinandersetzung und eröffnet zugleich die Reihe Mülheimer Fatzerbücher. Versammelt sind ausführliche Dokumentationen und Diskussionen der Festivalbeiträge. Darunter sind FatzerBratz von andcompany&Co. und ein "Fatzer" für Kinder. Besonders interessant ist der Ansatz einer Produktion des Leipziger Spinnwerk: ein Stück als individuelles Mosaikspiel. Die Produktion versuchte nicht, die Sehnsucht nach Revolution in einer bestimmten Reihenfolge aufzuschließen und damit zu richten. Der Zuschauer läuft nach seinem Gusto Stationen ab, und der Text setzt sich en passant zusammen.

Wird hier der Verzicht aufs Ganze und harmonische Fügung/Verfugung als Chance erkannt, so trifft das aufs gesamte Buch zu: "Fatzer" ist besser schlaglichtartig denn in der Totalen anzugehen. (Tobias Prüwer)

 

Alexander Karschnia und Michael Wehren (Hg.):
Kommando Johann Fatzer
Neofelis Verlag, Berlin 2012, 213 S., 18 Euro

 

Zwei Lehrstücke

Es gibt keine Zensur in Russland. Das sagen jene, denen die Macht gegeben ist, Zensur auszuüben, jener Clique um Putin herum, zu der auch die Oberen der Russisch-Orthodoxen Kirche gehören; sie bekämpft, was ihrem Machterhalt gefährlich werden könnte. Das weiß die Welt seit dem Prozess gegen die Punk- und Performance-Gruppe Pussy Riot, spätestens.

coverpussyriotWegen "Rowdytums aus religiösem Hass" wurden am 17. August 2012 drei Mitglieder von Pussy Riot zu zwei Jahren Straflager in Sibirien verurteilt. Das Urteil für eine von ihnen, Jekaterina Samuzewitsch, wurde später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, der Antrag von Marija Aljochina auf Haftaufschub wegen des jungen Alters ihres Kindes abgelehnt.

Das aber ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass dieser Prozess nicht nach strafrechtlichen, sondern einzig nach politischen Kategorien geführt wurde. Denn der Auftritt von Pussy Riot im Februar 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale war strafrechtlich betrachtet allenfalls eine mittelschwere Ordnungswidrigkeit. Weil die Gruppe damals ein so genanntes Punk-Gebet mit der Textzeile "Jungfrau Maria, räum Putin aus dem Weg!" vortrug, und weil sie mit der Wahl des Ortes die unheilige Allianz von russisch-orthodoxer Kirche und Politik anklagten, wurde ihr Auftritt zu einer Provokation für die Machthaber: Die kurze, lediglich 40 Sekunden dauernde Performance demaskierte das System Putin, ließ es korrupt und denkbar undemokratisch aussehen. Deshalb, nur deshalb wurde Pussy Riot verurteilt.

Jetzt versammelt ein schmaler Band jene Dokumente, die das Skandalöse des Prozesses offenlegen. Briefe der Bandmitglieder aus dem Untersuchungsgefängnis, das Plädoyer der Staatsanwaltschaft, die Ansprachen der drei Frauen vor Gericht und mehrere ihrer Gedichte. Dass dieser Gerichtsvorgang mit erfundenen Akten, grotesken Unterstellungen und hanebüchenen Verfahrensfehlern geführt wurde, dass er Ausdruck einer autoritären Herrschaft ist und die Richter folglich nur Attrappen – man zweifelt keine Sekunde daran.

Das allerdings ist auch die Schwäche dieses kleinen Bandes. Man wünschte sich eine etwas distanziertere, kühlere Analyse der politischen Hintergründe. Nicht um Putins poststalinistisches Reich zu entschuldigen, sondern um es genauer zu verstehen. Dieses Buch will aber vor allem eine Kampfschrift sein, ein flugschrifthafter Aufruf zur Rebellion; dafür ist es hervorragend geeignet.

Die politischen und religiösen Hintergründe, die Analyse des Putin-Staates liefert dagegen ein Band, der sich mit einem russischen Zensurfall aus dem Jahr 2006 beschäftigt. Im Moskauer Andrej-Sacharow-Zentrum fand 2006 eine Ausstellung statt, "Verbotene Kunst" betitelt, die ebenfalls zum Gegenstand einer Gerichtsverhandlung wurde, weil sie den Machthabern die Maske abriss. Zu sehen waren damals Kunstwerke, die vornehmlich in Akten vorauseilender Selbstzensur aus Galerien und Museen entfernt worden waren, weil sie sich explizit als politisch verstanden, eine Arbeit von Alexander Sawko etwa, die eine Mickey Maus beim Verlesen der Bergpredigt zeigt, oder einen Ikonenbeschlag mit einer Füllung aus schwarzem Kaviar, die Alexander Kosolapow angefertigt hat. In einem aufwendigen Verfahren wurden der Kurator Andrej Jerofejew und der Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, zu hohen Geldstrafen verurteilt, mit der Begründung, sich des "Schürens von religiösem und nationalem Hass" schuldig gemacht zu haben.

coververbotenekunstDie Zeichnerin Wiktoria Lomasko und der Künstler Anton Nikolajew haben diesen Prozess seinerzeit verfolgt, vielerlei zusätzliche Materialen gesammelt und daraus eine grafische Gerichtsreportage geschaffen, die in ihrem geglückten Zusammenspiel von Zeichnungen und Texten bestens geeignet ist, die himmelschreiende Instrumentalisierung dieser Veranstaltung zu entlarven: Was damals in Moskau stattfand, war ein Schauprozess in stalinistischer Tradition. Angeworbene Quasi-Zeugen, die "geprobte" Aussagen machten, instruierte Richter, erfundene Tatbestände. Man liest ein Lehrstück, nicht nur über politische Willkür, sondern auch über die Reaktionen der Künste auf ein repressives, angst- und entsprechend gewaltbereites System. Und, vor allem, über die Unmöglichkeit, religiöse oder nationale Gefühle zum Rechtsgegenstand zu machen.

"Man hat im Augenblick das Gefühl, wir befänden uns nicht im Russland des 21. Jahrhunderts, sondern in einem Paralleluniversum, in einem Märchen wie 'Alice im Wunderland' oder 'Alice hinter den Spiegeln'." Das sagte Violetta Wolkowa, die Verteidigerin von Pussy Riot, im August 2012 in ihrem Schlussplädoyer; es ließe sich auch über den Prozess gegen Samodurow und Jerofejew sagen.

Der viel strapazierte (und häufig allenfalls auf der Trivialebene zutreffende) Theatervergleich, die Rede von Theatralisierung des öffentlichen Raumes, trifft hier (ausnahmsweise) übrigens zu, wie die Übersetzerin und Wissenschaftlerin Sandra Frimmel in einem instruktiven Nachwort schreibt: Man hatte es bei dieser Verhandlung nicht mit einem Gerichtsprozess, sondern mit "Gerichtstheater" zu tun, allerdings mit gänzlich untheatralischen, harten Folgen für die Verurteilten. Womöglich ist genau dies auch das Kalkül: Die Urteile entfalten gerade dadurch ihre Härte, weil sie in einem theatralen Rahmen entstanden, aber im außertheatralen Raum Geltung haben.

In diesem Sacharow-Zentrum, das seinerzeit "Verbotene Kunst" und 2003 bereits die ebenfalls befehdete Ausstellung "Achtung! Religion" zeigte, wird Anfang März übrigens Milo Rau mit Die Moskauer Prozesse eben diese drei Prozesse – gegen Pussy Riot, "Verbotene Kunst" und "Achtung! Religion" – drei Tage lang wiederaufnehmen und neu verhandeln lassen, mit Anwälten, Zeugen und einer Jury aus sieben Moskauer Bürgerinnen und Bürgern. Es werden dabei zum Beispiel Anna Stavickaja, die Verteidigerin in den Prozessen um "Achtung! Religion" und "Verbotenen Kunst", Alexander Chuev, der den Prozess gegen "Achtung! Religion" angestrengt hat, Michail Ryklin, dessen Frau die Hauptangeklagte im "Vorsicht! Religion"-Prozess war, und Katja Samuzevitsch, das auf Bewährung freigelassene Mitglied von Pussy Riot teilnehmen. Der Ausgang dieser neuen, von Milo Rau initierten Prozesse, die Anton Nikolaev als Gerichtsreporter und Wiktoria Lomasko als Zeichnerin begleiten werden, ist bewusst offen. Es wird, so gilt zu hoffen, ein Schau-Spiel über Macht, Zensur und Kunst. (Dirk Pilz)

 

Pussy Riot:
Pussy Riot! Ein Punk-Gebet für die Freiheit
Mit einem Vorwort von Laurie Penny, aus dem Englischen von Barbara Häusler
Edition Nautilus. Hamburg 2012. 128 S., 9,90 Euro

Wiktoria Lomasko/Anton Nikolajew:
Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung. Gerichtsreportage.
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Sandra Frimmel
Matthes & Seitz, Berlin 2013, 172 S., 19,90 Euro

 

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