Das Kichern der Gymnasiasten

von Elisabeth Michelbach

Erlangen, 21. Februar 2013. Vor kurzem wurde ich im Regionalexpress Zeugin, wie sich zwei Schüler darüber stritten, ob "Die Leiden des jungen Werther" ein Theaterstück sei oder nicht. Zugegeben, mir huschte ein Pah-die-Jugend-von-heute durch den Kopf. Am Premierenabend in Erlangen kommt mir ein anderer Gedanke: Möglicherweise ist das Theater an dieser Gattungs-Konfusion nicht unschuldig, reist die Wilderei bei der Prosa doch einfach nicht ab. Dabei werden längst nicht nur zeitgenössische Knaller, wie der derzeit unvermeidliche "Tschick" auf die Bühne gebracht, sondern Goethe, Thomas Mann, Tolstoi. Oder eben Kafka, dessen "Prozess" in der Inszenierung von Constanze Kreusch in Erlangen Premiere feierte.

Und immerhin, die Logen des Markgrafentheaters sind mit Schülern gefüllt, denn Kafka ist Pflichtlektüre. Die Regisseurin Constanze Kreusch und ihre Dramaturgin Julie Paucker haben für das Theater Erlangen eine Bühnenfassung von Kafkas fragmentarischem Roman verfasst, die jener Kapitelanordnung folgt, die Max Brod für die Erstausgabe von 1925 vorgenommen hatte.

Brutale Dynamik

Auf Petra Wilkes Bühne sehen wir, wie der aus sechs glatten Papierbahnen bestehende Lebensweg des Josef K. aus den Fugen gerät, als er "ohne etwas Böses getan zu haben" verhaftet wird. Seine Versuche bei Gericht, dem Advokaten Huld, dem Gerichtsmaler Titorelli etwas über die Gründe seiner Anklage zu erfahren, scheitern. Nach Ablauf eines Jahres wird K. getötet. Den Countdown malt der Protagonist selber auf die Papierbahnen, die zerfetzt und beschmutzt am Ende von dem zeugen, was Josef K. im Laufe seines letzten Lebensjahres wiederfährt.

prozess 560 jochenquast uStaunend: Josef K. © Jochen Quast

Daniel Seniuk spielt einen Josef K. im knappen Glitzervestchen: Eher staunend als verunsichert tritt er den willkürlichen Machenschaften einer rätselhaften Justiz gegenüber. Dabei schaut er so freundlich ins Publikum, als wäre es die Kamera einer Vorabendserie. Selbst am Ende, als er auf der leeren Bühne von seiner Hinrichtung berichtet, scheint seine größte Sorge einer unglaublich privaten Haarsträhne zu gelten. Die brutale Dynamik seines fatalen Prozesses geht an Seniuks Josef K. schlicht vorbei. Entsprechend ist er dann am präsentesten, wenn er mit Christian Wincierz ein tschechisches Volkslied als Musical-Nummer persifliert.

Überhaupt scheint das Team um Regisseurin Kreusch dem Klamauk nicht abgeneigt, der nicht zuletzt durch die Kostüme (ebenfalls Petra Wilke) immer wieder befeuert wird. So richtig gelingen mag das aber nur im Fall des Malers Titorelli, den Benedikt Zimmermann als selbstverliebten Action Painter gibt. Hätte man seiner Allmachts-Pose noch hinzugefügt, dass der Maler als einziger Bildgeber der gesichtslosen Gerichtsbarkeit tatsächlich einer der mächtigsten in diesem Spiel ist, hätte die Inszenierung an Tiefgang gewonnen.

prozess 280h jochenquast uK. goes American Beauty. © Jochen Quast Stolzieren, Räkeln, Beißen

Den sucht Regisseurin Kreusch aber lieber in einer Pseudo-Drastik, die nicht nur die Gymnasiasten in den Logen zum Kichern bringt: Angeklagte, Wächter und Richter marschieren als zahmes Freak-Panoptikum zwischen Tim Burton und der Adams Family auf. Anja Thiermann und Violetta Zupančič stolzieren auf Plateauabsätzen durch den Abend und räkeln sich dabei auf und unter allem, was sich ihnen in den Weg stellt. Das ist in einem Fall, Achtung, ein Rosenblätterregen à la American Beauty. Echt jetzt. Und dann wären da noch die Biss-Orgien, in die jede auch nur andeutungsweise sexuelle Handlung ausartet, die aber so kreuzbrav daherkommen, dass sich sogar das mutmaßliche Vorbild "Twilight" dagegen gewagt ausnimmt.

Dabei hatte das Programmheft von Julie Paucker und Ricarda Große so viel versprochen: Die tatsächlich recht drastischen Zeichnungen, die die vom Versicherungsjuristen Franz Kafka verfassten Unfallverhütungsmaßnahmen bei Holzhobelmaschinen illustrieren, sind dort abgedruckt. Die erhellenden Gedanken des deutsch-koreanische Philosophen Byung Chul Han zur Transparenzgesellschaft ließen auf eine Lesart auf der Höhe der Zeit hoffen. In Zeiten von Post Privacy und 'gläsernem Mensch' einerseits, undurchdringbaren Prozessen in Wirtschaft und Politik andererseits, könnte Kafkas "Prozess" geradezu brisant sein.

Statt einer Interpretation des Klassikers auf dem Theater macht die Erlanger Inszenierung kurzen Prozess, indem sie eine mustergültige Inhaltsangabe liefert. Für die muss man aber nicht ins Theater gehen.

 

Der Prozess
von Franz Kafka
Bühnenfassung von Constanze Kreusch und Julie Paucker
Regie: Constanze Kreusch, Bühne und Kostüme: Petra Wilke, Dramaturgie: Julie Paucker
Mit: Daniel Seniuk, Robert Naumann, Anja Thiemann, Christian Wincierz, Benedikt Zimmermann, Violetta Zupančič.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause.

www.theater-erlangen.de

 

Kritikenrundschau

"Die Ohnmacht gegenüber der Macht, das Eintrüben der Transparenz und das Spannungsfeld zwischen Opfern und Tätern sind die zentralen Themen für diese phasenweise spannungsreiche, aber nicht immer überzeugenden zweieinviertel Stunden", schreibt Stefan Mössler-Rademacher in den Nürnberger Nachrichten (23.2.2013). Mit mehr Mut zur Straffung und vor allem mit der letzten Konsequenz und Radikalität bei der Zuspitzung der psychologischen Aspekte des Romans, hätte dieses Bühnenexperiment durchaus komplett gelingen können. "So aber wirkt es großteils lediglich wie ein – und dafür ist das Theater Erlangen mittlerweile bestens bekannt – nicht zu riskantes Angebot an Schulklassen, ihren Pflichtlektürestoff zu bestaunen."

"Die Inszenierung verzettelt sich in der Nacherzählung des Texts", so der ebensowenig überzeugte Rudolf Görtler im Fränkischen Tag (23.2.2013). Zu Beginn gelinge es der Regie und dem jungen Team zwar noch, die bedrückende Atmosphäre zu evozieren, aber viele Regieeinfälle seien weniger schlüssig als überflüssig. Fazit: Es wäre schön, wenn sich die Inszenierung für eine Interpretation entschieden und diese konsistent auf die Bühne gebracht hätte.

 

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