Vom Aufbegehren gegen den Tod

Der erste Auftritt auf den Brettern der Profis – Taboris "Die 25. Stunde"

von Wolfgang Höbel

Wenn das Leben den Menschen schon kein Happy End beschert, dann sollte man vor dessen Ende wenigstens etwas zu lachen haben – diesen Lehrsatz hat der große jüdische Theatermacher George Tabori öfter formuliert, in vielen Variationen. Der erste Auftritt der 26 Jahre jungen Regisseurin Karin Beier im deutschen Stadttheater fand im September 1992 in Düsseldorf mit einem Stück von George Tabori statt: Sie inszenierte die Uraufführung eines Dramas, das vom Alter handelt, vom Leiden und von einer komischen Kampfansage gegen den Tod. Es hieß "Die 25. Stunde".

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Das Stück erzählt von einem neurotischen jüdischen Versicherungsagenten namens Arthur Prince, der mit Frau und Sohn in Hollywood lebt und mit einem der wichtigsten Studiobosse der Stadt Umgang pflegt. Es handelt von der riesengroßen Angst dieses Arthur Prince vor Krankheiten und vor dem Tod. Und das Stück schildert, dass man eben diesen Tod aus den Filmen Hollywoods konsequent verbannt hat, getreu der vom Studioboss ausgegebenen Losung "Keine Sterbeszenen mehr, keine Sterbeshows!" Eines Tages aber wird der nach eigener Meinung tödlich erkrankte Held durch eine ziemlich verrückte Ärztin von seiner Panik kuriert: Erst hat sie Sex mit ihm und dann lehrt sie ihn, dass lustvolles Leben nur stattfinden kann, wenn man dem Tod tapfer ins Auge blickt.

"Die 25. Stunde" ist eine absurde schwarze Komödie. Tabori (1914 bis 2007) hat sie schon 1974 geschrieben, zunächst als Hörspiel. 1989 wurde sie erstmals auf einer Bühne gezeigt, in Holland. Um den Autor zu überzeugen, dass sie die richtige Regisseurin für die deutschsprachige Erstaufführung des Textes war, hatte sich Karin Beier in Wien zu einem Gespräch mit Tabori getroffen. Beim Lesen des Stücks war ihr schnell klar geworden, so erinnert sie sich, "dass man von diesem kranken Mann, von seiner Angst vor dem Krebs, von seiner Verdrängung nur mit Mitteln der Überzeichnung erzählen kann".

Das Düsseldorfer Schauspielhaus hatte für Karin Beiers erste Inszenierung auf einer öffentlich subventionierten Bühne eine Industrieruine angemietet, die Fabrikhalle Lentjeswerke, in der viele Jahre lang Kraftwerkskessel geschmiedet wurden. "Wir haben ihr versichert, dass sie zwar den Betrieb kennenlernen, aber auch ihren Blick aus der Freien Szene aufs Stadttheater beibehalten sollte", berichtete der Intendant Volker Canaris. "Karin Beier bestand dann darauf, dass sie ihre erste eigene Inszenierung nicht bei uns auf der Theaterbühne zeigen, sondern sich einen eigenen Spielort suchen wollte. Sie fand für 'Die 25. Stunde' eine baufällige Industriehalle, eine Baustelle im wahrsten Sinne des Wortes." Eigentlich seien der Chefdramaturg Joachim Lux und er der Ansicht gewesen, dass das Theater durchaus genug Spielstätten besaß, sagte Canaris. "Trotzdem haben wir uns in den Diskussionen von Karin Beier überzeugen lassen – und beschlossen, dass wir für sie eben noch eine Spielstätte aufmachen. Das war sehr typisch für sie. Sie hat sehr entschieden ihre künstlerischen Ziele vertreten, ohne präpotent oder großmäulig zu sein. Sie hat ihren Kopf durchgesetzt."

Auf der Hallen-Bühne verwandelte Karin Beier den kleinen Stoff in einen großen Totentanz. Die Panikzustände des Helden übersetzte sie in ein Theater der düsteren großen Bilder. In der Arbeit mit den Schauspielern gebrauchte sie einen Begriff, den sie selbst erfunden hatte: "Ich nannte das Mickeymousing damals", sagt sie, "das Spiel sollte grell und überdreht sein wie im Comic." Im Boden der Spielfläche in der Lentjes-Werkhalle taten sich Löcher auf, die Bombentrichtern ähnelten, dazwischen türmten sich Halden aus Betontrümmern. Die Darsteller wirkten sehr fein und klein unter der riesigen zeigerlosen Uhr mit schwarzem Zifferblatt, die an der Ziegelmauer der Halle prangte und keine Zeit mehr verriet, unter der Decke des Gebäudes war ein Riesenmund angebracht, aus dem merkwürdig verzerrte Soundeffekte zu hören waren. Auf einem der Aufführungsfotos sieht man den Darsteller des Helden Arthur Prince, Horst Mendroch, mit bloßem Bauch und in Unterhosen im Bauschutt knien, während die Ärztin, gespielt von Marianne Hoika, in strahlend weißem Gewand auf einem der Schuttberge sitzt und auf ihn herabblickt, als sei sie eine Engelserscheinung.

Was war es, das Karin Beier im Jahr 1992 an Taboris Stück interessierte? Der Autor Tabori war in der deutschen Theaterwelt seit Ende der 1960er-Jahre ein hochgeachteter Eigenbrötler. Als Regisseur hatte er den oft strengen, humorfeindlichen und auf ideologische Kämpfe fixierten deutschen Regiekollegen der Nach-1968er-Zeit beigebracht, dass man moralische Fragen auch mit wüsten Scherzen und Lust am oft improvisierten Spiel verhandeln kann. Nebenher hatte er immer wieder Theaterstücke geschrieben, das erfolgreichste ist bis heute die 1987 uraufgeführte Farce "Mein Kampf" über die komisch erfundene Begegnung des weisen Juden Schlomo Herzl und des talentfreien Kunstmalers Adolf Hitler in einem Wiener Männerasyl am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Auf dem Papier ist das Stück "Die 25. Stunde" eine ziemlich zeitlose Komödie, in der Tabori seine eigenen Jahre als junger Drehbuchschreiber in Hollywood und seine eigenen Obsessionen verarbeitet, eine lustige und manchmal obszöne Plauderei, in der ausgerechnet das Furzen als Akt metaphysischer Befreiung gepriesen wird. "Beten Sie, dass er Winde lässt heute Nacht!", heißt der letzte Satz über den Patienten Prince.

Im September 1992, in dem Karin Beier "Die 25. Stunde" herausbrachte, waren die Filme Otto, der Liebesfilm und Grüne Tomaten die meistbesuchten Kinofilme in Deutschland, an der Spitze der deutschen Hitparade rangierte der Song It's My Life von Dr. Alban. In Kassel endete am Tag der Düsseldorfer Tabori-Premiere, dem 20. September, die Documenta IX, die der Belgier Jan Hoet ausgerichtet hatte. Dessen Leitmotiv lautete: "Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen."

Der September 1992 war aber auch eine Zeit der öffentlichen Empörung über rechtsradikale Schläger. Einige Wochen zuvor hatten sich in Rostock ein paar Hundert Neonazis und rund 2000 mit ihnen sympathisierende Schaulustige mit der Polizei geprügelt, bei den schwersten fremdenfeindlichen Krawallen in der Geschichte der Bundesrepublik. Vier Tage lang dauerten die Ausschreitungen Ende August, die anfingen mit der Attacke einiger lokaler Rassisten gegen ein Aufnahmelager für großteils vietnamesische Asylbewerber, das im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen in einem Plattenbau untergebracht war. Nach und nach kamen Nazis aus fast ganz Deutschland angereist, in Volksfeststimmung brüllten auch vorher brave Bürger in "Ausländer raus!"- und "Sieg heil!"-Chören mit. Dann steckten einige der braunen Kämpfer das attackierte Haus in Brand, aus dem die Polizei mittlerweile immerhin die Asylbewerber weggebracht hatte, nicht aber die aus Deutschland stammenden Plattenbau-Bewohner – ein deutsches Inferno.

In dieser Zeit ist Taboris Stück ein ziemlich gutes Beispiel dafür, dass Kunst vielleicht keine Antworten bietet, aber kluge Gedanken äußern und die richtigen Fragen stellen kann.

"All diese verschlossenen, schweigsamen, harten Mannsbilder, die durch die Straßen gehen und ticken wie Zeitbomben", heißt es einmal im Stück von Tabori, woher die nur kämen? Offensichtlich seien sie das Produkt einer Gesellschaft, die ihren Kindern das Denken und das Reden verboten habe. "Ich glaube nicht an Selbstzucht", verkündet die Erlösung versprechende Ärztin dem Helden, "drei gefühllose Jahrhunderte, die einem sagen, Kinder soll man sehen, nicht hören!" Es seien Verdrängung und Unterdrückung, die aus mitfühlenden Kindern tumbe Erwachsene werden ließen. "Gerade wenn sie gehört werden sollen, werden sie zum Schweigen gebracht und wachsen heran zu todesstarren Gespenstern."

Trotz dieser aktuellen Bezüge sei das Hauptthema der Uraufführungsinszenierung "die Beschreibung einer hedonistischen Welt" gewesen, sagt Joachim Lux, "einer Welt, in der alle gesund, fit und schön sind und konsequent den Tod verleugnen". Karin Beiers erste Profi-Inszenierung beschreibt Lux als "Theaterreise", zu der die Regisseurin die Schauspieler verführt habe, "herkömmliche Theaterusancen mit Charme und Besessenheit beiseiteschiebend".

Die Aufführung war ein Erfolg, beim Düsseldorfer Publikum wie bei der Kritik. Enthusiastisch lobte beispielsweise der "tageszeitungs"-Kritiker Gerhard Preußer, wie geschickt die Regisseurin den Raum nutze. Dank ihrer Arbeit würden "die Zufälligkeiten des Ortes zu Notwendigkeiten der Inszenierung. Aus Industrieschrott werden Requisiten, ein paar stehen gebliebene Druckmessgeräte werden zu medizinischen Apparaten, das riesige Lüftungsrad dreht sich blitzend." Preußer verstand Karin Beiers Arbeit als tolles Versprechen. Nicht nur einen abenteuerlichen Spielort hätten die Düsseldorfer erschlossen, "das Schauspielhaus hat noch eine andere Entdeckung gemacht, die uns vielleicht noch länger erfreuen wird: eine Regisseurin".

Karin Beier sei ihm damals als junge Künstlerin erschienen, die ungewöhnlich entschieden ihre Interessen verfolgte, sagt Joachim Lux. "In der Regel kämpfen Theatermacher aus freien Gruppen, die im etablierten Theater arbeiten, mit dem Problem, dass sie sich allzu leicht integrieren lassen und dabei ihre Eigenheiten verlieren. Das ist ihr nicht passiert. Sie hat mit dem Geld und Know-how des etablierten Stadttheaters wie in einer freien Gruppe gearbeitet. Aus dem anderen Geist, den sie in ihrer Theatergruppe entwickelt hatte, hat sie in Düsseldorf eine Erneuerung des Theaters versucht. Die ist ihr auch gelungen."

Die Kunst, der Karin Beier als Regisseurin auch im Stadttheater treu geblieben ist, beruht auf dem Grundsatz, dass eine lebendige Theaterarbeit ihre Hauptenergie nicht auf die wortgetreue Umsetzung literarischer Vorlagen richten sollte, sondern auf Spiel, Improvisation und Musik.
Ihre Lehrzeit als Regieassistentin hatte Karin Beier im Jahr zuvor bei Werner Schröter und David Mouchtar-Samourai hinter sich gebracht. "Sie hatte begriffen: Wenn man sich in so einem Betrieb zurechtfinden will, dann muss man ihn auch kennen", sagt Lux.

Der Theatermacher Tabori hat oft verkündet, wer das Theater mit Leben füllen wolle, der müsse in den Katakomben arbeiten und nicht in den Kathedralen. Diese Behauptung verliert nichts von ihrer Wahrheit dadurch, dass Tabori sich zeit seines eigenen Lebens nicht buchstabengetreu dran gehalten hat. Durchaus furchtlos und ohne falsche Bescheidenheit hat George Tabori auch in den Luxustempeln der deutschsprachigen Theaterwelt inszeniert, im Wiener Burgtheater oder in den Münchner Kammerspielen. Aber im Kopf blieb er auch dort ein Mann, der den Luxusprunk mied und eine oft kellerlochdunkle Fantasiewelt aus einfachsten Mitteln schuf.
So ähnlich wird es auch Karin Beier halten.

 

Vorabdruck aus: Wolfgang Höbel Karin Beier. Den Aufstand proben. Ein Theaterbuch.
Das Buch erscheint am 9. März 2013 im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 192 Seiten, gebunden, Euro (D) 18,99 | sFr 25,90 | Euro (A) 19,60.

Wolfgang Höbel, geboren 1962, schrieb für die Süddeutsche Zeitung und Tempo über Theater, Film und Popmusik. Seit zwei Jahrzehnten ist er Kulturredakteur beim Spiegel. Von 2008 bis 2011 war Höbel Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens.

 

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