Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen #1 Traum - Sebastian Hartmann eröffnet mit Dostojewski die "Leipziger Festspiele" zum Ende seiner Intendanz
Utopie und Rückbesinnung
von Ralph Gambihler
Leipzig, 1. März 2013. Man ist versucht, einen Showdown zu nennen, was da seit gestern am Centraltheater über die Bühne geht – nein! – , gejagt wird. Das Repertoire ist bereits abgespielt. In den verbleibenden vier Monaten der Intendanz Hartmann stürzt sich das Ensemble in ein kräftezehrendes Turbo-Finale, das den überraschend traditionsverhafteten Namen "Leipziger Festspiele" bekam. Im Wochenrhythmus kommen nun Produktionen heraus. Sie werden jeweils nur drei oder vier Mal en suite gespielt.
Einen roten Faden findet man nicht wirklich. Das Programm ist mehr ein ad hoc entstandener Mix aus Themen und Genres, dessen offensichtlichstes Merkmal ist, dass er viele Theaterschaffende und Künstler versammelt, die in den vergangenen fünf Centraltheater-Jahren als Gäste am Haus gearbeitet haben, Thomas Thieme zum Beispiel, Armin Petras, Clemens Meyer, Rainald Grebe. Es gibt Lesungen, Konzerte, Filmabende – und natürlich Theater. Auf dem Programm stehen 17 Premieren. Der Kehraus im Juni allerdings wird von einem Künstler bestritten, den das Centraltheater mehrmals ein- und jedesmal wieder ausgeladen hat, letzteres wegen hartnäckiger Budgetprobleme: Nun also kommt Hermann Nitsch mit seinem Orgien-Mysterien-Theater und wird es zu einem "2-Tage-Spiel" ausdehnen.
Abschied in der Arena
Indessen: Man will gar nicht so großartig spektakeln. Konzeptionell sind die "Festspiele" eher als Rückbesinnung auf die Ursprünge des Theaters angelegt denn als finales Feuerwerk einer Intendanz. Das Symbol dieser Rückbesinnung ist eine aus Holz zusammengezimmerte Arena, die wie ein Raumschiff im Saal des großen Hauses gelandet zu sein scheint. Sie ersetzt die hinter dem Eisernen Vorhang verschwundene Guckkastenbühne als zentrale Spielstätte. Der formale Bezug ist unübersehbar. Die Arena zitiert die Theaterarchitektur der griechischen Antike, hat aber durch die ovale Form und den komplett weißen Anstrich auch etwas von der eleganten Schlichtheit gehobener 60er-Jahre-Architektur.
"Nackt"-Bläser in der Festspiel-Arena © R. Arnold
Prasselndes Bildertheater und die große postdramatische Sause sind in diesem Rahmen schwer vorstellbar. Ganz im Gegenteil verlangt die Festspiel-Bühne nach intimen Formaten. Insofern hat es seine Bewandtnis, dass Sebastian Hartmann (Regie) zum Auftakt der Festspiele eine völlig andere Handschrift zeigt als sonst. Er hat sich gewissermaßen auf kostbaren Minimalismus verlegt und mit Dostojewskis später Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen" (1877) einen Stoff ausgesucht, der als Solo eingerichtet werden kann. Der Titel des Abends – "Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen. #1 – Traum" – versprüht postmodernistischen Esprit, verhehlt aber, dass im Grunde Dostojewski vom Blatt gespielt wird. Im Laufe der "Festspiele" wird sich Hartmann noch mit Tschechow und Tarkowski befassen, daher die "3 Russen".
Paradies und Lüge
Auf der Bühne ist nichts als feierlich wirkende Leere. Benjamin Lilie, ein junger Schlacks aus dem Leipziger Ensemble, betritt sie Hand in Hand mit dem Bandleader des Posaunen-Sextetts "Nackt". Die zwei tragen schwarze Galaanzüge mit Biesenhemd und Kummerbund. Nach kurzer Umarmung trennen sie sich, der Musiker geht nach oben zu seinen Kollegen und Lilie ist nun allein mit sich und dem Publikum, ohne die beruhigende Gewissheit eines Requisits oder Bühnenbilds. Das wird in den kommenden 90 Minuten so bleiben.
Benjamin Lillie spielt Dostojewski © R. ArnoldIn "Traum eines lächerlichen Menschen" erzählt ein armer, an den gesellschaftlichen Rand gedrängter Stadtbewohner vom großen Wendepunkt seines Lebens. Dem Mann war alles egal, er wollte sich erschießen. Im entscheidenden Moment schlief er aber ein und hatte einen utopischen Traum, den er, wieder erwacht, als Offenbarung einer letzten "Wahrheit" erkennt. Der Traum handelte von einem Paradies, in dem die Menschen wie "Kinder der Sonne" in völliger Harmonie leben, ohne Lüge, Leid und Zwietracht.
So weit, so bekannt. Die tragische Pointe ist allerdings, dass sich der Träumende als Ursache des Sündenfalls träumt. Sein Erscheinen im Paradies zerstört das Paradies. "Wie eine ekelhafte Trichine, wie ein Pestatom, das ganze Länder vergiftet, so habe ich diese glückliche, bis dahin sündenlose Erde vergiftet." Die Menschen "lernten lügen, gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge ... Dann erwachte bald die Wollust, die Wollust gebar die Eifersucht, die Eifersucht die Grausamkeit." Die Utopie ist futsch, es triumphiert die Realität.
An Hartmanns Regie-Leine macht Benjamin Lilie aus dieser dialektischen Fabel ein hitziges Solo. Und, Überraschung: Zu erleben ist kein Hartmann-Freestyle mit großem Bildertheater, auch keine performative Ausschweifung mit fröhlichem Fremdtext-Import. Sondern: Einfühlungstheater ohne doppelten Boden! Man reibt sich fast die Augen, wie sich Lilie an postdramatischen Konventionen vorbei in seine Rolle wirft, um sein Leben spielt, krabbelt, barmt, brüllt, fleht und immer wieder zum feierlich-glücklichen Ton des Erretteten zurückfindet.
Posaunenstöße und dröhnende Erregung
Nur manchmal scheint er den Text ins Lächerliche zu ziehen, etwa bei der haltlos dramatischen Beschreibung des bescheidenen Dachzimmers, in dem der Traum geträumt wird. Aber diese Momente bleiben Ornament. Als Schlusspunkt eines fünfjährigen Stadttheater-Experiments, in dem Spielweisen und Sehgewohnheiten hinterfragt und auf den Kopf gestellt wurden, ist diese Rolle rückwärts in eine althergebrachte Spielweise ebenso kokett wie überraschend.
Weniger schön: Mit übermäßigen Ausbrüchen und Punktierungen schraubt sich der Abend stellenweise in dröhnende Erregung. Zudem nervt die Musik anfangs mit großen Posaunen-Stößen à la Richard Strauss, die für sich genommen ein tolles Konzert ergäben, aber in dieser frühen Phase vor allem ablenken. Andererseits: Es ist ein Ereignis, wie sich Benjamin Lilie diesen sehr speziellen, hochgradig fordernden Raum der Arena erspielt und über 90 Minuten die Spannung hält. Wie er Verzweiflung und Errettung gegeneinander setzt und zu einem wieder gefundenen Leben verschränkt. Da ist einer über sich hinaus gewachsen. Im Grunde blieb ihm nichts anderes übrig.
Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen # 1 — Traum
nach Fjodor Dostojewskis Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen"
Regie/Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Nackt, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Benjamin Lillie, Nackt.
Spieldauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.centraltheater-leipzig.de
Kritikenrundschau
Christian Rakow nimmt in der Frankfurter Rundschau (4.3.2013) Abschied von der Ära Hartmann in Leipzig. Der scheide, wie er gekommen sei: mit einem Tigersprung. Es gebe nicht viele Intendanzen, die bis zum Schluss für so viel Wirbel sorgten. Auch nach dem Ende der Hartmann-Ära werde die Erinnerung an ein seltenes Stadttheaterexperiment, an ein Ausnahme-Ensemble und seine "Leipziger Handschrift" bleiben, schreibt Rakow. Genauso wie der kleine Solo-Abend nach Dostojewskis Ich-Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen" in der Festspiel-Arena. "Allein im Rund: Benjamin Lillie", elegant charmiere er und bleibe dabei "gefährlich wie ein sibirischer Husky". Er gebe "ein Schelmenstück der Fesselungskunst". Hartmann, der große Bilderfinder, arbeite "puristisch wie selten", gebe sich ganz seinem jungen Protagonisten hin. "Sie schaffen ein zartes, immer wieder tief erschütterndes Spiel- und Hörerlebnis, ein lyrisches Kammerstück über die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit."
Von "starkem Theater" und einer "großartigen Inszenierung" spricht Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (4.3.2013). Sebastian Hartmann, der aus Georgis Sicht "ja sonst gern mal aufblähe", arbeite hier "ohne Verschlackungen auf den Punkt genau". Auch Benjamin Lillie wird für seine darstellerische Tour de Force gefeiert.
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Was hier oben als "kostbarer Minimalismus" beschrieben wird, war für mich eher Hilflosigkeit, eine Überforderung mit der selbstgewählten Architektur und dem Text.
Das ist schade! Ich als großer Hartmann- und CT-Fan hoffe, dass die anderen "Russen"-Stücke besser gelingen, immerhin hat Hartmann zuletzt beim "Großen Marsch" eindrucksvoll gezeigt, was man mit vier Seiten Publikum und der Spielfläche in der Mitte machen kann.
an die redaktion: wird diese uraufführung auch besprochen?
grüße aus köln
(Werter Medeo,
wir beraten den Fall gerade.
Beste Grüße, Georg Kasch / Die Redaktion)
(Lieber Premierenbesucher,
voraussichtlich werden wir den "Schneesturm" nicht besprechen. Wir haben am 22.3. schon sechs Premieren auf dem Plan. Das ist unsere Obergrenze, mehr vermögen wir nicht zu stemmen.
Beste Grüße, Anne Peter / Redaktion)
Bei aller Sympathie für das Centraltheater, lieber mitlesender, aber diese sechs stehen -ebenfalls nach- oder mitlesbar- im Märzplan von nachtkritik de. (ich denke sogar irgendwie, Sie wissen das). "Kommen und selber gucken !" wie miss laine es empfiehlt,
ist natürlich das Beste, nun wohnt miss laine da aber wohl etwas günstiger gelegen als die meisten anderen Mitlesenden, für die es nicht leicht bis unmöglich sein wird,
einen dieser raren drei Inszenierungstermine wahrnehmen zu können. Jedenfalls wird das wieder eine größere Ensemblesache sein (siehe Seite des Centraltheaters bzw. die Seite der Centraltheaterfreunde zur Besetzung bzw. sonstigen Hintergrund-
informationen). Auch § 4 mag da prüfen, ob er/sie da selbst hingehen kann oder sich seine Fragen anderswo "beantworten" läßt; es wird gewiß Kritiken dazu geben und/oder im "Kreuzer" oder auf besagter Freunde-Seite darüber Näheres zu erfahren sein. Von dem Handel mit solchen Begriffen wie "Welt-Ur-Aufführung" halte ich weniger, zumal eine Anne Habermehl, zB. "Küß mich hinter Kaufhof", auch irgendwo urinszeniert, sagen wir erstinszeniert, sein wird. Das "Welt-" kann man sich eigentlich ein wenig sparen, wenn man auf Sensationalismus im Grunde eigentlich eher weniger kann. Ich kann ja verstehen, daß man recht stolz ist, diese Aufführungsrechte bekommen zu haben, man sage nichts gegen "Hausphilosophen" in diesem Zusammenhang, aber im wesentlichen sollte und wird vermutlich die Inszenierung für sich sprechen , und wer weiß, vielleicht gibt es sogar Übernahmechancen so einer Sache für spätere Bühnen, weiß man` s ? Oder, das CT erwägt noch weitere Termine für diese Sache ??
kann dann nicht mitlesen - muss also irgendwie hin - rechtso
die haltung ist auch ziemlich arrogant oder? zu sagen nur was in leipzig läuft ist spannend und was es woanders gibt kann da ja eh gar nicht heranreichen. ist doch klar dass hier nicht alles vorkommen kann und die sache hier ist ziemlich kurzfristig auf den spielplan genommen worden. oder?
machen Sie sich keine Sorgen. Auch in der Arena ist Bildertheater möglich, ob die große „postdramatische Sause“ zu erleben sein wird – sie werden es erkennen. Besuchen Sie am Freitag die Premiere von „Schneesturm“.
Vielen Dank.
Grüße ihr Uwe Bautz
PS:
1.
Die letzten fünf Jahre mit dem Centraltheater waren für Leipzig Jahre in denen die Frage nach Theater ständig wachgehalten wurde. Leipzig hat über Theater diskutiert. Das ist ohnehin kaum mit Geld bezahlbar (zur abwegigen Diskussion über die Kosten eines Bühnenraums, in dem 16 Premieren stattfinden...)
2.
Die Arena in den Zuschauerraum zu bauen ist eine alte inhaltliche Sehnsucht des Centraltheaters. Sie meint einen Ort mit hoher Verdichtung, in dem mit der Grund-Setzung von Theaterspielen gespielt wird: Der Schauspieler und das Publikum, während aber die andere (scheinbare) Grund-Setzung (wer sitzt im Dunkeln und wer im Licht) Abend für Abend irritiert wird. Dass man eine Arena – Logik des Spielbetriebs – entweder in der ersten oder der letzten Spielzeit einbaut, ist klar. Die Arena ist kein Denkmal und kein Abschiedsgeschenk, sie ist ein Ort, den wir uns vorstellen.
3.
Durch 5 Jahre Berichterstattung über das Centraltheater – auch in den aktuellen „Rückblicken“ - geistert der Vorwurf, Hartmanns Arbeit sei epigonal zu Castorf.
4.
Das Epigonale besteht und bestand - bestand schon vor Beginn dieser Intendanz - und zwar in Form von epigonalem Abschreiben der Kritik voneinander und untereinander. Die formale und ästhetische Spannweite – vor allem der Hartmann Inszenierungen der letzten fünf Jahre – ist tatsächlich, auch im Vergleich zur anderen dramatischen Marken-Produktion, erfreulich hoch. Dennoch, von der ersten Kritik zur „Matthäuspassion“ (2008) bis zur vorerst letzten mit „Traum eines lächerlichen Menschen“ (2013) hat beispielsweise der Herr Gambihler nur den Katzensprung von „Überfallkommando“ zu „Postdramatischer Bildersause“ machen müssen, um seine Eindrücke zum Centraltheater zu bündeln. Was zwischen dieser Verschlagwortung des Centraltheaters tatsächlich stattgefunden hat, waren allerdings ca. 150 Inszenierungen von ca. 40 Regisseuren, die sehr verschiedene Namen tragen und die sehr, sehr, sehr verschiedene Arbeiten am Centraltheater gemacht haben.
5.
Durch 5 Jahre Berichterstattung über das Centraltheater – auch in den aktuellen „Rückblicken“ - geistert der Vorwurf, das Centraltheater habe hartnäckig nur eine künstlerische Sprache und eine Ästhetik zuzulassen:
6.
Das Centraltheater Leipzig hat einen Ausnahmekünstler wie Jürgen Kruse zurückgeholt und gebunden. Das Centraltheater Leipzig hat einen Martin Laberenz vom blutigen Beginner zu einem der interessanten Talente des Stadttheaters herausgefordert und kontinuierlich gefördert. Das Centraltheater Leipzig hat gemeinsam mit Rainald Grebe eine eigene Form der Bühnenrevue erfunden. Sascha Hawemann und Robert Borgmann und Mirko Borscht haben hier kontinuierlich mit ihren Ensembles gearbeitet. Herbert Fritsch und Sebastian Baumgarten haben hier gearbeitet. Es treffen am Centraltheater Künstler wie Hermann Nitsch und Neo Rauch auf die mehrwöchige Schenkerperformance eines Öff Öff oder – andere Beispiele – die Maler Tilo Baumgärtel, Oliver Kossak, Musiker wie Apparat oder Autoren wie Wolfram Lotz und Clemens Meyer. Das Centraltheater hat als Teil seiner Arbeit und zur Öffnung in die Stadt bewusst sehr unterschiedliche Kooperationen wie z.B. mit dem Kudamm-Theater Berlin oder den Salzburger Festspielen oder etwa Gastspiele mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen gemacht und arbeitet mit Hausphilosophie und der Konzertschiene seit Jahren an dieser Form-Verschiebung zu Gunsten eines demokratischen, erweiterten Theaterbegriffs.
7.
Die Diskussion über den Einfluss von Künstlern auf andere Kunst wäre eine lohnende, selbstbewusste Diskussion wert, welche die Perspektive, in der wir alle arbeiten erweitern könnte und unser aller Nabelschau verändern. Bildende Kunst diskutiert das seit jeher.
8.
Nach Thomas Brasch: Was wird eigentlich aus Nachtkritik, wenn das Centraltheater nicht mehr da ist?
9.
Es wimmelt seit 2008 im Feuilleton vom Vorwurf des Unseriösen, uns begleiten noch heute inhaltsfreie Floskeln wie „Hartmann-Freestyle“, „Fröhlicher Fremdtext-Import“ (siehe oben). Nichts an unsrer Arbeit ist derart unseriös, wie diese Floskeln insinuieren wollen. Wir, das Centraltheater, haben von Beginn an gemacht, was wir gemacht haben und machen wollten. Das muss natürlich irritieren. Das Centraltheater, und das unterscheidet es seit 2008 von den allermeisten deutschen Stadttheatern, hat nie versucht, einem berechneten Publikumssegment entgegenzuarbeiten. Wir haben unsere Aufgabe nicht zur Dienstleistung gemacht, was sich seit drei Spielzeiten durch den Zustrom an neuem, jüngerem Publikum zeigt. Das Centraltheater hat mit Abstand das schönste Publikum in Deutschland.
10.
Im Querschnitt deutscher Stadttheaterlandschaft war das Centraltheater als Künstlertheater immer wie jede Kunst angreifbar. Intelligent angegriffen worden ist es allerdings ausgesprochen selten. Angriffe waren fast immer reflexartig, mythisch eingenebelt, und zwar nicht auf der Bühne, wo Nebel hingehört, sondern im Feuilleton.
11.
Die irritierenden Potenziale, die sich aus unsrem Hiersein theaterpolitisch ergeben, haben viele erst sehr spät erkennen wollen oder können. Darin allerdings besteht weniger das Scheitern des Centraltheaters als ein Scheitern der (a) Kulturpolitik, des (b) Feuilletons und möglicherweise auch das (c) Scheitern der geschlossenen Form Stadttheater selbst.
12.
Das Eis, auf dem das deutsche Stadttheater allabendlich herumspielt, ist sehr dünn, das wissen alle, die Theater produzieren und besonders die, welche herumfahren und sich die x-te Repertoire-Vorstellung des x-ten sagen wir Schiller-Shakespeare ansehen. Und mehr schlecht als recht funktioniert, wie wir alle wissen, was da zu funktionieren scheint. Unsre Aufgabe aber ist, das Denkbare zu denken. Oder: das Unvorstellbare zu denken war einmal Aufgabe von Kunst. Das Centraltheater hat die existierenden Reibungszonen des Stadttheatersystems nicht ignoriert, sondern deren Notwendigkeit und Sehnsucht bestätigt.
13.
Apropos Eis: Schnell sein zu können ist ein Vorteil, den Theater viel zu selten gegenüber den anderen Medien ausgespielt. Auch das ist ein Effekt eines der vitalsten, emanzipiertesten Ensembles in der deutschen Theaterlandschaft, und ein Trainingseffekt der hier arbeitenden Künstler. Die Produktion „Der Schneesturm“ probiert von der Entscheidung, den Text zu machen, bis zur Premiere 14 Tage.
14.
Die Installierung der Bühne SKALA als autonom in der Gruppe verantworteter Ort für junge Regisseure, das Werkstattprinzip SKALA permanenten Produzierens ohne Spielplan, ein Raum, in der künstlerische Talente und Versuche sich gegenseitig kommentieren und stützen können, ein Ort, an dem die Form-Verschiebung eines erweiterten Theater-Begriffs in etlichen Cross-Over-Formen stattgefunden hat, ist vom Leipziger Publikum sehr zögernd angenommen worden. Wahrscheinlich waren wir zu früh. Das SKALA-Prinzip hatte und hat überregional Resonanz und Folgen.
15.
Hartmann ist Traditionalist, denn er glaubt an die Notwendigkeit von Kunst. Das Centraltheater ist ein traditionell und seriös arbeitendes deutsches Stadttheater.
16.
Erstaunlich viele Kritiker haben die Vielfalt, Diversität, intellektuelle Spannbreite, Risikofreude dieses Theaters, die künstlerische Potenz seines Ensembles und die Verschiedenheit seines Ausdrucks über erstaunlich lange Zeit notorisch ignoriert.
17.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, in der seit 5 Jahren kein einziger Beitrag zum Centraltheater zu lesen war, ist durch ihr Beleidigtsein nach der Spiralblock-Affaire zumindest zu keiner falschen Einschätzung unserer Arbeit gekommen. Für diese Fairness: Danke!
18.
Dem Centraltheater ging es immer um das Schaffen einer Zone, in welcher der Diskurs über Inhalte und über Welt geführt werden kann, und zwar explizit mit den Möglichkeiten der Kunst, in zweiter Linie theaterpolitisch. Die Inhalte müssen sprechen für die Form, die Inhalte sollen in der Kunst diskutiert werden, denn nur das was auf der Bühne geschieht wird überhaupt mittelbar die Chance besitzen, Folgen zu haben. Wir haben uns in Leipzig ein Publikum erarbeitet, das begonnen hat, diese Diskussionen mit uns zu führen.
19.
Hartmann und seine Künstler haben den Auftrag der Politik von 2007, das Publikum zu erneuern und das Theater zukunftsfähig zu machen, umgesetzt. Die Konsolidierung der überwiegenden heute herrschenden Publikumsstrukturen – etwa der Publikumsstruktur, wie wir sie in Leipzig vorgefunden haben – ist leider ohne Zukunft.
Substanz erklärt sich von selbst.
Immer wieder waren Spielfreude, ja Spielwut der CT gegeisternd. Mit etwas mehr Experimentierfreude und Interesse an Horizonterweiterung auch des breiten Publikums wäre das wunderbare CT in der noch aktuellen Form wohl unabkömmlich. Vielen dank an dieser Stelle für dieses herrliche Spektrum. Wie viel besser kann denn sein, was als nächstes kommt?
ps. Wer wollte, konnte oft genug mit den Theatermachern ins Gespräch kommen!
Die Aussage "Theater muss für alle sein" bedeutet aber auch "Theater ist beliebig und sollte Jedem gefallen". Wenn dem so ist, brauchen wir kein Theater mehr.
Die LVZ mit ihrem Chef-Kulturredakteur ist schon grenzwertig. Alles was in der Musikalischen Komödie passiert, wird hochgejubelt und das Centralteater wird regelmäßig niedergemacht. Selbst nach einer Lesung von Brandauer gibt es einen Seitenhieb auf die Festspiel-Arena, die der Kritker als "hochtrabend" bezeichnet.
Schade, dass die Inszenierung nur 3x gespielt wird. Ich werde auf jeden Fall versuchen, am Sonntag noch mal reinzukommen.
Und nochwas: Wollen Sie sich wirklich der Förderung von Herrn Laberenz rühmen, wo Sie ihn doch nach einem halben Jahr schon wieder rausgeschmissen hatten (wenn auch letztlich vorübergehend...)???
Herzliche Grüße, Winfried Muschke, Leipzig
@29: Kopie eventuell, aber wieso plump? Ich finde der Raum funktioniert immerhin gleichermaßen für Herrn Brandauer wie für Herrn S. Hartmann. Das muss ein Konzeptraum doch erstmal können!
da scheint das elbsandsteingebirge den blick verstellt zu haben. das leipziger und das dresdner publikum sind zu verschieden um sich so schnell in sicherer arroganz zu wiegen. schulz macht bürgerliches theater im besten oder eben auch schlechten sinn. das kann einem genügen, der dresdner ist gerne auf hohem niveau selbstgenügsam, leipzig war nicht umsonst messestadt, dresden das tal der ahnungslosen.