Tags und nachts im Museum

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 2. März 2013. Gehört Ibsen also ins Museum? Die Bühne ist ein Ausstellungsraum mit Sitzbank. Großformatige Fotografien hängen an den variablen Wänden, alle in Schwarzweiß. Oder eher noch mit Grauschimmer – wie der Galeriesaal selbst und das darin hantierende Museumspersonal. Erneut, wie schon bei Staffan Valdemar Holms Auftakt am Düsseldorfer Schauspielhaus im Herbst 2011 mit Hamlet, kann man in der Ausstatterin Bente Lykke Møller die Kunstgeherin erkennen, deren goldener Bühnenkasten damals auch auf Joseph Beuys' Palazzo Regale in der Kunstsammlung NRW verwies. An den Bildwerken entlang schlendert im Norwegerpullover, die Hände in den Hosentaschen, ein Mann mittlerer Jahre. Bald gefolgt von einer schwarz gewandeten Frau. Unvermutet beginnt ihr Dialog mit dem Satz "Peer, du lügst". Wir sind in Henrik Ibsens "Peer Gynt" und treffen auf Mutter und Sohn.

Schattenboxer mit Gier im Kopf

Nachdem Holm zur Eröffnung seiner bereits niedergelegten Düsseldorfer Intendanz einen "Hamlet" ohne weiter bemerkenswerten Prinzen und später einen "Richard III." ohne rechten Herzog von Gloucester, also zwei Shakespeare-Dramen inszeniert hatte, ohne ihr Zentrum besetzen zu können, hat er nun eine Haupt- und Titelfigur, die den Namen verdient: einen Peer Gynt. Der dänische Schauspieler Olaf Johannessen, der blendend Deutsch spricht, ist als einziger hier unser Zeitgenosse in Ibsens dramatischem Gedicht, das am Düsseldorfer Schauspielhaus vor 22 Jahren von David Mouchtar-Samorai aus dem Geist des Traumspiels entwickelt worden war, geführt vom Delirium in die Klarheit und doppelt besetzt mit einem jungen Peer (Herbert Fritsch) und einem alten (Joachim Bliese).

peergynt 560a fotosebastianhoppe uKunstkenner unter sich: das Düsseldorfer Ensemble © Sebastian Hoppe

Holms Peer Gynt nun – schmal, blass, angeschärft, kalt glühend seine Elementarteilchen sortierend und mit einer rammelnden Libido von lachhafter Leidenschaft, dessen "Gier im Kopf" der des Michael Fassbender in Steve McQueens "Shame" entspricht – ist der Zuschauer seines Lebens, ist Schattenboxer, Homo faber und behaftet mit den Ich-Schwächen des modernen Menschen. Weshalb schickt sein Regisseur ihn in ein Bilder-Museum, das in Reproduktionen von Mensch-, Tier- und Naturaufnahmen, gegenständlicher und abstrakter Fotografie einen historischen Überblick von 1855 bis 2013 gibt?

Zentrum für Fotografie

Soll es Sinnbild von Peers Ideengebäude, seiner Hirngespinste sein, die den faustischen Frauenhelden, Egoshooter, Seelenverkäufer, Glücksjäger und Gewinnler über die Dorf- und die Troll-Fabelwelt hinaus um den Erdkreis und in dessen Abenteuer und so einmal "außen rum" führen wie in Kleists gleichnishaftem "Marionettentheater"? Hat sich so Natur zu Kultur gewandelt? Oder gönnt sich Holm einen Kommentar zur kommunalen Kulturpolitik, die ihn geschurigelt hatte und die aktuell aus dem national viel beachteten NRW-Forum mit seinem lifestyligen Programm ein vermutlich biederes "Zentrum für Fotografie" plant? Wie dem auch sei, es bleibt bei einer formal minimalistischen Lösung, die sich als Konzept inhaltlich nicht füllt und das Stück adrett nacherzählt.

Das Zusammentreffen der – wenngleich schmerzfrei ästhetischen – Fotografie-Kollektion mit der Narration des 19. Jahrhunderts, in die sich mehrmals Edvard Griegs Musik verströmt, könnte Reibung erzeugen, das Fremde der Peer-Figur und ihrer Suche erfahrbar machen oder aus komplexen Zusammenhängen zurückschauen auf einfachere allegorische Verhältnisse. Tut es aber nicht.

peergynt 280h fotosebastianhoppe uOlaf Johannessen als Peer Gynt
© Sebastian Hoppe

Allein unter Folkloristen

Diesen Peer Gynt umgeben – verdichtet auf fünf, grafisch klare Groß-Szenen – zeitverlorene Figuren in stilisiert altfränkischer Kleidung, die sich folkloristisch oder humoristisch gebärden, Brauchtums-Gaudi hinlegen, die als geschwänzte Trolle eifrig grimassieren, Maulaffen feilbieten und in groteske Pantomime driften, die wie Mutter Aase (Karin Pfammatter) emotional füllig und jugendtoll aufgebracht ihre Verse vortragen oder treuherzig hochdramatisch wie die Solvejg der Anna Kubin (was in der gereimten Textübersetzung von Angelika Gundlach oft klingt wie bei Wilhelm Busch).

Es gibt einen Mittelpunkt, aber wenig wesentliche Welt um ihn her. Holms Inszenierung kriegt aber noch die Kurve heraus aus dem Sortiment theatraler Depot-Ware, nachdem der zweite Teil sich zunehmend als behäbige Stationenfolge – Afrika mit 16 Tschador-Tänzerinnen, Irrenhaus, Schiffbruch, Knopfgießer etc. – verzettelt und das Ensemble sich mehr bemüht als befähigt zeigt. Wenn Peer zum Schluss sein unstetes Ich bei Solvejg birgt und sich regressiv im mütterlichen Schoß verkriechen will, gerät er in Zuckungen und das Paar verhakt und verkrabbelt sich zum Song "Dream Baby Dream" in eine Körperskulptur, an der Sasha Waltz Freude haben würde. Aber Solvejg lässt ihn sitzen. Erlösung wird nicht gewährt. Peer ist nicht gerettet. Ist gerichtet.


Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Deutsch von Angelika Gundlach
Regie: Staffan Valdemar Holm; Bühne und Kostüme: Bente Lykke Møller; Choreografie: Jeanette Langert; Licht: Torben Lendorph; Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Slobodan Bestic, Moritz Führmann, Claudia Hübbecker, Olaf Johannessen, Anna Kubin, Gregor Löbel, Karin Pfammatter, Aleksandar Radenkovic, Stefanie Rösner, Janina Sachau, Taner Sahintürk.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

Kritikenrundschau

Petra Kuiper, sie schreibt auf derwesten.de, dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (3.3.2013, 19:17 Uhr) hat eine "fantastische Ensemble-Leistung" erlebt. Es gelängen "wunderbare Szenen". Wenn sich die Trolle zum Chor formierten und "Griegs Musik nur mit Grimassen begleiten". Wenn die Araberinnen "tanzen, verschleiert und ungemein sexy". Olaf Johannessen als Peer Gynt bilde den "klugen Gegenpart. Er ist souverän unaufgeregt, macht nie zu viel und immer genug". Ein "kurzweiliger Abend". Mit seinem Ibsen scheine der ehemalige Düsseldorfer Chef nun endlich in der Stadt gelandet zu sein. Das Publikum habe ihn gefeiert – "herzlich, aber zu spät".

In der Rheinischen Post (4.3.2013) aus Düsseldorf schreibt Annette Bosetti, bei der Inszenierung handele es sich um einen "wuchtigen dreieinhalbstündigen Bilderbogen", viel Text sei gestrichen, eine "moderne, gereimte Übersetzung" verwandt. Holms Gynt-Sicht trage "autobiografische Züge". Er lege "seinen Anti-Helden" auf die Couch des Psychotherapeuten und durchleuchte dessen "Seelenleben". Dazu webe der "feinsinnige Regisseur" ein Gesamtbild aus Musik, Tanz, Licht, Bilderwelten. "Schlüssig und berauschend" gehe das auf, weil Olaf Johannessen als Peer den Bühnenraum "mitreißend belebt". Johannessen meißele "wie ein Bildhauer die Figur des Gynt körperlich zurecht". "Fast so federnd wie ein Tänzer, dem Flügel erwachsen, schwingt er sich noch durch das gröbste Elend." Ein "großer Wurf". Extrem genau sei auch Holms übrige Personenregie, Anna Kubins Spiel als Solveig von "ätherischer Leichtigkeit, Klarheit und Zartheit". Das Knistern zwischen ihr und Peer "vernimmt man bis zur letzten Reihe", doch Holm schaffe es, die Liebenden bis zum Schluss auf "brennender Distanz zu halten".

Auf Welt kompakt online (4.3.2013) schreibt ein Anonymus, Holm deute Ibsens Stück "existenziell", auch "der Humor" sei nicht "zu kurz" gekommen. Der Raum erinnere an ein Museum, aber die riesigen Schwarz-Weiß-Fotos hätten, "wie Peers Leben, keinen wirklichen Zusammenhang", das Leben wirke in Holms Inszenierung "ungeordnet, absurd". Olaf Johannessen spiele Peer "anfangs als Angeber, als Egoisten, ziemlich kindisch". Wieso sich Solvejg in ihn verliebe, sei kaum verständlich. Holm und sein Ensemble nähmen "das Thema Sex oft leicht und heiter – zum Vergnügen des Publikums". Das Ende sei "quälend und eindeutig". Der "Mensch – oder Männer – werden von Begierden getrieben", das Leben sei "irrational" und höre erst auf, wenn der Tod kommt. Holm und seinem Ensemble sei eine "diskussionswürdige Inszenierung" geglückt.

Andreas Rossmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.3.2013): Holm stelle "Peer Gynt" ins Museum und erzähle ihn neu: "Wie auf alten Fotografien kommen dem Protagonisten, einem Mann von heute (...) die dramatis personae entgegen." Aase und die anderen Figuren kämen aus "einem Hinterwald, in dem noch Volkstänze lebendig sind und dazu Purzelbaum und Rad geschlagen werden". Die Fotografien spielten "assoziativ auf die Handlung und ihre Schauplätze an". Die Inszenierung bringe das große Stück in "hellen, mitunter adretten und altbackenen Bildern sicher über die breiter werdenden Runden". Der "Einfall, es ins Museum zu verlegen", erweise sich aber "als Verlegenheitslösung" und stelle sich "einer zeitgemäßen Interpretation in den Weg". Einzig spannend: der Titelheld. Olaf Johannessen spiele ihn als "lebenshungrigen Selbstverwirklicher und rücksichtslosen Risikoläufer – gierig, kalt fiebrig und hellwach". Die anderen Figuren blieben mehr oder weniger Staffage. Die "deutungsschmale Inszenierung" halte weniger, als ihr Ansatz verspreche.

Holm lasse "alle Natur außen vor" in der strengen Atmosphäre einer elitären Kunststätte, beobachtet Sarah Heppekausen in der Frankfurter Rundschau (4.3.2013): "Das Humoristische verliert sich genauso wie das Zärtliche im Formalen, das den Zuschauer wie einen Bildbetrachter im Museum auf sicherem Abstand hält. In diesem gedankenschweren Kopftheater tanzt niemand aus der Reihe." Erst am Ende, "wenn der Egoist ohne Ich zurückkehrt zu Solvejg und am liebsten in ihren Schoß", bekomme ihre Begegnung "eine Dringlichkeit, weil sie haltlos, rahmenlos ist". Hier erst mache die Museumsmetapher Sinn.

Anders als "die eher verkorksten Shakespeare-Inszenierungen seiner ersten Spielzeit" sei Holms "Peer Gynt" ein Wurf, so Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2013). "Er zeigt, was der Schwede im Rheinland eigentlich etablieren wollte: ein Theater, das sich wenig um den in Deutschland geltenden Mainstream kümmert und doch klare und auf ihre Art radikale Setzungen sucht - mittels der Form, und nicht gegen sie." Auch Krumbholz findet für die Ausstellungssituation eine Deutung: Die Fotografien riefen in aller Schönheit und Anmut "Affekte auf, Leidenschaften, Katastrophen. Eine zusammenhängende Geschichte ergeben sie nicht" – was wiederum mit Ibsens Text korrespondiere.

 

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