Die Zeit ändert gar nichts

von Kai Krösche

Wien, 2. März 2013. Wenn beim Schlussapplaus einer Wiener Nestroy-Aufführung der Regisseur auf die Bühne tritt und sich das Publikum ein erbittertes Kampfgeschrei zwischen Buh- und Bravorufen liefert, dann, soviel sei vorab verraten, hat dieser Regisseur garantiert etwas richtig gemacht. Der Regisseur heißt David Bösch, das Stück "Der Talisman", und was Bösch mit seinem überragenden Ensemble auf der Bühne des Akademietheaters gelungen ist, kann, allen üblichen kritischen Einwänden zum Trotz, als seltener Glücksfall bezeichnet werden.

Aber von vorn: Titus Feuerfuchs, ein rothaariger Barbiergeselle, kommt aufs Land, um mit knurrendem Magen sein Berufsglück zu suchen. Doch das Vorurteil wiegt schwerer als das Mitgefühl für einen, der ganz unten ist. Titus' feuerroter Schopf löst bei seinen Mitmenschen Abscheu und Antipathien aus, lediglich die ebenfalls rothaarige und gleichsam ins Außen gedrängte Salome hat einen Laib Brot für den armen Kerl übrig. Wie es das Glück so will, rettet Titus Monsieur Marquis (entgegen seinem Namen lediglich Friseur) vor einem Unfall und bekommt anstelle ersehnter Almosen in Form von Barem einen Talisman, der sich schon bald als viel wertvoller entpuppt: Marquis schenkt Titus eine seiner rabenschwarzen Perücken und fortan mogelt sich der wortgewandte Titus binnen Rekordzeit nach oben.

Kraft äußerer Statussymbole

Von der Gärtnerin zur Kammerfrau, von der Kammerfrau zur Fürstin – eine Frau nach der anderen wickelt der plötzlich allseits Begehrte um den Finger und bekommt als Dank jeweils die Kleidung deren verstorbener Ehemänner. Der Schwindel, klar, fliegt auf, doch am Ende kommt der Vetter vorbei und bereichert Titus um eine beträchtliche Summe. Titus entscheidet sich schließlich, Salome zu heiraten. Ende gut, alles gut.

Oder auch nicht, denn was nach einer heiteren Verwechslungsklamotte klingt, gerät unter der Feder des österreichischen Dramatikers und Schauspielers Johann Nestroy (gestorben 1862) zu einer bitterbös-ätzenden Satire auf menschliche Geltungsgier und die Austauschbarkeit äußerlicher Statussymbole. Dabei gelang Nestroy mit "Der Talisman" ein Text von gleichsam erheiternder wie erschreckender Zeitlosigkeit, der auch im übernächsten Jahrhundert nichts von seiner Schärfe und Treffsicherheit verloren hat. In tiefem Österreichisch schafft Nestroy Sätze von großer poetischer Kraft, die zitierfähige Allgemeingültigkeit erreichen: "Das Vorurteil is eine Mauer, von der sich noch alle Köpf', die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige Köpf' zurückgezogen haben", das ist so simpel wie wahr; es sind diese kleinen, meist ganz beiläufig geäußerten Weis- und teilweise auch Bosheiten, die Nestroys Text zu großer dramatischer Literatur machen.

talisman5 560 reinhard werner u"Der Talisman" mit Sarah Viktoria Frick, Maria Happel, Johannes Frisch © Reinhard Werner

Im Morast

Das Problem, zeitgleich, ist, dass Nestroy mit seinen pointenreichen Dialogen, den gutgereimten Liedern und den volkstümlich anmutenden Geschichtenkonstellationen viel Angriffsfläche für Klamottisierungen und Vertheaterstadlungen aller Art bietet. Doch David Bösch ließ sich zu Simplifizierungen dieser Art nicht hinreißen und schuf stattdessen gemeinsam mit seinem Team eine Inszenierung, die der Vorlage in puncto Gefühl, Boshaftigkeit und Komik gerecht wird.

Ausstatter Patrick Bannwart entwarf eine mit Dreck und Gänsefedern bedeckte Bühne. In diesem Morast macht sich jeder die Kleidung dreckig, ob arm oder reich, oben oder unten. Unterschied ist höchstens, dass die einen sich der Schmutzigkeit ihres Daseins bewusst sind, die anderen hingegen kläglich den vermeintlichen Schein wahren wollen, während sie sich ihre strahlendweißen Adelskleider auf dem zugeschissenen und von reich wie arm gleichermaßen benutzten Plumpsklo einsauen.

Poesie der einfachen Sprache

Nie lagen Schein und Sein so absurd nah beieinander; schon in der Ausstattung spiegelt sich die Scheinheiligkeit und Idiotie, vor allem Austauschbarkeit des Vorurteils auf tragisch- lächerliche Weise wider. Inmitten des grau-braunen Schlamm- und Dreckgemischs wirken die signalroten Haare Titus' und Salomes wie erfrischende, entfesselte Farbtupfer in einer auf Wahrung des äußeren Scheins verstocksteiften Welt: In großen Lettern ziert das Wort "DORF" die Rückseite der Bühne, doch (auch das ist schließlich nur ein Vorurteil) gemeint ist natürlich nicht "DORF", sondern "WELT".

Johannes Krisch verkörpert diesen Titus mit einer Körperlichkeit, Präsenz, einer Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Krisch tänzelt, springt, poltert, schleicht über die Bühne in einer Mischung aus Eleganz und Tollpatschigkeit und verleiht auf beeindruckende Weise dem liebenswert-scharfsinnigen Charakter seiner Figur eine physische Entsprechung. Jede Geste, jede Mimik sitzt; in heiserem Österreichisch füllt er die Nestroy'sche Sprache auf eine Weise mit Leben, die jegliche volkstümliche Anbiederung meilenweit umschifft und stattdessen die große Poesie der einfachen Sprache zum Klingen bringt.

Vorurteile leben länger

Auch Sarah Viktoria Frick entpuppt sich in der Rolle der Salome als Idealbesetzung: Taumelnd zwischen Tragik und Komik, zwischen selbstbewusster Kessheit und der Verletzlichkeit der Außenseiterin gelingt auch ihr eine bewegende schauspielerische Leistung. Und auch der Rest des Ensembles geht, ein jeder für sich und voll und ganz in seiner Rolle auf, übersetzt die Eigenarten der jeweiligen Figuren, ganz im Geiste des Volkstheaters, in überzeichnete (und doch nie unnatürlich oder aufgesetzt wirkende) körperliche Entsprechungen; ob grobschlächtig oder affektiert, ob pseudo-edel oder derb, jedes Ensemblemitglied findet die passende Haltung zu seiner Figur.

Das ist die Stärke dieser Inszenierung: Jedes Detail für sich, von der Ausstattung über das Schauspiel hin zur Musik, reflektiert bereits den Kern des Nestroy'schen Stücks. Wenn anlässlich des Happy Ends Johannes Krisch noch einmal heiter das Lied "Die Zeit ändert viel" anstimmt, dann bekommt das trotz aller Fröhlichkeit einen bitteren Beigeschmack. Die Zeit, auch das erzählt uns diese zeitlose Inszenierung, ändert manchmal leider genau gar nichts, das Vorurteil überlebt auch die Jahrhunderte.

Der Talisman
von Johann Nestroy
Regie: David Bösch, Bühne und Kostüme: Patrick Bannwart, Musik: Bernhard Moshammer, Karsten Riedel, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Florian Hirsch.
Mit: Johannes Krisch, Kirsten Dene, Liliane Amuat, Maria Happel, Regina Fritsch, André Meyer, Dietmar König, Branko Samarovski, Sarah Viktoria Frick, Bernhard Mendel, Bernhard Moshammer, Karsten Riedel.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.burgtheater.at

 

 

Kritikenrundschau

Bösch traue in seiner "betriebslustigen Inszenierung" Nestroys Sprachwitz offenbar nicht über den Weg, so Ronald Pohl in der Wiener Tageszeitung Der Standard (4.3.2013). Die ist bei Bösch "bestenfalls eine liebe Draufgabe. Viel wichtiger als die Zersetzung unleidlicher Verhältnisse scheint dem Regisseur deren Verdoppelung durch den Scherz." Wer glaube, witziger sein zu müssen als der Autor, verschleudere dessen Kapital: "Über diesem Talisman hängt, mit Nestroy gesprochen, ein Fluch der 'Witzboldungen'."

"Befiel den Deutschen Bösch Bammel vor Nestroy?", fragt Barbara Petsch in der anderen Wiener Tageszeitung Die Presse (4.3.2013). "Kaum eine Minute vergeht ohne Einfall, dadurch verfliegen die drei Stunden mit einer Pause recht rasch. Staunen ist angesagt, aber auch kräftige Irritation." Selten sehe man bei Nestroy so drastisch "das  Elend dieser nur vermeintlich guten alten Zeit". Allerdings: ein "Talisman", "in dem Satire und Sentiment derart hinter Special Effects und Hyperaktivität verschwinden, der kann noch so edel besetzt und originell komponiert sein – es nervt". Petschs gemischtes Fazit: "kein Meisterwerk, aber eine innovative Aufführung".

Nestroys "Talisman" sei "ein Gesellschaftskomödienmuster für Männertragödien – von heute. Im Wiener Ton. Aber mit Shakespeares Wucht", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.3.2013) in einer seiner 30-Zeilen-Kritiken. Und ist not amused: "Wien abortiert Nestroy – und gleich sich selbst mit: Eine reichsdeutsche PummelDomina im Lederüberquellsadomasomieder, ein grenzdebiler Hanseat als Hausknecht und eine BRD-Gänsemagd in Springerstiefeln verschandeln die Ur-Wiener Weltkomödie. Alle aber klamaukoten sich an und wischen an Nestroys Rollen Hinter- und Vorderteile ab. Köpfe kommen nicht in Betracht."

 

mehr nachtkritiken