Im Ayşengrund

von Kai Bremer

Münster, 8. März 2013. Wenn Ältere von den 60ern erzählen, erscheinen die oft stereotyp – grau-lethargisch oder aber pastell-idyllisch. Doch ganz egal, wie sie wirklich waren: Klar ist, dass die Verhältnisse weit festgefügter waren als heute. Lebensneugierige Frauen etwa, die es aus einem abwechslungsreichen Leben, aus einer Großstadt gar, in die Provinz verschlug, hatten es nicht leicht. Besonders, wenn sie es gewohnt waren, sich zu schminken, sich modisch zu kleiden und laut zu feiern. Oder wenn sie vor dem Umzug davon geträumt hatten zu studieren. In den Marken ihrer neuen Heimat konnte es ihnen passieren, dass schon ihr Wunsch zu arbeiten zum Affront wurde.

Einwanderer

Drei Frauen mit solchem Hintergrund hat Tuğsal Moğul – selbst in der westfälischen Provinz wohl als Sohn einer solchen Frau aufgewachsen – gestern Abend in Münster auf der neuen Studiobühne U2 seine drei Schauspielerinnen spielen lassen. Schon der Titel "Die deutsche Ayşe" dieses "Rechercheprojekts" ließ ahnen, dass hier das Leben von Frauen dokumentiert wird, die es doppelt schwer hatten. Sie hatten nicht nur Erwartungen an ihr Leben, von denen sich viele nicht erfüllten. Sie kamen zudem in deutsche Nester, in denen man Istanbul nicht als eine Metropole wie Barcelona, Mailand oder München ansah, sondern für kaum mehr hielt als das Neandertal.

In erster Linie erzählen die drei Frauen von ihren Wünschen und Träumen. Die Vorurteile, mit denen man ihnen begegnet, ertragen sie fast stoisch, selten wütend, gerne spitz. Und trotz der Verletzungen, die durchschimmern, entwickeln sie Zuneigung zur neuen Heimat. Schließlich singen sie zweistimmig und klar "Kein schöner Land", nicht ohne dabei sich selbst auf die Schippe zu nehmen: " ... die Lieder klingen im Ayşengrund."deutsche ayse1 280 jochen quast uv.l.n.r.: Isa Weiß, Lilly Gropper, Claudia Frost © Jochen Quast

Glück im Münsterland

Bei aller Ähnlichkeit, die die drei Lebensverläufe aufweisen, betont Moğul ihre Individualität, indem er den Schilderungen der Lebenswege Raum lässt. Außerdem zeigt er uns drei Frauen, die alles in allem ihr Glück im Münsterland gefunden haben. Während Politik wie Theater Integrationsgeschichten gerne als Tragödien inszenieren, hat Moğul schlicht drei Lebensläufe recherchiert und bringt sie konzentriert auf die Bühne, ohne sie dramaturgisch zu verbiegen.

Claudia Frost, Lilly Gropper und Isa Weiß tragen enge, knielange und ärmellose Kleider in blau, grün und rot - alle mit schwarzem Kragen und schwarzer Taille (Ausstattung: Kerstin Bayer). Anders und doch gleich. Sie setzen sich zu Beginn auf ihre kleinen modernen Hartschalen-Rollkoffer mit dem Rücken zum Publikum, schminken sich und setzen dunkelhaarige, im Stil der 60er frisierte Perücken auf. Jetzt sind sie die drei Ayşes, die in den 60ern und frühen 70ern nach Deutschland kommen – teilweise mit Mann, teilweise allein. Sie berichten von ihren Elternhäusern in der Türkei, in denen sie nicht sonderlich gefördert wurden, von ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Deutschland, obwohl zuhause nicht alles schlecht war. Gleichzeitig sind die drei Bewerberinnen, die sich nacheinander vorstellen – so wie man es heute macht: Sie schildern ihr Engagement, betonen ihre Teamfähigkeit und ihre berufliche Belastbarkeit.

Umkehrung

Auf diese Weise durchbricht Moğul immer wieder die lineare Erzählung der Biographien. Er weckt Neugier für die drei Schicksale und macht zugleich klar, dass sie ganz und gar typische Einwanderer-Lebensläufe sind, die sich immer aufs Neue beweisen müssen. Um zu betonen, wie anstrengend das ist, kehrt Moğul zuletzt die Bewerbersituation um. Die drei Schauspielerinnen verstauen die Perücken in den Rollkoffern und treten ein letztes Mal an den Bühnenrand, um ihren Lebenslauf in beeindruckend flüssigem Türkisch, wie es dem Kritiker schien (der freilich kein Türkisch spricht), erneut wie in einem Bewerbungsgespräch vorzustellen – ganz so, als bewürben sich die drei in der Türkei. Nicht nur das, sondern auch die souveräne Umsetzung von Moğuls präzise wie vielschichtig angelegter Recherche belegt die enorme Leistung von Frost, Gropper und Weiß auf der leeren Bühne.

deutsche ayse3 560 jochen quast uLilly Gropper  © Jochen Quast

Die drei spielen vor einer Leinwand, auf die zuletzt auch die Übersetzung der drei Bewerbungsmonologe ins Deutsche projiziert wird. Zuvor war hier meist ein Straßenzug mit engen Reihenhäusern zu sehen; später einer dieser 70er-Jahre-Super-8-Familienfilme. Weder Idylle noch Katastrophe, sondern schlicht Normalität.


Die deutsche Ayşe. Türkische Lebensbäume (UA) 
Ein Rechercheprojekt von Tuğsal Moğul 
Regie: Tuğsal Moğul, Ausstattung: Kerstin Bayer, Dramaturgie: Friederike Engel. 
Mit: Claudia Frost, Lilly Gropper, Isa Weiß. 
Dauer: 55 Minuten

www.theater-muenster.com 

 

Kritikenrundschau

Tuğsal Moğul habe die Erlebnisse der Frauen "mit viel schwarzem Humor überhöht, um ihre Schicksale intensiver zu verdeutlichen", schreibt Peter Sauer in den Westfälischen Nachrichten (11.3.2013) über dieses "ein spitzzüngige Sittenbild". Den "exzellenten" Schauspielerinnen gelinge es, "die Gefühls-Achterbahnen (...) mit kessem Körpereinsatz, großer Musikalität und eindrucksvoller Gesichtsmimik pointiert auf die Bühne zu bringen". Moğul schaue "tief hinein in die Abgründe der deutschen Gesellschaft der 60er und 70er Jahre", persifliere aber auch "typisch türkische Verhaltensmuster". Fazit: "ein wichtiges Stück Zeitgeschichte".

Das Interview-Material verwebt sich in den Monologen der drei "mutigen Frauen" zu polyphonen Glaubensbekenntnissen (...), irritierenden Erfahrungen (...) und unerschütterlicher Zuversicht", beschreibt Günter Moseler in der Münsterschen Zeitung (11.3.2013). Ihre Bewerbungsmonologe auf Türkisch am Ende zeigten: "Die Vergangenheit der Frauen hat sich in globale Zukunft verwandelt." Für Moseler ein "Fest theatralischer Integration".

Kommentare  
Ayse, Münster: selten so viel Lebenslust gesehen
Danke für diesen Abend! Soviel Lebenslust sah man selten auf Münsters Bühen. Bei Quetes nie.
Die deutsche Ayşe, Münster: Visier hoch
So schön es ist, dass mit Frank Behnke neue Ideen und frische Gesichter auf die münsterische Bühne kommen, so feige, ja geradezu unanständig ist es, ohne volle Namensnennung "nachzutreten". Die Behauptung "Bei Quetes nie" stimmt einfach nicht. Ich habe nahezu alle, wirklich alle Produktionen der Ära Quetes und der seines Vorgängers Bockelmann gesehen und hätte das sicherlich nicht ausgehalten wenn es so gewesen wäre.
Wir leben in keinem Unrechtsstaat, niemand hat etwas zu befürchten. Also Bettin L. : Visier hoch beim Kritisieren. Das wäre glaubwürdiger.
Ulrich Bartels
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