Kabale und Liebe − Claus Peymann inszeniert Schillers funkelndsten Gefühlsausbruch am Berliner Ensemble
Der Himmel ohne Geigen
von André Mumot
Berlin, 8. März 2013. Wenn man verliebt ist, also so richtig, mit allem Drum und Dran, dann soll der Himmel ja voller Geigen hängen. Im Berliner Ensemble hängt da nur eine, und auch nur kurz. Dafür samt Bogen und in bequemer Greifhöhe, so dass Ferdinand von Walter, der angeblich so heiß und inniglich Verliebte, sie sich schnappen kann, als es schwierig wird mit seiner Luise. Erst kratzt er nur unwirsch schief auf ihr herum, dann immer wilder und wird schließlich ganz tobsüchtig dabei. Und dann zerschlägt er das hübsche Instrument mit reichlich Gekeuche auf dem Boden. Rockstars machen so was. Und kleine Kinder. Auch Schauspieler im Berliner Ensemble. Anschließend sagt Luise übrigens recht trocken: "Walter, Gott im Himmel, was soll das?" Man will es vielleicht nicht gleich zugeben, aber im Grunde steht sofort fest: Es ist der Satz des Abends.
Claus Peymann, der große alte Berliner Intendanten-Querulant, hat "Kabale und Liebe", Schillers funkelndsten fünfaktigen Gefühlsausbruch, inszeniert – in seinem Haus, wo Stücke, wie er gern betont, noch vollständig und so aufgeführt werden, wie sie geschrieben wurden, und wohin sich die Kritiker sowieso nur begeben, um alle Veranstaltungen unsiono zu verreißen. Man verfängt sich nicht gern in dieser Spirale mangelnder Originalität (beide Seiten nicht), aber dann geht doch wieder alles von vorne los.
Zirkusclowns
Dann sieht man nämlich, wie das komplette Ensemble an der nackten Bühnenwand steht und alle, die gerade nicht dran sind, bedeutungshubernd und bedeutungslos auf ihren Auftritt warten, während vorn in einem Kreidekreis die armen Bürger in schlichtem Klischee-Weiß unterwegs sind und die böswilligen Herren vom Hofe hauptsächlich Schwarz tragen und auch ein bisschen wie Zirkusclowns aussehen (was sich, wie wir seit Steinbrück wissen, für Politiker ja nicht gehört.) Der Präsident von Walter, den Joachim Nimtz mit professioneller Verve zur popanzigen Selbstgefälligkeitskarikatur veralbert, muss jedenfalls mit orangefarbener Perücke und auf Stelzen herumlaufen, durch die er anderthalb Köpfe größer ist als alle anderen und die prompt unter ihm wegknicken, als sich sein Sohn zum ersten Mal gegen ihn stellt.
Diese oberflächlichen Illustrationen sind sinnfällig, sehr lau und trist und niemals ernst zu nehmen. Alles, was politisch oder emotional wahr und echt sein könnte, relevant im Gestern oder im Heute oder im Irgendwann, wird in stumpfer Regie- und Ausstattungsroutine zum Verschwinden gebracht. Ins von Achim Freyer entworfene Bühnenbild kommen dabei Stühle von der Decke getrudelt (ein bescheidener für die Bürgerlichen und ein ebenfalls um Stelzen verlängerter für den Hof) und für Lady Milford (Katharina Susewind) eine rosa Schaukel, auf der sie beim Schaukeln edel, hilfreich und gut und irgendwie erhaben und tragisch sein muss, aber nur sehr nett und fehl am Platze wirkt.
Die Liebe eine Suchanzeige
Es gibt Momente, wenn Martin Seifert als Miller den Präsidenten aus seiner bürgerlichen Stube schmeißt zum Beispiel, in denen man daran erinnert wird, wie viel Kraft in Schillers Szenen steckt, was für herausfordernd gefühlige, verletzlich ungestüme Figuren er entworfen hat. Bei Peymann dürfen sie meistens jedoch nur profan sein, schnoddrig oder forciert aufmüpfig. Wenn Antonia Bills Luise zum Beispiel den berühmten Satz von den Schranken des Unterschieds, die einstürzen müssten, aufsagt, tritt sie an die Rampe wie auf die Kanzel und hebt die Stimme. Aber nicht nur diese kurz und knapp abgehaltene soziale Anklage verpufft, weil sie die Inszenierung zu keinerlei Assoziationen, zu keinen weiterführenden Gedanken, zu keinen realen Bedenken verleitet.
Vor allem die Liebe, um die sich hier alles drehen sollte, ist unter einem solchen Himmel ohne Geigen nirgends aufzuspüren. Unendlich weit weg ist sie, und kein Charme, kein Leuchten in den Augen, keine Berührungen finden statt, die sie zurückholen könnten. Sabin Tambreas Ferdinand ist kaltschnäuzig und unbeherrscht, ein Geigenzertrümmerer, der gern mit vorgerecktem Unterkiefer spricht, als wolle er sich vor allem als harter Hund qualifizieren.
Paartherapeutenalptraum
Antonia Bill wiederum darf (offenbar aus Scheu, sie könnte zu verzagt und weibchenhaft erscheinen) ebenfalls nur wenig zarte Töne anschlagen. Mal erinnert sie in ihrem verhuschten Beleidigtsein frappierend an Piratin Marina Weisband, mal steigert sie sich in exzessives Ganzkörperschluchzen und zunehmend manieriertes Verzweiflungsgelächter hinein. Und wenn Luise und Ferdinand zusammentreffen, wird es ganz schlimm. In diesem Paartherapeutenalptraum einer Schillerverödung sind die beiden Liebenden besserwisserisch, pampig und unwirsch zueinander, gehen sich also gegenseitig und irgendwann auch dem Publikum auf die Nerven.
Es gibt Beziehungen, das wissen wir alle, für die es sich auch in Krisen zu kämpfen lohnt. Diese gehört ganz sicher nicht dazu. Ein Dilemma, das nicht nur sämtliche Kabalen vollständig sinnlos erscheinen lässt, sondern auch den ganzen Abend. Man ächzt sich trotzdem voran, trinkt die Giftlimonade, die Spirale dreht sich unbarmherzig weiter, und auf die Frage "Gott im Himmel, was soll das?" wird schon wieder keine Antwort gegeben.
Kabale und Liebe
von Friedrich Schiller
Regie: Claus Peymann, Bühne und Lichtkonzept: Achim Freyer, Kostüme: Achim Freyer, Wicke Naujoks, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Herrmann Beil.
Mit: Joachim Nimtz, Sabin Tambrea, Thomas Wittmann, Katharina Susewind, Norbert Stöß, Martin Seifert, Traute Hoess, Antonia Bill, Laura Mitzkus, Gerd Kunath.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
Das Team Claus Peymann und Achim Freyer arbeitete am Berliner Ensemble zuletzt für Frühlings Erwachen (Premiere im Dezemeber 2008) zusammen.
Am Premierenabend besprach Volker Trauth die Inszenierung auf Deutschlandradio (8.3.2013): Peymann streiche die "verlogene Versöhnung" des Schlusses zwischen Präsident und Ferdinand. Außerdem übertrage er die Regieanweisungen Schillers in ein modernes Formgefühl. Peymann suche weder nach "sozialem Gestus" noch nach "historischer Konkretheit", er suche nach "einem Spielgestus". Er löse das Stück in einzelne Kampfszenen auf, mit je eigenen Haltungen gingen die Schauspieler in den Ring. In den besten Szenen brenne da die Luft. Es gebe starke Bildmetaphern, wenn der Präsident auf Stelzen ins Wanken gerate, "ein Koloss auf tönernen Füßen", oder wenn sich ein Ring aus Autoscheinwerfern schräg stelle, sei eine Welt aus den Fugen. Ferdinand und Luise spielten, wie schwer es sei eine gemeinsame Sprache zu finden. Antonia Bill habe "große Momente" in Luises Ausbrüchen, Sabin Tambrea fehle es an "Spannkraft" in Körper und Sprache. Unter den Schauspielern gebe es ein "großes Leistungsgefälle".
Eberhard Spreng sagt in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (9.3.2013): "Es ist kurios: Hier will ein Theater erklärtermaßen die Stücke der Klassiker möglichst werktreu auf die Bühne bringen und kann doch trotz massiver Striche nicht einmal den Plot halbwegs plausibel vom Anfang bis zum Ende durch erzählen." Anders als bei Schillers "Jungfrau von Orleans" vor sechs Jahren mache Peymann dieses Mal "weder eine historische Distanz sichtbar, bei der man über das Verhalten der Figuren wenigstens erstaunen könnte, noch skizziert er Verbindungslinien, in denen die bürgerliche Tragödie aus heutiger Sicht wieder aufleuchten könnte. Da ist buchstäblich nichts zu sehen außer aufgedrehten Witzfiguren rings um hohle Floskeln deklamierende Protagonisten."
Wieder einmal "ungeheuer vorhersehbar" sei diese Peymann-Inszenierung geraten, sagt Ute Büsing im Inforadio des rbb (9.3.2013). "Es beginnt mit der bekannten Schwarzweiß-Malerei. Wie aufgepumpte Comicfiguren im weißen Zwirn pellen sich Papa und Mamma Miller aus dem schwarzen Bühnenschlund." Im Ganzen lasse Peymann in der "für seine Verhältnisse recht radikalen Strichfassung des Schillerschen Fünfakters" kein "Inszenierungsinteresse erkennen".
"Peymann versinnbildlicht das Drama ins putzig Clowneske", schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (11.3.2013). "In dieser märchenhaft zweigeteilten Welt der bunten Farben und Formen müssen Hofschranzen tuntenhaft stöckeln, während Sabin Tambrea als guter Ferdinand jugendwütig ausschreitet und kampfeslustig die Zähne bleckt. Norbert Stöß trägt als intriganter Haussekretär Wurm schwarze Strumpfmaske und erinnert mit seinen Rockschößen fatal an Willy aus der Biene Maja. Und die puffige Pelzstola, die Thomas Wittmanns Hofmarschall von Kalb spazieren führt, staubt bei jedem Trippelschritt so, dass die ganze Szenerie immer wieder in einer weißen Puderwolke verschwindet."
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (11.3.2013) hätte "die Premiere von Peymann zur Abwechslung lieber einmal nicht verrissen". Jedoch: Wie "schnell hat einen der Missmut wieder im Würgegriff!" Schiller-Zitate würden mit den "erstbesten dazugehörigen Emotionalitäten und Charakteristika" vorgetragen: "Zitterpathos, Wutstampfen, Unterwürfigkeitsknickser, Bösigkeitsgrinsen, Leidenschaftsgedampfe, Autoritätsgeknatter und Verzweiflungsgeknietsche." Keine der Regungen "entsteht aus einer Spielsituation, nichts kommt aus der flüchtigen Wahrheit des Theateraugenblicks, alles wird auf Ansage veranstaltet. Das ist spielfreies, geheimnisloses Theatrigkeitstheater: Aufteilung und Illustration von literarischem Text."
Claus Peymann inszeniere Schiller "wie eine quälende Übung für den Deutschunterricht", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2013). "Alles wird typenselig in didaktisch bemühter Überdeutlichkeit ausgestellt. Die Figuren sind bis zur Karikatur versimpelt, als würde der Regisseur seinem Publikum nicht recht zutrauen, sich ohne solche Grobzeichnung für Schillers Geschichte der Liebe in Zeiten des Duodez-Absolutismus zu interessieren." Gegen das Schiller-Pathos würden "Zirkuseffekte" gesetzt. "Allein, je krampfhafter Peymann komisch sein will, desto dröger wird sein Schiller-Zirkus."
Auf Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.3.2013) wirken Peymanns "bedauernswerte Schauspieler" so, "als wüssten sie überhaupt nicht, was sie hier tun oder lassen sollen". Die Inszenierung erscheint ihr "wie eine uninspirierte Laienaufführung, in der jeder froh ist, wenn er seine Sätze halbwegs und ohne zu stottern über die Rampe kriegt". Die Kritikerin wähnt sich gar momentweise im Kasperletheater, dabei befinde man sich doch "in einem Theater, das von sich in Anspruch nimmt, in der Hauptstadt mit an der Spitze zu stehen ..." Es sei dies ein "völlig flacher" Abend, "dem es an jeder künstlerischen Vision und handwerklichen Kraft mangelt".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 28. März 2024 Berliner Theatertreffen: 3sat-Preis für Jenaer Arbeit
- 28. März 2024 Berlin/Bremen: Geschäftsführer Michael Helmbold verstorben
- 28. März 2024 Neues Präsidium für Deutsche Akademie der Darstellenden Künste
- 26. März 2024 Günther-Rühle-Preise vergeben
- 26. März 2024 Mülheimer Theatertage: Preisjurys berufen
- 26. März 2024 Theatertreffen der Jugend 2024: Auswahl steht fest
- 26. März 2024 Schauspieldirektor Maik Priebe verlässt Neustrelitz
- 25. März 2024 Dramatikerpreis für Correctiv-Autor:innen L. Lax und J. Peters
neueste kommentare >
-
hildensaga, Berlin Wo ist der Witz?
-
hildensaga, Berlin Feminismus
-
Chico Citrone, Schwerin Warnung!
-
hildensaga, Berlin Karger Männerblick
-
Preisjury Mülheim Um Himmels Willen
-
Auswahl Mülheim Liste?
-
Auswahl Mülheim Erwartbar + bieder
-
3sat Preis Frage
-
Reise des G. Mastorna Wahnsinn
-
Reise des G. Mastorna, Heidelberg Bildgewaltig
Mein Tipp: sich erst an Nimtz, Seifert und Schiller erfreuen, denn für die starken Schauspieler und den Text lassen Peymann und Freyer viel Raum... und mit einem guten Gefühl in der Pause gehen.
Wenn der Junge aber immer behauptet, die Hose stünde ihm besonders gut und dabei noch einen raushängen lässt, sollte man ihm das schon hin und wieder mal sagen dürfen. Aber er hört ja doch nicht der Claus. Hat halt seinen eigenen Kopf der Bursche.
Ja, Gott sei Dank, hat er immer wieder seinen eigenen Kopf "der Claus", "der Bursche". Und lässt sich nicht verbiegen und verbeulen nach Mainstream-Strickmuster. Auf das "Kritik-Leckerli" für das brav apportierende Hündchen verzichtet er offensichlich gerne. (M.Hartmann in Wien könnte da sich ein wenig abschauen.)
Einmal waschen und legen - Claus Peymann dreht und föhnt „Kabale und Liebe“ zur Schillerlocke auf der Bühne des Berliner Ensemble
Kommt Peymann im Pulli und sagt Hallo. Sagt Hallo und bekennt seine Aufregung. Patriarch Peymann sagt alte Theatersätze auf: „Wenn Sie weinen müssen, tun Sie es leise, sollten Sie lachen wollen, bitte laut.“ - Eine Variation von: „Wenn es Ihnen gefallen hat, dann empfehlen Sie uns weiter und wenn nicht, schicken Sie Ihre Feinde“.
Er fragt: „Finden wir das Feuer von Schiller und seine Stille?“
Er erzählt von Rotarmisten, die mit dem Ruf „Für Luise“ „ins Trommelfeuer der weißen Garden rannten“. Peymann macht eine kleine Erzählung daraus. Wie er einmal im Moskau gewesen und den führenden Germanisten da getroffen und wie der sofort von Schiller angefangen und von der Revolution und der immensen Bedeutung von „Kabale und Liebe“ für die sowjetisch-russischen Revolutionäre. Und alle Birken rauschen zum Don Kosakenchor.
Peymann tuscht das so hin, eher chinesisch als japanisch. Die Leute sind zu einer öffentlichen Probe gekommen, es kann alles passieren, einschließlich einer Unterbrechung der Aufführung. Man darf besonders erwartungsvoll sein. Durchscheinende Arbeitsprozesse und private Momente sind möglich heute Abend auf der Bühne des Berliner Ensemble.
Ein Zeitfenster geht auf
und da ist der Miller, geduckt und listig, allezeit mit einer Fürstenfaust im Nacken und der eigenen laschen Patschhand in der Tasche. Ein Kujonierter, dem das Leben Sorgen macht. - Wen Gott bestrafen will, dem gibt er eine schöne Tochter. Der stellen dann die jungen Kennedys nach und winken mit ihren Prädikaten.
Friedrich Schiller hatte mehr als ein quentin Tarantino in sich, Sturm und Drang war Rock und Roll und zwar im Quadrat von AC/DC. Wie das Bürgerliche kreißt im Saal der toten Seelen, um die Mäuse ihrer feudalen Anverwandlungen zu gebären. „Kabale und Liebe“ erzählt von der Liebe einer Musikertochter namens Luise Miller zu dem Präsidentensohn Ferdinand von Walter. Dargestellt wird sie als unbefleckte Empfänglichkeit. Sympathie auf beiden Seiten. Doch kümmet so eine Luise an sich nur als erotische Gelegenheit im Fahrplan des Adels vor. Das versucht der alte Walter seinem auf Luise heißen Sporn klarzumachen. Klarzumachen versucht er ihm die Staatsräson.
So viel zur Handlung. Kunstpfeifer Miller spielt Martin Seifert im Ansatz feist als guten Kerl. In seinem Haus beansprucht er volle Souveränität. Seiner kläglichen Regierung als außerparlamentarischen Opposition dient die Millerin. Sie hat was Verschlagenes und ruchlos Nutznießerisches im Spiel der Traute Hoess. Sie möchte kuppeln und drehen an ihren Obliegenheiten. Die reine Seele ihrer Tochter ist ihr nicht geheuer, die romantische Liebe (als nachahmende Errungenschaft des aufstrebenden Bürgertums) muss wohl Wahnsinn sein.
Man steht also vor den Schranken der Stände, von Gleichheit weit entfernt. Ferdinand will darüber wie über eine Hürde so sportlich – in der Gestalt von Sabin Tambrea. Er nimmt sich das als feudale Freiheit heraus, das muss man richtig verstehen. Jede Tändelei sähe ihn genauso durchgreifend und aufgelegt.
Für Luise (Antonia Bill) sieht das anders aus. Sie könnte mit Ferdinand über ihre Verhältnisse sich erheben. Sie könnte regelwidrig aufsteigen – im Schiller´schen Subtext mit der ganzen Klasse sozusagen. Man hält sich fest an einem Zipfel vom Mantel der Geschichte und saust wie mit dem Lift hinauf. Von ihren Berechnungen will Luise aber nichts wissen.
Berechnend dürfen nur die Bösen sein, allen voran – als Meister aller Klassen – Präsident von Walter, den Joachim Nimtz auf kurzen Stelzen und mit karottenroter Perücke spielt. - So dass seine Erscheinung schon überragend wirkt. Vor ihm zittert ein ganzes Fürstentum, er kennt nur Erniedrigung. Sein Niedrigster ist Sekretär Wurm. Norbert Stöß spielt ihn wie einen mutierten Salamander im Damenstrumpf. Wurm bebt vor Ergebenheit und sinistrer Schläue. Er scheint sich von üblem Schleim zu ernähren, den der Präsident für ihn extra in Vorrat hält. Den kriegt sonst keiner, er müsste anderenfalls auch tot umfallen. Wurm legt Walter einen Plan vor, nach dem sich vorgehen lässt gegen alle zum Vorteil Weniger.
Gut, so sollte man das schon 1784 in Frankfurt am Main verstehen, Schiller wollte die verworfene Welt gerade rücken auf dem Theater. Er war im falschen Bett geboren und fühlte sich von den Standesschranken düpiert. - Ein mit Schreibverbot belegter Flüchtling, der keinem Fürsten schmeckte. Indes schauderte ihn der aus feudaler Finanznot notwendig gewordene Verkauf von deutschstämmigen Landeskindern nach England. Wo sie als Soldaten eingeschifft wurden, um in Amerika gegen Washington ins Feld zu ziehen.
In „Kabale und Liebe“ wirft Lady Milford (Katharina Susewind) aus Mitleid mit den Verkauften ihr schönes Leben als Mätresse weg. Sie hat „die Kraft zu entsagen“, schließlich auch dem feschen Ferdinand, der in der höfischen Ordnung und nach dem Willen des Vaters vorgesehen ist als Nachfolger des Fürsten bei dessen Favoritin, die sie keinesfalls ewig bleiben kann.
Da war schon viel Spaß im Spiel von Sanssouci oder Schloss Solitude, bloß nicht bei den Millers, die man bald festsetzt, um die liebende Tochter gehörig unter Druck zu setzen. Antonia Bill bricht immer wieder höchst anmutig zusammen als Luise, die kaum weiß, wo ihr der Kopf steht – im Zentrum höfischer Kabalen. In der Peymann-Inszenierung sieht man den ganzen Schiller, er steht förmlich auf … unter einem Strahlenkranz und einem Himmel voller Stühle. Man geht zufrieden aus der Sache wegen des großen Theaters und der Einsicht, dass alle mit der Zeit gehen müssen.
es gibt keine Altersweisheit mehr. Peymann, Grass, Schmidt, die alten Männer... trostlose Wiederholungen. Sie haben immer Recht und es bleibe dabei. So sangen schon alte Genossen.
Vergessen wir das. ich habe genug davon. Nichts bewegt mich mehr ins BE. Nicht immer, aber manchmal kann man den Kritikern nur zustimmen und den alten Peymannverehrern zurufen, ihr seid auch nicht anders, intollerant gegenüber den neuen Zeiten. Schwärzer kann auch Seehofer im tiefsten Bayern nicht sein. Das ist einfach nur traurig. Eine echt linke und rechte Koalition!
Fazit, ich muss zum Glück nicht ins BE. Nur nocheinmal den Arturo. Es gibt viel interessantes Theater in dieser Stadt.
Gehabt euch wohl, ihr alten Geister, der Sturm rast über euch und lässt euch zurück.
Ich finde es nur schade, da ich Peymanns Bernhardinszinierunge geliebt habe und immer noch ein wenig Sympatie für den alten Meister hege.
Aha, also ein Tusch für Herrn Peymann. Aber auf einer Glatze können auch Sie keine Schillerlocken drehen, Herr Tuschik. Oder waren Sie etwa auf einem anderen Rockkonzert?
Und noch etwas, "Kabale und Liebe" an der Schaubühne hat Falk Richter inszeniert, im Jahre 2008.
Dachte ich eigentlich auch. Und die Inszenierungen von Falk Richter waren in meiner Erinnerung nie wirklich schlecht. Allerdings ist mir auch nur noch Judith Rosmair als Lady Milford präsent. Aber das ist eben Geschmackssache und wie jede Erinnerung nie ganz wertfrei.
http://www.youtube.com/watch?v=OozyPDfkiyE
Im dritten Akt, vierte Szene von Kabale und Liebe heisst es:
"FERDINAND hat in der Zerstreuung und Wut eine Violine ergriffen ... - jetzt zerschmettert er das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter aus.
LUISE: Walter! Gott im Himmel! Was soll das?"
- Jetzt aber nicht eine ebenso langweilige Debatte über Werktreue anfangen, bitte...
Doch, könnte man. Es ist schon ein kleiner Unterschied vom auf dem Boden zerschmettern zum kurz und klein schlagen und sich dann noch selbst auf die Reste werfen, um sich darin zu suhlen. Hier ist schon die Frage Luisens durchaus berechtigt. Und wenn man einem Geladenen das Instrumente direkt vor die Nase hängt, muss er ja auch zwangsweise danach greifen. Das ist wie mit der Pistole. Schon Schiller wollte damit wohl einen ganz bestimmten Effekt erzielen, und kreierte gleichsam eine neue rebellische Art und Weise sich auszudrücken ohne abzudrücken. Man nannte das dann auch sehr schnell „Sturm und Drang“ oder Genieperiode. Und so manch verworrener Musikus oder selbsternanntes Bühnengenie verspürte seit der letzten Sturm-und-Drang-Phase der 1960er Jahre hin und wieder noch dieses zerstörerische Verlangen. Übrigens ist das Bühnenstück von Friedrich Maximilian Klinger, nachdem sich diese Epoche benannte, zur Hälfte selbst ein stark gefühlsverwirrtes Shakespeareplagiat. Nur Textkenntnis ist dann eben doch nicht immer alles. Aber wahrscheinlich haben Sie recht und Claus Peymann hat mit seinem großen Bühnenpathos den Werktreue-Preis verdient gewonnen. Herzlichen Glückwunsch.
also? peymann hat es veschenkt. er nimmt die darsteller nicht ernst und sie ihn nicht, das ist das schlimmste.
Lieber Herr Steckel, die Kraft der Diskretion? Wir reden hier aber schon noch von Claus Peymann, oder? Auch wenn ich kurz zu Peter Handke abgeschweift bin. Auf die Inszenierung seines Textes würde das auf jeden Fall zutreffen. Ich glaube auch zu verstehen was Botho Strauß damit meint, auch wenn ich seine Abhandlung nicht gelesen habe. Es ist die Kunst Maß halten zu können, die den Unterschied macht. Nicht dick auszupinseln. Es ist eben mehr ein Andeuten bei Stein, kein Ausdeuten. Es kommt eben immer auf das rechte Maß an. Handke z.B. legt mit seinem Dialog die Skizze zweier Figuren hin und der Regisseur kann diese ergänzen, wenn er will. Ein bisschen nur, wie Handke meint. Als Peter Stein 1967 "Kabale und Liebe" inszenierte, erblickte ich gerade das Licht der Welt und verband noch nicht allzu viel mit der Kraft der Diskretion. Also blähte ich meine kleinen Lungen und schrie meinen Unmut über die Welt hinaus, auf das man mich schnellstens wieder an die Mutterbrust nähme. Während Botho Strauß sich zu geistigen Höhenflügen über das Theater aufschwang, rührte ich die Trommel und rasselte meinen Erzeugern zum Trotz, meinem unstillbaren Bewegungsdrang folgend, meiner Umwelt die Nerven zusammen. Dem einen bleibt das ein ganzes Leben, andere entdecken die Kraft der Diskretion. Zu welchen Claus Peymann gehört, überlasse ich ihrer diskreten Wahrnehmung. Botho Strauß ist mittlerweile so diskret, dass man ihn kaum noch wahrnimmt. Seinen Unmut an der Welt steckt er heute in kleine diskrete Bücher, in denen er sich über die weltweite Mitteilungsinkontinenz und die Zunahme an Disgrazie und den Totalausfall an hetärischer Intelligenz bei Frauen beklagt. Man kann mit der Welt von heute über Kreuz liegen, man kann über ihr stehen, laute oder leise Töne anschlagen. Man kann Schiller und Peter Stein zu Füßen liegen, kann es aber auch lassen. Bei all dem kommt es eben immer nur darauf an, das rechte Maß zu finden.
Was für eine wunderbare Szenenanweisung.
Ich muss an Nam June Paiks Performance Broken Violin denken, der 1962 im Whitney Museum eben das von Schiller Beschriebene tat. (...)
http://www.youtube.com/watch?v=dQVKQEJxx6o
Ferdinands Zerschlagen ist ein affektives, Schillers die Violine durch Ferdinand zerschlagen lassen aber ein analytisches.
Ich interpretiere den Vorgang auch anders. Ich glaube, es ist für niemanden mehr überraschend und darum auch nicht mitteilenswert, dass die Welt nicht harmonisch ist.
Mitteilenswert aber ist der Moment, in dem Ferdinand merkt, dass er die Violine nicht spielen kann (ich halte Ihre Interpretation, er sei ein guter Spieler, der bei Musikus Miller in die Schule geht, für eine mögliche Spekulation, aber keine zwingende Feststellung). In diesem Moment "scheint auf", dass er möglicherweise auch auf Luise nur spielen wollte (aufgrund der von Inga und Man Ray bereits festgestellten Verwandtschaft der weiblichen Formen - und aufgrund des nicht ganz ungeläufigen Hamlet-Zitats: Haltet ihr mich für eine Flöte - Rosenkranz/Güldenstern). Schiller verwendet hier das literarisch-dramaturgische Mittel der Vorausdeutung: Er wird dann ja Luise auch mit Limonade "zerschlagen".
Diese Zweideutigkeit, sein Jähzorn macht Ferdinand zu einem schillernden Charakter - und dekonstruiert das Klischee vom Schiller-Jüngling. Ferdinand ist keine anzuschwärmende Identifikationsfigur, sondern wird kritisierbar. Dieser Staat brennt an allen Ecken und Enden und keiner kann sich zurück lehnen und sagen: Ich war's nicht.
Oder geht es umgekehrt um die Frage, ob die Forderung nach Transparenz nicht eingeschränkt werden müsste auf den politisch-ökonomischen Bereich? Ich jedenfalls brauche keine privaten Geschichten über die erotischen Affären eines Adligen/Politikers, INSOFERN dabei keine Menschenleben zerstört werden. Das ist folgenloser Klatsch. Das ist der Verfall und das Ende des öffentlichen Lebens, die Tyrannei der Intimität. Da ist mir das öffentliche Rollenspiel und das Schweigen lieber, INSOFERN die gefräßige Medienmaschinerie nicht bereits angeworfen worden ist. Betroffene leiden unter nicht enden wollenden Gerüchten mehr als unter dem Schweigen.
Habe ich aber natürlich nicht: http://stagescreen.wordpress.com/2013/04/26/rumpelstilzchen-in-der-mottenkiste/