Mit echten Schweinen

von Michael Stadler

München, 9. März 2013. Look there, look there: Was der Regisseur in seiner Inszenierung uns mitteilen will, das brauchen der Kritiker und der normal gebaute Zuschauer nicht unbedingt herausdeuten; man muss nur dort hinschauen, wo alles bereits steht. Über Themen, die größer als der Mensch sind, gehe es in Shakespeares "König Lear", meint Johan Simons im Spielplanfaltblatt. "Über Leben und Tod. Dass der Mensch mehr leiden muss, als er verdient. Es ist meine Aufgabe, diese großen Themen zu menschlichen Proportionen zurück zu bringen. Das Stück handelt vom Ganzen, vom Universum. Ich möchte das Gegenteil zeigen: das kindlich Einfache."

Shakespeare, steh uns bei

Die Zielsetzung von Simons ist also wohl eine andere als jene, die Dieter Dorn damals gehabt haben mag, als er 1992 den "Lear" mit Rolf Boysen in der Titelrolle auf die Bühne der Kammerspiele hievte. Der große Atem dieses Theaterabends weht noch durch München, und dieser Wind könnte sich zu einer großen Erwartungshaltung aufblasen, wenn man nicht gerade eben diese Aussagen von Simons gelesen hätte.

Zu denen gesellt sich ein Artikel von Dramaturg Koen Tachelet im Programmheft: "Lear auf dem Bauernhof". Tachelet stellt sich mit uns die Einwohner eines Dorfs vor, die mit einem Bus in die Stadt fahren, um sich den "Lear" anzuschauen und nach ihrer Rückkehr versuchen, das Stück selbst zu spielen. Shakespeare, steh uns bei: Laientheater. Bauerntheater. Volkstheater. Wer jetzt noch einen "Lear" im Boysen-Format erwartet, muss ein Narr sein. Neun Monate oder länger hat Dorn an seinem Kunstwerk gefeilt. Simons? Sieben, acht Probenwochen. Würden Dörfler länger proben?

Ein Hof zum Davonferkeln

Wenn Lear nach blitzdurchtobtem Sturm in der Heide herumirrt, kommen auch vorübergehend fünf echte Schweine ins Spiel, deren quiekende Präsenz die Inszenierung noch mehr erdet, weil sie, sei der Text noch so gewichtig, über die Bühne und durchs Bild rennen und sich um die Königstragödie einen ganz schönen Dreck scheren. Thomas Schmausers Narr wird für seinen finalen Abgang die Kleider ablegen und sich – so nackig, wie Gott ihn, die Schweine und uns alle schuf – davonferkeln.

Verzweifelt wird dieser Narr von André Jung als König Lear am Anfang gesucht. Der gealterte Mann benötigt ihn bitter, weil ihm selbst sein Sinn für Humor verlustig gegangen ist. Darin liegt doch der Wahnsinn, wenn man sich dem Ernst des Vererbens hingibt und dafür Liebe gezeigt bekommen will, wobei die eigene Liebe ungleich verteilt ist. Während die älteren Töchter Goneril und Regan ihm schmeicheln, kümmert Lear sich auf der hölzernen, grünbedeckten Drehscheibe in der Bühnenmitte eher um die Rasenpflege. Erst seiner jüngsten Tochter schenkt er einen beseelten Blick. Diese Jüngste erscheint nicht unbedingt hehr der Wahrheit verpflichtet, wirkt eher wie ein aufmüpfiger Teen. Die väterliche Liebesfrage lässt sie mit einem "Nichts" auflaufen. Was folgt: viel Lärm um dieses "Nichts".

Locker und erdig

Die Jüngste enterbt, die beiden Älteren belohnt: Annette Paulmann und Sylvana Krappatsch müssen keine Monster spielen, sondern sind, down to earth, ungerecht behandelte, verletzte Wesen, die von den Zumutungen des Alten genug haben und ihren Rachegelüsten endlich freien Lauf lassen. Finster psychotisch wird es bei Simons nicht. Es hat was locker Erdiges. Selbst Edmund, den unehelichen Sohn des Grafen von Gloucester, gestaltet Stefan Hunstein weniger als durchtriebenen Bastard, sondern eher als Buben, der schon lange nicht mehr bei einem gescheiten Frisör war und vergnügt seine Intrigen angeht, um sich am Ende doch nicht nur die Hände blutig gemacht zu haben.

koenig lear2 560 julian roeder xKönig der Kolchose: André Jung als Lear mit echtem Schwein © Julian Röder

Wo man sich befindet, verkündet auf Bert Neumanns Bühne nüchtern ein LED-Schild über den Köpfen. Die bloße Behauptung funktioniert im Theater, die Spieler und wir müssen es nur glauben. Das hölzerne Skelett eines Eingangsbereichs für Auftritte und Abgänge hat Neumann hinten aufgebaut, und zu Beginn fährt ein kreisförmiger Lametta-Vorhang herab, dessen irre glitzernden Silberfäden recht unglamourös an den Schauspielern hängen bleiben (Wolfgang Pregler sieht als bärtig-langhaariger Königsgetreuer Kent wie Dschingis Khan aus).

Gerade in der ersten Hälfte bleibt die Inszenierung am Unbill ungehobelten Bauerntheaters kleben, wenn Shakespeares Blankverse herausgebrüllt werden, dass man ihrem Sinn weder folgen kann noch mag. Am Handfesten ist es Simons gelegen. Wenn man Größe finden will, dann im Unspektakulären: im Grafen von Gloucester, den Peter Brombacher so einnehmend spielt, wie man das von ihm kennt, unprätentiös, bodenständig, leise und wahrhaftig. Er ist der zweite gefallene Herrscher in der Heide, blind, geleitet von seinem Sohn Edgar, der sich als verrückter Tom verkleidet hat, weil der Vater ihn wegen der Intrige seines Halbbruders Edmunds verstoßen hat. Von gespieltem Wahn schwenkt Kristof van Boven in zärtliche Sohnesliebe. Nicht weniger ein Vergnügen ist es, den lauten, launigen, trompetenden, unberechenbaren Thomas Schmauser als Narren zu sehen.

Das Gigantische auf Augenhöhe

Er ist der nötige Reibungspol zum kindischen Wutkönig Lear. Und auch wenn das Zusammenspiel mit Schmauser ein paar Funken schlägt – zum Genuss wird das Spiel von André Jung erst nach der Pause, wenn der machtentkleidete Lear Wahnwitz und Weisheit nun selbst in sich trägt, wenn er imaginäre Mäuschen mit dem Pitzelchen Käsekruste lockt und sein Ton ein irrlichternder werden darf. Der Vater beugt sich vor der zurückgekehrten Tochter. "Knien Sie nicht!", schreit Cordelia (gespielt von Jungs Tochter Marie) und wird unwillig mit dem Vater in den Kerker gezerrt. Markerschütternd sein Wehklagen ob der schnell hingerichteten Tochter. Er greint, er fällt, er stirbt. Schnörkellos, der Tod.

"Look there, look there": Lears letzte Worte waren von Anfang da, auf dem weiß-rot-gestreiften Vorhang, der den Blick aufs Menschentheater öffnet und schließt. Ein wenig enttäuscht darf man sein. Ein großer Wurf sieht anders aus. Simons bringt, er hat's ja gesagt, das Gigantische in angemessene Dimensionen. Jungs alter König bewegt, weil er mit uns auf Augenhöhe ist. Herzlicher Applaus, viel Sympathie für ein hervorragend eingespieltes Ensemble, das seinen "Lear" gestemmt hat.


König Lear
von William Shakespeare
Deutsch von Frank Günther
Regie: Johan Simons, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Koen Tachelet.
Mit: Peter Brombacher, Stefan Hunstein, André Jung, Marie Jung, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Lasse Myhr, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Thomas Schmauser, Kristof Van Boven.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Bauernhof auf der Bühne. Große Tiere gab es zum Beispiel in der Geschichte von Kaspar Hauser von Alvis Hermanis in Zürich (weißes Pony) und in Nackter Wahnsinn / Was ihr wollt von Sebastian Hartmann in Leipzig (Esel). Eine Kuh tapste bei Bauern, Bonzen, Bomben von Tom Kühnel in Hannover über die Bretter. Hühner hat Peter Stein in seinem Kleist-Abend Der Zerbrochne Krug am Berliner Ensemble.

 

Kritikenrundschau

Alles, was Shakespeares "Lear" zu einem Rätsel mache, könne man sich auch in einem Dorf denken, meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (11.3.2013): "Wenn das Dorf danach ist." Doch in München sei es "ein tierisches Gleichheitszeichen: Welt gleich Saustall. Man nickt, 'Look there, look there!', mit dem Kopfe und hat nach fünf Minuten die Weltgleichung des biedersten Bauerntheaters durchschaut. Danach freilich möchte einem der Kopf vom vielen Nicken auf die Brust sinken und drohen, dort einzunicken." Man erlebe "im Bauerntheater des Johan Simons gleichsam nichts als den bäuerlichen Abklatsch schlechten Stadttheaters. Das heißt: Ein großes Stück wird kleingemacht. Heruntergebrochen auf ein Dumpfbackenspiel." Und André Jung sei: "Kein Zoll ein König. Jeder Zentimeter ein Depp. Sein Lear-Rätsel ist hier schnell gelöst: Der Mann spinnt."

Das Erstaunliche an diesem "ungehobelten Theaterpolterabend" sei, dass "vieles an die Handschrift [Dieter] Dorns" erinnere, der in seinen Shakespeare-Inszenierungen "seiner kindlich-naiven Schauspiel-, Schauer- und Schaueffektlust ungeniert theaterlustig ihren Lauf ließ", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2013). "Auch die aufgeregt lauten, immer so deutlich ausgestellten Auf- und Abtritte, ein Charakteristikum alter Dorn-Inszenierungen, fehlen bei Simons nicht und wirken in ihrer Theaterhaftigkeit merkwürdig gestrig. Überhaupt: Dieses ganze Theater-Theater mit Standbein-, Spielbein-, Rennbein-Einsatz, kann das Simons' Ernst sein?" Offenbar ja: "Im Theater mal so richtig die Sau rauszulassen, gehört zum Konzept, Shakespeares Tragödie 'König Lear', dieses monumentale Stück Weltliteratur, einmal ganz unverbildet, körperlich und direkt zu inszenieren." Glanzleistungen seien aber "nicht zu vermelden. Zu vordergründig, laut und dröhnend deutlich ist Simons' Bretterbudentheater".

Es stelle sich an diesem Abend der "Eindruck einer Inszenierung" ein, die 'König Lear' "als eine Art Schaustellerstück mehr aus- als darstellt", sagt Christoph Leibold für Fazit von Deutschlandradio Kultur (10.3.2013). "In Verbindung mit der Figurenzeichnung der Schauspieler, die ihre Charakter mehr vorführen als ausfüllen, ergibt das klassisches Verfremdungstheater, das hier allerdings nicht wirklich den distanzierten und damit genaueren Blick des Zuschauers schärft, ihm aber sehr wohl den emotionalen Zugang zum Geschehen erschwert." Leibold mutmaßt, "dass Simons während der Proben die Lust oder sogar den Glauben an diese Inszenierung verloren" haben könne: "Die letzte Aufführungsstunde wirkt wie schlampig auf den Proben durchgestellt, keineswegs durchinszeniert."

Es werde hier gespielt, als sei "Lear" die "szenische Version einer Moritat, die man auf dem kleinen Erdenrund lauthals zum Besten geben will", meint Sven Ricklefs in Kultur heute vom Deutschlandfunk (10.3.2013). "Liebhaber psychologischer Feinjustierungen kommen hier sicherlich nicht auf ihre Kosten, fragt sich nur, ob die bei diesem im Grunde ziemlich grobschlächtig daherkommenden Stück überhaupt gefragt ist. Denn die Dramaturgie dieses großartigen Welttheaters ist bei näherer Betrachtung eigentlich so ziemlich mit dem Holzhammer gewerkt". So konzentriere sich denn die Aufmerksamkeit hier "im Kreise der lautstarken Archetypen" auf den Lear von André Jung. Und es sei "schon eine Lust, diesem Schauspieler dabei zuzusehen, wie er da in seiner Narrenstrumpfhose sitzt, Undefinierbares aus seiner Einkaufstüte knabbert und sich sichtbar erleichtert in seine kleine erbärmliche Menschlichkeit ergibt."

"Grandios will es Simons auf keinen Fall", schreibt Simone Dattenberger im Münchner Merkur (11.3.2013). Schon "der weiß-rot gestreifte Stoff von Zirkuszelten für den Vorhang mit der Aufschrift 'Look there'" signalisiere, "dass man mehr Jahrmarktszauber will als die mächtige Tragödie." Doch die "allzu leicht gezimmerte Grundkonstellation" vermöge "den schweren Aufbau des Shakespeare’schen 'Lear' nicht zu tragen. Niemand kann so begreifen, dass da ein wirklich Mächtiger etwas Ungeheuerliches riskiert". Die Szenen zögen sich "anstrengend und seltsam spannungslos" hin, "bis der Machtlose seine Lage erkennt – und sich in das Dasein des Ausgestoßenen geradezu hineinwirft. Ein tolles Schauspielerfutter, das André Jung aber nur mühselig kaut."

Nicht nur "das kindlich-zirzensische Bühnenbild" dämpfe "die Erwartungen auf Größe", setzt Matthias Heine in der Welt (11.3.2013) hinzu: "Auch die wirklich unfassbar bescheuerten Kostüme von Nina von Mechow ziehen die Figuren gleich auf Bauernstadelniveau runter." Zudem stellt sich die Frage: "Bauernhof oder Zirkus? Ein Dilemma der Aufführung besteht darin, dass sie sich nicht entscheiden kann." Jedenfalls lasse sich "im Kasperlezirkus, in Clownskostümen und unter Idiotenperücken Tragik nur schwer herstellen". Trotz allem sei dieser "Lear" nicht "totaler Dung, Jauche oder Mist – um im Bauernhof-Bild zu bleiben. Dafür sind die Kammerspiel-Schauspieler einfach zu gut." Peter Brombacher als Gloucester schaffe gar, "den Zuschauer wirklich zu ergreifen".

"Was soll der Quatsch?" fragt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (11.3.2013). "Shakespeare hatte sehr wahrscheinlich Gründe, keinen Bauern, sondern einen König ins Zentrum des Stücks zu stellen." Lear, "diese das Menschenmass sprengende Figur", werde "wohl deshalb so oft eingezwängt in geriatrische Psychiatrie oder Normalfamilien (…), weil er die Theaterleute überfordert. Simons überfordert mit seinem Unfug jedenfalls André Jung. Zu diesem leisen, in sich gekehrten, aus dem Denken agierenden Schauspieler passt die Titelrolle schlecht." Und so litten wir "diesmal nicht mit Lear, sondern mit André Jung, der sich forcieren muss zu einer grellen Hysterie, wie man sie von ihm nicht kennt."

Ganz anders hat es Tomo Mirko Pavlovic für die Frankfurter Rundschau (11.3.2013) gesehen: "Simons' Bühnenkreaturen sind oft nackt, nackter noch als dieser Lear, den André Jung so spielt, als sei es sein letzter Auftritt: sich verausgabend, um Kontrolle ringend, bis zur Unverständlichkeit keifend. Seine stärksten Szenen gelingen Jung aber, wenn er aus der Stille kommt, er nur hundsäugig ins Parkett stiert." Nie stelle "Simons seine scheiternden Helden bloß – auch wenn sie es noch so sehr verdient hätten". Er sei "kein vulgärpsychologischer Taschenrechner, er richtet nicht". Stattdessen drehe er in seiner Inszenierung "des wohl dunkelsten Shakespeare-Textes mit warmer Hand am großen Lebens- und Erlösungsrad". Und es fehle bei Simons "jeglicher Fingerzeig auf das Hier und Jetzt. Lear leidet, bis er erkennt: Das Leben ist Tragödie genug. Mehr Analyse gibt's nicht."

"Shakespeares Text ist im Lear doch sehr verwirrend, unklar formuliert, die lange übliche Übersetzung von Tieck/Baudissin ungenießbar, Frank Günther rettet mit seiner Eindeutschung vieles – aber wiederum geht vieles davon polternd verloren", schreibt Michael Skasa in der Zeit (14.3.2013), und weiter: "Wir sind hier in einem niederländischen Bauerntheater, nach Breughel vermutlich: Eine Spielschar schlägt eine Bude auf und sucht sich was aus der Kostümkiste zusammen." Dass mitunter die Sauen störend auf die Bühne preschten, sei halt mal so, "und dass die Klamotten albern sind, nehmen wir in Kauf;" Wichtiger sei die widerborstige Trotzhaltung der Königstöchter: "Sie müssen viel mitgemacht haben mit ihrem Königsvater und zucken federnd hintüber gebogen zurück, wenn er ihnen zu nahe kommt." Es sei das Eindringlichste an Johan Simons Inszenierung, dass man die misshandelten Töchter zu verstehen beginne, "weil in Lear ein Kotzbrocken zu ahnen ist."

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