Die Schwachen sind die Atomkraftgegner

von Tim Schomacker

Wilhelmshaven, 9. März 2013. Und dann gibt es doch noch einen dieser kleinen Momente. Der Staatsträger Sarkis wischt ganz beiläufig mit gekreuzten Fingern über ein Kreidewort an der Wand, während er dem Wissenschaftler Chervat zu Leibe rückt, der lange Zeit bereitwillig dem privilegiengefütterten Ruf der Macht gefolgt war und nun qua Gewissensbiss abtrünnig, also staatsfeindlich, zu werden droht. Er tippt erneut an die Wand, mit zwei Fingerspitzen diesmal. Plötzlich steht da "Der Bund der Schwächen" – die beiden Punkte über dem "a" ändern den Satz fundamental. Eine Armbewegung reicht aus, das Aufbegehren der Schwachen zu tilgen.

Würde Johannes Simons' hölzerne Despotencharge Sarkis nicht gleich zum nächsten Schriftzug stolpern und mit dem oberlehrerhaften Wegwischen ausgerechnet das Wort "Freiheit" pulverisieren; würden die Kreideschriftzüge mehr sein als unzählige Szenenüberschriften aus Jahnns Text, die immer mal wieder wer an die Wand malt; würden schließlich die wie Betonflächen aussehenden Wände im Bühnenbild Frank Alberts nicht wie ein unfreiwilliger V-Effekt vor allem nach betonfarben bemalten Pressspanplatten aussehen – am Ende einer noch deutlich längeren Konjunktivreihe hätte es was werden können mit diesem Abend.

Rettung vor dem Fortschritt

Doch wesentlich mehr (und vor allem Wesentlicheres), als dass diese eigenartigen technik- (oder vielleicht präziser menschen-)skeptischen "Trümmer des Gewissens" – ähnlich wie bei der Uraufführung 1961 (Kuba-Krise, Wiederbewaffnungsdebatte) und der zweiten Inszenierung Anfang der 1980er (NATO-Doppelbeschluss) – auch heute aktuell sein müssten, fällt dem regieführenden zukünftigen Wilhelmshavener Intendanten Olaf Strieb nicht ein. Fukushima, Nordkorea, Iran, Atomausstieg: Suchen Sie sich was aus!

truemmer1 560 volker beinhorn uIn dunkler Kammer: "Trümmer des Gewissens". © Volker Beinhorn

Hans Henny Jahnns letztes Stück, dessen deutlich handlungsorientierte, Jahnns poetische Aufsplitterung des Stoffes in die widersprüchlichen Fabel- und Erlebnissphären seiner Figuren zu Gunsten der Story glättende Texteinrichtung gespielt wird, entstand 1959. Der Physiker Jakob Chervat wendet sich gegen den Staat, der ihm seine Forschungen ermöglicht und ihn zum Dank nebst Frau und Kind in ein luxuriöses Forscherleben eingesperrt hat. Erst als der Arbeiterzeitungsredakteur Ducasse (zu erkennen an der Schiebermütze) ihm vom tatsächlichen Ausmaß zweier Explosionen in Atommeilern berichtet, die er mitentwickelt hat, als schließlich seine Gattin Jeanne ein wegen Umweltschädigungen taubes, blindes und empfindungsloses Kind zur Welt bringt, verlernt sein Gewissen, wie Ducasse ihm vorwirft, "sich vor dem Spiegel zu putzen".

Ketten unterbrechen

Im spät erwachten Kampf gegen die Verhältnisse, vor deren machtbewussten Karren Chervat sich lange willfährig hatte spannen lassen, findet er Verbündete im Freundeskreis seines Sohnes Elia. "Es ist alles unsichtbar, was mit uns geschieht. Aber es gibt eine wahrnehmbare Wirklichkeit", sagt Elia, als er mit seinem Freund Arran und dem von Pater Randello in Übersee missionierten und nach Europa verschleppten Indio Tiripa den "Bund der Schwachen" gründet. Dass Chervat seine Hoffnungen in eine Gruppe Jugendlicher investiert, die weniger den Umsturz im Sinn haben als das kalkulierte Ende jeglicher Genealogie, spricht Bände. "Keiner von uns darf mehr sein wollen als das letzte Glied einer Kette", sagt Arran.

Der bewusste Verzicht auf Reproduktion als Rettung des letzten Restes jener "wahrnehmbaren Wirklichkeit" – eine Strategie, die sich im Stück dunkel-ausweglos mit der Geburtenkontrollpolitik der politisch-technologischen Elite doppelt, wie sie Sarkis und der um Menschenversuche nicht verlegende Dr. Lambacher vertreten.

Mehr Haltung zum Text

Regisseur Strieb verpasst die Gelegenheit, diese "Trümmer des Gewissens" gegen das zeitgenössische Abmessen (und das damit verbundene Unhörbarmachen Jahnnscher Poetik) zu retten. In einem diffus abstrahierten Raum und inmitten der Innerlichkeit der Musik Arvo Pärts agiert ein Ensemble, das dem Text weitgehend hilflos gegenüber steht. Unbeholfenheit ebenso wie quer zum Text verkantetes Pathos wohnt dem wilden Gestikulieren der Akteure inne. Auch weil sie Situationen und Konstellationen dauernd als Szenen spielen müssen.

Allein Benno Schulz als Sohn Elia sowie Julia Blechinger als Chervats Frau Jeanne ragen sprachlich und mit feinsinnigem Körpereinsatz heraus. Zu wenig, um den Eindruck zu vertreiben, man wohne dem Re-Enactment einer zweitklassigen Aufführung eines Zeitstücks in den 1960ern bei. Eines Jahrzehnts, dessen Zukunft unsere Gegenwart ist. Mithin eines Zeitverhältnisses, das sich auch mit diesem vergleichsweise schwachen letzten Jahnn-Drama hätte fruchtbar machen lassen.

 

Trümmer des Gewissens
von Hans Henny Jahnn
Regie: Olaf Strieb, Bühne, Kostüme: Frank Albert, Dramaturgie: Annabelle Schäll.
Mit: Julia Blechinger, Wolfgang Finck, Felix Frederik Frenken, Sibylle Hellmann, Thomas Marx, Amélie Miloy, Sebastian Moske, Stefan Ostertag, Benno Schulz, Johannes Simons, Jarno Stiddien, Metin Turan, Thomas van Allen.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause.

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Kritikenrundschau

"In seiner Radikalität sucht dieses Drama seinesgleichen", schreibt Martin Wein in der Wilhelmshavener Zeitung (11.3.2013). Entstanden auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, sei Jahnns "Trümmer des Gewissens" ein "Zeitstück schlechthin, das auch deshalb kaum auf deutschen Bühnen gespielt wird, weil alle Interpretationsbezüge auf heutiges Weltgeschehen wie billige Verschwörungstheorien wirken". Olaf Strieb mache "das Beste aus dieser schwierigen Ausgangslage. In seiner zurückhaltenden Inszenierung formt er den bedeutungsschweren Epilog auf die Menschheit vor allem im zweiten Teil zu einem spannungsgeladenen Endzeit-Thriller." Das "steril-dunkle Ambiente" Frank Alberts schaffe "den passenden Rahmen für einen finalen Alptraum unserer Gattung in großer Besetzung". Leider fänden Thomas Marx und Benno Schulz "in den Rollen des Wissenschaftlers Chervat und seines Sohnes Elia am Anfang nicht den rechten Ton", danach aber finde sich "das Ensemble zunehmend in seine Rollen, spielt verständlicher und emotionaler".

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