Kalte Wand der Brutalität

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 15. März 2013. Der Abend beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies: Zwei nackte Menschlein, eine junge Frau und ein junger Mann stehen auf der Bühne, werden sich ihrer Nacktheit gewahr und fliehen. Die junge Frau sitzt wenig später als schwangere Klosterschülerin Olga in einer der wartenden Kirchenbänke und trägt eine Lederjacke über dem stilisierten Dirndl, während der junge Mann als Vorstadtgigolo mit seiner neuen Flamme auftaucht und nichts wissen will vom Kind unter Olgas Herzen. Olga versucht, das Kind abtreiben zu lassen und die ganze Ortschaft zerreißt sich das Maul über sie. Ihr zur Seite, in der Ablehnung der anderen vereint, steht Roelle mit dem stinkenden Blähhals, der sich für heilig hält und das Nasse scheut wie der Teufel das Weihwasser.

fegefeuer 280h birgithupfeld uRoelles Fußwaschung  © Birgit HupfeldDie beiden sind die bemitleidenswerten Hauptpersonen in diesem düsteren Stück "über das Rudelgesetz unter Schülern und über Außenseitertum", wie es Marieluise Fleißer selbst formulierte. Nachdem das Drama schon einmal im Februar dieses Jahres in der Regie von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen Premiere feierte, inszeniert es nun die Schauspielerin Constanze Becker in Frankfurt mit Studenten des dritten Schauspieljahrgangs in Zusammenarbeit mit der örtlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und der Hessischen Theaterakademie.

Schroffe Botschaft

Die Bühne ist in Frankfurt ein halbwegs frommer Ort, links die besagten Kirchenbänke und rechts oben weisen Dürers "Betende Hände" den rechten Weg. Wir befinden uns überall und nirgends. Ob gestern oder heute ist dem Stück wie der Inszenierung egal. Schließlich funktionieren die Mechanismen des Ausgestoßenseins in der Welt überall und immerdar.

Der Mensch ist schlecht, ob er was zu fressen hat oder nicht, so lautet die schroffe Botschaft des ersten Stücks der in Ingolstadt geborenen und gestorbenen Schriftstellerin Marieluise Fleißer (1901-1974). Ursprünglich trug es den Titel "Die Fußwaschung" und feierte dann 1926 an der Jungen Bühne im Deutschen Theater Berlin seine Uraufführung als "Fegefeuer in Ingolstadt", erlebte aber nur diese eine Aufführung und wurde erst 1971 wiederentdeckt, als eine Neufassung davon in Wuppertal uraufgeführt wurde. Die Fleißer diente Autoren wie Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder, die sich an ihren Volksstücken orientierten, als Vorbild. Dabei hat sich ihr erstes Stück über die Jahre seinen unglaublich modernen Kern bewahrt. Die von Fleißer denunzierte Provinz, die sich in Ingolstadt verkörpert, ist dabei weniger ein geografischer Raum als vielmehr ein seelischer.

Die Seele aus dem Leib schreien

Constanze Becker setzt "Fegefeuer in Ingolstadt" als zünftiges Jugendstück um, sehr körperbezogen und laut. Roelle steht im Zentrum des Geschehens, und Becker inszeniert ihn als Erlöser vor dem Herrn. Philipp Quest spielt ihn als welpenhaft unfertigen Jüngling in blasser Kleidung, dessen Leidensweg aus ihm einen nackten Christus mit Dornenkrone macht. Einen Sohn Gottes. Einen Ausgestoßenen, der von den anderen traktiert wird wie ein Hund. Seiner Wasserscheuheit rücken sie mit einer Fußwaschung zu Leibe. Dazu schwappt in einer Luke im Bühnenboden Wasser. Die Meute drangsaliert ihr Opfer und labt sich derart an seiner Qual, dass man kaum hinsehen mag.

Dieser Moment gehört zu den intensivsten des Abends, an dem sich ansonsten furchtbar viel die Seele aus dem Leib geschrieen wird. Dabei wuchten die Figuren ihren Text so kräftig hinaus, dass er in der angestrengten Verve eher an Vehemenz einbüßt. Der Jargon der Brutalität, der uns in Fleißers Stück entgegenschlägt wie eine kalte Wand, droht sich jedenfalls in dem Geschrei bald zu verlieren. So bleiben es die kleinen Momente an diesem Abend, die einen mitnehmen: Olga, die Sidonie von Krosigk mit schönem Waidwundblick spielt, sehnt sich in die unbegrenzte Anonymität Amerikas, Olga und Roelle rühren sich und uns in einem randständigen Augenblick, aber auch das schotenfreudige Almluder Hermine, gespielt von Sabrina Frank, die mit Quetschstimme Sauereien von sich schrillt. Auch sonst muss man sich in nicht einmal eineinhalb Stunden wirklich nicht langweilen. Bloß: Ein großer Abend wird aus den kleinen Momenten leider nicht.

 

Fegefeuer in Ingolstadt
von Marieluise Fleißer
Regie: Constanze Becker, Ausstattung: Sascha Gross, Musikalische Einstudierung: Björn Breckheimer, Dramaturgie: Martina Grohmann.
Mit: Sabrina Frank, Regina Vogel, Sidonie von Krosigk, Carina Zichner, Damjan Batistic, Markus Gläser, Philipp Quest, Stephan Weber.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause.

www.schauspielfrankfurt.de

 


Kritikenrundschau

"Bei der Premiere gab es einen sehr ordentlichen Applaus, verdient hätte die Aufführung stehenden Beifall", findet Constanze Ehrhardt im Rhein-/Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.3.2013). "Als stünden sie selbst im teuflischen Bunde, spielen, singen, speien sich die acht überragenden Darsteller in dieser großartigen Bühnenadaption um den Verstand." Constanze Becker zeige bei ihrem Regiedebüt hinter den Nöten der Jugendlichen eine "Verhandlung darüber, was den Menschen erst menschlich macht".

Constanze Becker gehe bei ihrem Regiedebüt "behutsam und zurückhaltend vor", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (18.3.2013), weil die in ihrem Bühnenleben selbst so "nonchalant selbstverständliche wie extrem präsente Schauspielerin" es hier mit "höllisch unfertigen jungen Leuten" von der Hessischen Theaterakademie zu tun habe. Die "Menschen-zu-Tieren-Geschichte" entwickele sich "verhältnismäßig plausibel und mit dem ausgesprochenen Wunsch, zu zeigen, was im Text steht". Die Darsteller erhielten in Beckers Regie viel Raum, ihre Rollen zu füllen, wobei "über kurz oder lang die meisten Mitwirkenden auf einen Schrei-und-Tob-Modus umstellen". Der Abend zeige auch, dass es "schwierig" sei, "diesem Stück die Wucht von einst zurückzugeben".

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