Das letzte Band – Peter Stein inszeniert Beckett mit Klaus Maria Brandauer

Porträt des Künstlers als Dummer August

Porträt des Künstlers als Dummer August

von Wolfgang Behrens

Neuhardenberg, 15. März 2013. Wer in den letzten Wochen in Berlin öffentliche Verkehrsmittel nutzte, der musste nahezu unweigerlich darauf stoßen: auf ein Plakat, das Klaus Maria Brandauer mit wirrer Haarmähne und einer Knollennase zeigt, die ihre Herkunft aus der Theatermaske erst gar nicht zu verschleiern versucht. Ich assoziierte bei diesem Plakat spontan das großartig frührealistische Renaissance-Bildnis eines alten Mannes (samt Enkel) von Domenico Ghirlandaio und stellte mich innerlich auf eine Brandauer-Studie über das Alter ein. Freunde, mit denen ich über das Plakat sprach, reagierten anders: "Was soll denn diese dämliche Clownsnase?" fragten sie und blickten mich mitleidig an, wenn ich ihnen erzählte, dass ich zu dieser Knollennase, genauer: zu Peter Steins Inszenierung von "Das letzte Band" fahren würde.

beckett brandauer 280h jimrakete uKlaus Maria Brandauer ist Samuel Becketts Krapp
© Jim Rakete

Täppisch aufgepolstert

Sitzt man dann in der kleinen Schinkelkirche zu Neuhardenberg – wo, eine gute Autostunde von Berlin entfernt, eine Stiftung seit nunmehr 11 Jahren ein ausgesuchtes Kulturprogramm auflegt –, dann ist Ghirlandaio ganz weit weg und der Clown ist da: Zur täppischen Leibesfülle aufgepolstert, mit nach Art eines Dummen Augusts seitlich abstehenden Haaren, sitzt Brandauer im kegelförmigen Licht einer Lampe am metallbeschlagenen Tisch. Wenn er auf seine Taschenuhr schaut, reißt er überdeutlich ein Auge auf und kneift das andere zusammen: eine Clownsgrimasse. Wenn er Bananen aus den Schubladen des Tischs herausbefördert, gibt er seltsame vokalische Grunz- und Verwunderungslaute von sich ("ooo-i-ha"): Clownsgeräusche. Und wenn er schließlich in tapsiger Behäbigkeit auf der Bananenschale ausrutscht, macht er es gleichsam mit Ansage: ein Clownsslapstick.

Sicher, das meiste davon steht bei Beckett. "Weißes Gesicht. Wirres graues Haar", heißt es da. Auch die Uhr gibt es, sowie die Anweisung: "Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille)." Selbstverständlich rutscht auch Becketts Krapp auf der Bananenschale aus. Und, ja, Becketts Figuren sind oft genug als Clowns bezeichnet worden: auch Krapp, dieser alternde Schriftsteller, der an seinem Tisch hockt und sich anhand alter Tonbandaufnahmen seine früheren Identitäten vor Ohren führt. Es wäre ein Unding, Peter Stein und Brandauer Ungenauigkeit vorzuwerfen. Nur die Nase, die steht so wirklich nicht im Text.

Penibles Ausbuchstabieren

Brandauer ist jedoch ein Clown, der aller Komik beraubt ist. Der Ausrutscher auf der Banane, das Kramen in den Hosentaschen, der tippelnde Schritt, die krächzend-fistelnde Stimme, ein Hustenanfall vor dem aus dem Tonband-Register vorgelesenen Wort "Liebe" (bei Beckett steht: "er blättert um") – das alles wird in unendlich unlustiger Langsamkeit zelebriert. Bei diesem Clown zündet nichts mehr, dieser Clown ist alt und schal geworden, so springt es einem jede Sekunde aus dieser Inszenierung entgegen.

Doch die Schalheit färbt ab: Je länger man zuschaut, desto mehr kann man den Eindruck gewinnen, dass nicht der alt gewordene Künstler Krapp jämmerlich ist, sondern das, was Stein und Brandauer hier mit ihm veranstalten. Im peniblen Ausbuchstabieren der Beckett'schen Vorlage nämlich verfehlen sie alles, was an dieser Figur noch lebendig und widerständig ist. Der traurige Clown, der ohnehin als Chiffre so ausgelutscht wie irgendetwas sein dürfte, wird in kalkulierter Virtuosität ertränkt.

Das Mal des Gemachten

Jedem Schmatzen, jedem Hüsteln, jedem Greinen, jedem gaumigen Auflachen, jeder greisenhaft gelallten Wiederholung eines auf dem Tonband gehörten Wortes, jedem Überschnappen der Stimme (das bei Brandauer immer mit einem intensivierten österreichischen Zungenschlag verbunden ist) ist das Mal des Gemachten eingeschrieben. Boshaft formuliert, hört man bei Brandauer ständig Subtexte wie: "Hört her, wie es klingt, wenn ein Großschauspieler schmatzt." Das ist dann im Grunde doch wieder komisch.

Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert habe ich "Das letzte Band" das erste Mal gesehen: Bernhard Minetti spielte in der Regie von Klaus Michael Grüber. Als Minetti seine Banane aß, aß er eine Banane, gedankenverloren, seine Augen wurden hohl, und man blickte mit ihm in einen Abgrund aus Einsamkeit. Wenn nun Brandauer seine Banane isst, dann lässt er sie sich phallusartig aus dem Gesicht ragen. Das ist nur ein Nümmerchen, und man blickt nirgendwohin, nur auf eine phallusartig ragende Banane. Es ist das, was Peter Stein am meisten zu hassen vorgibt: ein blöder Regieeinfall. Wie übrigens auch die Clownsnase.

 

P.S. Im Zeit-Interview hat Peter Stein kürzlich die Kritiker mal wieder als "Feinde" bezeichnet. Ich sehe mich nicht als Feind Peter Steins. Feindschaft ist eine viel zu starke Emotion. Eine Aufführung wie "Das letzte Band" erzeugt bei mir als Kritiker (und Zuschauer, der ich ja auch noch bin) keine Feindschaft, sondern Desinteresse. Das immerhin, da bin ich mir sicher, beruht auf Gegenseitigkeit. Und wie gewöhnlich ist Peter Stein zur Premiere auch nicht erschienen.

 

Das letzte Band
von Samuel Beckett
übersetzt von Elmar Tophoven, bearbeitet von Peter Stein
Regie: Peter Stein, Bühnenbild, Ferdinand Wögerbauer, Kostüm: Annamaria Heinreich, Dramaturgie- und Regieassistenz: Sara Abbasi, Maske: Manuela Halligan, Technische Koordination: Christian Weißkircher.
Mit: Klaus Maria Brandauer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schloss-neuhardenberg.de
www.movimentos.de

 

Mehr zu Arbeiten von Peter Stein mit Klaus Maria Brandauer im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Der frühe Beckett habe in den Clowns "eine Gegenwelt zum versteinerten Theater seiner Zeit gesucht", schreibt Matthias Heine im Online-Auftritt der Welt (17.3.2013). "Später trieb er, wenn er seine eigenen Stücke inszenierte, den Figuren die Clownerien wieder aus. Er muss wohl geahnt haben, dass der Clown zum peinlichen pseudoromantischen und unlustigen Klischee geworden war. Brandauer und Stein wollen nun Krapp reclownisieren." Dies sei "ein klassischer Regietheatertrick: Man sucht in den Fassungen und Selbstinterpretationen des Autors solange, bis man irgendeinen Hinweis findet, der die eigene Auslegung stützt." Wie immer, seit er mit Stein arbeite, sei "das oft heiß laufende Schauspielkraftwerk Brandauer auch hier auf eine sehr kunstbekömmliche Betriebstemperatur heruntergekühlt." Trotzdem werde "jede gehässige Bemerkung, die Krapp seinem jüngeren Ich nachwirft, und jedes Schmatzen natürlich zum Großschauspielervirtuosenstück".

Brandauers Krapp wirke "als Kunstfigur, nicht als Mensch, so, wie er zum Beispiel bei aller Komik doch von Martin Held in Becketts Berliner Inszenierung gespielt wurde", meint Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (17.3.2013). Es sei "merkwürdig: Obwohl Regisseur Peter Stein auf die clowneskere Urfassung von Beckett zurückgreift, obwohl er dem Text getreu bis in die Regieanweisungen folgt, schaut man auf diese 1,5-stündige Beckett-Bedeutungsschau nie mit tieferem Interesse oder gar existentieller Betroffenheit. Der Zahn der Zeit hat doch mächtig an Becketts Textkonstruktion genagt und lässt einen fast denken, das Stück sei einst doch arg überschätzt worden." Es sei zwar "virtuos, wie Brandauer durch Krapps Erinnerungen tobt", aber es bleibe "immer aufgesagte tiefere Bedeutung und vorgezeigtes Mimenspiel."

Eigentlich müsste "weißer Rauch über der Schinkelkirche aufsteigen: Habemus Popanz", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (18.3.2013). "Die Existenz ist ein Witz ohne Pointe, wer hätte das besser als Beckett gewusst. Aber die fatale Setzung Steins – das Grotesk-Absurde des fortschreitenden Selbstverlustes in Clownsgestalt zu entäußern – verleiht dem Abend den Appeal einer Zaubervorführung auf der Geriatriestation. Wie soll denn die abgründige Komik spürbar werden, wenn man diesen Krapp nicht mehr ernst nehmen kann? Geschenkt, dass Brandauer ein großer Schauspieler ist."

Peter Stein möge Brandauer inzwischen "so gern, dass er ihm das Stück als rustikalen Virtuositätsvorzeige-Setzkasten hinstellt, den Brandauer nur noch zu bestücken braucht", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau (18.3.2013). "Wobei die einzige Virtuosität, die hier zum Ausdruck kommt, Brandauers Selbstdarstellung ist. Die hat er drauf. Er überzieht alles, was er tut, mit seinem Stolz, seinem Ruhm und seiner Einzigartigkeit. Brandauer spielt nicht, er brandauert. Alles − Gehen, Stehen, Blicken, Sprechen, Schmatzen, Rotzen, Husten, Sackkratzen − wird zum Brandauer-Markenprodukt." Und so brandauere er "anderthalb Stunden lang. Und dann brandauert endlich der Applaus auf. Da kann ein Kritiker noch so herumseidlern."

"Wie der Lebensgeist in den deregulierten Zellhaufen zurückkehrt und ihn zu einem einigermaßen strukturierten Individuum werden lässt", diesen Anfang des Stücks gestalte Brandauer "als eine Szene von faszinierend überwältigender Magie", jubelt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (18.3.2013). "In der schmerzhaft genauen Studie von Verfall, Verzweiflung und mitunter ein wenig Schalk und Freude wächst er über sich hinaus, was neben seinem enormen Können natürlich an der famosen Regie von Peter Stein liegt." Brandauer erspiele "sich und uns" Becketts Monodram "als tieftraurige Parabel über die Vergänglichkeit aller Dinge." Es sei leicht, "dieses hustende, greinende, schniefende, keifende, ziemlich unappetitliche Riesenbaby für eine schrullige Witzfigur mit schönen Händen zu halten. Bei genauerer Betrachtung allerdings bündeln sich in ihm all die Berichte von Demenzkranken, die seit einer Weile durch die Medien gehen und in Becketts Monolog bereits vorscheinen. Alt, schwach, krank und senil wird Krapp zum zerrütteten Albträumer seines eigenen Lebens."

Brandauer und Stein zwängen das Publikum "zu einer geradezu andächtigen Stille, indem sie bestimmt zwanzig Minuten lang kein einziges Wort fallen lassen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.3.2013). "Das ist insofern ungemütlich, als es die Zuschauer aus ihrem gewohnten Zeitempfinden, aus ihrem vertrauten Theaterrhythmus reißt und zu einer ganz anderen Konzentration und Hinschaugenauigkeit auffordert." Die Pantomimen und Slapstickszenen seien "eindeutig Clownsnummern – nur eben keine schnellen, zündenden, auf laute Lacher getrimmte, sondern bis zur Nervenstrapaze ausgereizte, die man in ihrer betonten Langsamkeit und Behäbigkeit aushalten können muss." Brandauer betreibe "in aller Ungefälligkeit auch eine Alterskauzstudie, da ist jedes Schniefen genau gesetzt". Das "Bezwingende an diesem altersschweren Abend" sei, dass "dieser vor sich hin brabbelnde, von einem Menschen mit Aussicht auf Glück zum starrsinnigen Monsterclown mutierte Krapp kein Publikum zu brauchen" scheine, so tief drin sei er in seinem ureigenen Ritual, gefangen in einer rückhaltlosen Einsamkeit."

Äußerlich folge der Abend weitgehend der Vorlage, analysiert Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19.3.2013). "Aber jeder Ton ist falsch. Jede Geste ist nichts als Getue. Jeder Blick ist aufgesetzt, inwendig hohl." Es sei, "als sähe man ein billiges Brandauer-Plagiat", nicht zu vergleichen mit jenem, der im "Zerbrochenen Krug" ein "dampfendes, irrwitziges Theatergrosskönigtum zu errichten vermochte. Hier ist er der Hauptdarsteller eines Desasters."

Kommentare  
Das letzte Band, Neuhardenberg: Link
... das war für mich groß..artig !!!

http://www.muenchner-kammerspiele.de/programm/das-letzte-band

(Der Link führt zu der Aufführung mit Josef Bierbichler in der Regie von B.K. Tragelehn. Bemerkenswerterweise hatte diese Produktion 2007 ebenfalls in Neuhardenberg in der Schinkelkirche ihre Premiere. Anm. wb)
Das letzte Band, Neuhardenberg: die Clownsnase
Man sollte Peter Stein wirklich nicht unterschätzen. Krapps "purple nose", die rote Clownsnase, ist kein "blöder Regieeinfall", sondern stammt von Beckett selbst (vgl. Beckett, Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Ausgabe in einem Band. Suhrkamp 1981, S. 84.) Erst Jahre später hat Beckett die äusserlichen Clown-Reminiszenzen getilgt. Überdies: Wer sah, wie gierig Martin Helds Krapp 1969 in Becketts Berliner Inszenierung die Banane verschlang, konnte durchaus auf phallische Gedanken kommen.
Peter Müller
Das letzte Band, Neuhardenberg: Regisseur und Kritiker
Lieber Wolfgang Behrens,

ich glaube, da haben sie etwas missverstanden, das starke Gefühl geht ja von Stein aus, er empfindet Feindschaft gegenüber Kritikern, unterstellt dabei aber nicht, das Kritiker das Selbe empfinden; und sie sagen es ja, sie empfinden Desinteresse, welches bei Stein starke Gefühle auslöst und nicht umgekehrt. In dem Sinne ist ja die Theaterwelt auch weiterhin ganz in Ordnung.
Das letzte Band, Neuhardenberg: SZ-Kritik
Eine Anmerkung bzw. eine Frage zur Kritik der Süddeutschen Zeitung: Christine Dössel hat über und mit Klaus Maria Brandauer ein Buch veröffentlicht: "Klaus Maria Brandauer. Die Kunst der Verführung", Residenz Verlag 2006. Ist da die Unabhängigkeit einer Kritik nicht zumindest gefährdet? Sollte die Süddeutsche Zeitung so etwas nicht offenlegen?
Das letzte Band, Neuhardenberg: großartig realisiert
Lieber Wolfgang Behrens!
Sie irren (leider) gewaltig!
EIN KRITIKER IST
KEIN (freier)
ZUSCHAUER!

Was in der Ihren und vielen deutschen Kritikern schmerzlich durchschimmert, ist diese kleinliche tiefdeutsche Abneigung gegenüber zweier großer deutscher Künstler. Brandauer/Stein aber haben Becketts Krapp großartig reanimiert.
Das letzte Band, Neuhardenberg: Schadensbegrenzung
Hallo !
Entschuldigung, ich habe dieses Stück bisher zweimal gesehen und beide Male war es leider sehr, sehr langweilig, obwohl der Darsteller , wie auch dieses Mal, ein sehr guter Schauspieler war. Wie ist es dieses Mal? Die Kritiken und Kommentare klingen eher wie Schadensbegrenzung aufgrund irgendeines Missverständnisses.
Das letzte Band, Neuhardenberg: einfach mal aufklären
@ Peter: Diesen Satz höre ich jetzt bereits zum gefühlten 100sten Mal, "aufgrund irgendeines Missverständnisses". Wie wäre es denn, wenn man dieses einfach mal aufklären würde, anstatt beredt darüber zu schweigen?
Das letzte Band, Neuhardenberg: nicht langweilig
Hallo Inga !
Soll ich das aufklären was ich meine ? Sollen die das klären was sie meinen ?
Oder wollen Sie mir erklären was Sie meinen. Ich sehe hier in dem Blog Sie sind durchaus engagiert im Klären.
Das Missverständnis das ich meine ist wenn Menschen meinen es reicht dass Sie es tun. Es könnte ja auch, ich weiß auch nie wie, irgendwie spannend sein. Zumindest nicht langweilig. Aber das können Sie mir bestimmt erklären !
Gruß
Das letzte Band, Neuhardenberg: Nachfrage
Seit wann ist Klaus Maria Brandauer denn Deutscher?
Das letzte Band, Neuhardenberg: ein Steirer
@carla haber: Einem Interview entnahm ich vor einiger Zeit, dass Herr Brandauer eigentlich Steirer sei, aber mit österreichischem und deutschem Pass. Wie auch immer es dazu gekommen sein mag.
Das letzte Band, Neuhardenberg: Mega-Glashaus
Sehr geehrter Herr Behrens,

es ehrt Sie ja durchaus, dass Sie schon selbst darauf hinwiesen:
Wenn Sie Ihre Vorurteile (und die Ihres Sie offensichtlich beeinflussenden Umfeldes) nicht zu Hause lassen können, bleiben Sie doch bitte in Zukunft selbst zu Hause.
Ihre Kritik verströmt aus jeder Pore die Selbstgefälligkeit der Behauptung zu wissen wie es sein muss, dass früher das alles - hach der Minetti! - natürlich viel besser war, und vor allem der Gewissheit, das natürlich auch schon vorher gewusst zu haben, hätte man doch nur auf die mitleidigen Freunde gehört...
Aus dieser Haltung heraus begehen Sie die gleichen Fehler, die Sie Stein und Brandauer unterstellen wollen. Mit Ihrem aufgesetzten Besserwissertum setzen Sie sich unrettbar ins Mega-Glashaus mit getönten Scheiben, dadurch zwangsläufig unfähig zu auch nur einer glaubwürdigen Zeile über das, was Sie dort gesehen haben wollten. Schicken Sie doch die nächsten Male bitte, bitte einen Kollegen ins Theater, der sich zumindest prinzipiell vorstellen könnte, sich für die dargebotene Sache zu interessieren. Der dadurch entsprechend legitimiert wäre, Herrn Stein eventuell ähnliches vorzuwerfen, wie Sie es tun, oder wie ich es gerade Ihnen gegenüber tue. Oder aber - horribile dictu - eventuell sogar am Gesehenen einigen Gefallen finden könnte. Oder sich wenigstens das (...) selbstherrliche Gelaber Ihres Postscriptum verkniffen hätten.

In hochachtungsvoller Enttäuschung.
Das letzte Band, Neuhardenberg: PS zum PS
Sehr geehrter Wasti,

wenn mein Postscriptum den Eindruck erweckt haben sollte, ich sei bereits mit üblen Vorurteilen nach Neuhardenberg gefahren, dann tut es mir leid. Wobei ich immerhin darauf beharren möchte, dass jeder mit bestimmten Erwartungen in eine Aufführung geht (so wie auch jeder, sicherlich auch Sie, von seinem Umfeld beeinflusst ist, darin sehe ich nichts Schlechtes) und insofern mit einer gewissen Art von Vorurteil ankommt: Man kann sich ja nicht qua Willensanstrengung in eine tabula rasa verwandeln. Übel wird es erst dann, wenn man von Vornherein die Vorurteile gegen jegliche Revision zu panzern sucht. Letzteres ist aber wohl das, was Sie mir vorwerfen.

Vielleicht werden Sie es mir nicht glauben, aber ich habe mich auf die Aufführung gefreut. Ich habe von Peter Stein Gelungenes und weniger Gelungenes gesehen, ich war begeistert von seinem italienischen "Titus Andronicus", ich war sehr angetan von seinem "Kirschgarten", ich fand viel Gutes (allerdings auch sehr Schwaches) in seinem "Wallenstein". Ich hatte also keinen Grund zu der Annahme, dass ich in Neuhardenberg zwangsläufig enttäuscht werden würde. Die Enttäuschung war eine a posteriori.

Und ich bilde mir ein (vielleicht werden Sie das wieder als selbstherrlich einstufen), mein Urteil auch begründet zu haben: Es leitet sich her von der m.E. übermäßigen Betonung des schauspielerisch Gemachten, der - wie ich es nannte - "kalkulierten Virtuosität" -, die die Krapp-Figur, den Menschen, um den es geht, zum Verschwinden bringt.

Dass früher alles besser war, behaupte ich nicht. Ich habe nach derjenigen mit Minetti weitere Aufführungen des "Letzten Bandes" gesehen, die ich sehr geschätzt habe: die mit Sepp Bierbichler, eine mit Friedhelm Ptok. Die Erinnerungen zur Minetti-Aufführung stellten sich deswegen ein, weil diese den vielleicht schärfsten Kontrast zu dem bot, was man bei Brandauer erleben konnte - bei einem grundsätzlich verwandten Ansatz.

Übrigens habe ich in meinem Umfeld (von dem ich mich nach wie vor nicht isoliere) einen Bekannten, der seit den 1970er Jahren ein großer Peter-Stein-Fan ist. Er hat die Vorstellung einen Tag nach mir besucht, hatte keine Kenntnis von meiner Kritik und und kam - trotz liebendem Blick - zum selben Ergebnis wie ich. Seine eindeutig positive Voreingenommenheit konnte ihn vor der Enttäuschung nicht bewahren.

Ich weiß, dass ich Sie nicht werde überzeugen können, sehr geehrter Wasti. Und es ist Ihr gutes Recht, an Brandauers Darstellung Gefallen zu finden. Mich würde allerdings wirklich interessieren, wie Sie dieses Gefallen in Worte fassen würden: Was hat Ihnen gefallen?

Mit hochachtungsvoller Neugier
Das letzte Band, Neuhardenberg: Wikipedia weiß
Klaus Maria Brandauer, eigentlich: Klaus Georg Steng, 22. Juni 1943
in Bad Aussee, Steiermark, ist ein österreichischer Schauspieler und
Regisseur, der auch am Max Reinhardt Seminar in Wien lehrt.

Ob er nun ein großer deutscher oder österreichischer Künstler ist -
Das letzte Band, Neuhardenberg: Wikipedia weiß mehr
Brandauer trägt mehr amerikanische Kritikerpreise als irgendein anderer deutschsprachiger Filmschauspieler.
Bestens in (Film)Erinnerung in der Verfilmung des Klaus Mann-Buches "Mephisto", in der Rolle des Hendrik Höfgen. 1982 Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Das letzte Band, Neuhardenberg: noch zwei Österreicher
Und jetzt ganz aufgebläht vor nationalem Stolz:
Christoph Waltz - zwei Oscars! -
und auch, ich kann es nicht verhindern:
Arnold Schwarzenegger, zwar nicht oscarverdächtig, aber . . .
Das letzte Band, Neuhardenberg: ein Trend der Zukunft
Bei der angeklebten Nase des Propheten. Von den hier genannten ist leider nur Schwarzenegger ein lupenreiner Österreicher. Brandauer wie auch Waltz besitzen beide deutsche Väter. Wenn man schon googelt dann auch bitte auch gründlich. Aber beides ist auch so bekannt und Deutschland darf sich neben dem Oscar für Emil Jannings auch zur Hälfte über die beiden von Christoph Waltz freuen. Außerdem stehen jeden Abend viele Österreicher in Deutschland oder umgekehrt Deutsche in Österreich auf der Bühne, von den Regisseuren ganz zu schweigen. Da möchte sicher kein Österreicher die Rechnung aufmachen. Der Oscar für „Mephisto" ging übrigens an eine deutsch/ungarische Koproduktion mit einem ungarischen Regisseur. Nämlich dem großen István Szabó, der im Februar seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Das gleiche gilt für „Die Fälscher“ von Stefan Ruzowitzky, eine deutsch/österreichische Koproduktion. Und das ist das eigentlich Wichtige, dass Filmkunst über Grenzen hinaus Gültigkeit besitzt. Wie im Film so auch im Theater, ein Trend der Zukunft. Aus der Not des fehlenden Geldes heraus, wächst Europa zumindest in der Kunst zusammen, auch nationalen Bestrebungen zum Trotz, oder gerade deswegen.
Das letzte Band, Neuhardenberg: geradezu anrührend
Lieber Wolfgang Behrens,
was mir schon mehrmals aufgefallen ist, möchte ich Ihnen nun auch mal schreiben: Ich finde Ihre Art, wie Sie den wütenden Kommentatoren antworten (jetzt "wasti"), sehr, wie soll man sagen - sehr gut, sehr ehrholsam. Obwohl Sie inhaltlich immer klar bei Ihren Positionen bleiben, ist Ihre dann bemüht faire, ausführliche und komplett unzynische und unbeleidigte Art auf jeden auch noch so hämischen Vorwurf zu antworten, geradezu anrührend. Und es überzeugt mich am lebenden Fall immer wieder davon, wie sinnvoll eine Seite wie nachtkritik sein kann: Daß man mit dem Kritiker in einen Dialog kommt, daß sich die Leute austauschen, sich bestenfalls annähern oder inspirieren.
Daß Ihr Ton und Ihre Art zu debattieren kaum aufgegriffen wird, sollte Sie nicht entmutigen. Bleiben Sie so fair - und so hochachtungsvoll neugierig.
Entschuldigen Sie das Pathos. Es mußte mal sein.
Das letzte Band, Neuhardenberg: zweifelhafte Friedens-Prophetie
@ 16

Stefan, ist das Ihr Ernst: Europa wächst so zumindestens in der Kunst
zusammen ? Ob angeklebte oder nicht-angeklebte Nase, gesellen Sie sich da nicht ein wenig eilfertig zu den Propheten, die "Friede, Friede" rufen, doch es ist kein Friede ?? Istvan Szabos Filme: es war schon desöfteren die Rede von ihnen: auch ich bin von manchem dieser sehr beeindruckt, gerade auch vom "Mephisto". Aber, da Sie hier schon eine Bande zu den diversen Threads um Ungarn und Gründgens aufmachen, wäre es da nicht auch angebracht, statt lediglich vom "großen Szabo" zu schwärmen, auch den "jungen Szabo" nicht ganz unter den Tisch fallen zu lassen ? Kennen Sie "Kepesi" ?? Künstler als "Schmuckstücke, Spielzeuge, Puppen" in den Zeiten von Diktaturen (Spiegel-Interview 1991) ?! Die Frage nach Gründgens oder Furtwängler ist nicht minder auch eine Frage nach Istvan Szabo selbst. Und so können wir fortfahren und fragen, was denn wäre, wenn Afföldis Vertrag fürs Nationaltheater verlängert worden wäre, statt hier stolz oder halb-stolz auf Voll- oder Halbösterreicher (oder wie immer das nennen) zu sein ! Hätte er ob des das Stadtzentrum bedrohlich ansteuernden Schiffes, das Assoziationen zwischen Arche und Seeräuber-Jenny-Schiff zuläßt, nicht von selbst kündigen müssen, dieser Nation kein Feigenblatt liefernd, und würde Frau Slevogt den Bau dann immernoch so schrecklich finden (die schönsten traditionellen Kaffeehäuser sind hier mitunter Mc Donalds-Filialen, direkt am Eiffel-Bahnhof zu bewundern, schon lange; warum dann nicht Disney ??) ?? Wie schon im Nachbarthread festgestellt, ich habe nicht den Eindruck, "man" will sich hier auch wirklich mit unangenehmen und verwickelten Geschichten auseinandersetzen. Frau Slevogt zeigt ihr typisches Naserümpfen gen 1900, wie hält sie es nur stundenlang auf Plüschsesseln aus hin und wieder, und dem, was sie so unter bürgerlicher Fassade und Reaktion versteht (sie ist hier bereits mehrere Male vorgeprescht und Herr Merck war dann leidlich mit dem "Rechtfertigen" beschäftigt), und verbindet dies mit einem Anliegen für alle honorable man hier auf dieser Seite; wir sondern brav Lippenbekenntnisse ab oder kritteln ein wenig an den in der Tat von Herrn Baucks dahingeschluderten Sätzen , voten down, voten up
und sind alle fürchterlich demokratisch. Wer glaubt, daß so zusammenwachsen kann, was zusammengehört (Europa ? Welches ??), der werde selig ! Frohe Ostern !.
Das letzte Band, Neuhardenberg: nichts zu entschuldigen
Lieber Peter,

seien Sie versichert, dass ich bei dieser Form des Pathos nichts, aber auch gar nichts zu entschuldigen habe.

Es grüßt herzlich
Das letzte Band, Neuhardenberg: Szabó und Co.
Lieber Arkadij,
ich lasse nichts bewusst unter den Tisch fallen. Sicher würde, wenn die Geheimdiensttätigkeit von István Szabó eher bekannt geworden wäre, der Schatten des Makels und das Erstaunen darüber etwas geringer ausfallen als jetzt. Nun, soviel ich weiß, wurde Szabó als 19jähriger Student gezwungen Berichte zu schreiben. Das entschuldigt erst einmal nichts. Aber die meisten seiner Kollegen wussten davon, da er es ihnen schon damals gesagt hat. Die Aussagen beruhen auf Recherchen eines ungarischen Journalisten aus dem Jahre 2005. Man kann dem jetzt Glauben schenken oder nicht. Ein Beweis mehr, dass Diktaturen einen Menschen verbiegen können, auch Künstler. Es gibt genügend Beispiele dafür in der Geschichte. Ob das aber die Dimensionen eines Falls wie z.B. bei Herta Müller und Oskar Pastior hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Aufarbeitung der Stasiakten im ehemaligen Ostblock ist durchaus als katastrophal zu bezeichnen. So etwas wie Stasiunterlagenbehörden gibt es da meist gar nicht. In Russland ist ja sogar ein ehemaliger KGB-Offizier Staatspräsident und Regierungschef in Rotation. Mit Furtwängler, Jannings oder Gründgens würde ich das aber nicht unmittelbar vergleichen wollen. An der sonstigen Haltung und am Werk Szabós ändert diese Tatsache auch nicht viel. Man muss den Makel eben immer mitdenken. Szabó hat sich aus der aktuellen Debatte um Ungarn so ziemlich zurückgezogen. Viele erwarten vielleicht da etwas, zumindest dürfte er mit der Entwicklung dort auch nicht ganz einverstanden sein. Ich wäre auch gar nicht auf Szabó zu sprechen gekommen, wenn es hier nicht um „Mephisto“ gegangen wäre und deutsch/österreichische Oscars. Einen Mephisto würde ich auch nicht in István Szabó sehen.
Aber zurück zum Friede-Freude-Eierkuchen-Vorwurf. Im Filmgeschäft ist es tatsächlich so, dass es vielen Regisseuren fast nur noch internationale Koproduktionen ermöglichen, überhaupt noch Filme machen zu können. Und ich rede da nicht nur über internationale Großproduktionen wie „Cloud-Atlas“ oder „Das Parfum“, um mal bei einem deutschen Regisseur zu bleiben. Im Theater gibt es das aber auch. Zum Beispiel „Three Kingdoms“ von Sebastian Nübling ist ein solches Werk. Er hat damit nicht unverdient Erfolge gefeiert. Ich habe das jetzt etwas überspitzt verallgemeinert als Zukunftsvision. Das hat nichts mit unreflektierter Seligkeit zu tun. Ich denke, ich setze mich schon kritisch genug mit dem Thema Europa und der Rest der Welt auseinander. Was Sie zum Thema Afföldi und dem Beitrag von Esther Slevogt schreiben, kriege ich allerdings nicht ganz in den Zusammenhang. Vielleicht erläutern Sie das an andere Stelle noch etwas genauer.

Ebenfalls beste Ostergrüße aus dem winterlichen Berlin,
Ihr Stefan
Das letzte Band, Neuhardenberg: Kritikergrillen
Lieber Herr Behrens,
verzeihen Sie bitte, dass meine Antwort weniger schnell kommt als die Ihre, aber da sich mein Berufsfeld typischerweise ausserhalb von nachtkritik.de befindet, kann ich hier nur phasenweise lesen und schreiben.
Was bedauerlich ist, ihre Antwort bestätigt so fulminant meinen Standpunkt, dass ich dieses schon längst hätte dargelegt haben wollen. Aber besser spät als nie:
Sie haben sicherlich recht, dass der gemeine Theaterbesucher durch Vorurteile eigener Provenienz sowie derer, die ihm sein Umfeld zutrug, geprägt sein dürfte. Und es wird auch jeder mit sich selbst ausmachen müssen, wieviel er davon in den Besuch einer Vorstellung mitnimmt, oder lieber an der Garderobe abgibt. Meine private Erfahrung ist allerdings, - und ich sehe dahinter durchaus eine verallgemeinerbare Logik - dass ich, je mehr ich mich solcher Vorbelastungen entledigen kann, einfach mehr von Abend habe. Nicht, dass es mir deswegen automatisch besser gefiele, - obwohl das vorkommt - aber auch bei Nichtgefallen stellen sich mehr Erkenntnisse ein, warum, oder sogar wozu eine Veranstaltung scheitert, und woran. Man ist ja einfach näher an der Sache dran.
Alles andere führt ja auch dazu, dass man woher schon denkt, man wüsste - mehr oder weniger - was das Gesehene sein würde (auch wenn man nicht weiß, wie es aussieht), und vor allem, wie das einzuschätzen sein würde.
Dass Sie mit Vorurteilen nach Neuhardenberg gefahren sind, bestreiten Sie ja gar nicht, und - anders als Ihre Antwort suggeriert - schon im ersten Absatz plaudern Sie freimütig darüber. Was Ihnen als Privatperson selbsverständlich freigestellt wäre, steht Ihnen aber als Kritiker im Weg. Und da ich ja hier nicht unterstellen will, dass Sie Ihre privaten Grillen per se für wichtiger halten, als den geneigten Leser darüber zu informieren, was man Ihrer Meinung nach vom Abend halten könnte, denke dass Sie und Ihre Kollegen gut daran täten, im Auge zu behalten, dass es auch Personen gibt, die - rein zufällig - nicht exakt Ihre privaten Vorurteile mitbringen, sondern vielleicht keine oder andere. Und dass Ihre Vorgefasstheit ja auch eventuell den Blick auf die Sache vernebelt haben könnte. Und dadurch letztlich rätselhaft bleibt, ob Herr Stein eventuell tatsächlich in die eine oder andere Falle getappt sein könnte, oder ob Sie das nur gesehen haben wollten, oder ob das nur so scheint, wenn man mit Ihrer Vorprägung in der Premiere sass. Wobei ja bekannt ist, dass die geballte Anwesenheit von Kritikern selten zu Premieren verhilft, die besser sind, als "normale" Vorstellungen. Was selbstverständlich auch mit Vorurteilen der Darstellern bezüglich der Vorurteile von Kritikern zu tun hat. Kein Wunder, denn diese selbst haben zu dürfen maßen Sie sich ja an und verteidigen das auch. Die Sie - zumindest potenziell - der Glaubwürdigkeit und Legimitation berauben, das eigentliche Ergebnis der Arbeit von Herrn Stein - gerne auch kritisch - zu beurteilen. Und die Sie sogar mir gegenüber haben offensichtlich Vorurteile, die Sie zu einer Reihe von Missverständnissen führen:
Ich habe nicht behauptet, dass ich Herrn Stein nicht etwas ähnliches vorwerfen könnte wie Ihrer Kritik (obwohl ich da wesentlich differenzierter vorgehen müsste und würde).
Ich habe nicht behauptet, dass mir der Abend automatisch gefallen habe müsste, nur weil ich Ihre Kritik unglaubwürdig fand.
Ich habe auch nicht behauptet, dass positive Voreingenommenheit ein glaubwürdigeres Bild erzeugen würde. Ihr Freund (der 70er-Jahre Stein-Fan) tappt doch in die gleiche Falle wie Sie! Wie kann man auch nur auf die Idee kommen, ein Mensch wie Peter Stein würde nach 40 Jahren noch das gleich machen wie in den 70ern??? Seine Enttäuschung könnte er - theoretisch - auch schlichterdings so erzeugt haben!
Ich weiß auch nicht woher Sie die Gewissheit nehmen (eigentlich ist das eine Frechheit, mal so ganz nebenbei!!), ich sei nicht zu überzeugen? Es sei denn, - mal rein logisch gedacht - man müsste unterstellen, Ihnen wäre bewusst, dass Sie Ihr Vorgehen nicht argumentativ verteidigen können? Alles andere wäre ja das implizite Vorurteil, ich sei per se verbohrt? Woher wollten Sie das wissen?
Das letzte Band, Neuhardenberg: Vorurteilspanzersystem
... Und wenn Sie mich abschliessend mehr oder weniger einladen, eine eigene Kritik zum Gesehenen zu verfassen (mal davon abgesehen, dass wir nicht in der gleichen Vorstellung waren), woher sollte ich jetzt wissen, dass Sie nicht vom gleichen Vorurteilspanzersystem ähnlich missverstanden wird, wie meine erste Antwort?
Auch meine Sicht auf die Dinge ist nicht zwangsläufig vorurteilsfrei, das will ich nicht behaupten. Aber ich arbeite daran. Und schreibe vor allem solange keine Kritiken!
Das letzte Band, Neuhardenberg: inhaltlich verteidigen
Werter Wasti,

der vorurteilsfreie Zuschauer, das unbeschriebene Blatt? Wer oder was soll das sein? Ich kann es mir nicht vorstellen.

Interessanter wäre es, wenn hier mal jemand inhaltlich / mit Argumenten den Abend verteidigen würde.

Schöne Grüße,
Rufus
Das letzte Band, Neuhardenberg: Gebot der Ehrlichkeit
Sehr geehrter wasti,

ich vermute (denn ich möchte Ihnen diesmal nichts unterstellen, obwohl sich mir fast der Eindruck aufdrängt, auch Sie unterstellten mir durchaus einiges), dass wir einfach zwei sehr verschiedene Ansichten über Kritik haben. Sie suggerieren, dass ein Theaterbesucher bzw. ein Kritiker seine "Vorbelastungen", wie Sie es nennen, an der Garderobe abgeben und gänzlich frei - was immer das heißen mag - einen Abend sehen könne. Ich würde eher von Prägungen sprechen, und ich glaube, dass diese keiner eben mal im Foyer abstreifen kann. Wie sollte das auch gehen, denn der menschliche Geist insgesamt ist doch durch seine Erfahrungen und auch durch seine Meinungen vorgeformt. Das heißt nicht, dass ich mir nicht eine grundsätzliche Offenheit in der Bewertung bewahren kann, aber das, was ich Neues erfahre, wird zwangsläufig auf irgendeine Weise in das Raster eingefügt und in dieses vielleicht auch ein wenig eingreifen, indem es es verändert und verschiebt.

Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass man keine Kritiken schreiben sollte, wenn man Vor-Erfahrungen, Vor-Wissen, Vor-Urteile mitbringt. Dann aber, so meine ich, könnte niemand Kritiken schreiben. Ich halte es - von meinem Standpunkt aus gesehen - für ein Gebot der Ehrlichkeit, etwas von den Voreinstellungen, mit denen ich (als Kritiker oder als über das Gesehene redender Zuschauer) in eine Aufführung gehe, preiszugeben, damit die Leserin oder der Leser weiß, woher ich komme, auf Grundlage welcher Erfahrungen ich mein Urteil begründe. Tue ich dagegen so, als wäre ich die tabula rasa, die rein objektiv an die Sache herangeht, belüge ich die Leser, weil ich mir so gewissermaßen ein absolutes Urteil anmaße, das ich nur aus der Aufführung gewonnen zu haben behaupte. Letzteres aber - das ist das A priori, von dem ich ausgehe - ist nicht möglich.

Was die Glaubwürdigkeit meiner Kritik angeht: Ich halte sie für glaubwürdig (das ist an sich ein ziemlich irrer Satz, nicht? "Ich halte mich für glaubwürdig!"), denn sie entspricht dem, was ich gesehen und darüber gedacht habe. Das habe ich mitgeteilt, und ebenso glaube ich angedeutet zu haben, aus welchem Erfahrungshorizont ich schöpfe. Andere haben einen anderen Erfahrungshorizont und urteilen daher anders. Und jetzt - nicht zuletzt deswegen gibt es nachtkritik.de - kann das Gespräch beginnen, denn das Kunstwerk wird ja auch dadurch mit konstituiert, indem man sich darüber austauscht. Insofern finde ich es schade, dass Sie meinen Vorurteilspanzer nicht mit einer eigenen Kritik zu durchdringen versuchen, denn neugierig bin ich noch immer.

Es grüßt
Das letzte Band, Berlin: zu Tode parodiert
Becketts Verlorenheitsszenario wird nicht einmal in homöopathischen Dosen verabreicht, es wird derart zu Tode parodiert, dass es sich bald heimlich, still und leise verabschiedet und die Bühne dem komischen alten Clown mit dem wirren Haar überlässt. Der aus den Träumen des jüngeren ich, der verlorenen und verstoßenen Liebe, der jugendlichen Hybris, das eigene Leben selbst gestalten zu wollen, eine Lachnunmmer macht, die nicht einmal mehr zum Lachen ist. Nun ist der Clown tatsächlich eine Figur, die der jüngere Beckett immer wieder zitierte, als Ausdruck der grotesken Sinnsuche, in die er seine Welt sich verstricken sah. Bei Stein und Brandauer wird sie zum Selbstzweck. Ihr Krapp ist kein Sinnsucher, er ist die Rolle eines Varietékünstlers, der seine Mätzchen macht und ein Vehikel für den Schauspielstar, sein zweifellos vorhandenes Können zu zeigen. Und so ist Brandauers Spiel unerträglich eitel und ichbezogen, fällt Steins Hybris, den echten Beckett zeigen zu wollen, in sich zusammen. Wobei die einzige wirkliche Ironie des Abends vielleicht darin liegt, dass er eben doch nichts anderes ist als das, was er zu bekämpfen vorgibt: Regietheater. Nur eben erschreckend schlechtes.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/09/27/absichten-eines-clowns/
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