Grüezi Shanghai

von Annette Hoffmann

Basel, 16. März 2013. Es gibt Drachen, Affen und Schlangen. Wir sind Schweine. Die Wasserbüffel auf den Aufklebern sehen ein bisschen wie schwarz-weiß gescheckte Milchkühe aus. So viel chinesisch-schweizerische Gemeinsamkeit muss dann doch sein. Seit fünf Jahren unterhalten Basel und Shanghai eine Städtepartnerschaft. 3300 Schweizer leben in der Metropole. Und es sollen mehr werden. Wir sind hier, um uns in einem Crashkurs auf die Arbeitsbedingungen in China vorzubereiten. Die Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und der aufstrebenden Wirtschaftsmacht gelten als pragmatisch; was bedeutet, dass sie auf die Ökonomie ausgerichtet sind. In Gruppen aufgeteilt, kenntlich gemacht durch niedliche Tieraufkleber, verbringen wir einen Theaterabend im Transitbereich der Baseler Hotel Dorint.

Das von Antje Schupp inszenierte Theaterstück Gesine Schmidts "Expats. Eidgenossen in Shanghai" lotst uns hier von der Tiefgarage bis in den fünften Stock durch neun Stationen. In Shanghai wären es locker 21 Etagen, auf Lehmboden gebaut. Üblicherweise heißen Basler Konferenzräume Bern, Schaffhausen oder Wallis, in diesem Kontext sind sie umbenannt Mekong und Gelber Fluss. "No Spitting", nicht Spucken, warnt ein Schild. Auf den Gängen kommen wir während des dreistündigen Parcours an Fototapeten mit den Balkonen einer Trabantensiedlung vorbei, an unzähligen Hockern mit Bärchenmotiv und einem Kiosk, wo man Grüntee, Instantnudeln und Pflaumenstreifen erstehen kann. Bereits im Foyer umsäumten die Abendkasse mehrere Reihen von winkenden Glückskatzen. Immer mal wieder geistert ein scheuer Pandabär durch die Szene. Mehr Asiakitsch geht nicht.

Zwischen Überforderung und Selbstüberschätzung

Für "Expats. Eidgenossen in Shanghai" hat Gesine Schmidt in der Schweiz und in China recherchiert. In Shanghai hat sie Interviews mit aus der Schweiz dorthin emigrierten Ärztinnen, Managern, Architektinnen, einem Konsul und einem Seelsorger geführt. Diese von Schauspielern gesprochenen Texte spiegeln eine Gefühlslage aus Überforderung, Selbstüberschätzung und der trügerischen Gewissheit Avantgarde zu sein. Das ist unterhaltsam und kurzweilig, zumal sich Widersprüche und Ressentiments eher nebenbei enthüllen, ohne die Figuren allzu sehr zu denunzieren.

expats 560b judithschlosser uDer Heimat die (Fahnen)Stange halten © Judith Schlosser

Da wären Nikki und Florian (Mareike Sedl, Johannes Schäfer), die die Zuschauer in einem Hotelzimmer mit Käsewürfeln, in denen die Schweizer Flagge auf Zahnstochern steckt, Popcorn und Sekt empfangen. Beide sind Mitte 40, sie arbeitet als HNO-Ärztin, er ist für das Controlling einer Firma zuständig. "Der Schritt nach China ist der größte, den man machen kann", gibt er sich überzeugt. Zuhause praktizieren sie eine "China-freie Zone" und verzichten auf die Dienste einer Haushälterin. Über der Frage, ob die Chinesen wie die Schweizer regiert werden können oder ob es einfach zu viele sind, scheiden sich die Geister. Eine Tür schlägt zu. Leben und Arbeiten im Ausland bringt auch lang gehegte Selbsteinschätzungen ins Wanken.

"Es wird viel überwacht"

Mitunter bricht sich das Dokumentarische am hohen Erregungspotential der Darsteller. Da echauffiert sich die Turnaround-Spezialistin Astrid (Ariane Andereggen) über die Arroganz der Westler, die den chinesischen Markt nicht verstehen und gibt die Animateurin. Dann wiederum scheinen Personen auf, wie die Architektin (Mareike Sedl), die im Businesskostüm gegen den Shanghaier Lehmboden und unfähige Baufirmen ankämpft. Post-it-Zettel kleben an der Kopfseite ihres Bettes, die Packung Aspirin liegt ebenso griffbereit wie der Plan des aktuellen Projekts. Und da ist der Konsul Ludwig (Andrea Bettini), der auf die Imagebroschüre "Grüezi Shanghai" hinweist und sich mit der Kontrolle des Privatlebens arrangiert hat. "Es wird viel überwacht – es ist gezielt", gibt er zu bedenken und schaut skeptisch an die (verwanzte) Decke.

Viel ist von Isolation, Einsamkeit, vor-emanzipatorischen Geschlechterverhältnissen und Statusdenken die Rede. Politisch wird es, wenn aus den Erzählungen der Geschäftsführerin Ju deutlich wird, wie schnell sich das Land verändert hat oder wenn der Bereichsleiter Cheng (im Video: Kong Xian Chu) im Gegenzug die Schweizer beurteilt und sich wegen 30-prozentigen Gehalterhöhungen jährlich als Angehöriger einer "Glücksgeneration" bezeichnet. Während die Glückskatzen immer weiter winken.

Expats. Eidgenossen in Shanghai (UA)
von Gesine Schmidt
Regie: Antje Schupp, Dramaturgie: Eva Böhmer, Bühne: Evi Bauer, Kostüme: Claudia Irro.
Mit: Ariane Andereggen, Andrea Bettini, Kong Xian Chu, Christian Heller, Claudia Jahn, Johannes Schäfer, Mareike Sedl
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.theater-basel.ch



Kritikenrundschau

Das "inspirierende Projekt" würdigt Dagmar Walser im Schweizer Rundfunk SRF (podcast, 17.3.2013). Der Abend "macht Spaß, und es ist abwechslungsreich, wenn man an jeder Station eine andere Perspektive erzählt bekommt". Die Inszenierung finde mit diesem auf Interviews basierenden Text von Gesine Schmidt "gut" die "Balance zwischen unterhaltsam und Ernsthaftigkeit, zwischen persönlichen Zugängen und gesellschaftlichen Überlegungen".

Einen "unterhaltsamen dreistündigen Theaterparcours" hat Susanna Petrin von der Basellandschaftlichen Zeitung (18.3.2013) in dem Hotel erlebt. Allerdings hätte sie sich "doch etwas mehr Tiefgang bei den Texten gewünscht. Wäre es nicht möglich gewesen, bei den Interviewten tiefer zu bohren? Ihnen ganz persönliche bis existenzielle Erfahrungen zu entlocken? Denn der undifferenzierten China-Klischees gibt es schon genug."

Gesine Schmidt "beschreibt interkulturelle Konflikte und überraschende Gemeinsamkeiten, Abgrenzung und Anpassung, ohne Stellung zu beziehen", berichtet Martin Halter für den Tages-Anzeiger (18.3.2013). Die Erzählsituation im Hotel sei "verstörend intim", der Zuschauer werde "zum Vertrauten und Voyeur". Und er lerne: "In Shanghai kann man sehr schnell reich werden, ‚verchinesisieren', verschweizern oder auch verzweifeln. Nur die stärksten halten das aus, aber als theatrale Fremdheitserfahrung ist es großartig."

 

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