Am Tag als der Blutregen kam

von Tobias Prüwer

Dresden, 23. März 2013. Rick, die Hauptfigur, ist schon da, als die Saaltür aufschwingt (grundsympathisch auch in all seinen Ängsten: Nahuel Häflinger). Im leeren weißen Raum der offenen Bühne kauert er am Boden und zeichnet. Mit einem Projektor werden seine Bilder im Comic-Stil ins Bühnenkarree transportiert. Rick berichtet von seiner Einsamkeit, zeichnet den Apfelbaum, den ihm rechte Mitschüler zerstörten, erzählt von seiner Tante. Bei der lebt er seit dem Unfalltod seiner Eltern. Sofort ist man drin im trostlosen Leben dieses 18-Jährigen in der brandenburgischen Provinz.

Wie soll man mit Nazis umgehen?

Wie ein Hoffnungsschimmer kommt Rick dann das Angebot von Pascal vor, in Berlin eine Lehre zu beginnen (als aalglatter Anzugnazi: Alexander Peiler). Klar, dessen "Heimatschutz" ist kein koscherer Verein. Aber die Kleinstadtbewohner haben damit kein Problem, warum sollte er dann eins haben? Außerdem lassen ihn vielleicht die Stiefelnazis endlich zufrieden, wenn wer bei Pascal mitmacht. Und er soll als Gegenleistung für die Lehrstelle ja nur nebenbei einen jüdischen Kindergarten ausspionieren. Doch wer kennt schon Juden? Am Ende muss Rick sich trotzdem entscheiden. In seinen Comics kommt es zum Showdown: der zu "Mr. White" mutierte Nazi Pascal tritt gegen den Superhelden "Cherryman" zum tödlichen Zweikampf an.

cherryman1 560 klausgigga u© Klaus Gigga

Der Stoff ist starker Tobak. Pädagogischer Aufklärungsstoff über frustrierte Rechte, mit denen man man mal reden müsste, ist er nicht. Die Frage, wie man mit Nazis umgehen müsste, beantwortet hier die Kettensäge - und das im Jugendtheater ab 14 Jahren.

Ania Michaelis hat am Dresdener Theater Junge Generation eine kluge Übersetzung des Romans und seines scheinbar blutigen Endes gefunden. Wie schon bei Arjouni wird nach drastischen Bildern des in Naziblut watenden Ricks (alias "Cherryman") offen gelassen, ob das Berichtete wirklich so stattgefunden hat. So unmittelbar ist der Zuschauer aber in seine Geschichte von Beginn an verstrickt, dass man diese Option erst später vergegenwärtigt, als sich die Frage Lynchjustiz oder Selbsthilfe längst gestellt hat.

Die weiße Bühne ist selbst so ein Comic-Bildrahmen, in dem Projektionen die Handlung illustrieren, Leerstellen füllen. Immer wieder unterbricht Rick Szenen mit Erläuterungen und Introspektion. Die Darstellung der Nazisschläger, die hier in Gestalt von Julian Trosttorf, Nadine Broske und Florian Rast erscheinen, fällt brachial aber realistisch aus – und ohne das gängige Klischees, Nazis seien nur orientierungslose tumbe Individuen. "Cherryman jagt Mr. White" wird so zur originellen Auseinandersetzung über den Umgang mit Nazis ebenso wie mit dem gesellschaftlichen Zustand, der sie ermöglicht. Man wird als Zuschauer auf Halbdistanz gehalten und doch rückt das Nazigedankengut wie die "Sorge um die Heimat" gefährlich nah.

Wie kann man Nazis auf dem Theater überhaupt darstellen?

Einen ebenfalls realistischen Ansatz, rechte Ideologie zu inszenieren, hatten junge Theatermacher vor kurzem in Leipzig. Beurteilen kann man ihr "Nazistück", so der Titel, nicht mehr. Es wurde vom Centraltheater nach der Premiere am 16. Februar auf der Jugendbühne Spinnwerk abgesetzt. Die Intendanz könne die Verantwortung nicht übernehmen, wurde die Entscheidung begründet. Weder fänden "im Kontext der Inszenierung rechtsradikales und antisemitisches Gedankengut" eine hinlängliche künstlerische Reflexion, noch sei eine "unmissverständliche Distanz zum Gegenstand 'alltäglicher Rassismus und rechtsradikale Ideologie' in ausreichendem Maße erkennbar."

Er wollte den Stoff gerade nicht ironisch brechen oder Erklärszenen einfügen, erläutert der "Nazistück"-Regisseur Gregor Zocher, um zu zeigen, wie Nazitum Alltag ist. Der Zuschauer solle sich dabei ertappen, sich mit Positionen auf der Bühne zu identifizieren. Dieser Realitätsbezug könnte, so die Kritik, als Lob brauner Ideologie verstanden werden.

Doch wie stellt man rassistische Figuren angemessen dar, ohne das Publikum durch voreingenommene Darstellung zu bevormuden? Mit einem Erklärstück, um Missverständnis auszuschließen? Mit einer Diskussion nach der Premiere des "Nazistück" sollte eine Reflexionsmöglichkeit gegeben werden, sagt Regisseur Zocher. Das habe auch Wirkung gezeigt. Eine Frau habe zum Beispiel gesagt, sie sei nicht rechts, verstehe aber die Asyl-Kritik der gezeigten Figuren.

"Die Annahme, dass sich politischer Schwachsinn von selbst kommentiert, ist leider grundsätzlich zu naiv", findet hingegen Centraltheater-Chefdramaturg Uwe Bautz. Natürlich müsse die Wirklichkeit zumutbar sein und er zollt dem Ansatz seinen Respekt. Neben der künstlerischen Freiheit habe man aber auch Verantwortung fürs Publikum: "Im Zuschauerraum sitzen nicht immer nur die Eingeweihten, die sowieso politisch aufgeklärt sind und die wir mit so einem Projekt gar nicht erreichen brauchen. Und: Da sitzen auch Menschen, die sich persönlich verunglimpft fühlen können, und die sich in dieser Situation überhaupt nicht wehren können."

Wichtige Auseinandersetzung

Doch muss man das Theater nicht als einen Ort begreifen, um ins Gespräch zu kommen? Muss man dafür nicht den Zuschauern gelegentlich Kontroverses zumuten dürfen? Macht es sich am Ende die vorauseilende Selbstvergewisserung von Regie und Publikum nicht zu einfach: dass man kein Nazi ist und DIE schlimm findet? Fest steht: Die Auseinandersetzung mit Positionen, die längst nicht mehr nur am rechten Rand vertreten werden, ist wichtig. So verweist auch "Cherryman jagt Mr. White" auf die steigende Akzeptanz rechten Gedankenguts in breiteren Gesellschaftsteilen. Wenn im Stück ein rührseliger Gärtner – er ist der Chef der Nazihorde – über Mutter Erde und deren Schutz fabuliert, möchte man Ja-Amen sagen. Und wer hätte es in seinem Viertel nicht gerne etwas sauberer?

Die Dresdner Inszenierung könnte eine Diskussion erzeugen. Wie weit der Naturalismus bei der Darstellung Rechter gehen darf, wird immer im Einzelfall zu entscheiden sein. Aber um diese Entscheidung treffen zu können, muss man die Darstellung als Zuschauer erleben dürfen. Vielleicht aber hat Rick als "Cherryman" noch gar nicht zur Motorsäge gegriffen, war das nur ein Gedankenspiel? Das hat der Zuschauer zu entscheiden, was nach der dichten, emotional packenden Darstellung so leicht nicht ist. Es fällt jedenfalls schwer, den "Theaternazis" zuzuklatschen, als die Schauspieler sich ihren Applaus abholen.

 

Cherryman jagt Mr. White (UA)
von Jakob Arjouni
Spielfassung von Ania Michaelis
Regie: Ania Michaelis, Bühne und Kostüme: Martina Schulle, Katja Renau, Comic und Video: Conny Klar, Musik: Karsten Gundermann.
Mit: Nadine Boske, Roland Florstedt, Nahuel Häfliger, Insa Jebens, Alexander Peiler, Florian Rast, Bettina Sörgel, Julian Trostorf.
Länge: 90 Minuten, keine Pause

www.tjg-dresden.de

 

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