Stiftet Aufruhr! - Frank-Patrick Steckel über seine Gründe, den Ungarn-Aufruf zu unterschreiben
Man tut, was man kann
Warum ich den Aufruf "Stiftet Aufruhr!" unterschrieben habe
von Frank-Patrick Steckel
In the End, we will remember
not the words of our enemies,
but the silence of our friends.
Martin Luther King
Man tut, was man kann.
Ágnes Heller
Berlin, 11. April 2013. Was kann man tun? Der Aufruf macht unmissverständlich klar, dass, ihn unterzeichnet zu haben, noch keine Leistung darstellt. Die Unterschrift verbleibt im Rahmen "der üblichen Protest-Gepflogenheiten der demokratischen Zivilgesellschaft", mit welchen sich, wie der Aufruf zu Recht feststellt, "gegen Ungarn nichts mehr ausrichten lässt", gegen ein Ungarn wohlgemerkt, in dem erst vor kurzem die weltweit renommierte ungarische Philosophin Ágnes Heller auf dem Namensschild an ihrer Bürotür in der Budapester ELTE-Universität einen Aufkleber vorfand: "Juden! Die Universität gehört uns, nicht Euch. Beste Grüße: Die ungarischen Studenten."
Die verantwortliche Studentenorganisation wurde verboten; aber es heißt, jeder dritte Student werde bei den Wahlen im kommenden Jahr JOBBIK wählen, die "Bewegung für ein besseres (rechtsgerichtetes) Ungarn", die als drittstärkste Partei seit April 2010 mit 47 Sitzen im ungarischen Parlament vertreten ist.
Unbehagen in Aktion überführen
Der Aufruf beschäftigt sich weniger mit der Lage der ungarischen Theaterschaffenden, die unlängst mit dem "Hungarian Showcase" (Esther Slevogt hat über fünf der insgesamt 25 Aufführungen hier berichtet) gewissermaßen ein – von der hiesigen Presse weitgehend ignoriertes – hilfesuchendes Festival ihrer aktuell bedrohten Theaterformen veranstaltet haben, als mit der Reaktion der europäischen Intellektuellen auf die ungarische Entwicklung, die Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, Zensur, national-völkisch betonte und so gut wie nicht wieder rückgängig zu machende Verfassungsänderungen, Diskriminierungen und Entlassungen politisch missliebiger Künstler und viele Enthauptungen demokratischer Einrichtungen mit sich gebracht hat, welche gerade deutschen Beobachtern aus der sogenannten "Kulturszene" erhebliches Unbehagen bereiten müssen.
Wie dieses Unbehagen in eine wirksame, "eingreifende" (Brecht) politische Aktion überführt werden kann – diese Frage steht im Mittelpunkt des in dieser Hinsicht überaus selbstkritischen Aufruftextes. Ob die damit als selbstverständlich unterstellte Einsicht seiner Unterstützer und Leser in die Notwendigkeit einer solchen Aktion tatsächlich als gegeben angesehen werden darf, kann hier nicht geklärt werden.
Wahl der Waffen
Es herrschen da, wie es scheint, sowohl auf unserer wie auf ungarischer Seite abweichende Vorstellungen. Der ungarische Literat János Széky beispielsweise, der als Linksliberaler gilt, rät uns in einem an Elfriede Jelinek gerichteten, bei "Hungarian Voice" wiedergegebenen Offenen Brief kurz und bündig, uns "zum Teufel zu scheren". Die angesehene und seit Jahrzehnten die ungarischen Entwicklungen forschend analysierende Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky schreibt mir dazu: "Schauen Sie, es mag sein, dass Worte missverstanden werden, aber wenn wir jetzt nicht um einen Dialog ringen, dann müssen später Waffen eingesetzt werden."
Der Aufruf spricht in diesem Zusammenhang – in Anlehnung an den Titel eines Films von Alain Corneau – von der "Wahl der Waffen": so erschreckend die von Frau Marsovszky in Aussicht gestellte Perspektive ist, so dringend erscheint es, sie auszuschließen, und es wird uns beschäftigen müssen, wie das geschehen kann, wobei das Ringen um einen Dialog getrost in den Bereich dessen verwiesen werden kann, was die Initiatoren des Aufrufs eine "neue Radikalität" nennen.
Hands off culture and media in Hungary!" – nutzlos. Die Proteste gegen die Ablösung von Róbert Alföldi am Nationaltheater – vergeblich. Und so erging es allen bisherigen Versuchen, mit den ungarischen Machthabern in einen Dialog zu treten: Sie zerschellten an deren unbeirrbarem Kurs nach rechts. Es ist also verständlich, wenn "Stiftet Aufruhr!" dazu aufruft, europaweit über profundere Möglichkeiten der Einflussnahme nachzudenken.
Eine Petition mit mehr als 10 000 Unterschriften aus allen Ländern der Welt hat im Jahre 2012 den Budapester Bürgermeister Tarlós nicht davon abgehalten, einen rechtsextremen Schauspieler zum Leiter des "Neuen Theaters" zu ernennen – das Theater sollte, so steht es in der Bewerbung von György Dörner, der sich ebenfalls unbeeindruckt zeigte, unter seiner Leitung in "Hinterland"- oder genauer "Heimatfront-Theater" umbenannt werden. Über 4 000 teils prominente Unterschriften unter einen Aufruf ungarischer Theatermacher mit dem Titel "Europäische Werte?
Aufruhr wird, davon zeugen die Kritiken an dem Aufruf, allerdings bereits dann gestiftet, wenn der Blick durch das ungarische Vergrößerungsglas die europäischen Verhältnisse außerhalb Ungarns erfasst. Abgesehen von der Tatsache, dass Viktor Orbáns FIDESZ-Partei im Europäischen Parlament mit der deutschen CDU/CSU und zahlreichen anderen fälschlich "christlich-konservativ" genannten bürgerlichen Parteien (sie sind weder christlich noch konservativ) in der "Mitte-Rechts-Familie" (Eigenwerbung) Europäische Volkspartei unangefochten vereint ist, zeigt dieser Blick die zahllosen mehr oder weniger untergründigen Brutalitäten, welche der rabiate ungarische Nationalismus und die Europäische Union, innerhalb derer er Platz greift, miteinander teilen. Oder, wie der Journalist Peter Nowak es ausdrückt: "Die Romafamilien aus Ungarn, die in Deutschland leben wollen, werden ... kein Deut besser behandelt, wenn ... im deutschen Bundestag in einer aktuellen Stunde Politiker der verschiedenen Parteien ihre Besorgnis über die Entwicklung in Ungarn ausdrücken und ... mahnen, die 'europäischen Werte' in Budapest deutlicher zum Ausdruck zu bringen."
Der von "Stiftet Aufruhr!" angestrebte länderübergreifende zivilgesellschaftliche Widerstand, wird, mit den Worten von Peter Nowak, "konterkariert durch Versuche der EU-Gremien, sich als letzte Instanz in Sachen europäische Werte aufzuspielen". Betrachtet man nämlich die europäischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten, gibt es weder Grund für diese Brüsseler Attitüden noch Anlass zur Selbstzufriedenheit auf Seiten westeuropäischer Intellektueller.
Propagierung des Provinziellen
Es ist nicht so, dass unser Aufruf gesicherte demokratische Verhältnisse im Rücken hätte, deren bloße Durch- bzw. Wiedereinsetzung in Ungarn es gälte. Der Protofaschismus der ungarischen Ethnokratie entspringt einer Kapitalismuskritik von Rechts, die einerseits fassadenhaft wirkt und gegenüber der Bevölkerung wie üblich betrügerisch verfährt, die sich jedoch andererseits im Hinblick auf die von uns, dem "Westen", emphatisierten demokratischen Grundrechte so leicht nicht täuschen lässt: Sie existieren in ihren Augen zwar formal, haben aber keine Bedeutung – nicht Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit herrschen, sondern es dominieren Konsumansprüche sowie international geprägte ökonomische Zwangslagen, welche diese nationalen Grundrechte vielfältig verformen und aushebeln.
Daran gemessen bietet der neue Protofaschismus seinen Anhängern eine nachgerade dörfliche Idylle: Er darf, hat er erst einmal seine durch die Bank "jüdischen" Widersacher gebannt, sich selbst genug sein, ein wohliges "Wir-gegen-den-Rest-der-Welt"-Gefühl ersetzt die quälende Beschäftigung etwa mit der Gesamtlage des Planeten, wie sie der Linken auferlegt ist. Die Propagierung des Provinziellen als der ultima ratio in der Abwehr der Folgen der Kapitalbewegungen haben Links und Rechts zwar, wie vieles andere auch, miteinander gemein – nur ist die rechte Variante dieser Provinzialität, wie das Beispiel Ungarn erneut unter Beweis stellt, die ungleich aggressivere, anziehendere, auch eigen- und großmannssüchtigere, wohingegen die linke Spielart stets das bescheidene, aber komplexe Kriterium "Völkerverständigung" auf der Rechnung zu haben hat, ein Umstand, der nicht eben zu ihrer Attraktivität beiträgt. Und da das entfesselte Kapital und seine ungehobelten Vermehrungsmanieren allerorten mehr und mehr Widerstand heraufrufen, hat das vernunftresistente Politlandleben ("Goldenes Morgenlicht"), welches die rechten Demagogen uns versprechen, in allen europäischen Staaten verstärkt Konjunktur – ohne dass die jeweiligen bürgerlichen Apparaturen gegenüber dem Phänomen ihrer Sache wesentlich sicherer wären als vor 70 Jahren.
Selbstverpflichtung der Unterzeichner
Die Probleme Europas sind aber, nach wie vor, durch völkische Wahnideen ebenso wenig lösbar wie durch das unablässige Beschwören von bürgerlichen Werten, denen keine politische Praxis entspricht. Das offenkundige Leerlaufen dieses Beschwörens erschafft, im Gegenteil, die Ansteckungsherde, von denen jene völkisch-faschistische Fäulnis ausgeht, die es noch stets verstanden hat, sich als "Gesundungsprozess" auszugeben.
Alles in allem formuliert der Aufruf in erster Linie eine Selbstverpflichtung der Unterzeichner – wie viele von ihnen sich selbst als "Intellektuelle" betrachten, sei dahingestellt –, den Hilferufen, die uns augenblicklich aus Ungarn erreichen, mit mehr als nur einer Unterschrift unter ein, zwei oder drei Aufrufe zu begegnen. Ob damit ein letztlich unerfüllbarer Anspruch aufgerichtet wird, ist ohne eine enge Zusammenarbeit mit der ungarischen Kulturopposition nicht feststellbar. Gleichzeitig darf und kann sich der zu stiftende Aufruhr aus den genannten Gründen nicht dauerhaft begrenzen lassen. Wir werden sehen, ob die Kräfte reichen.
Frank-Patrick Steckel, geboren am 10. Februar 1943 in Berlin, ist Theaterregisseur und war von 1986 bis 1995 Intendant des Schauspielhauses Bochum. Er übersetzt Stücke von Shakespeare und Molière und erhielt für seine Shakespeareübertragungen 2013 den Preis der Autoren.
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Wie aber ist es möglich, dass jemand so deutlich an der Kritik von János Széky vorbei schreiben kann? Denn es ist in der Tat so, dass der Schriftstellerkongress 1936 die totalitären Systeme um sich herum, mit ihren bekannten monströsen Folgen nicht verhindern konnte.
Nein, ich kann bei Steckel keine Stimme der Vernunft erkennen. Er versteht nicht, dass ihm und Frau Jelenik vorgeworfen wird Ungarn als zivile Gesellschaft in dem Aufruf aufgegeben zu haben.
Es wäre Aufgabe der Redaktion ungarischen Kritikern des Aufruhrs, wie eben János Széky ebensoviel Platz einzuräumen. Aber noch kocht diese "nachtkritik" ja immer noch auf recht kleiner Flamme ein manchmal recht persönlich anmutendes "Süppchen" und zeigt sich für wirklich größere Auseinandersetzungen nicht wirklich bereit, für Konflikte, in denen auch eigene geliebte Positionen geschliffen werden noch nicht stark genug.
(Sehr geehrter Herr Baucks,
die Unterzeichner des Aufrufs wurden, wie Sie wissen, hier auf nachtkritik hart kritisiert. Unter anderem von Ihnen, unter anderem namentlich Frank-Patrick Steckel. Er ist von sich aus auf uns zugekommen mit dem Ansinnen, auf diese Kritik zu antworten und zu begründen, warum er den Aufruf unterzeichnet hat. Da es ganz in unserem Sinne ist, eine sachliche Diskussion und den Austausch von Argumenten zu befördern, sind wir auf dieses Anliegen gern eingegangen.
Viele Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
(Werte Kommentatoren,
es wäre prima, wenn Sie sich jetzt nicht in private Fehden verstrickten. Hier geht es doch um Wichtigeres als um die Süppchen, die der einzelne köchelt, oder? Also bitte, bleiben Sie beim Thema.
Freundliche Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
Artikel zur Sache, die in den dazugehörigen Kommentaren kontrovers und teilweise in belebender Offenheit diskutiert werden: "Hungarian
Voice" ! Schon bevor Herr Steckel sich nun auf diesen Blog und den offenen Brief Szekys bezog, war mir dieser als Quelle aufgefallen.
Ob es sich um die Ernennung eines Antisemiten zum Theaterleiter handelt, ob es um die Artikel Frau Marszovskys geht, um den Aufruf, den offenen Brief zum Aufruf oder etwa Herrn Steckels Reaktion darauf, HV ("Hungarian Voice"), offenbar "Deutsch-Ungar"
(Jahrgang 1973), ist vor Ort , kritisch, unabhängig, selbständig; ich muß sagen, daß es für mich wirklich eine Entdeckung war, auf diese Seite zu stoßen. So kann Internet-Journalismus den Blätterwald-Horizont meineserachtens sinnvoll und reizvoll erweitern ! Es bleibt zu hoffen, daß die Inhalte des offenen Briefes auch hier noch diskutiert werden: auf "HV" jedenfalls gibt es dafür auch nicht nur einhelligen Zuspruch. HV rechnet Szeky einen Elitarismus vor, den dieser gerade der Aufrufseite vorwerfe.
Immerhin aber steht Szekys Brief als starkes Statement da, daß keineswegs jeder, der den Aufruf eher für kontraproduktiv hält, sogleich zum "Kollaborateur" der ersten Stunde, des "vorauseilenden Gehorsams" (siehe Herrn Rothschilds Einlassungen in den diversen Threads) mutiert: HV, mindestens ebenso eine Stimme der Vernunft wie die Herrn Steckels..
Danke für den Hinweis! Bei Hungarian Voice wurde gestern sogar gleich auch auf diesen Text von Steckel verwiesen. Und eine kleine Kommentardiskussion hat auch dort begonnen:
http://hungarianvoice.wordpress.com/2013/04/11/frank-patrick-steckel-warum-ich-den-stiftet-aufruhr-aufruf-unterzeichnet-habe/#comment-13381
Heute druckt die Junge Welt ein Interview mit Andreas Kramer:
Wochenendgespräch
Vorheriger
13.04.2013 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)Inhalt
»Mein Vater hat Münchner Bombe mitgebaut«
Gespräch mit Andreas Kramer. Über das Sprengen von Strommasten in Luxemburg, über das Attentat auf das Oktoberfest im Jahre 1980 und darüber, welche Rolle Kramer senior dabei gespielt haben soll
Interview: Peter Wolter
Andreas Kramer (49) wohnt in Duisburg und arbeitet als Historiker. 1991–92 war er Chefarchivar im 1. Untersuchungsausschuß des 12. Deutschen Bundestages. Gegenstand des Ausschusses war die Bewertung der Tätigkeit des DDR-Funktionärs Alexander Schalck-Golodkowski.
In Luxemburg läuft zur Zeit ein Prozeß gegen zwei Polizeibeamte, die beschuldigt werden, im Auftrage der geheimen »Gladio/Stay-behind«-Truppe der NATO in den 80er Jahren an Bombenanschlägen auf Strommasten teilgenommen zu haben. Sie wohnen in Duisburg und haben sich als Zeuge gemeldet – wie sind Sie auf diesen Prozeß aufmerksam geworden?
http://www.jungewelt.de/2013/04-13/003.php