Lässiger Befreier

von Ralph Gambihler

Dresden, 12. April 2013. Wer es mit diesem Stück aufnimmt, bekommt es mit einem legendären Kapitel der deutschen Theatergeschichte zu tun. Benno Bessons Berliner Bearbeitung von Jewgeni Schwarz' Politmärchen "Der Drache" aus dem Jahr 1965 gilt als die erfolgreichste Inszenierung des Deutschen Theaters nach dem Krieg. Aufgeführt wurde sie bis in die 70er Jahre hinein mehr als 600 mal. Der Abend tourte als Gastspiel durch halb Europa und machte Eberhard Esche in der Rolle des Drachentöters Lanzelot berühmt.

Es muss aufregend sein, im Glorienschein einer solchen Historie zu arbeiten – aufregend und belastend. Da muss ein Ensemble erst einmal durch. Oft passiert das aber nicht mehr. Der Text, 1943 vor dem Hintergrund des Naziterrors geschrieben, in der Sowjetunion zunächst 17 Jahre verboten und danach über die Grenzen hinaus eine knisternde Einlassung des Theaters zum Thema Diktatur und Untertanengeist, verlor mit der Zäsur von 1989 seine offensichtliche politische Brisanz. Er gelangte zunehmend selten in die Spielpläne.

Eine Stadt auf den Kopf gestellt

Regisseure wie Sebastian Hartmann oder Tilman Köhler haben die Märchenparabel und ihre satirischen Möglichkeiten gleichwohl neu ausgelotet. Ihnen folgt nun mit Wolfgang Engel ein altgedienter Theatermacher aus dem Osten, der im Zuge seiner künstlerischen Sozialisation noch hautnah miterlebt hat, was damals am Deutschen Theater mit Benno Besson und seinen Mitstreitern ins Rollen kam.

Lanzelot, der furchtlose Ritter und "berufsmäßige Held", ist bei Engel ein junger Mann mit langen Haaren (Matthias Luckey). Er trägt ein grünes Lederblouson und Röhrenjeans, hat auf den ersten Blick etwas von einem Feger und verbreitet den Duft des Nonkonformismus. Dieser Drachentöter von nebenan stellt eine Stadt auf den Kopf, indem er sie befreit.

derdrache1 560 david baltzer uDie Stadtbewohner in "Der Drache" © David Baltzer

Seine Unerschrockenheit ist von juveniler Lässigkeit. Wenn ihn die Stadtbewohner beschwören, doch bitte nicht mit dem Drachen zu kämpfen, weil der seine guten Seiten habe und überhaupt seit Jahrhunderten ungeschlagen sei, bleibt Lanzelot einfach gelassen, freundlich und hart. Und selbst, als die drei menschlichen Inkarnationen des Monsters der Reihe nach auftreten und die Sache höchst ungemütlich zu werden droht, zündet sich der junge Held einen Joint an und bleibt provozierend nett und unnachgiebig. Charmanter kann man eigentlich nicht in eine Schlacht ziehen.

Moderne Inkarnationen

Der Drache hingegen (Tom Quaas) ist eine menschliche Hydra. Er kann seine Erscheinung gewissermaßen in drei Stufen dramatisieren. Zunächst zeigt er sich als jovialer Anzugträger, gut gelaunt, zu Späßchen aufgelegt und irritierend glatt. Bald kehrt er als halbseidener Typ im Hawaihemd wieder, entschieden zu schmierig und jähzornig, um ihn für harmlos zu halten. Schließlich sitzt da ein hässlicher, ebenso mitleiderregender wie böser Tattergreis mit tremorgeschütteler Hand, ein halber Krüppel obendrein, dessen steifes linkes Bein zu grotesker Motorik zwingt, wenn er von der Bühne humpelt. Im Innersten ist dieser Dresdener Tyrann ein ganz armer Hund.

Desweiteren treten auf: ein verhaltensauffälliger und psychotischer Bürgermeister, der den Drachen im Karrierewahn "Schnucki-Putzi-Putz" nennt, sein nicht minder aufstiegsgeiler Sohn, auch schon in Amt und Unwürde gelangt, willenlose Schäfchen-Bürger, die bei Bedarf auf Zehenspitzen gehen, ein pfiffiger Kater, der dem Guten nachhilft, ein hochanständiger Archivar, der sehr höflichen Widerstand leistet, nicht zuletzt seine schöne Tochter, die als weibliche Heldin Elsa die Männerherzen betört.

Empört Euch

Wolfgang Engel belässt das Stück im Märchengewand. Er nimmt Jewgeni Schwarz beim Wort und zeigt dessen Drachentöterschau als konventionell gemachte Politparabel, mit solidem Handwerk, Liebe zum Detail und Raum für veritables Schauspielertheater. Die Kulisse von Hendrik Scheel wirkt etwas reizlos. Sie deutet zunächst einen etwas kitschigen Festsaal mit güldenen Vorhängen und billigen Plastikstühlen an und nimmt sich dann immer weiter zurück, nach einem ebenso kurzen wie donnernden Auftritt des leibhaftigen Drachens, der das stehende Gut auf der Bühne zum Einsturz bringt.

derdrache5 280 david baltzer uTom Quaas als Drache, Ines Marie Westernströer als Tochter des Archivars
© David Baltzer

Appliziert und hinein gelegt wird alles in allem wenig. Der Abend beginnt mit dem Prolog aus Heiner Müllers Libretto zur "Drachenoper", der chorisch als Rap über die Bühne geht (Musik: Thomas Hertel). Das wars mit Exkurs. Ab da wird Jewgeni Schwarz vom Blatt gespielt. Hier und da findet man lediglich zarte Fingerzeige über den zeitgeschichtlichen Kontext hinaus. Der Konformismus von heute und die Monster des entfesselten Finanzkapitalismus sind der Regie ein Anliegen. Im Programmheft kann man dazu Auszüge von Stéphane Hessel ("Empört Euch!") und Frank Schirrmacher ("Ego. Das Spiel des Lebens") nachlesen.

Wandlungsfähigkeit

Heutige Köpfe werden auf der Bühne aber nicht abgeschlagen. Dazu fehlen dem Abend Schärfe und Dringlichkeit. Obendrein ist im zweiten Teil, in dem die befreite Stadt sofort wieder in autoritäre Muster verfällt, die Luft ein wenig heraus, was man unter anderem daran merkt, dass einem die schwächeren Stellen des Textes nicht mehr entgehen.  

Gespielt wird aber gut. Die Leistung des Ensembles ist vielleicht der beste Grund, den Abend zu mögen. Allen voran glänzt Tom Quaas als höchst wandlungsfähiger Drache, wobei seine Auftritte stellenweise kleine Referenzen an Marlon Brando zu enthalten scheinen. Matthias Luckey nimmt man den jugendlich lässigen Lanzelot und seine Wiederkehr als versehrter und viel zu junger Veteran gerne ab. Beeindruckend ist zudem das komische Talent von Holger Hübner als usurpatorische Bürgermeister-Witzfigur.

Am Ende war der Saal weitgehend happy. Und Wolfgang Engel war es sichtlich auch.

Der Drache
von Jewgeni Schwarz, aus dem Russischen von Günter Jäniche
Regie: Wolfgang Engel, Bühne und Kostüm: Hendrik Scheel, Musik: Thomas Hertel, Choreografie: Harald Wandtke, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Tom Quaas, Matthias Luckey, Lars Jung, Ines Marie Westernströer, Holger Hübner, Benjamin Pauquet, Christian Clauß, Christian Clauß, Christine-Marie Günther, Thomas Kitsche, Gregor Knop, Hartmut Arnstadt, Othila Atamanna, Ka Dietze, Veit Grasreiner, Werner Koch, Silke Körner, Teresa Lippold, Bernd Oppermann, Matthias Wiegand, Christian Rien.
Spieldauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.staatsschauspiel-dresden.de


Kritikenrunschau

Diese dritte Arbeit Wolfgang Engels unter der Intendanz von Wilfried Schulz in Dresden sei seine "humorvollste", schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (15.4.2013). Engel, "der Meister der genauen Sprach- und Schauspielerarbeit, meißelt aus allen Figuren das Skurrile und zugleich Menschliche heraus". Thomas Quaas Drache wirke wie ein "Banker oder Manager" und veranschauliche: "Die wahren Unterdrücker sind nicht die Diktatoren. Es sind die Reichen, die ihre Milliarden in Steueroasen transferieren und ihren Besitz ins Unermessliche vermehren, während der Großteil der Bevölkerung immer weniger hat." In Matthias Lukey als Lanzelot erkennt die Kritikerin den "Occupy-Aktivisten". Engels Abend wirke nach der Pause "merkwürdig unfertig"; ein "nicht sehr sauber gearbeiteter Bürgerchor bestimmt weite Teile des Geschehens". So werde Engels "Drache" zu einer "amüsanten, aber etwas kraftlosen Politparabel".

"Zum Schlussapplaus steigert sich das Publikum in eine Begeisterung, die während der Aufführung in dem Maße kaum spürbar war", berichtet Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (15.4.2013). "Es gibt keine grundsätzlich guten oder bösen Herrschaftssysteme, irgendwo gleichen sie sich alle auf fatale Weise", deutet Engel in seiner Inszenierung an. Der Regisseur "spitzt das Satirische zu, aber das wetterwendische Verhalten der 'Volksmassen' (...), das operettenhafte Auftreten finsterer Wachen und des Militärs in lächerlichen Fantasieuniformen haben auch etwas Beängstigendes, und auch derart nimmt er die so simpel nachvollziehbaren Macht- und Ränkespiele der städtischen Verwalter bzw. die zugrunde liegenden nur zu menschlichen Regungen durchaus ernst."

Etwas unklar erscheint Ulrich Seidler auf dem Onlineportal der Frankfurter Rundschau (15.4.2013), "von wem uns dieser lässige Lederjäckchen-Lanzelot (Matthias Luckey) diesmal befreit − und unter wessen Fuchtel er uns jagt. Ist Lanzelot vielleicht einer von diesen machtscheuen Bürgerrechtlern, ein aufgeweckter Pionierleiter oder ein durchgrifffreudiger Treuhandchef aus Wessiland?" Engel lege sich nicht fest und werde vom Publikum ausgiebig gefeiert: "Kein 'Was denn nun?', kein 'Gegen wen denn eigentlich?' hält die Dresdner davon ab, diese herzlich konventionelle, engagiert gespielte Inszenierung inbrünstig zu beklatschen."

Hartmut Krug sieht im Gespräch auf MDR Figaro (13.4.2013, hier der Link zum Podcast) einen Abend mit dem Potenzial zum "Publikumsrenner". Engels Auseinandersetzung "mit einer Politik im Würgegriff der Ökonomie" sei erkennbar, wobei der Drache "der entfesselte Markt sein" soll. Den "absoluten Realismus", den Engel angestrebt habe, gebe es zwar nicht zu sehen; dafür aber eine "Theatralisierung". Engel habe "eine wunderschöne, große Theater-Show gezeigt." Als eine Aktualisierung "zum Mitdenken, zum Andersdenken, zum Angeregtsein" gehe der effektsichere Abend gleichwohl nicht auf.

Kommentare  
Der Drache, Dresden: 25 Jahre zu spät
Die Inszenierung ist für mich weder Fisch noch Fleisch, Engel konnte oder wollte sich offensichtlich nicht festlegen. Irgendwie scheint es, als habe er das Stück 25 Jahre zu spät inszeniert, alles weist auf etwas längst vergangenes hin, und die heutigen Bedrohungen, welche zumindest im Programmheft angesprochen werden, kommen nicht vor oder nicht bis über die Rampe. Auch die Leistung des Bürgerchores empfand ich als durchgehend schlecht, das ist sehr schade, denn gerade diese Szenen stelle ich mir sehr gut vor, hätten sie wesentlich mehr Dynamik. Die Leistung der Schauspieler war durchgehend gut. Wobei man allerdings diesen peinlichen Rap am Anfang ausklammern muss, der war sowohl musikalisch als auch sängerisch und tänzerisch unfassbar schlecht, mein Fremdscham in diesem Moment war an seinem Limit. Und: Lanzelot zündete sich keinen Joint an, er holt aus einer Karo- Schachtel (filterlose Ostmarke) eine eben filterlose Theaterzigarette und raucht diese, und das riecht immer ein wenig wie ein Joint.
Drache, Dresden: in Stuttgart im Schultheater
Zur Zeit probt die walldorfschule, Stuttgart die Aufführung.
Da das Stück mit 14 - 15jährigen Schülern besetzt ist, finde ich das sehr mutig und wünsche gutes Gelingen
Drache, Dresden: das Stück kommt zu spät
Vor etwa zehn Jahren in einer unvergleichlich besseren, bestechenderen, weil auf das Spiel der Figuren konzentrierten Inszenierung von Tilman Köhler in Weimar gesehen. Wie es dem Hausregisseur Köhler und seinen nach Dresden gewanderten Schauspielern nun geht, das Stück in dieser doch etwas altbackenen Inszenierung zu sehen?
Ich schließe mich dem Urteil an, das Stück kommt Jahre zu spät. Dass es noch immer ein solcher Erfolg ist, zeigt auch, wieviel noch immer unverarbeitet ist. Aber im Moment gibt es wichtigere Themen.
Drache, Dresden: Blick aufs Datum
Nun. Die Premiere war im Frühjahr 2013.
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