Finales Schwadronieren

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 12. April 2013. Im neuen Pollesch spielt eine Drehbühne mit. Mal zickt sie herum, mal kreist sie elegant um sich selbst. Eine echte Diva eben. In der Interimsspielstätte Nord des Staatsschauspiels Stuttgart, wo dieser neue Pollesch "Die Revolver der Überschüsse" jetzt uraufgeführt wurde, ist das ein guter Witz: "Wir können nicht bei jeder Krise einfach nur ins Theater gehen." Nee, geht in Stuttgart bald wirklich nicht mehr: Die Sanierung des Schauspielhauses zieht sich hin, weil die neue Drehbühne noch immer stottert. Weil ein Spielort fehlt, wird die laufende Saison demnächst abgebrochen, der Beginn der kommenden ist gefährdet.

revolver der ueberschuesse2 280h sonja rothweiler uUnd sie dreht sich doch nicht! © Sonja Rothweiler

In der Wortwurfmaschine

Im neuen Pollesch verunsichert die durchgedrehte Drehbühne ein Theaterensemble, das "mal was über die Dauer der Liebe" zu machen gedenkt, aber polleschgemäß in der Diskursfalle landet. Das Stück kommt nicht zustande, stattdessen läuft die Pollesch'sche Wortwurfmaschinerie aus Zitaten, Thesen und Eigenreflektionen an, die vom rollenkonturfreien Darstellerquartett unter artikulationsvirtuosem Hochdruck dauerbefeuert wird. Diesmal werden Adorno und Foucault verbraten, ebenso das Buch "Wofür es sich zu leben lohnt", aus dem der Titel stammt und in dem der österreichische Philosoph Robert Pfaller zu mehr Genuss und Lebensfreude auffordert: Ein Leben, welches das Leben nicht riskieren wolle, so Pfaller, beginne schließlich unweigerlich, dem Tod zu gleichen.

Das finale Schwadronieren über den Tod dürfte dann auch das Highlight des Abends sein: Auf Betten hinter der Kulisse dösend, flüstert man ins Mikro und in die Kamera so schöne Sätze wie Adornos "Der Tod ist das Stumpfeste und Geistloseste, was sich denken lässt. Er sorgt dafür, dass kein Gedanke je ganz ausgeschöpft werden kann und keine Liebe denkbar ist". Keine Utopie also ohne die Abschaffung des Todes, wird von der Leinwand hinunter gemutmaßt – mit schwer suggestiver Wirkung.

"Wir verpulvern gerade eure Subventionen!"

Derweil ging es in der vorangegangenen Stunde neben der einzig wahren Liebe, die "keine Exe" kennt, um Foucaults Begriff der Heterotopie: realisierte Utopien in Gestalt institutioneller Orte, die gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Räume, die einem ständigen Bedeutungswandel unterliegen. "Selbst dass sich zwei Päpste treffen ist derzeit kein Witz mehr. Der Katholizismus kennt keinen Ex-Papst. Aber jetzt ist alles anders", wird humort. Wie der Vatikan so auch das Theater und in diesem besonderen Fall sinnbildlich seine Drehbühne.

In der Wiederholungsschleife landet die Geschichte vom Gastspiel in der Stuttgarter Mehrzweckhalle, wo sich die Drehbühne nicht mehr stoppen und die verwirrten Schauspieler ihre Auftrittsorte nicht mehr finden ließ. Natürlich ist mit der Bühne "in der Art der russischen Konstruktivisten" diese im Nord respektive die noch utopische im unfertigen Schauspielhaus gemeint.

Da capo der Langeweile

Als Gelegenheitsarbeit über die derzeitige Stuttgarter Theaterkatastrophe unterhält der Abend durchaus. "Wir verpulvern gerade eure Subventionen", heißt es, während Pollesch Denken verpulvert und seine Darsteller gelenkig von der rotierenden Bühne ab- und wieder aufspringen oder durchs Gestrüpp der Ausstattung aus bunten geometrischen Sperrholzobjekten, Wohnzimmerschrankwand und stylischer Betten stolpern und turnen lässt.

Aber das äußerlich hyperaktive Theater, das mit kindlichem Spaß immer und immer wieder minutenlang die aktionsfreie Drehbühne zu dröhnenden Popklängen kreisen lässt – mal zu abgestandenen wie Fleetwood Macs "Big love", mal zu subtileren wie Andreas Doraus House-Groove-Nummer "Abteistraße" – gerät immer mehr zum Da capo der Langeweile und lässt vermuten, dass hier Zeit geschunden wurde. Silja Bächli, Inga Busch, Christian Brey und Lilly Marie Tschörtner als die vier Artikulationsvirtuosen sind freilich ein echtes Vergnügen, der Applaus am Ende dementsprechend herzlich.

 

Die Revolver der Überschüsse (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Janina Audick, Video: Ute Schall, Dramaturgie: Christian Holtzhauer, Souffleuse: Katharina Nay.
Mit: Silja Bächli, Inga Busch, Christian Brey und Lilly Marie Tschörtner, Live-Kamera: Ute Schall/Hannes Francke, sowie: Björn Lorenz, Robert Meiser, Alexandra Waldleitner.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Polleschs neueste Tat strotze "nur so vor Vitalität, Spiellust, Gedankenreichtum, Witz, Finesse, Angriffslust und Selbstironie", jubelt Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (15.3.2013). Es sei "kein perfekter Theaterabend, weil wohl nichts einem Regisseur wie René Pollesch mehr widerstrebt als die Vorstellung, perfekte Theaterabende abzuliefern. Aber zu jedem Zeitpunkt wird messerscharf klar, wozu das Theater dient, wenn man es denn von verantwortlicher Stelle lässt: den Zuschauern einen Blick auf sich selbst, das Leben und die Welt zu verschaffen, der ihn überrascht und zu was auch immer anregt." Janina Audicks "Wimmel-Bühnenbild aus vielen Gebäudeteilen mit lauter verwegenen Spitzen, Triolen und Diagonalen" rolle "immer wieder an uns vorbei, verheißt uns Wechsel und Veränderung, Fluss des Lebens und der Gezeiten – obwohl ja letztlich immer alles nur gleich bleibt und wiederkehrt. Allein für diese Idee, dieses Bild lohnt sich schon der ganze Abend. Und es ist vielleicht gerade mal zehn Prozent von dem, was sonst noch so geboten wird."

"Die Idee der dauerhaften Liebe ohne Tragödie, davon hat man lange nichts mehr gehört", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (15.4.2013). Das sei es aber, "was vier Schauspieler und den hinreißend schöne Sätze erfindenden Dramatiker Pollesch" umtreibe. Der Abend sei aber auch "ein Kommentar dazu, dass dies schon die letzte Premiere auf großer Bühne in Hasko Webers Intendanz ist, weil Bauherren es seit über einem Jahr nicht schaffen, die Bühnentechnik im sanierten Schauspielhaus funktionsfähig zu machen." In der Ersatzspielstätte werde nun "eine Drehbühne zum Hauptdarsteller. Das von Interimsspielstätte zu Interimsspielstätte pilgernde Publikum nimmt's mit Gelächter zur Kenntnis." Golombeks Fazit: "Wie das Leben ist auch dieser Abend viel zu kurz. Hoch komisch ist er, klug und bewegend."

"Eigentlich", so bemerkt es Wolfgang Bager im Südkurier (15.4.2013), waren Polleschs Texte "schon immer Drehbühnen. Erst in diesem Stück hat sich die Form nun auch ihre passende Bühne gesucht." Die vier Darsteller seien "die Helden, die Künstler, die diesen Pollesch zum Klingen, zum Rotieren, zum Stillstand und zum Schweigen bringen. Alle beherrschen sie diese so gnadenlose Textmaschinerie, finden den so pollesch-typischen Sprechstil, der mit enormen Geschwindigkeitsübertretungen auch die Leitplanken von Sinn und Unsinn häufig durchbricht." Und das Premierenpublikum sei begeistert gewesen "von so viel Pollesch voller Selbstreferenz, Küchenphilosophie, Wortwitz, Schauspielkunst und von ganzen Salven an Überschüssen."

"Pollesch formuliert kein Plädoyer für die Treue", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (16.4.2013), "sondern will die selbstverständliche Identifikation mit 'den bestehenden Verhältnissen' stören." Geschickt verzahne er das Liebesmotiv mit Gedanken zu Anfang und Ende, Leben und Tod. "Er inszeniert mit leichter Hand köstlich-komische Theatermomente." Sprachspielerisch und temporeich beleuchteten die Akteure ihre unklare Identität auf der Bühne. "Die Revolver der Überschüsse" sei ein ausgereifter wie anregender Theaterabend, witzig, tiefsinnig und manchmal sehr melancholisch. "So schlüpfen die Schauspieler schließlich in kesse Kleidchen - und praktizieren in einem traurigen Reigen das zwanghafte Bäumchen-Wechsel-Dich, bei dem doch nur Verlassene, Ausrangierte zurückbleiben."

 

Kommentare  
Revolver der Überschüsse, Stuttgart: beeindruckend
Zweimal FARCE und einmal TRAGÖDIE stand unscheinbar mit Filzstift geschieben auf verschiedenen Kulissen die auf der Drehbühne am Zuschauer vorbeirauschten. Das trifft schon zu für "Die Revolver der Überschüsse" von Rene Pollesch, aber eigentlich war es noch viel mehr. Schlicht alles, was das Leben ausmacht wurde von den Akteuren wild durcheinandergewirbelt neu zusammengesetzt, wieder und wieder durchgemischt und erneut zusammengesetzt, nicht ganz gleich aber ähnlich. Im Zentrum von Allem, die Drehbühne als Metapher und Entität mit Eigenleben. Das war schon beeindruckend, so was kann nicht jeder auf die Bühne zaubern. Bleibt die Frage ob Rene Pollesch dieses rasante, witzige und bissige Stück auch gelungen wäre, wenn die Renovierung des Schauspielhauses planmäßig abgelaufen und nicht an der fehlerhaften Drehbühne ständig gescheitert wäre. Das erinnert mich ein wenig an Brecht, der gefragt hat, wer das größere Verdienst am Entstehen des Tao te King hat, Laotse oder der Zöllner, der das Werk für sich als Bestechung verlangte.
Revolver der Überschüsse, Stuttgart: mein erster Pollesch
Ein für mich neuer Theaterstil. Heterotopie als Begriff des Theaters ist eine der Zentralen des Geschehens. Denn Theorie geht schlagartig in Praxis über. Theater wird zum utopischen Ort des Lebens, dessen Sinnbild und Abbild plötzlich diese Drehbühne wird, weil sie manchmal macht, was sie will, und nicht, was sie soll. Für die vier blendend aufgelegten SchauspielerInnen eine willkommene Disposition, in der sie ihre existenzphilosophischen Diskurse wie Feuerwerke abfackeln. Die Form ist neu, die Themen sind alt. Denn es geht um Liebe und Krise, um Tod und den Papst und natürlich eine Mehrzweckhalle in Stuttgart, den Ort des Geschehens. Heterotopie wird zur Kategorie des Theaters und des Lebens. Also keine tradierten Dramentheorien, in der Individuen nur leiden, sondern Utopien, neue Räume für Individuen in ihren Krisen. Die Eleganz und die Virtuosität der vier Protagonisten begeistert das Publikum. Jedenfalls gefällt dieses diskursive Theater in Stuttgart. Man begreift den tiefen Sinn. Es gibt dann noch die Kategorie der Wiederholung. Man versteht irgendwann, meistens. Das war mein erster Pollesch. Freunde sagen: das war ihr bester Pollesch.
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