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Unsere Leser:innen schreiben Kritiken zu Inszenierungen, ergänzende, entgegen gesetzte, zustimmende oder kritische Kritiken zu Inszenierungen die nachtkritik.de besprochen hat, aber auch zu Premieren, die nachtkritik.de nicht auf dem Plan stehen hat: weil sich an einem Tag die Premieren ballten, weil wir andere Aufführungen an diesem Tag wichtiger fanden oder aus anderen Gründen.

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Leserkritik: Money talks von Arty Chock am Landestheater Marburg
Theater an der Grenze des Unergründlichen: Wohin verschwindet das Geld?
MONEY TALKS - Eine performance noir vom Frankfurter Kollektiv Arty Chock uraufgeführt am Hessischen Landestheater Marburg

Als ich nach knapp vier Minuten die schäbige Kabine des Pornofilmverleihs mit ihrem roten Plastiksitz verlasse, zwängt sich schon der nächste Kunde an mir vorbei hinein in den beengten Raum des Begehrens. Ich denke kurz, dass es doch mehr als diese eine Kabine geben muss, wundere mich dann aber nicht weiter über die Vorstellung, dass es besonderes Vergnügen bereiten mag, sich die Multi-Video-Sex-Show auf vorgewärmtem Sessel reinzuziehen. Doch jener Mann, der eben noch nach mir in die Kabine gegangen ist, steht wenige Sekunden später vor mir auf der Straße, als ich den Erotikschuppen verlasse. Der Mann blickt mir in die Augen, ich handele wie angewiesen und stecke meine Kopfhörer ins Ohr. Die vertraute Stimme meiner Gedanken wiegt mich in Sicherheit – obgleich ich angetreten bin, eine massive Glaubenskrise zu durchleben. Ich folge jener Macht, die das Denken und Handeln der globalisierten Welt bestimmt: dem Geld. Dabei habe ich schon lange den Überblick verloren. Seit Spaniens Immobilienkrise und dem Kollaps der Lehman Brothers frage ich mich, wohin das Geld verschwindet. Doch zu kaum einer anderen Zeit als jetzt könnte dies ein komplexeres Vorhaben sein: Zypern, Griechenland, Double A und OffshoreLeaks – aber wo laufen die Fäden in Marburg zusammen?
Das Frankfurter Theaterkollektiv Arty Chock hat eine "performance noir" am Theater Marburg inszeniert, "Money Talks – Über Geld spricht man nicht" und schickt die Zuschauer einzeln auf eine zweieinhalbstündige Tour durch die nächtliche Stadt, um der Macht des Geldes auf die Spur zu kommen. Dabei führt schon ihr erster Schachzug mitten hinein in die Ästhetik des film noir: In nur wenigen Minuten nimmt der Zuschauer die Identität des etwas verwahrlosten Privatdetektivs Spencer Lux an, der in seinem Hotelzimmer auf eine reiche Ansammlung von Theorien, Zeitungsausschnitten und Hinweisen über die Macht des Geldes stößt. Dort erhält er den entscheidenden Anruf. Spätestens als ich den grauen Trenchcoat übergeworfen und mir den Hut in die Stirn gezogen habe, bin ich bereit zu glauben, dass dies mein Auftrag ist: der Spur des Geldes zu folgen.
Doch wo ist das Geld geblieben? Jage ich nur einem Phantom nach oder ermittele ich gegen die Grundbedingung unserer gesellschaftlichen Realität? Stimmt es, wenn die Finanzindustrie und mit ihr die Politik behauptet, das Geld aus der Krise sei verbrannt, verpufft, verschwunden? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Finanzkrise zwar riesige Vermögen vernichtet hat, die Milliarden aber nicht verschwunden, sondern längst neu verteilt werden? Aber wohin? Arty Chock lotst mich durch eine mir unbekannte Stadt, vorbei an den Machtzentralen der Kapitalindustrie, die gleich neben den Geisterstädten der Immobilienkrise liegen, auf einen kurzen Besuch in die heiligen Hallen der Kirche, hinein in die Welt der ewigen Glücksversprechen: Was hat es mit der Geschichte des Sterntalermädchens auf sich? Und warum ist diese ökonomisch völlig irrationale Geschichte ausgerechnet auf dem wichtigsten Schein der alten BRD? Und wo wir gerade bei der Zahl Tausend sind: Woher rührt die Macht der Zahl Null? "Geld ist unangreifbar, denn einen Wert hat es nicht" – tönt es über die Kopfhörer in meine Gedankenwelt.

Der Mann aus dem Pornofilmverleih folgt mir. Sollte mich das irritieren? Hatte mich das Wesen des Geldes nicht schon längst infiltriert, dass ich diesem schmierigen Typen nicht über den Weg traue? Hatte ich nicht eben noch auf die Verführungen der Erotikindustrie und deren Verstrickungen mit dem Geld, in das mich ein anderer Performer versucht hatte hinein zu ziehen, eiskalt "Liebe ist kälter als das Kapital" geantwortet? Arty Chock legt ein dicht gesponnenes Verweissystem über die Stadt und gibt keine einfachen Antworten, sondern erweckt in mir das Begehren, dem Gespenst des Kapitals immer noch einen Schritt hinein in das Unergründliche folgen zu wollen. Trotzdem: irgendetwas stimmte hier nicht. Doch dem Theater zu glauben, hatte ich das nicht schon vor einiger Zeit aufgegeben? "Nicht auf das Gewinnen kommt es an, sondern auf die Möglichkeit des Verlierens" – ruft mir meine innere Stimme ins Gedächtnis. Das ist die radikale Herausforderung an den ko-produzierenden Zuschauer. Denn am Ende ist nichts geklärt. Das Geld ist der Anfang und das Ende. Aber nie gleich viel.
Weitere Aufführungen in Planung.
Leserkritik: Ein Floh im Ohr von Georges Feydeau im Berliner Ensemble, 20. Mai 2013
Nobody called? - Feydeaus "Floh im Ohr" bleibt in der eher gebremsten Regie von Philip Tiedemann am Berliner Ensemble merkwürdig anschlusslos.

Gute Unterhaltung ist Mangelware an den Theatertempeln der subventionierten deutschen Hochkultur. Obwohl man sich schon hin und wieder mal am gut gemachten Boulevard versucht. Neben zeitgenössischen deutschen Autoren wie David Gieselmann und Lutz Hübner, dem Briten Alan Ayckbourn oder auch der Meisterin des französischen Edelboulevards Yasmina Reza, die in ihren Komödien aber immer auch eine tiefere Metaebene einziehen, eignen sich dabei besonders die französischen Autoren der Belle Époque wie Eugène Labiche oder sein Bewunderer Georges Feydeau, der das Vaudvilles immer gegen die Hochkultur verteidigt hatte.

Um der Hölle der bürgerlichen Freiheit zu entkommen, ging der vergnügungssüchtige Familienvater von jeher gerne in den Puff und daheim zum Lachen in den Keller, oder eben auch ins Boulevardtheater. Da war es fast schon zwangsläufig Bedingung, dass neben dem festgefügten bürgerlichen Weltbild auch die Hosen ordentlich ins Rutschen geraten durften. Dazu bedarf es natürlich, um nicht auch noch das Niveau allzu tief sinken zu lassen, eines glücklichen Regiehändchens und einer gut geschmierten Theatermaschinerie vor und hinter den Kulissen. Was leicht wie Schmiere aussieht, ist also durchaus handwerkliche Schwerstarbeit, und davor steht natürlich noch der mit der nötigen Begabung fürs Feine und Grobe versehene Autor, der in seinen Stücken das Uhrwerk so genau einzustellen weiß, dass es auch an den richtigen Stellen gongt, sprich Witz und Situationskomik überhaupt erst zünden können.

Und so ein Meister der guten Theaterschmiere ist eben der bereits erwähnte Georges Feydeau. Dabei durchlebte er seine, die Doppelmoral des Bürgertums entlarvenden Komödien, geradezu am eigenen Leib. Je nach Erfolg seiner Stücke bewegte sich der Autor in gehobeneren oder weniger solventen Kreisen, und beendete sein Leben als geschiedener Mann, der die letzen Jahre seines Lebens in einem Hotel verbrachte, infolge einer Syphiliserkrankung geistig umnachtet. Feydeaus bekanntestes und auch immer wieder auf den Spielplänen der subventionierten Stadttheater stehende Stück ist die schwankhaft-groteske Komödie „Der Floh im Ohr“.

Das Berliner Ensemble öffnet sich damit nun auch ganz offiziell dem breiteren Publikumsgeschmack. Was nicht weiter erwähnenswert wäre, würde man hier nicht geradezu immer wieder den Hort der politischen Widerständigkeit gegen jegliche programmatische Verflachung ausrufen. Mit Regisseur Philip Tiedemann hat man dann auch den Mann gefunden, der bereits mehrfach bewiesen hat, siehe seine Inszenierungen der Schillerversion „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“ nach der Komödie des Franzosen Picard oder von Bernhards „Immanuel Kant“, dass er einer boulevardesken Figurenzeichnung nicht abgeneigt ist, und den Spagat zwischen E und U mühelos hinbekommt.

Philip Tiedemann befindet sich mit seiner Idee Feydaus Klamotte „Floh im Ohr“ auf die große Bühne des BE zu hieven in prominenter Gesellschaft. Wie bereits Martin Kušej 2004 am Thalia Theater Hamburg und Dieter Dorn 2006 am Resi in München verwendet er dabei die moderne Übersetzung von Elfriede Jelinek. Die französische Boulevardkomödie hat tatsächlich einen gewissen Reiz auf die österreichische Autorin ausgeübt, und sich mit Sicherheit auch in den oft endlos kalauernden Wortkaskaden ihrer Theatertexte niedergeschlagen.

Die scharfe Kritikerin bürgerlicher Abgründe ist von Detailreichtum, Komplexität und Zeichenhaftigkeit der Sprache gleichermaßen fasziniert, wie von der rasanten Schnelligkeit und der Tatsache, das nach dem kurzen Durchrütteln der bürgerlichen Konventionen alles wieder auf den Ausgangspunkt zuläuft. Der Bürger als Hamster im Rad der gesellschaftlichen Konventionen, wie sie es beschreibt. Die Komik speist sich bei Feydeau aus der Verzweifelung der Figuren, mit der sie ihre Fehltritte zu vertuschen suchen, um dabei doch nur in Höchstgeschwindigkeit scheinbar immer tiefer im Strudel um die eigenen Lügen zu versinken.

Der „Floh im Ohr“ von Raymonde (Swetlana Schönfeld), der Ehefrau des Rechtsanwalts Victor-Emmanuel Chandebise (Joachim Nimtz), ist die irrige Annahme, dass ihr Gatte, der sie scheinbar absichtlich vernachlässigt, eine Affäre haben muss. Beweis sind ein paar Hosenträger, die ihr aus dem berüchtigten Etablissement „Zur Zärtlichen Miezekatze“ mit der Post zugeschickt wurden. Ihr Plan ist es, mit Hilfe eines anonymen Liebesbriefs, den ihre Freundin Luceinne (Marina Senkel) schreiben muss, den untreuen Ehemann zu überführen. Daraus ergeben sich naturgemäß die allerschönsten Verwicklungen. Die verklemmte Moral wirft im Verborgenen ihre Hosenträger ab und stolpert sogleich über die heruntergelassenen Hosen.

Der eigentliche Besitzer der Chandebise’schen Hosenträger ist allerdings der Cousin des Hausherrn Camille, der überdies einen veritablen Sprachfehler besitzt (Thomas Wittmann beherrscht das konsonantenlose Sprechen praktisch wie aus dem Effeff), und ohne Hilfsmittel des zwielichtigen Dr. Finache (Uli Pleßmann) nicht viel zur Aufklärung beitragen kann. Der in Liebesdingen Benachteiligte benötigt etwas erotische Nachhilfe, die er sich auf Anraten des Arztes in den Armen „zärtlicher Miezekatzen“ erhofft.

Weiterhin verwickelt sind der bisher verschmähte Verehrer von Madam Chandebise und Freund Victor-Emmanuels, Romain Tournell (Veit Schubert), der für den Vorsichtigen das Rendezvous wahrnehmen soll, und der sich ebenfalls gehörnt glaubende spanische Gatte von Luceinne, Carlos Homenides de Histangua (Jakob Schneider). Für vollkommene Verwirrung bei allen Beteiligten sorgt noch, dass der versoffene Portier des verruchten Hotels, genannt Poche, Rechtsanwalt Chandebise wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Joachim Nimtz brilliert in dieser Doppelrolle mit schnellem Wechsel von Körperhaltung, Sprache und Kostüm.

Wie in jeder richtigen Boulevardkomödie klappen nun auch am BE die Türen und Bodenluken auf und zu, drehen sich Betten und verschwinden die Figuren damit im Bühnenboden, geben sich Herrenzote und Unterleibswitz die Klinke in die Hand. Nach anfänglichem Geplänkel und Ränkeschmieden im Hause Chandebise dreht die Klamotte erwartungsgemäß im 2. Akt bei den „Zärtlichen Miezekatzen“ auf. Sehr routiniert und gut geölt läuft die Bühnenmaschinerie mit einer variabel verschiebbaren Lattenwand (Bühne: Norbert Bellen), die neben den Türen noch Platz zum Durchschlüpfen lässt und den Akteuren auch als Klettergerüst dient.

Die ganze Personage versammelt sich zum nicht ganz freiwilligen, amourösen Tänzchen im besagten Hotel. Männer stammeln, Damen kreischen. Klischee reiht sich an Klischee. Der Holzhammer regiert und Fußtritte sind noch immer probates Mittel für Schenkelklopfer. Ein riesiger Rugbyspieler gibt den nach erotischen Abenteuern gierenden Engländer gleichen Namens, der sich auf alles was noch einen Rock trägt mit eindeutiger Pose stürzt. Der eifersüchtige spanische Ehemann trägt seinen Colt wie ein mexikanischer Pistolero, und kaut dabei bedrohlich auf seinem Akzent herum.

Feydeaus frecher Floh beißt sich fest im Ohr aller Beteiligten und versucht auch den gewagten Sprung ins Publikum, das bislang nur vereinzelt zu Lachen wagte. Dabei halten sich innere Abwehrhaltung und der Wille zum Amüsement vorerst die Waage. Allein das Karussell der Verwicklungen dreht sich dann doch etwas zu vorhersehbar. Man merkt dem Floh seine Jahre an, die er auf dem Buckel trägt. Der Sprung in die Gegenwart gerät leider etwas zu kurz. Tiedemann lässt der Farce auch nicht vollends ihren freien Lauf, bewahrt sie vor dem unkontrollierten Durchdrehen.

Zu durchsichtig scheint heute diese Verwechslungskomödie, als dass sich daraus die nötigen Funken schlagen ließen, um einen Hochkultur-gesättigten Bildungsbürger noch aus der Reserve locken zu können. Obwohl die moralischen Hosenträger auch weiterhin festgezurrt am Körper sitzen, scheinen uns heute das vorübergehende Ausbrechen aus starren Ehe-Konventionen oder ähnlich lächerliche Befindlichkeiten, wie die Angst vor dem Skandal, der noch die Figuren in Feydeaus Komödien antrieb, doch eher kalt zu lassen. Trotzdem ein warmer Applaus für das aufopferungsvoll kämpfende und ausgelassen hüpfende Floh-Ensemble.
Leserkritik "Floh im Ohr": Word-Watch
"Vaudeville", nicht "Vaudvilles"!
Leserkritiken: Dank
Vielen Dank Herr Steckel. Einmal stimmt's. Im Genitiv darf ich das s aber wieder anhängen, oder?
Leserkritik: Wir lieben und wissen nichts, Theater Bern, bei den ATT Berlin
Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts, Theater Bern (Regie: Mathias Schönsee)

So ganz neu ist die Konstellation nicht: Zwei Paare treffen sich und schon bald nach Austausch der ersten Höflichkeitsfloskeln, fliegen die Fetzen, entstehen volatile, sich immer wieder verschiebende Konstellationen, werden Geheimnisse und Lebenslügen hervorgespült, die harmonische Fassade eingerissen. Edward Albees Who’s Afraid of Virginia Woolf? ist noch immer der Meister aller Klassen dieses Sub-Sub-Genres, Yasmina Reza feierte vor einigen Jahren damit in ihrem Gott des Gemetzels einen Welterfolg. Nun nimmt sich Moritz Rinke dieser Konstellation an und feiert mit Wir lieben und wissen nichts nach sieben Jahren Pause seine Rückkehr auf die Theaterbühne. Vieles ist bekannt: Angesiedelt ist das Stück in der gehobenen Mittelschicht, zumindest ein paar hat den üblichen Akademikerhintergrund, auch hier würfeln sich die Paare munter durcheinander, gibt es Geheimnisse aufzudecken, selbst ein (noch) nicht existierendes Kind spielt eine Schlüsselrolle. Hinzu kommt der Konflikt alt gegen jung, Konservativismus gegen Moderne aus Tschechow und auch Ibsens Lebenslügendramen dürften eine Rolle gespielt haben. Das kommt an: Schon wenige Monate nach der Frankfurter Uraufführung wird es munter auf deutschsprachigen Bühnen nachgespielt.

Die Schweizer Erstaufführung hat Mathias Schönsee am Theater Bern besorgt und im Rahmen der Autorentheatertage hat sie jetzt auch Berlin erreicht. Und hier treffen wir sie also: den Kunsthistoriker Sebastian und die Atemtherapeutin Hannah, die im Rahmen eines Wohnungstauschs auf den Ingenieur Roman und die Tierphysiotherapeutin Magdalena treffen. Womit auch schon ein wenig über die Subtilität der Versuchsanordnung gesagt ist: Beide Paare sind schön durchmischt: der Karrierist Roman, der auf das Klare und Genaue der Technik setzt und jeden neuen Schnickschnack sofort kauft, und die Atemtherapeutin, die bei Zen-Meistern lernte und ihr Wissen jetzt Bankern angedeihen lässt, stehen für die kapitalistische Wirklichkeit, für Pragmatismus, für die weltweite Vernetzung. Wo Roman die ganze Welt zu einem riesigen Informations- und Kommunikationsraum machen will, reichen Sebastian ein Stuhl und ein paar Bücher für sein leeres Arbeitszimmer, das er “Bewusstseinsraum” nennt. Er, der sich lieber mit Orgien von Renaissance-Päpsten befasst, als die Koffer zu packen, steht zusammen mit Tierliebhaberin Magdalena für den Blick zurück, für Technikskeptizismus, für die Erhaltung des Vergangenen, für Entschleunigung und Entnetzung. Natürlich kommen sich die Interessensgleichen näher und natürlich geht das nicht gut. Das ist zuweilen ein wenig plakativ und kann sich auch nicht so recht emanzipieren von den berühmten Vorbildern. Da werden genüsslich Geheimnisse ausgepackt, die auch nur selten über das übliche Repertoire hinausgehen.

Dass Wir lieben und wissen nicht dann aber doch mehr ist als eine schlechte Kopie, hat mehrere Gründe. Einige liegen im Stück selbst, andere in Mathias Schönsees Inszenierung. Dieses ist klar als Komödie angelegt, hat starke komische, auch ironische und satirische Momente. Natürlich sind diese Figuren lächerlich, vor allem die Männer: Roman in seinem Überlegenheitsgefühl, das sich durch nichts rechtfertigen lässt, Sebastian in seiner Diskrepanz aus intellektuellem Anspruch und der Tatsache, dass sich seine Autorenkarriere bislang auf Vorwörter beschränkt hat. Rinke findet eine Balance aus Ernst und Leichtigkeit, die das Stück davon abhält, ins Beliebige zu fallen. Schönsee tut gut daran, diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Inszenierung zu stellen, ohne dies durch oberflächliches Knallchargentum oder karikaturhaftes Überzeichnen zu tun. So gelingen wunderbare Porträts hinter der Verwirklichung des eigenen Selbstbildes oder den vermuteten Anforderungen des wirtschaftlichen und beruflichen Hamsterrads hinterherzuhecheln, aber auch hochkomische Studien des zwischenmenschlichen Kommunikationsversagens.

Fortsetzung unter: http://stagescreen.wordpress.com/http://stagescreen.wordpress.com/2013/06/09/hamsterrad-im-bewusstseinsraum/

(Sorry, aber das System sagte mir, der Beitrag sei zu lang :-))
Leserkritik: Breiviks Erklärung
Die Angst vor dem Breivik – in uns

Modernes Theater provoziert gern. Spielt mit Tabus und überschreitet unsichtbare moralische Grenzen, bis ein Theaterleiter oder Raumanbieter in die Skandalfalle tappt. Und die Stückemacher des Hauses verweist. Dann nährt der Skandal das Stück: Mediale Aufmerksamkeit statt heimlicher Zensur.

Und um Zensur und das Ignorieren mißliebiger Meinungen und Ansichten geht es in Anders Behring Breiviks Rede vom 17. April 2012. Im Verschweigen, Verdrängen, Mißachten der „anderen“ - auch seiner - Meinung in den Medien sieht der norwegische Terrorist eine undemokratische Geste und Situation, die seine Taten, die er als Notrecht versteht, heraufbeschworen haben. Seine Rede vor dem Osloer Gericht wurde vier mal von der Vorsitzenden Richterin Wenche Elisabeth Arntzen unterbrochen, wegen Ablesens („Es sind nur Zitate“), der Wortwahl („Es wird nicht schlimmer“) und zweimal wegen Zeitüberschreitung („Dann sehe ich keinen Sinn darin, mich überhaupt zu erklären!“). Zum Schluß, er hatte noch drei Seiten vor sich, unterbrach ihn die koordinierende Opferanwältin Mette Yvonne Larsen. Bei ihr hatten sich zahlreiche Betroffene darüber empört, daß Breivik Gelegenheit bekommen habe, sich so darzustellen.

Und diese Rücksicht auf die Opfer und Hinterbliebenen ist die Motivation des Tabus, Breiviks Reden zu zeigen oder aufzuführen. Doch haben die Hausherren in Weimar, München und Berlin mit dem Hinauswurf von Milo Rau mit seinem Dokumentarstück „Breiviks Erklärung“ damit wirklich auf die norwegischen Betroffenen Rücksicht nehmen wollen?

Ist es nicht eher so, daß sie – ganz wie Breivik es beschrieb – damit eine unangenehme, unbeliebte oder gar mißliebige Meinungsäußerung unterdrücken wollten? „Aus Angst vor Applaus an den falschen Stellen“, wie es der Rheinland-Pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) nach der Aufführung am 18. Juni 2013 in Mainz ausdrückte. Der Sozialdemokrat war zudem von dem „großer Überbau“ erschrocken, und auch der Mainzer Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder zeigte sich von Breiviks „enormer Belesenheit“ überrascht.

Die Rede Breiviks verlor durch die Bearbeitung zu dem Theaterstück die dramatischen Unterbrechungsdialoge, einige Wiederholungen und Details – gewonnen hat sie dadurch aber an Klarheit in ihrer Aussage. Losgelöst vom Täter durch den Vortrag der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, entfernt von den Taten in Norwegen durch die deutsche Sprache, abgekoppelt von den Fernsehbildern durch das schlichte Bühnenbild bleibt eine politische Rede übrig. Eine Rede, deren Teile so auch auf der Straße, an Stammtischen, in Zeitungen wie der „Jungen Freiheit“ oder Büchern des Sozialdemokraten Thilo Sarazzin wiederzufinden sind. Auch im Theaterpublikum fand sich spontan Zustimmung zu einzelnen Positionen Breiviks: Teile der Bevölkerung würden nicht gehört, es gäbe Angst vor den Veränderungen bis hin zu
„Davon kann ich vieles unterschreiben“.

Und das ist der Punkt, den Milo Rau mit seinem provokanten, aber nach Ansicht Kreuders gefahrlosen, Theaterstück bei den Zuschauern erreichen will: Die Erkenntnis, daß viele der Thesen Breiviks Allgemeingut sind. Die Tabuisierung der Aussagen Breiviks sind nur der Selbstschutz vor dieser Selbsterkenntnis, die Angst vor dem „Breivik in uns“.
Leserkritik: Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe – im Ballhaus Ost Berlin
„Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe“ im Ballhaus Ost. Ein Schauspiel zwischen medialem Kult, schwarzer Boulevardkomödie und deutscher Geschichte

Da steht er vor uns, der nackte blanke Wahnsinn, gekleidet in einen frotteeweichen, weißen Bademantel der häuslichen Normalität. Und das gleich mal drei. Das Ballhaus Ost zeigt „Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe“. Der Leipziger Schauspielers Andrej Kaminsky ist Beate. Eva Bay und Gina Henkel geben die beiden Uwes. Regisseurin Mareike Mikat und Autorin Olivia Wenzel haben ein Theaterstück erarbeitet über die Zwickauer Terrorzelle, die gemeinsam sieben Jahre lang den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) bildete und seit dem spektakulären Doppelselbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Schlagzeilen durch die bundesdeutsche Presse geistert. Übrig geblieben ist der weibliche Teil des Trios, Beate Zschäpe, die gerade im Begriff ist, im Zuge des NSU-Prozesses ihre zweite Medienkarriere zu beginnen. Der Teufel im Look einer Beate Mona Lisa.

Die von der Presse kreierte Bezeichnung „Döner-Morde“ schaffte es 2011 sogar zum Unwort des Jahres. Für den halbwegs vernunftbegabten Mensch wird es da schwierig Hintergründe zu deuten und Begriffe richtig einzuordnen oder gar die Wahrheit hinter all den Schlagzeilen, Spekulationen und angeblichen Fakten zu erfassen, die hier noch einmal auf uns niederprasseln. Die drei Täter fläzen dabei auf einem bequemen Sofa und werfen dem Publikum ihre ganze Verachtung entgegen. Sie haben gehandelt, während wir in unserer verkackten Mittelmäßigkeit allabendlich vor dem Laptop sitzen. Ihre Botschaften sind so simpel wie gefährlich. Was letztlich im Spiegel der Medienberichte davon übrig bleibt, ist ein von jeglichen Inhalten befreiter, medial aufbereiteter Brei aus schwarzem Boulevard und sexueller Fantasie. Wie geschaffen für die theatrale Verwurstung. Sieg geil!

Die Hasstiraden der drei werden mit einem fast spießigen Familienleben zu dritt konterkariert. Beate kocht für ihre Jungs. Hm, ganz köstlich. Und Böni, der noch beim Kaffeetrinken mit der Großmutter von „Negerschweiß“ redet, zieht daheim OP-Überzieher über seine Springerstiefel. Jährlich fährt das Trio in den Sommerurlaub nach Fehmarn und täuscht unter den Namen Lisa, Max und Garry für Wochen ein normales Leben vor. Auf der Videowand sieht man Meer und Strand, die Darsteller wiegen sich im Wind und amen Möwen nach. An den Wänden hängen gehäkelte Verballhornungen dieser deutschen Gemütlichkeit. Auch Goethe kommt zu Wort und Adorno. Sein „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ bekommt hier noch mal eine ganz andere Dimension. Oder sogar die einzig richtige.

Das Stück lässt nichts aus. Es greift viele, vielleicht zu viele Themen auf, stellt aber auch unbequeme Fragen. Was ist eigentlich los mit den Ostdeutschen, was wollen die und wer sind die? Der unbekannte Osten als Keimzelle des Rechtsradikalismus? Der ewige Ossi mit dem viel zu kleinen Pimmel, der gegenüber dem dicken Schwanz des Wessis immer den Kürzerer zieht und sich über den Mustafa im BMW wundert. Der Türke im „Baader-Meinhof-Wagen" hat einen Schwanz mit Vanillegeschmack, die Skorpiens singen „Wings of Change“ und Moral ist die kollektive Wahnvorstellung einer Mehrheitsgesellschaft. Das ist der Theaterstoff für viele Jahre und ganz großes Kino mit Moritz Bleibtreu, Daniel Brühl und Nora Tschirner in ihrer ersten ernsthaften Rolle. Die Tränen von Iris Berben sind ihnen gewiss. Der Rest ist das Schweigen der Beate Z, der stolzen Nazi-Witwe.

Obwohl die Truppe mit Uwe Mundlos, der trotz der langen Haare sogar Meese mag, so etwas wie einen gebildeten Kopf besitzt, gibt es eigentlich keinen wirklich intellektuellen Hintergrund. Genau wie bei Anders Breivik werden nur die altbekannten Vorurteile einer faschistisch chauvinistischen Ideologie reproduziert. Und das ist bei allen schrecklichen Gemeinsamkeiten wohl der große Unterschied zum anderen Terrortrio der bundesdeutschen Geschichte. Im Gegensatz zur Baader-Meinhoff-Gruppe fehlt es ihnen an einer echten Utopie. Dass die finsteren Gedanken aber direkt aus unserer Mitte entspringen, lässt noch einmal eine der früheren Bekannten des Trios erkennen, die klar zwischen guten Ausländern, die wie Deutsche grillen und ackern, und schlechten in Asylbewerberheimen unterscheidet. Für sie wird Beate Zschäpe immer ihre Lisa bleiben, dieser herzensgute Mensch.

Die Opfer erscheinen zunächst nur als geisterhafte Schattenrisse hinter einer Wand aus Pergament. Als Slapstick-Spiel des Unvorstellbaren beleuchten Eva Bay und Gina Henkel nun als Süleyman, Mehmet oder Halit die verwirkten Leben der sogenannten Kanaken, die das Mord-Trio wie nebenbei aus ihrer Lebensmitte geschossen hat. Sie ringen hier in verzweifelt komischer Gestalt um Kontur und ihre verblassende Geschichte. Selbst die ermordete Polizistin Michéle Kiesewetter a.D. liefert sich mit dem in seinem Internetcafé in Kassel praktisch vor den Augen eines Verfassungsschutzmitarbeiters mit dem Spitznamen „Klein Adolf“ erschossenen Halit Yozgat einen wahnwitzigen Dialog über Zuständigkeiten und eine katastrophale Polizeiarbeit.

Am Ende aber wird die diffuse Wand rissig und die Gestalten verlassen ihr Schattendasein für kurze Zeit. Sie treten ins Rampenlicht und übernehmen die ihnen bisher vorenthaltene Deutungshoheit. Ein fiktiv utopisches Gedankenspiel um Mitleid, Rache und Vergebung. Man träumt von einer neuen Mordserie gegen Nazis und will den NMU (Neuer Migrantischer Untergrund) gründen. Letztendlich wird mit den gesammelten Nägeln niemand ans Kreuz geschlagen. Verziehen werden kann nicht, einer Rache bedarf es aber ebenso wenig. Die Diskussion darüber wird weitergehen. Die im Premierenpublikum sitzende Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, Darstellerin in Milo Raus „Breiviks Erklärung“, machte später im Hof des Ballhaus Ost schon mal einen Anfang.
Leserkritik: Das Tagebuch der Anne Frank in Bad Hersfeld
Leserkritik: Das Tagebuch der Anne Frank, Bad Hersfeld
Premiere 1.7.2013: Von Stiftsruine bis Stiftshütte: Theater in der Hersfelder Martinskirche. Bad Hersfelder Festspiele "Das Tagebuch der Anne Frank" mit ausdrucksstarker Maddalena Hirschal.

"Wo gestern im Gottesdienst noch das Taufbecken stand, und drei Kinder aus der Taufe gehoben wurden, steht heute eine dreigeschossige Bühne in Nachbildung des Hauses in der Prinsengracht Amsterdam, in der sich Anne Frank versteckt hielt und ihr Tagebuch führte", sagt Pfarrer Karl-Heinz Barthelmes von der Martinskirche Bad Hersfeld anlässlich der Premiere des Theaterstücks "Das Tagebuch der Anne Frank" mit der Wiener Schauspielerin Maddalena Noemi Hirschal und Heinrich Cuipers. Der Kirchenvorstand willigte ein, dass die Theaterproduktion der Bad Hersfelder Festspiele auf Bitte des Intendanten Holk Freytag aus technischen vom Buchcafé in die Kirche verlegt werden konnte. "Eine weise Entscheidung", wie Holk Freytag nach der erfolgreichen Premiere bemerkte.

"Nathan und seine Kinder" in der Fassung der Autorin Mirjam Pressler waren bereits zuvor ein in der Konfirmanden- und Gemeindearbeit aufgenommene Aufführung der Festspiele. Der Pfarrer war erstaunt, dass nun die neue Konfirmandengruppe "Das Tagebuch der Anne Frank", dessen autorisierte Fassung ebenfalls von Mirjam Pressler stammt, zum großen Teil bereits gelesen hat. Nach einer Gemeindereise nach Krakau und Auschwitz ist seine Überzeugung gewachsen, dass es nicht nur die Aufgabe der Kirche ist, sich für Versöhnung der Völker einzusetzen. Dieses Theaterstück an diesem Ort sei ein Stück aktiver Versöhnungsarbeit. Kurz nach dem Krieg im Oktober 1945 formulierte der Rat der Evangelischen Kirche die Stuttgarter Schulderklärung, die an die damaligen Vertreter des Ökumenischen Rates des Kirchen gerichtet war: "Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Die Stunde des neuen Anfangs ist nun vorüber. Der Geist der Gewalt und Vergeltung will jedoch immer neu mächtig werden. Deshalb ist es ein Grund zur Freude, wenn durch ein solches Theaterstück im Raum der Kirche in der lebendigen Sprache eines heranwachsenden Mädchens und in Gestalt einer professionellen Schauspielerin, Mahnung, Buße und Umkehr zu neuem Leben und Handeln ein lebendiges Gesicht und neues Gehör geschenkt bekommen. Die sorgsame Inszenierung einer Pubertät unter den Bedingungen einer unterdrückten Existenz in einem Mansardenversteck im Zeitalter der Menschenverachtung spricht Bände. Zugleich nimmt die Inszenierung Menschen wie den Gemüsehändler mit in den Blick, der abgeholt wird, weil er Juden versteckt hat und zeigt den Unterschied von unternehmerischem Risiko und Zivilcourage. Wenn Anne in der Schlussszene ihren "Kreuzweg“ weg vom Kreuz in den sicheren Tod von Bergen Belsen geht, bleibt kein Besucher ungerührt.

"Das Haus", so nennt Maddalena Hirschal ganz schlicht ihren Arbeitsplatz, den sie mit Hilfe der Bühnen-, Licht- und Tontechniker in Theatern und Schulen errichtet, erinnert mit den drei Ebenen an Shakespeares Globe Theatre. In der Martinskirche wird ein anderer Vergleich wachgerufen: die Kirche des Heiligen Franz von Assisi: "Spontan leuchtete die Porziuncola in der Basilika S. Maria degli Angeli im italienischen Assisi vor dem inneren Auge auf, jene kleine Kapelle, über der eine große Kirche gebaut wurde." Dieses Theaterstück in der Kirche macht die Martinskirche zu einem besonderen Zelt der Begegnung, die Bühne zu einer "Wächterhütte im Gurkenfeld", wie es beim Propheten Jesaja gesagt wird. "So ein Stück gehört in die Kirche!", ist der Pfarrer überzeugt. Schließlich fuße unser christlicher Glaube auf dem Judentum. Die lange Geschichte reiche vor Ort von der Großmutter der Stiftsruine und den Anfängen am Frauenberg in Bad Hersfeld über die Stadtkirche als Mutter bis eben zu der Martinskirche als einer der jüngeren Töchter der Kirchengemeinden in der Stadt, in dessen Quartier noch heute zwei jüdische Friedhöfe liegen. Die Martinskirche Bad Hersfeld wurde von dem Marburger Künstler Jochen Spies entworfen und 1968 nach den Plänen des Orlamünder Architekten Günther Gundermann realisiert. Es folgen noch vier Aufführungen, am 7.7., 9.7., 12.7. und 2.8.2013.

© Pfr. Karl-Heinz Barthelmes Ev. Martinskirchengemeinde Schlippental 39 36251 Bad Hersfeld martinskirche.bad-hersfeld@ekkw.de
Leserkritik 2.10.2013: HAU, Black Bismarck, andcompany & co, HAU
andcompany&Co.: Black Bismarck, Hebbel am Ufer, Berlin

Ein weißer, gezackter Tisch, ein D-Pult mit Bismarck-Porträt davor, ein Turm eine weiße Leinwand, den roten Marmorwänden der Berliner U-Bahnstation Mohrenstraße nachempfundene Wandstücke: Zeichen, sind das, erzählt uns Simone Dede Ayivi zu Beginn der gut eineinhalbstündigen Performance, in der das Künstlerkollektiv andcompany&Co. Den Spuren des Kolonialismus in Deutschland nachgehen – den sichtbaren wie den verborgenen, die sich meist als die hartnäckigeren erweisen. Das beginnt mit Bismarck: Wir erfahren von den 140 Bismarck-Türmen im Land, der Kongo-Konferenz 1884/85, in der Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt wurde, der Ehrerbietung, die der Reichskanzler bis heute erfährt. Später führt der Abend mit erhöhtem Videoeinsatz und streckenweise äußerst komisch zu dem, was von der Kolonialmacht Deutschland übrigblieb: ein afrikanisches Viertel im Wedding mit nach brutalen Kolonialverwaltern benannten Straßen, der U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlins Mitte, das ehemalige Feriendorf Neu-Afrika in Brandenburg. Schnell wird zweierlei klar: Die deutsche Kolonialgeschichte gehört wohl zu den am meisten vergessenen – oder sollt man sagen, verdrängten? – Kapiteln jüngerer deutscher Geschichte. Und sie hat – vom Kolonialwarenladen bis zur Afrika-Romantik Spuren hinterlassen, die bis heute kaum hinterfragt werden. Wie viele von uns haben sich je beim U-Bahn-Halt in der Mohrenstraße Gedanken gemacht, wofür dieser Name ein Zeichen sein könnte?

Es gehört zu den Stärken dieses Abends, dass andcompany&Co. , verstärkt unter anderem durch zwei Afrodeutsche und einen Belgier kongolesischer Herkunft, solchen Zeichen nachspürt, sie mit der verdrängten Bedeutung auflädt und sichtbar macht, was sich zu lange verbarg. Er tut dies auf äußerst spielerische Weise: mit Videoeinspielern, Musik, narrativen Passagen und Spielszenen – und viel Ironie. Das beginnt schon beim Titel: Denn eigentlich geht es hier nicht ums Schwarzsein, nein, hier wird der Spiel um gedreht. Was heißt „weiß“, wofür steht das, was beinhaltet es, drückt es aus, gibt es eine weiße Identität? Die Frage nach der „Weißheit“ steht im Mittelpunkt der Performance. Da verkleidet sich Dela Dabulamanzi als deutsche Birke, spielt die weiße Leinwand eine Schlüsselrolle, wird mit Freud – dessen Blick auch als ein kolonialer (das weibliche Unbewusste als dunkler Kontinent!) entlarvt wird – über das weiße „man“ als das Unmarkierte, das alles andere markieren muss, philosophier. Alexander Karschnia übt sich mit Zebrastreibenmetaphorik im Unsichtbarwerden –„weiß“ ist hier das Unbestimmte, die Nichtidentität, die doch allem anderen Identität verleiht und so seinen Herrschaftsanspruch manifestiert.

Fortsetzung (die Kritik ist zu lang für dieses Kommentarfeld :-)) unter: http://stagescreen.wordpress.com/2013/10/01/zeichen-und-wunden/
Leserkritiken: Danke, Sascha Krieger
Eine echte Sascha Krieger-Kritik: danke!
Leserkritik: People, ein Einsamkeits-Initiationsritual, Pathos München
Theater, das so klein ist, dass es fast niemand wahrnimmt:

"Auf der Bühne steht ihr eigenes, privates Bett, und nicht viel sonst. Sie selbst ist die einzige Spielerin. Ihre Performance nennt sich „People“ Untertitel „Ein Einsamkeits-Initiationsritual“, und jeder, der schon einmal richtig einsam war, sich allein zuhause weggeschlossen hat von der Welt, wird sich sofort darin wiedererkennen. S. liegt in Bett, bewegt sich nicht, zappt durch ihre Musiksammlung, ohne je ein Lied richtig anzuhören, macht sich einen Kaffee, ohne ihn zu trinken, dreht sich eine Zigarette ohne sie zu rauchen. Die Einsamkeit in dieser Performance ist groß und stark, und doch fühlt man sich nie bedrängt, nie gezwungen einer Performerin bei ihrer Selbsttheraphie zuzusehen, alles bleibt auf merkwürdige Weise leicht. Am Ende öffnet sich das Bett, und heraus kriechen unzählige Strohwesen, krude und liebevolle kleine Puppen, die S. den ganzen Sommer über gebastelt hat, und leisten der vereinsamten Performerin Gesellschaft. Mit zwei engagierten Mithelfern und ein paar Gefallen aus der Münchner Theaterszene ist aus dem, was anfangs schien wie die Verzweiflungstat einer unterbeschäftigten Regisseurin, ein kleines Ereignis geworden."

http://istinalog.net/2013/10/04/kunst-die-niemand-sieht/
Leserkritik: Don Karlos, Nürnberg
Don Karlos, Infant von Spanien (Schauspielhaus) ***
Von Friedrich Schiller
Inszenierung: Shirin Khodadadian

Mit „Don Karlos“, einem schweren Klassik-Brocken startet das Nürnberger Sprechtheater in die neue Saison 2013/14. Die Dilemmata sind eigentlich schon im Originaltext angelegt: man weiß nicht recht, wer die dramatische Hauptfigur sein soll, man grübelt über die recht Gewichtung von Politischem und Privatem und man verzweifelt fast an der überbordenden Konstruktionslust des Autors, was die brieflichen Verwicklungen dieser Fünfer-Beziehung betrifft. Um wie viel leichter tut man sich da mit einem „King Lear“ oder mit „Dantons Tod“! Selbst ein geradliniger Freiheitskämpfer wir der erfundene Marquis von Posa verfängt sich schließlich im Dickicht der Macht- und Liebesintrigen am Hofe.
So konnten auch die bemühte Regiearbeit von Shirin Khodadadian und das schauspielerische Engagement des Ensembles diese vom jungen Schiller veranlassten Schwierigkeiten kaum auflösen. Wenn es nach der schauspielerischen Qualität geht, ist eigentlich König Philipp II. die interessanteste Hauptfigur, weil ihm Thomas Nunner (er spielte in der Nürnberger Inszenierung von 1997 noch den Don Carlos) sehr differenzierte Züge von Machtwille und Einsamkeit verleiht. Der jugendlich stürmerische Don Carlos von Martin Bruchmann erscheint dagegen genauso klischeehaft wie die aalglatte Fratze des Machiavellismus, die Thomas Klenk (wie fast immer) seinen Figuren, diesmal dem Herzog von Alba, überstülpt. Bei den beiden Damen bleibt fast nur in Erinnerung, dass Gräfin Eboli (Louisa von Spies) permanent am ganzen Leib zittert und dass Elisabeth (Karen Dahmen - neu in Nürnberg) sich zwangsläufig mit ihrem ausladenden Reifrock in den schmalen Gängen des Bühnenbilds (Carolin Mittler) verheddert.
Die dreistündige Inszenierung versucht durch nachvollziehbare Personal-Verdünnung und durch die Einführung eines Briefe vermittelnden Pagen (Julian Keck) dem Zuschauer Hilfestellungen zu geben, die Atmosphäre der Intrige und der Überwachung im Königspalast wird durch eine teilweise verschattete Bühne mit vielen Nischen, Dreh-Hintergründen und Türen verdeutlicht. In der Gesamtoptik wirkt der Spielraum wie eine Verlängerung des Zuschauerraums. Das letztlich nur verwirrende Kaleidoskop der Brief-Botschaften führt zu viel Papier auf dem Boden, das wechselweise verstreut und wieder aufgesammelt wird. Der Jahreszeit Herbst angemessen dominieren bei den Kostümen die Brauntöne.
Bei der Premiere gibt es einhelligen Beifall, der jedoch nicht über eine gewisse Beliebigkeit dieser Theaterarbeit hinwegtäuschen kann. Somit nur ein redlich sprechender, aber kein viel versprechender Auftakt.
Leserkritik: Einige Nachrichten an das All, Nürnberg
Einige Nachrichten an das All (Kammerspiele, Nürnberg)
von Wolfram Lotz
Regie: Markus Heinzelmann

Ganz ohne Zweifel hat der preisgekrönte „Nachwuchs“-Autor Wolfram Lotz die Dramaturgie der letzen 60 Jahre eifrig studiert und in bemerkenswert eklektizistischer Weise für seinen Theatertext „Einige Nachrichten an das All“ benutzt. Da findet man also Beckettsche Absurditäten, Handkesche Sprach- und Meta-Theater-Spielereien, Straußsche Dialogführung und nicht zuletzt Jelineksche Grobtext-Brocken. Das Ganze verläuft auf mehreren „Handlungs“-Ebenen, wobei die Stationen-Talkshow des „Leiters des Fortgangs“ eine Art Grundgerüst bietet. Relativ sinnfrei hat Lotz in seinen Test noch zahlreiche Fußnoten eingestreut.
Eine prächtige Spielwiese also für einen Regisseur, auf der man natürlich grob scheitern (wie nach Meinung der Kritiker in Weimar) oder herzhaft brillieren (wie die Kritiker in Wien konstatierten) kann.
Die Aufführung im Nürnberger Staatstheater (Kammerspiele), gestaltet durch Markus Heinzelmann, nähert sich dem Stück vor allem auf komödiantische Weise. Der Leiter des Fortgangs wird zu einer Johannes-B.-Kerner-Charaktermaske (Stephan Willi Wang), der seinen Gästen ein Wort für die Ewigkeit entlocken will - und am Schluss selbst das Substantiv „Unterhaltung“ (Untertitel: „Nur keine Leere aufkommen lassen“) auf Band spricht. Die Gäste sind eine dicke Frau aus dem Nachmittags-Talk, der Naturforscher Rafinesque, Heinrich v. Kleist (Stefan Lorch) und - lokal umgedeutet - Heimatminister Markus Söder (Marco Steger). Im Hintergrund wollen die zwei Körperbehinderten Purl und Lum beständig ein Kind haben, während ein alleinerziehender Vater (Adeline Schebesch!) sein Kind bei einem Unfall verliert. Was dies alles mit einem Weihnachtsspiel auf der onkologischen Kinderstation (als filmischer Hintergrund) und den Fußnoten von Henriette Schmidt zu tun, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Wer sich diese Phantasie bewahrt hat und bei den Einstürzenden Kulissen nicht zu sehr erschrickt, dürfte an dem zweistündigen Abend durchaus Spaß finden.
Leserkritik: Das Himbeerreich, Nürnberg
Das Himbeerreich (Schauspielhaus Nürnberg) ****
von Andres Veiel
Regie: Petra Luisa Meyer

Die vom deregulierten Finanzkapitalismus ausgelöste Krise beschäftigt spätestens seit 2008 die Öffentlichkeit, gehört aber leider zu den Themen, die nie verständlich dem interessierten Publikum der Klein- und Bausparer erläutert wurde. Auffallend ist weiterhin, dass die politische Klasse anscheinend nicht in der Lage ist, mit gesetzlichen Maßnahmen oder Re-Regulierungen darauf zu reagieren.
Das Theater kann diese beiden Ansprüche schon gleich gar nicht einlösen, aber das neue Stück von Andreas Veiel versucht durch mehrere aus Interviews gewonnene Psychogramme die Menschen, die hinter dem abstrakten Finanzmärkten und Investmentbanken stehen, greifbar zu machen. Wie man diese anonymisierten und bearbeiteten (gekürzten) Interviews auf die Bühne bringen kann, ohne ein Hauptseminar der Neueren Finanzwissenschaft abzuhalten, demonstriert mit viel Kreativität die Inszenierung von Petra Luisa Meyer im Schauspielhaus Nürnberg. Sie beschränkt sich auf sechs markante Personen (darunter auch ein Chauffeur für die Finanzvorstände) und ergänzt eigenständig eine mal naiv, mal kritisch herumgeisternde Allegorie des Geldes (Josephine Köhler). Auf der Drehbühne erleben die Banker den Absturz von der luxuriösen Weihnachtsfeier im Nobel-Appartement zur gedemütigten Existenz im Kellerloch, sie monologisieren, sie dialogisieren und singen auch mal zwischendurch deutsche Schlager (von Bettina Ostermeier am Piano begleitet).
Aus dem spielfreudigen Ensemble ragen diesmal Nicola Lembach und der altgediente Akteur Michael Hochstrasser hervor. Am Ende hat man sich an den Dummheiten und Selbstzweifeln der Spitzen-Banker ergötzt und kann zu Hause einen letztlich unveränderten Blick auf die Kontoauszüge werfen. Ein Ausweg aus dem Billionen-Spiel ist nicht sichtbar!
Leserkritik: Expedition in die Nähe, Theater unterm Dach in Berlin
Expedition in die Nähe Theater unterm Dach in Berlin
Konzept und Regie: HOR Künstlerkollektiv

Das eigene Zimmer bereisen. Ausgehend von einem Text von Xavier de Maistre, der als roter Faden durch den Abend führt bereisen die drei Schauspieler das Theater unterm Dach, das zu einem großen Zimmer umfunktioniert ist. Der Abend ist eine sehr eigene Mischung von Videoinstallation, Performance, Sprachaufnahmen, Theater, Musik.
Man sitzt im Raum verteilt auf Stühlen, kann den Ort jederzeit wechseln und damit die Perspektive. Der Raum wird durch drei Leinwände definiert: aus einem Fenster hat man Ausblick auf die verschiedensten Ausblicke aus den verschiedensten Fenstern, aus einem Bilderrahmen beobachten uns die Schauspieler als bewegte Portraits. Und eine große Leinwand ist wie ein weiterer Spieler. Die Filme von Gabriele Nagel korrespondieren, spiegeln und konterkarieren das Spiel von Astrid Rashed, Juliane Werner und Roman Shamov. Die Schauspieler tauchen in den Filmen auf und gehen - auf der Bühne - in ihnen unter, werden als Figuren Teil des Filmes. Sie kommunizieren mit sich selbst, suchen sich und suchen die Weite im Eingeschlossensein des Zimmers. Xavier de Maistre wurde im 18. Jahrhundert zu 42 Tagen Zimmerarrest verurteilt und begibt sich trotzig auf die erste dokumentierte Reise in seinem Zimmer, „belächelt die, die von Paris oder Rom berichten“. HOR schafft den Spagat von Ernsthaftigkeit und Ironie, Poesie und Humor. Nach dem Abend betrachtet man das eigene Zimmer mit neuen Augen. Ein wunderbarer Einstieg in den langen Berliner Winter.
Leserkritiken: Ermunterung für Nordost
Wie schön, dass es diese Chance für begeisterte (oder weniger begeisterte) Theaterbesucher gibt.
Demnächst auch Berichte aus einem Theater aus dem äußersten Nordosten.
Leserkritiken: "Leerlauf" in der Box des DT Berlin
Rik van des Bos: Leerlauf, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Marvin Simon)

Leerlauf, Marvin Simons Uraufführung von Rik van den Bos' Kriegsheimkehrerstück, ist ein Abend der einfachen Bilder, der simplen Illustrationen, der Überdeutlichkeiten. Das gilt für die Regie, die mitten in einer Dialogszene das Einbrechen der Erinnerung an besagte Hausdurchsuchung markiert, in dem das Licht gedimmt und durch gespenstisch tastende Spots ersetzt wird – geht die Szene weiter, geht das Licht wieder an. Und dieser Hang zur Überdeutlichkeit prägt auch Hierses Spiel: Bis fast zur Erschöpfung hetzt er über die Bühne, reizt jeden Gesichtsausdruck bis zum Anschlag auf, brüllt, was das Zeug hält und blickt eindrucksvoll wahnsinnig umher. Da schreit das Leiden aus jeder Bewegung, als müsse es uns – und sich? – von seiner Existenz immer und immer wieder überzeugen. Jörg Pose als Bouwman, Vater eines getöteten Soldaten, ist die wahrhaftige Figur an diesem Abend, einer, der reduziert, wo Hierse als Überlebender Birke dick aufträgt, dessen knappe Sentenzen tief ins Mark treffen, wo Birkes Worte Behauptung bleiben. Das muss vielleicht auch so sein, denn eigentlich leidet Leerlauf genau an dem, was es thematisiert: der Unmöglichkeit des Verstehens. Wo Bouwmans zielloses Irren im Bedeutungssumpf nachvollziehbar ist, bleibt uns – und wohl auch Autor und Regisseur – das Leiden Birkes fremd. Ihm können sie nur mit grell plakativer Überzeichnung begegnen – und entfernen es dadurch umso mehr. Und so bleibt vor allem Jörg Poses Verständnis suchender blick, sein leises Flehen im Gedächtnis, liegt hier das Wahrhaftiges des Abends. Eines, der ebenso wie das Stück genau dort scheitert, wo er triumphiert, der die Unmöglichkeit des Verstehens eindringlich vorführt und doch eigentlich verstehen will. Und auch hier ist er bei Bouwman: Er weiß, dass er das Erlebte nie ergründen kann – und bleibt in diesem Wissen doch dabei, es weiter zu versuchen.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/11/19/leise-rieselt-der-sand/
Leserkritik: Madama Butterfly in Weimar
Der kalte Blick auf Cio-Cio-San – Madama Butterfly in Weimar
Gesehen am 09.11.2013
Auch in Weimar kann man in die Oper gehen. Zum Beispiel in Madama Butterfly. Um sich eine „Regiearbeit“ anzusehen, „die zur intellektuellen Auseinandersetzung“ anregt, wie Christoph Karner im neuen Merker schrieb. Aber man sollte besser die Einführung meiden und auch im Programm nur noch einmal die Handlung nachlesen, nicht etwa die konzeptionellen Thesen des Dramaturgen Mark Schachtsiek. Damit einem Sätze erspart bleiben wie: “Will man wie der Komponist Mitleid mit ihr [Butterfly] haben, muss man sie an ihrer absurden Liebe zu Pinkerton verrückt geworden betrachten.“ Eine Brechtsche Inszenierung von Puccinis Butterfly? Kognitive Therapie für Butterfly: Sie soll durch Wiedererleben der eigenen Geschichte von ihr befreit werden, damit sie durch Selbsterkenntnis Frieden finden kann.
Ich muss gestehen, ich verlange herzzerreißend nach genau dieser im Nichtbewältigen, in verzweifelter Sehnsucht verharrenden Cio-Cio-San, ich bewundere sie genau dafür, zumindest als Heldin einer Oper. Ich wünsche mir eine (bisher noch nicht gesehene) Inszenierung, in der der grandiose Lebensmut eines blutjungen Mädchens gezeigt wird, das sich mit aller Macht dem zynischen Schicksal des Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung entgegenstemmt, indem es den für sie bestimmten ersten Feier zur Liebe ihres Lebens erklärt und innigst hofft, dass der Funke überspringt. Cio-Cio-San ist nicht egoistisch, sondern sie nimmt – wie ich meine nicht zu unrecht – wahr, dass sie nur diese eine Chance hat.
Um so elender ist Pinkerton, dass er dieses Liebesangebot – ich würde es so sehen: gefühlskalt und brutal – ausschlägt. In dem von mir gesehenen Zynismus wird Pinkerton zu einem Siegertyp der heutigen Zeit. Wir sind den gefühlskalten, missbrauchenden, manipulierenden Pinkertons unterworfen.
Cio-Cio-San ist schwierig zu besetzen. Als zentrales Element hat Eva-Maria Höckmayr die Rolle im 2. Akt geteilt und Jana Havranova die gealterte Cio-Cio-San singen lassen, welche das Geschehen quasi kommentiert. Anders als von ihrem Dramaturgen dargestellt gelangt jene zweite Cio-Cio-San jedoch nicht zu distanzierender Selbsterkenntnis, sondern sie verzweifelt aufs Neue an ihrem so zwangsläufig unbarmherzigen Schicksal, wird daran verrückt, und findet wiederum keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung. So verschmelzen die beiden Butterfly-Figuren.
Aber die Oper beginnt mit dem 1. Akt und hier begegnen wir zunächst einem resignierten, zur Schlaflosigkeit verdammten und dem Whisky verfallenen Pinkerton, der seiner in Japan weggeworfenen Liebeschance hinterherträumt. Auch Pinkerton ist nur ein Opfer, drängt sich da auf. Mit dieser Sicht auf Pinkerton wird die Oper konturlos, aber modern. Sie wiederholt das Dilemma der heutigen Missverhältnisse, die keine Verantwortlichen oder Schuldigen mehr kennt.
Madama Butterfly braucht den atemberaubenden Kontrast zwischen einer sich haltlos hingebenden, wider als besseres Wissen blind vertrauenden Cio-Cio-San, deren Seele von der eisigen und glasscharfen Kälte eines Pinkerton erbarmungslos zerschnitten wird.
Nu so können wir selbst – mit Tränen in den Augen – zu so etwas wie Selbsterkenntnis gelangen.
Leserkritik: Die Ehe des Herrn Mississippi, Hamburg
Gelungene „Neuauflage“ eines „verstaubten“ Bühnenstückes?

Wenn in dem kurzen, erläuternden Text zu Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Ehe des Herrn Mississippi“, die derzeit am Hamburger Thalia Theater aufgeführt wird, auf deren Webseite von einem Bühnenstück, das „selten gespielt“ wurde und „in den letzten Jahren nur als Schulstoff Geschichte gemacht“ hat, die Rede ist, dann dürfte allein der mit dieser Feststellung gegebene Schulbezug – und das sei weder mit Ironie noch Arroganz gesagt - als Fingerzeig auf einen höheren Grad an Qualität und Gehalt, als dies in einem der auf der Webseite ebenfalls positionierten Pressekommentare mit den Worten „substanzloses Stück“ suggeriert wird, zu werten sein. Fragen, Aspekte und Probleme – und das geht auch aus dem Programmheft hervor - , die mit Ideologien, Weltanschauungen, Werten, schließlich auch mit politischen Positionen korrespondieren, sind dem vorliegenden Bühnenstück immanent und bieten manche Anlässe für Interpretationen und Diskurse, die traditionellerweise in der Schule und überhaupt in Bildungsinstitutionen ihre Entfaltungsmöglichkeiten finden.

Andererseits ist es überaus lobenswert, wenn sich das Theater dazu versteht, eher selten gespielte, im Lektürekanon von Lehranstalt und Unterricht jedoch Berücksichtigung findende Dramen ebenjenen deutschdidaktischen Interpretationsansätzen und -versuchen schulischer Provenienz, Lehrplan- und Traditionsgebundenheit – Ansätzen, die gleichwohl keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt werden sollen - zu entwinden, durch eine effektvolle Inszenierung einem größeren Publikum zugänglich zu machen und damit der inhaltlichen Substanz der jeweiligen Stücke in ihrer Komplexität, Problembezogenheit und Aussagekraft – je nachdem - einen größeren Bekanntheitsgrad und Wirkungsradius zu verschaffen.

Die von Christine Eder verantwortete Inszenierung der vorliegenden Komödie von Dürrenmatt, eine Inszenierung, die in der Vermischung von Kunst und „Boulevard“ ihre Profilschärfung sucht, verfehlt im Zuge ihrer nicht zu leugnenden Ausdrucks-, vielleicht sogar Faszinationskraft den entsprechenden Effekt auf das Publikum keinesfalls. Das Drama, das in manchen der auf der Webseite abgedruckten Kommentare und Kurzkritiken wohl eher zu Unrecht dem Verdikt des „Verstaubtseins“ anheimfällt, wird, folgt man gleichwohl dieser Einschätzung vonseiten einiger Medien, durch die Regie mit Slapsticks und akzentuierter Situationskomik, mit „wilden Tarantino- und Inspektor-Clouseau-Anleihen“ (Webseite/ Pressestimmen/ Hamburger Morgenpost) „aufgefrischt“. So dürfte sich die Inszenierung in ihrer Verschärfung und Zuspitzung der im Stück angelegten skurrilen, grotesken, z.T. absurden Elemente und damit in ihrer auf Belustigung und Erheiterung des Zuschauers, insgesamt auf „Rezipientenfreundlichkeit“ zielenden Gesamtkonzeption als eigentlicher Publikumsmagnet erweisen. Die mit den „Pressestimmen“ gebotenen Rezensionen, soweit sie der Webseite zu entnehmen sind – sie erscheinen dort z.T. nur ausschnittsweise - , kaprizieren sich größtenteils auf diesen Aspekt, mithin auf die Regie, auf Bühnenbild und Aufmachung, insgesamt auf das Spektakuläre der Inszenierung, offensichtlich ohne dass Korrelationen mit dem Gehalt der Komödie in hinreichender Weise, überhaupt die Interdependenz von Inhalt und Inszenierung als grundsätzliches Beurteilungskriterium hinlänglich berücksichtigt werden.

Die Komik steht in der aktuellen Aufführungspraxis des Dürrenmatt-Stückes am Hamburger Thalia Theater im Vordergrund und dürfte sich somit auch als tragendes Element sowie bleibende Erinnerung ins Bewusstsein der Theaterbesucher einschreiben. Dies wäre wohl nicht weiter zu bemängeln, wenn das Werk in der Comedy-Komponente seiner Präsentation aufginge, was aber nicht der Fall ist. Im Trubel der von der Art der Inszenierung z.T. akzelerierten Geschehnisse, in der streckenweise spürbar werdenden Rasanz von Sprache und Bewegung der Akteure drohen manche sinnkonstituierenden Elemente zu stranden, und es besteht die Gefahr, aus dem Blickfeld zu verlieren, dass das Drama als „bitterböse Komödie“ (Webseite des Stückes) insgesamt wohl ernster gemeint ist, als sich seiner Darbietung derzeit in Hamburg entnehmen lässt. Dabei gibt das Stück von 1952 in seiner vielschichtigen Struktur, in seinen z.T. sorgsam herauspräparierten Einzelaspekten grotesken Zuschnitts, in seiner zwar nicht ausschließlich, aber eben auch auf Störung und Beunruhigung des Rezipienten hin angelegten Gesamtkonstellation auch im Jahr 2013 Anstöße – und zwar drängender denn je - , über Sinnfragen, Orientierungen, Perspektiven, insbesondere aber über menschliches Scheitern (vgl. Programmheft, S. 25) nachzudenken, und dies alles heutzutage in einer Phase der Weltgeschichte, deren Lebens- und Wertepluralismus in manchen Breiten des Erdkreises von einem mächtigen Strom medienunterstützter Zeitgeistkompatibilität und Gesellschaftskonformität mitgerissen wird.


Die Leistung der Schauspieler stellt sich als bemerkenswert dar, besonders hervorzuheben ist die Wahrnehmung der Rolle des Grafen Bodo von Übelohe-Zabernsee durch Mirco Kreibich.

Es dürfte sich insgesamt um eine durchaus wohlwollend zu beurteilende Inszenierung handeln, die aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht erschöpfend zu einer Ausdeutung des vorliegenden Theaterstückes vordringt.


Hamburg, 20.11.2013 Dr. Michael Pleister
Leserkritik: Morning, Junges Theater Basel (R: Sebastian Nübling)
“I’m living out my life like I’m on the run”: Diese Zeile aus dem Song “On the Run” des britischen Musikers The Spaceape ist der Schlüsselsatz der neuesten Zusammenarbeit von Autor Simon Stephens und Regisseur Sebastian Nübling, die am Jungen Theater Basel entstand und im Rahmen des zweiten Premierenwochenendes zum Auftakt der neuen Intendanz am Berliner Maxim Gorki Theater gastiert. Damit das auch jeder versteht, erscheint die Zeile zum Auftakt des Abends nicht nur per Videoprojektion auf der Rückwand, zusammengesetzt aus einfliegendem Buchstabensalat – der musikalisch hochtalentierte Darsteller Lukas Stäuble darf das dazu gehörige Werk auch gleich zum Besten geben. Überhaupt lässt Nübling, Stephens’ Lieblingsregisseur, Dinge, die im wichtig erscheinen, gern wiederholen: Die gelangweilte Selbstserschießungspantomime etwa, das Verschütten weißen Staubes (Puderzucker?) aus trocken gelegten Getränkedosen, die kindischen Wutanfälle oder die zitternde Erschütterungschoreographie. Die Welt, die von den sechs jugendlichen Protagonisten bewohnt wird, ist eine, in der eine pseudo-harmonische Oberfläche (Zucker!) Verzweiflung (Erschießen!), zusammenbrechende Gesellschafts- und Familienzusammenhänge (Zittern!), Gleichgültigkeit (Wutanfälle!) und öde Leere (Staub!) ebenso unzureichend verbergen, wie die an der Rückwand aufgestellten Holzbretter die sich hinter ihnen versteckenden Jungschauspieler. Deutlichkeit, ja, Überdeutlichkeit ist das Grundprinzip von Morning.

“Erzählt” wird die Geschichte von Stephanie: Verlassen von der wegziehenden besten Freundin, gelangweilt vom nicht sehr hellen Freund und nicht klarkommend mit dem Tod der Mutter, rebelliert sie gegen alles und jeden, vernachlässigt se die Mutter, bestiehlt sie den kleinen Bruder und entäußert sich ihr ganzer Welt- und Selbstekel in immer gewalttätigerem Wechsel zwischen Liebessehnsucht und brutalen Gewaltausbrüchen. Tabea Buser, die Stephanie spielt, macht es dem Zuschauer nicht leicht: So selbstsüchtig und mitleidlos legt sie ihre Figur an, dass jegliche Identifizierung, ja selbst der Versuch, einen Zugang zu dieser Furie der Zerstörung zu finden, schwer fällt. Zu extrem geraten ihre Ausbrüche, zu wenig Raum lässt ihr auch der Text, die Brüche, die diese Figur durchziehen, offen zu legen. Da hilft ihr auch Stephens’ Genremix nicht, der Ausflüge ins Horrorfach ebenso einschließt wie eine märchenhafte Alptraumstimmung. Das schonungslose Aufzeigen dessen, was passiert, wenn Jugendliche sich selbst überlassen werden (es gibt im Stück keine Erwachsenen!), verträgt sich nicht zu recht mit diesen reichlich dick aufgetragenen Distanzierungsmitteln.

Wie so oft bei Nübling strukturieren rhythmisch akzentuierte (auch eine Trommel gibt es, gespielt von Joshua Brunner als Bruder Alex) Choreographien und diesmal zumeist aus der elektronischen Musik stammende Lieder das Stück, lassen es aber dadurch auch fragmentarischer werden, als es ihm gut tut. Die Atmosphäre, die sie erzeugen sollen, wird konterkariert durch die Szenenbruchstücke, die kaum Raum finden sich zu entfalten. Stattdessen bleibt die sich in Gewalt und Erniedrigung, aber auch Selbstzerfleischung niederschlagende Sinnsuche verlorener junger Menschen zu oft bloße Behauptung, erstarrt die verzweifelte Suche nach Nähe immer wieder zur Pose – auch wenn gerade Buser Momente von solcher Intensität gelingen, dass sie kurzzeitig nahezugehen drohen. Doch die nächste Tanzeilage, der nächste Rhythmuswechsel folgt bestimmt und stellt die alte Distanz wieder her.

Und so bleibt trotz des großartigen jugendlichen Ensembles, in dem auch Nico Herzig als gutmütig tumber Freund Stephen zu überzeugen vermag und aus dem Tabea Buser in ihrer radikalen Unbedingtheit in Erinnerung bleiben wird, ein Abend, der zu sehr Stückwerk bleibt und zugleich zu plakativ daherkommt, der Überdeutlichkeit mit Unentschlossenheit verbindet und nicht so recht zünden will. Was angesichts des Engagements der jungen Darsteller umso bedauerlicher ist.

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Leserkritik: Ivanov, Leipziger Erstaufführung (R: Michael Talke)
Vertrödelt im Hamsterrad

Was Diedrich Diederichsen, das Schlachtross eines hochgezwirbelten Popjournalismus, im Programmheft zu Tschechows „Ivanov“ zu suchen hatte, war ein Geheimnis, das die Dramaturgie vor Vorstellungsbeginn exklusiv für sich hatte. Während der Bühnenaktion ging unsereinem freilich ein Lichtlein auf, dass der oder das angesprochene Loop, über das der mittlerweile zum Popphilosophen aufgerückte Diederichsen seit geraumen Jahren auf höchstem Niveau daher schwafelt, ganz konkret die Inszenierungsidee von Regisseur Michael Talke war.

Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsherr Ivanov (Jonas Fürstenau) mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sascha. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst. Selbst der angestrebte Selbstmord misslingt Ivanov aus purer Müdigkeit und Schlaffheit, aus der er zwei lange Stunden sowieso nie herausguckt. In Zadeks berühmter Wiener Inszenierung kippte der wenigstens am Ende mausetot vom Stuhl.

Nicht gerade eine Mordsidee, das triste Alltagsblabla zu verloopen, aber immerhin ein halborigineller Gedanke, der durchaus ausbaufähig gewesen wäre. Bühnenbild (Hugo Gretler), Videosequenzen (Kai Schadeberg) und Musik (Tobias Vethake) taten dann auch ihr Bestes, dem Ganzen atmosphärisch auf die Sprünge zu helfen. Aber es haperte am Schauspiel Leipzig ziemlich gewaltig an der Schauspiel- respektive Sprechkunst. Mit den Ausnahmen Ellen Hellwig (als Avdotja Nazarovna), Matthias Hummitzsch (als Sabelskij) und Pina Bergemann (als Sascha) waren der Rest der Akteure den tschechowschen Worten (Übersetzung Peter Urban) nicht so recht gewachsen.

Verhaspelte Schreiorgien machen das Kraut nicht fett. So bekam man Schablonen von Nikotinsucht (Avdotja), Fresssucht (Babakina), Spielsucht (Kosych), Geldsucht (Borkin), Trunksucht (Lebedev), Geltungssucht (Lvov) und Schwindsucht (Anna Petrovna/Sara Abramson) vorgeführt statt Lebewesen mit Problemen. Mag sein, dass dies heutzutage sowieso der digitalisierte Weltenlauf ist als Prozentzahl in der Statistik zu enden, aber theatralisch gelungen sieht eben doch anders aus.

Anton Tschechov selbst, durchaus ein genial versnobter und gleichermaßen hoffnungslos wie bestechend gleichgültiger Intellektueller in speziell russischer Provenienz, hatte folgende Idee, was gerade in diesem Stück hinten bei herauskommen sollte: “...und zum Schluss bekommt der Zuschauer eins auf die Schnauze!“

Verglichen mit dieser kernigen Aussage ging die Leipziger Erstaufführung des „Ivanov“ dann doch eher in die Hose.

Was Diedrich Diederichsen, das Schlachtross eines hochgezwirbelten Popjournalismus, im Programmheft zu Tschechows „Ivanov“ zu suchen hatte, war ein Geheimnis, das die Dramaturgie vor Vorstellungsbeginn exklusiv für sich hatte. Während der Bühnenaktion ging unsereinem freilich ein Lichtlein auf, dass der oder das angesprochene Loop, über das der mittlerweile zum Popphilosophen aufgerückte Diederichsen seit geraumen Jahren auf höchstem Niveau daher schwafelt, ganz konkret die Inszenierungsidee von Regisseur Michael Talke ist.

Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsverwalter Ivanov mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sasa. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst. Selbst der angestrebte Selbstmord misslingt Ivanov, der wenigstens in Zadeks berühmter Wiener Inszenierung einfach tot vom Stuhl kippt, aus purer Müdigkeit und Schlaffheit, aus der er zwei lange Stunden nie herausguckt.

Nicht gerade eine Mordsidee, aber immerhin ein halborigineller Gedanke, der durchaus ausbaufähig gewesen wäre. Bühnenbild, Videosequenzen und Musik taten dann auch ihr Bestes, dem Ganzen atmosphärisch auf die Sprünge zu helfen. Aber es haperte am Schauspiel Leipzig ziemlich gewaltig an der Schauspiel- respektive Sprechkunst. Mit den Ausnahmen Ellen Hellwig, Matthias Hummitzsch und Pina Bergemann waren der Rest der Akteure den tschechowschen Worten (Übersetzung Peter Urban) nicht so recht gewachsen. Verhaspelte Schreiorgien machen das Kraut nicht fett. So bekam man Schablonen von Nikotinsucht, Fresssucht, Spielsucht, Geldsucht, Schwindsucht und Geldsucht vorgeführt statt Lebewesen mit Problemen. Mag sein, dass dies heutzutage sowieso der digitalisierte Weltenlauf ist als Prozentzahl in der Statistik zu enden, aber theatralisch gelungen sieht eben anders aus.

Anton Tschechov selbst, durchaus ein genial versnobter und gleichermaßen hoffnungslos wie bestechend gleichgültiger Intellektueller russischer Provenienz, hatte folgende Idee, was gerade in diesem Stück hinten bei herauskommen sollte: “...und zum Schluss bekommt der Zuschauer eins auf die Schnauze!“
Damit verglichen ging die Leipziger Erstaufführung des „Ivanov“ dann doch eher in die Hose.
Leserkritiken: Gegenansicht zu Ivanov
Zu Pauline Blumensteins gleich doppelt gemoppelter Kritik: Man kann das vielleicht so empfinden - mir ging es anders: Ich fand die ins-Bild-Setzung der Depression schlüssig, inklusive der schablonenhaften Figurenzeichnung, alle waren ja immer irgendwie in der Sichtweise der Hauptfigur verankert. Das war auch erhellend im Zusammenhang mit diesem Stück, das ich bis jetzt immer als Komödie gelesen und gesehen hatte, auch damals in Wien. Nicht nachvollziehen kann ich allerdings das Schauspieler-Bashing. Immer wieder geht es mit der Kritikerzunft, auch der selbsternannten, durch: Mal Noten verteilen, und mancherorts gymnasiallehrerhaft drauf hauen: "Nicht dem Text gewachsen"? Was meinen Sie damit? Tut das eigentlich gut? Fühlt man sich danach besser?
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: unmittelbar ans Herz
man kan diese gelungen aufführung gar nicht genug preisen für ihre konzeption, alle figuren aus ivanovs sicht zu beschreiben und entsprechend zu verzerren. schon in der literarischen vorlage erreicht das personal nicht die vielschichtige tiefe, wie man sie aus späteren cechov stücken kennt. dies mag ein grund sein, warum diese stück relativ selten zu seheh ist. von ivanov weiß man in leipzig schon zu beginn,daß er aufgegeben hat. nur warum möchte man wissen. eine antwort liegt an diesen unerträglichen typen und fratzen, die in der leipziger inszenierung unverbesserlich, unreformierbar,unbelehrbar und ausschließlich amüsierwillig unaufhörlich an ivanov vorbeiziehen. hier wurde eindeutig aus einer literarischen not eine inszenatorische tugend gemacht. man muß das nicht so machen, wie es gottscheff an der volksbühne gezeigt hat und kräftig gestrichen und zusammengelegt hat, aber wenn man es macht, dann so. das ensemle wurde so zum heimlichen star des abends. und die gesellschaft, die es porträtierte, war der unerträgliche grund für ivanovs scheitern. statt gegen sich hätte ivanov seine waffe gegen diese versammlung von unerträglichen richten müssen, das wäre der einzige ausweg gewesen. aber so ein ende gibt es wohl nur im märcnen. ein böser, ein gelungener abend am leipziger schauspiel! endlich! man hat lange genug darauf gewartet. und das ensemble nimmt sich diese konzeption mit großer lust und dort wo die szene stilleres erlaubt, gehen die töne unmittelbar ans herz! großes kompliment! danke!
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Ticket zurück?
Liebe Paulien Blunenstein! Hä?????? in welchem Stück/ in welcher Inszenierung waren sie denn?

"Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsverwalter Ivanov mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sasa. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst."

Ja, diese kraftlose, nur aufs Geld fixierte, sich langweilende Gesellschaft, die so tut als gäbe es keine anderen Probleme, ging mir ebenso wie Ihnen gehörig auf den Sack! Nur kam sie mir so verdammt bekannt vor! Ich habs fast nicht ausgehalten, daß man gegen diese Freaks auf der Bühne nichts ausrichten konnte. Die sitzen in Banken, in Stadträten, in Parlamenten, unterrichten unsere Kinder, schreiben für Zeitungen, machen Theater, sitzen im Publikun und halten sich für kritisch... Dass an Ihnen ein Ivanov verreckt, wenn wunderts. Dass der Aufführung gelungen ist, das mit diesem alten Stück zu zeigen, ist ein Erfolg. Deswegen fand ich die Aufführung auch gut.
Was ich sagen will , liebe Pauline, ist, dass das, was sie Stück und Aufführung kritisch vorwerfen, der Inhalt ist. Schade, daß sie diesen verpasst haben, dann muß der Abend ja schlimm für sie gewesen sein.
Wir anderen Zuschauer nämlich waren interessiert und begeistert! Wir hatten auch den Eindruck, daß Regie, Bühne, Kostüm, Maske, Musik, Beleuchtung, Video und die Schauspieler einen dichten und hochemtionalen Totentanz erstellt haben, an dem wirklich alles zusammenfloß und zusammenkam. Und das war mehr als man von diesem Stück erwarten konnte. Dewegen haben wir am Ende auch so eindeutig gejubelt. Ich hoffe, da haben Sie sich nicht einsam gefühlt.
Naja, vielleicht nimmt die Theaterkasse das Ticket ja zurück.
Den Diedrichsen Artikel fand ich übrigens auch nicht nötig im Programmheft, aber ein Schwafler ist der Diedrichsen deswegen auch noch nicht, er kann ja nichts fürs abdrucken.

Mit freundlichem Gruß

Paul Steinblume
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: bitte googlen
Liebe Pauline,
dass Sie wie viele andere hier diese Seite nutzen, mit aller Macht die neue Arbeit in Leipzig zu bashen, ist traurig. (...)
Googeln Sie bitte nach anderen Ivanov-Besprechungen, die alle in den Jubel des Premierenpublikums einstimmen. Schauen Sie mal, wenn Sie mal tatsächlich da sein sollten, wie viele Menschen auf einmal wieder im Theater sind. Das muss Ihnen sicher alles sehr, sehr weh tun.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: endlich ausschlafen
Dieses Theater hat in Leipzig eine Zukunft. Bei diesem Hartmann musste ich mich immer aufregen. Bei Lübbe und Kollegen kann man endlich mal ausschlafen. Und das Engagement des Theaters auf nachtkritik ist einfach klasse. Wie die hier Premierenhymnen aus dem Ärmel schütteln. So eine Sekretärin bräuchte ich auch.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: falscher Maßstab Quote
@_@pauline... welche jubel-kritiken meinen Sie denn bitte... hochgelobtes kann ich nicht finden... eher außer lokalem so ganz wenig und nicht besonders aussagekräftig... und ein voller saal tut niemandem weh, über den freut sich eigentlich jeder... wobei das nichts über küntlerische qualität aussagt. florian silbereisen hat auch immer volle säle... sie wollen doch nicht wirklich bei einem subventionierten theater die maßstäbe der künstlerischen qualität an der quote messen... diesen fehler begehen die öffentlich rechtlichen seit jahrzehnten und man kann sehen wohin das geführt hat... für das messen an quote muß man nicht subventionieren... @_@pauline: mal abgesehen von Ihren unterstellungen hier würde bashing stattfinden; wie hat Ihnen persönlich der abend gefallen?
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: alles prima?
Ich finde es nur menschli, wenn die, die nie beim Hartmann waren aber immer draufgehauen haben, wenn die jetzt alles prima finden, das Theater ist gerettet und die Kultur ist wieder ins Lot gebracht. Das ist ganz natürlich, da kann das Theater noch so dulli sein. Es muss dann einfach gefallen und bejubelt werden. Lassen Sie doch die Leute mal. Wer jahrelang gebasht hat, der will jetzt auch mal wieder ins Theater gehen dürfen, ohne dass andere das jetzt bashen einfach soho!

(Werte Leipzig-Kommentatoren,
ehrlich gesagt, ich hege leise Zweifel daran, dass diese pauschal die Gegenseite verunglimpfenden Vorwürfe und Unterstellungen, wie sie hier von mehreren (und von beiden Seiten aus) geführt werden, wirklich einen interessanten Beitrag zur Diskussion darstellen.
Vielleicht könnten Sie stattdessen Konkretes zum "Ivanov" oder zu anderen Inszenierungen beitragen?
Freundliche Grüße,
Anne Peter)
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Frage + Antwort
Liebe nachtkritik-Redaktion,
gibt es eigentlich Neuigkeiten zum Leipziger Defizit? Danke für Infos! T.

(Lieber Tommy,
nein, gibt es noch nicht. Wir sind aber weiter an der Sache dran und informieren Sie, sobald es Mitteilenswertes gibt.
Beste Grüße,
Anne Peter)
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Ringen + Kämpfen um Inhalt
tatsächlich wird es der leipziger ivanov schwer haben, seine formensprache ist zu zurückhaltend und er besticht durch leise töne. in all dem lärm um die eröffnung findet er beinahe unbemerkt statt. aber und dass unterschiedet ihn von den bisherigen aufführungen im schauspielhaus, ihm ist sein ringen und kämpfen um einen inhalt deutlich anzumerken. und ich denke, dass macht unabhängig von seinen inszenatorischen mitteln diese aufführung so erfolgreich. erfolgreicher als seine vorgänger othello und emilia. insofern ist diese aufführung zum erstenmal seit der eröffunug der intendanu lübbe überhaupt diskussionsfähig.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Talke ist Castorfepigone
Michael Talke hätte genausogut bei Hartmann arbeiten können. Er gehört doch auch in den Club der Castorfepigonen, auch wenn er bisher weitgehend unbemerkt geblieben ist. Letzlich hat er begriffen, daß es um Inhalte geht und nicht um Vielfalt. Ich fürchte, er wird die Ausnahme in Leipzig bleiben.
Leserkritiken: es lebe das Stadttheater
zu Geier:

Regionale Kritiken sind doch auch Kritiken! Es sind doch nicht nur Idioten in Leipzig unterwegs. Es lebe das Stadttheater in seinem posititiven Sinne! Für die Stadt ist das Theater gedacht und da wird es wahrgenommen, nichr alles, was das überregionale Feuilleton nicht wahrnimmt, ist schlecht! Ich könnte mir aber gut vorstellen, daß auch einige überregionale Kritiker den Leipziger Ivanov angenommen hätten.
Leserkritiken: Leipzig-Mutmaßung
Liebe Frau Peters,
Danke für ihre Antwort. Täuscht der Eindruck, dass die Bekanntmachung der Rechnungsergebnisse sich so verschleppt. Zuerst hatte man die für letzte Woche Donnerstag angekündigt, dann für diesen Montag, jetzt ist bald eine Woche um. Kann es sein, dass die Ergebnisse nicht dem entsprechen, was die Damen und Herren in unserem Rathaus und im Theater so vollmundig in die Welt gesetzt haben und jetzt versuchen, erstmal Gras, schönes saftiges Gras drüber wachsen zu lassen????
Leserkritik: Jules und Jim, Deutsches Theater Berlin
Nach dem Roman von Henri-Pierre Roché: Jules und Jim, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Lilja Rupprecht)

Von Sascha Krieger

Ja, ja, die Liebe: Den Franzosen sagt man ja nach, sie hätten eine ganz besondere Beziehung zu ihr. Und nirgendwo wird so ausgiebig über sie philosophiert, ja, wird sie gar vom Thema zum Grundprinzip jeglicher Philosophie und Welt- wie Menschenerkenntnis wie in der französischen Kunst. Henri-Pierre Rochés Roman Jules et Jim und Francois Truffauts Verfilmung desselben sind hierfür sicher Paradebeispiele. Die Mischung aus fataler Dreiecksgeschichte, der Unerkennbarkeit von Liebe und Tod dem Spiel von Liebesbedürfnis und Abstoßung des anderen, von Sehnsucht nach Nähe und Unfähigkeit sie zuzulassen, sucht Ihresgleichen. So existenziell war Liebe nie, so selbstverständlich die Gleichzeitigkeit ihrer An- und Abwesenheit, ihrer Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Was wird hier philosophiert und psychologisiert und interpretiert und manipuliert und am Ende sind zwei tot und einer bleibt zurück. Das funktioniert im Film durch die magische Bildsprache, den traumähnlichen Sog, den Truffaut in seinem vielleicht besten Film entwickelt. Aber auf der Bühne, noch dazu einer im prosaisch-pragmatischen Deutschland?

Da bleibt die Unentrinnbarkeit, die Alternativlosigkeit, könnte man mit der Kanzlerin sagen, dieser sich selbst vernichtenden Liebe, ein seltsam verschrobener Fremdkörper. Dabei macht Regisseurin Lilja Rupprecht vieles richtig: Da ist die Fensteröffnung, aus dem der Flieder, Frühlings- und Liebesgewächs par excellence, wuchert und sich auf die Bühne ergießt wie ein opulenter Grabschmuck. Da ist der Rückblick aus dem Grab, den Johanna Matz als schon lange gestorbene Catherine mit freundlich abgeklärter Sachlichkeit liefert und über dem Ole Lagerpusch, Elias Arens und Olivia Gräser in einer leichtfüßig ineinander fließenden Mischung aus Nacherzählen, szenischen Sketchen und ausschweifenden Erklärungen das Traumgespinst dieser Liebesutopie, die zur Dystopie wird, ausbreiten. Und da ist Ole Lagerpusch, dem man den traurigen Sehnsuchtspoeten, den verzweifelt Liebessüchtigen, den philosophierenden Selbstzerstörer Jules jederzeit abnimmt und der in Elias Arens‘ trocken pragmatischem Liebessachbearbeiter Jim sein kongeniales Gegenstück findet.

Und doch bleibt das vor allem eines: leeres Gerede, Behauptung, Abklatsch. Zu gestückelt kommt das daher, zu repetitiv die Erklärungsorgien, zu angedeutet die Szenenfragmente, zu wenig ausgestaltet die Charakterisierung. Die von der Liebe Schwadronierenden bleiben hier Abziehbilder. Lilja Rupprecht erzählt nach, aber sie findet keine eigene Sicht, keine theatrale Sprache, keine Haltung. Das Dauerdudeln französischer Chansons haucht dem Geschehen ebenso wenig Leben ein wie kurze Videoeinsprengsel, die mal eben beide Weltkriege samt Shoah als Folie aufrufen. Da wirkt Lagerpusch zugegeben mit zunehmender Dauer immer schwerer erträgliche Weinerlichkeit noch einen Tick lächerlicher und kleiner, während die Ernsthaftigkeit des Behaupteten nie ins Ironische gekehrt wird. Nein, das hier ist so gemeint, doch was soll es bedeuten? Liebe ist eigentlich unmöglich und endet tödlich, aber wir können nicht anders? Sigmund Freud hat in einer seiner frühen Arbeiten einmal das Lustprinzip aus dem Todestrieb abgeleitet. Wer Jules und Jim am Deutschen Theater gesehen hat, könnte das plausibel finden.

http://stagescreen.wordpress.com/
Leserkritik: Eine Schneise von Händl Klaus, Nürnberg
Eine Schneise (Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele)
von Händl Klaus
Regie: Stefan Otteni

Tatort Wald - der Polizist Peter ist mit kriminalistischem Instrumentarium schon vor Ort. Doch der Fall erweist sich als kompliziert: ein Brandstifter war da, der eine Schneise und 14 verkohlte Bienenstöcke hinterlassen hat. Dazu lebt in der Einöde noch die Lehrerin Kathrin, eine naturbewusste Frau, deren junger Sohn Lukas (eine Mischung aus Parzival und Simplicissimus? ein Anagramm für Klaus H.?) gerne wissen möchte, wer eigentlich sein Vater ist. Die zerstörten Bienenstöcke gehören dem Imker Wim, der früher als Kunstfehler-Arzt im Gefängnis saß und nun offensichtlich mit einer Milben-Kultur die Bienen weltweit ausrotten will. Der eigentlich Schuldige an dieser thematischen Melange aus Straftaten und Psycho-Problemen ist der kauzige Tiroler Stückeschreiber Klaus Händl alias Händl Klaus. Und der erklärt nebulös: „Alle sind dabei verdächtig: mögliche Täter, wie sie sammeln und reden. Aus ihren Spuren, die weit zurück reichen, und den Schlüssen, die sie ziehen, entsteht ein zitterndes Bild, von Bienen erwidert - die sie umkreisen.“
Die über-ambitionierte Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 2012 (damals noch unter dem Titel „Meine Bienen. Eine Schneise“) von Nicolas Liautard operierte mit einem Sängerknaben und der österreichischen Crossover-Kapelle Musicbanda Franui, missverstand das Auftragswerk als kunstgewerbliche Märchen-Oper und erntete nur Kopfschütteln und Langeweile.
Dagegen will bei der deutschen Erstaufführung in Nürnberg Regisseur Stefan Otteni (seine Regie zu Handkes „Immer noch Sturm“ bekam überregionale Zustimmung) erfreulicherweise gar nicht alle Motiv-Fallstricke des Autors entschlüsseln und präsentiert stattdessen ein auf 75 Minuten komprimiertes Rätselspiel mit einer souverän und beweglich agieren¬den Viererbande (Josephine Köhler, Elke Wollmann, Stefan Willi Wang, Thomas Nunner). Die müssen zu Anfang erst einmal die Bühne mit schwarzen Plastikfetzen ordentlich vermüllen, damit die authentische Brand-Atmosphäre aufkommt. Wechselweise nur mit hautfarbenem Ganzkörper-Trikot wie behaarte Nackt-Primaten (was bei den beiden Männern eigentlich keinen rechten Sinn macht) oder als Alltagsmenschen schmettern sie die Händlschen Sprachkörper mit verhackstückten Dialogen ins Publikum - gerne auch als enervierende Warteschleife! Die traute Wald-Foto-Kulisse wird mit schwarzem Filzstift zugemalt, ein verkohlter Baum ist in die Szene gestürzt. Am Schluss bleiben - ganz im Gegensatz zum konventionellen Sonntags-Tatort - natürlich alle Fragen offen; aber schön, dass wir darüber (worüber?) geredet haben!
Leserkritik: Die graue Stunde, Münchner Kammerspiele (R: Zino Wey)
Gelungener Start in die Laboratorium-Reihe

Irgendwo. Irgendwann. Vielleicht in einer Stadt in Ungarn, diese Vermutung legt die Biografie Ágota Kristófs nahe, die 1956, nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand, gegen ihre eigenen Wünsche das Land verließ. Und vielleicht spielt die Geschichte in den 50ern oder 60ern, denn das suggerierten die Kostüme und das spartanische Bühnenbild von Davy van Gerven. Aber es könnte auch ganz anders sein und das ist auch gut so, denn die Geschichte sprengt ohnehin Zeit und Raum.

Sie ist eine Prostituierte und er, seit vielen Jahren fester Kunde, ist ein Taschendieb, ein Kleinkrimineller, der von der Hand des Gesetzes immer mal wieder aus dem Verkehr gezogen wurde. Dann begann für Sie die Zeit des Wartens und auch die Zeit des Spekulierens. Was, wenn Er nicht mehr lebte? Sie würde es nie erfahren. Sie würde warten, meint Er, Nächte durchwachen und suchen. Zum Beispiel nach „einem Gegenstand, der dich erinnert an die Bewegung, mit der ich meinen Mantel auszog. Aber ich habe nichts zurückgelassen. Wenn die Sonne aufgeht, schließt du das Fenster und legst dich hin. So immer wieder, jahrelang, Tag für Tag.“

Am Ende weiß der Zuschauer, dass es um mehr ging, als um eine sexuelle Dienstleistung. Auf dreiundzwanzig dürftig beschriebenen Textseiten erzählt Ágota Kristóf von der Tragik zweier verschenkter Leben und einer nichtgelebten Liebe. Es ist eine existenzielle Geschichte, denn es gibt in ihr auch ein Messer, das jedoch nicht zur Anwendung kommt. Allein die Aussicht, die dieses Utensil verheißt, macht das Thema zum größtmöglichen: Liebe und Tod. Weder das eine noch das andere findet statt. Für den Tod ist es zu spät und die Liebe ist erloschen. Er hat längst das Interesse an ihrem Körper verloren. Mit jedem anderen Kunden ist seine Liebe ein Stückchen gestorben. Sie ist in ihrer Sehnsucht welk geworden. Lediglich ihre Fantasie hält ihn noch. Er: „Träume von uns. Von dir und mir.“ Und bevor er am Ende in „die Morgenröte in ihrer ganzen Pracht“ nach der „grauen Stunde“ hinausgeht, stellt sie ein letztes Mal ein gemeinsames Leben in Aussicht. Vergeblich.

Die Inszenierung des 1988 geborenen Zino Wey war der Auftakt zur „Laboratorium-Reihe“. Darin kommen die Theatermacher aus der zweiten Reihe zum Zug, die Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, die z.Z. als Assistenten an den Münchner Kammerspielen arbeiten. Eine Innovation, für die den Kammerspielen wiederum höchstes Lob gebührt. Leider hat die Bezeichnung Laboratorium einen Beigeschmack, der den einen oder anderen Theatergänger mit geringer Neigung zu Experimenten abschrecken könnte. Das wäre wirklich schade, denn die Inszenierung von Zino Wey war nicht nur eine handwerklich gestandene Arbeit, sondern darüber hinaus Bühnenästhetik vom Feinsten. Wey entwickelte eine Spielsituation, die von jeglichem Realismus abstrahierte. Die wenigen Texte wurden ohne ausufernde Expression mit höchster Intensität dargeboten. Sylvana Krappatsch und Steven Scharf fesselten mit einem extrem reduzierten Spiel. Die knapp einstündige Vorstellung lebte von den vielen, auch langen Pausen. Der erste Satz wurde zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung gesprochen. Die Wucht, mit der die Spannung gebrochen wurde, hatte beinahe Erlösungscharakter. Beide Darsteller agierten mit minimalistischen Haltungen und Gesten, die den Abend zu einem herausragenden artifiziellen Erlebnis machten.

Ziel der „Laboratorium-Reihe“ ist die „Befragung der Gegenwart mit unterschiedlichsten theatralen Verfahrensweisen“. Bereits mit dem ersten Versuch ist den Machern ein großer Wurf gelungen. Dabei spielte die Wahl der Vorlage eine gewichtige Rolle. Es ist ein Text, der weit über jede Realität hinausgeht, dessen Substanz aber fraglos aus der Realität (und nicht nur aus der heutigen) gespeist ist. Es ist ein Kunst-Stück, das kein Verfallsdatum hat.

Zino Wey bewies Mut mit seiner Inszenierung, denn sie verstieß gegen heutige Sehgewohnheiten, die sehr stark von Film und Werbung geprägt sind. Er bewies den Mut zur Verzögerung, zu weichen Schnitten und er gab der Sprache den Vorrang. Es gab Momente im Stück, die wegen der extremen Spannung auch für das Publikum quälend werden konnten. Das hatte Beckettsche Dimensionen. Unterlegt war das Spiel von an- und abschwellendem atmosphärischen Grollen. Man hatte das Gefühl, die Zeit atmen zu hören.

Vermutlich blieb kaum jemand im Publikum unberührt von der Geschichte und dem tiefen seelischen Leid, durch das die Protagonisten unaufdringlich und dennoch deutlich sichtbar hindurchgehen mussten. Es war eine Geschichte zweier Liebenden, die, wie die Königskinder, nicht zueinander kommen konnten. Sie war zudem angefüllt mit erstaunlicher, weil nicht gängiger Poesie, die nie auch nur ansatzweise in die Nähe von Kitsch geriet. Geschichte und Inszenierung war eine gelungene Synthese, was darauf schließen lässt, dass der junge Regisseur und seine ebenso jungen Mitstreiter klare künstlerische Vorstellungen hatten, die sie auch konsequent umzusetzen wussten. Gratulation!



Wolf Banitzki
http://www.theaterkritiken.com/index.php?option=com_content&view=article&id=1134:die-grauen-stunden&catid=35:werkraum
Leserkritik: Kinder der Sonne, Gorki Theater Berlin
Nurkan Erpulat hat den Abend jetzt am Berliner Maxim Gorki Theater mit dem dortigen Ensemble nachinszeniert. Die Kritik gibt es hier: http://stagescreen.wordpress.com/2014/01/22/grau-ist-die-hoffnung/
Leserkritik Dennis Kelly "Schutt" am DT Berlin
Dennis Kelly: Schutt, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Marike Moiteaux)

Dennis Kelly gehört heute zu den meistgespielten britischen Gegenwartsdramatikern – nicht zuletzt auch im deutschsprachigen Raum. Natürlich war das nicht immer so, hat auch Kelly einmal klein angefangen, in den Nischen der Londoner Off-Theater-Szene. Hier, im Theatre503 im Stadtteil Battersea, fand 2003 die Uraufführung von Kellys Erstlingswerk Debris, zu Deutsch Schutt, statt. Das Deutsche Theater gibt in seiner Box dem Berliner Publikum jetzt Gelegenheit, dieses Frühwerk kennenzulernen. Regie führt Marike Moiteaux, bislang Regeassistentin am DT, die hier zum ersten Mal selbst Regie führt. Um Anfänge geht es auch in Kellys Zwei-Personenstück, das von zwei Geschwistern namens Michelle und Michael erzählt, die früh auf sich allein gestellt waren und sich durch das erfinden und erzählen von Geschichten einen Schutz- und Lebensraum geschaffen haben, in dem Erfindungsgeist und Vorstellungskraft und die Akzeptanz regieren, dass das Leben vom Wahnsinn regiert wird.

Und so erzählen die jetzt Erwachsenen Geschichten: vom Vater, der sich selbst gekreuzigt hat, vom Tod der Mutter, die in der Erinnerung Michelles – oder sollte man sagen: in ihrer Erfindung? – drei unterschiedliche Tode starb, vom reichen Mister Bodenschmeiß, der sie Kinder auf sein Anwesen mitnehmen wollte und dessen Beweggründe sich nur erahnen lassen, vom Kind, das Michael auf dem Müll fand und das er als seines aufziehen will. Es sind groteske, oft ins Surreale driftende Geschichten, Erzählungen, die auf dem Schutt und Müll (Schutt ist auch der Name, den Michael seinem "Sohn" gibt) einer Kindheit zwischen Verwahrlosung und Elend wachsen, die dem eigenen Überlebenswillen entspringen und die doch genau so nah an der Lebenswirklichkeit einer "lost generation", die sich geographisch schon längst nicht mehr eingrenzen lässt, sind wie sie sich von dem, was wir Realität nennen, entfernen.

Es geht um die Macht der Einbildungskraft, um die Fähigkeit des Menschen, sich neu zu erfinden, sich seiner Umgebung kreativ zu stellen und letztlich seine eigene Geschichte zu schreiben. Es geht aber auch um die Schutzmechanismen, die wir uns selbst auferlegen, über die unterschiedlichen Wege, mit der Kälte und Leere der erlebten Welt umzugehen. Während Michelle pragmatisch wie skeptisch ihre eigene Geschichte zu schreiben versucht, ist Michael ein Eskapist, der sich nur zu gern an vermeintliche Auswege klammert, der aber auch lernt loszulassen: das Kind, den Vater, die eigenen Träume, die zu oft Alpträume geworden sind.

Mehr: http://stagescreen.wordpress.com/2014/01/31/wenn-buchhalter-traumen/
Leserkritik: "dasKunst", Dschungel Wien
Verwirrspiel mit Schildkröteneinlage
„dasKunst“ feiert eine rasante Uraufführung im Dschungel Wien

Die Versuchsanordnung ist einfach: ein weißer Würfel und eine Frau, die raus will, raus aus dem Chaos und dem Wahnsinn, der durch die Türen in das sterile Theaterlabor gespült wird. Denn kaum ist eine Tür geschlossen öffnet sich eine Neue. Was hereindrängt bietet ein buntes gesellschaftliches Panorama. Der grantige Hausmeister gibt einer Putzfrau die Klinke in die Hand. Und zwischen einem koksenden Politiker und einer Innenraumausstatterin, ist kein Platz für Reflexion. Auch das Zwischenspiel mit der Psychiaterin lässt die Frau im Unklaren: Sprudeln diese Figuren nur aus ihrem Unterbewusstsein oder sind sie echt? Das kann nicht geklärt werden und darum klammert sich die Frau an den Gedanken einen Ausweg zu finden, eine Tür, die sich nur für sie öffnet. Aber wenn sie die Wände abtastet sind die fugenlos und undurchdringbar. Alev Irmak ist als Protagonistin die ganze Zeit auf der Bühne und sie hält, zwischen Wut, Verzweiflung und Unglauben hin und her gerissen, die Spannung.
Für das neue Stück „Cubus“ hat der Theaterverein „dasKunst“ Jim Hensons Film von 1969 neu ausgelegt. Darin werden die Absurdität von Kafkas Geschichten und die Fantasiewelt von Lewis Caroll verschmolzen. Das geschieht dann aber im 21. Jahrhundert und darum ist kein Platz für die Fügsamkeit von Kafkas Helden oder für die Neugier einer Alice im Wunderland. Hier prasseln die verschiedensten Eindrücke mit höchster Intensität auf die Protagonistin ein, die bei all den Begegnungen schon bald ihren eigenen Namen vergessen hat. Bernhard Mrak hat intelligent und schlagfertig getextet und Regie geführt. Heraus gekommen ist ein wildes Verwirrspiel, das von philosophischen Fragen an das Theater bis zur absurden Gesellschaftskritik reicht. Dass die verschiedensten Rollen, Puppenspieler, Polizisten, Manager, Beerdingungsgäste, eine esoterische Atemtrainerin und eine Schildkröte von nur vier Schauspielern verkörpert werden, ist beeindruckend. Besondere Intensität haben die Auftritte von Asli Kislal. Ihre Psychologin reißt in einem wilden Tick den Mund auf und ihr Hausmeister ist genauso kindlich verspielt wie streng, wenn die Protagonistin in Wut und Verzweiflung die Wände ramponiert.
Stark sind auch die surrealen Szenen. Das Körpertheater mit weißen Tiermasken und die beiden Degenfechterinnen, die sich die roten Luftballone auf ihren Köpfen zerstechen, führen auf einen psychedelischen Drogentrip, den Susanne Rietz als Ärztin eingefädelt hat. Dazwischen drängt immer wieder ein wenig Realismus in die Traumwelt. Eri Bakali zieht als Putzfrau über die Bühne und Oktay Günes durchsucht die Frau als wienernder Polizist. In diesen Momenten spielt das multi-staatsbürgerInnenschaftliche Ensemble die eigenen Akzente und Rollenbilder aus. „Wo kommen Sie her?“ fragt die Frau verdutzt den Hausmeister, der plötzlich in ihrem Würfel steht. „Meine Staatsbürgerschaft hat sie nicht zu interessieren.“, antwortet der und auf ähnliche Weise wird keine der vielen Fragen geklärt werden. Ob das alles nur ein Spiel war? Kurz scheint es am Ende so, aber das wäre ja dann doch zu einfach gewesen.

Die Uraufführung „Cubus“ des neo-ur-wiener Ensembles „dasKunst“ ist noch vom 19.-21.2. und wieder vom 8.-10.6. jeweils um 19:30 Uhr im Dschungel Wien zu sehen.
Leserkritiken: Reise durch NRW
Jeden Tag Theater! Ich bereise den gesamten Februar in einer Art Erschöpfungsperfomance die Bühnen in NRW und schreibe darüber. Unter derkritischeclaqueur.de finden sich Besprechungen zu den meisten wichtigen Theatern des Landes.
Leserkritik: "Clivia" an der Komischen Oper Berlin
Clivia, Operette in drei Akten von Nico Dostal, Komische Oper Berlin, Premiere: 8. März 2014

Die Operettenstadt Berlin – die einst, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in hoher Blüte stand – hat wahrhaft finstere Zeiten erlebt. In den 1990er Jahren gab es zwar mit dem Metropol-Theater noch ein Haus fürs Operettenrepertoire, doch ohne jede Bissigkeit oder auch nur einen künstlerischen Impuls wurde es, zuletzt unter der Intendanz René Kollos, in den plüschenen Ruin gespielt: Mit nur treuherzig restaurativen Aufführungen war kein Staat zu machen.

Wo aber die Gefahr des Untergangs dräute, wuchs das Rettende auch: Eine wunderbare Kleinkunst-Truppe namens Geschwister Pfister kaperte 1994 das Varieté-Zelt Bar jeder Vernunft und überraschte dort, verstärkt von erstrangigen Leuten wie Meret Becker, Otto Sander oder Walter Schmidinger, mit einer Operetten-Produktion, die mittlerweile Legende ist: mit Benatzkys „Im weißen Rößl“. Der Dreh der Sache war eigentlich ganz einfach: Man gehe das Ganze ein klein wenig ironisch an und werfe sich dann, von der liebevoll geschaffenen Distanz geschützt, dem gemütvollen Witz, dem Sentiment und zuletzt dem Kitsch umso freudiger an den Hals. Dem Charme dieser Aufführung konnte man sich nicht entziehen.

Schon damals soll Walter Schmidinger den Pfisters Nico Dostals „Clivia“ wärmstens anempfohlen haben, eine gekonnt zwischen südamerikanischem Exotismus, harmloser Politfarce und großem Gefühlskino aufgespannte Operette aus den 1930ern. Nun, 20 Jahre später, ist es tatsächlich zu dieser Produktion gekommen, und zwar im deutlich vergrößerten Rahmen: an Barrie Koskys Komischer Oper, die sich ganz offensiv die Operettenkunst als eines ihrer Standbeine auf die Fahne geschrieben hat.

Und siehe da: Der Ansatz von damals funktioniert noch immer prächtig, auch und gerade, wenn der Aufwand jetzt ein beträchtlich höherer ist. Die ironischen Anführungszeichen liefert die Besetzung gleich mit: Clivia, die Film-Diva, die sich in einen Gaucho verliebt, der wiederum niemand Geringeres als der Präsident der (fiktiven) Bananenrepublik Boliguay ist, diese Diva also wird von Christoph Marti alias Ursli Pfister gespielt … nein, nicht gespielt: gelebt! Jede Geste der Kunstfigur Ursli Pfister, jeder Hüftschwung, jedes Mienenspiel ist zitathaft-ironische Überhöhung und hingebungsvolle Glitzer- und Glamour-Leidenschaft zugleich. Wenn Ursli im zweiten Teil des Stücks im rauschhaft schönen Ballkleid mit Jean-Harlow-Perücke oben auf einer gleichsam alle Klischees übererfüllenden Showtreppe (Bühne: Stephan Prattes) erscheint, umrankt von riesigen Goldblütenkelchen, dann ist er die Diva der Diven, die Über-Diva schlechthin. Hingerissen applaudiert der Saal auf offener Szene. Und nimmt glücklich kichernd hin, dass diese Diva ihren Part in einem Timbre singt, das wie von Ursli Pfister erfunden scheint: in hoher Nasal-Baritonlage mit extra-offenen Vokalen und extra-schnalzenden Konsonanten.

Was um Ursli Pfisters Clivia herum passiert, ist große, von Stefan Huber routiniert inszenierte Revue samt den erprobten Überzeichnungen: Mit der ostentativen Betonung des Talmi-Glanzes wird auch die Lizenz zum Sich-Fallenlassen ins Triviale erteilt. Und so wirbeln denn adrette, von Andreja Schneider (dem Fräulein Schneider der Pfisters) angeführte und von Danny Costello fabelhaft frech choreografierte Hot-Pants-Soldatinnen durch die bonbonbunte Pappkulissen-Grenzstation des ersten Teils (Schenke, Schlagbaum und Tukan inklusive); Tobias Bonn alias Toni Pfister schmachtet sich schmonzettig durch seine Tenorpartie; Stefan Kurt intrigiert sich agil und jovial durch seine Filmproduzenten-Rolle; und das Orchester der Komischen Oper, nach der Verwandlung des ersten Bildes dekorativ neben der Showtreppe platziert, lässt sich von Kai Tietje schwungvoll durch dessen lässig federndes Arrangement führen. Und dann sind da auch noch zwei balzende Kunststoff-Schwäne, die die Grenze zum kitschigen Aberwitz endgültig überschreiten.

Scherz und schrille Ironie gibt es also viel zu bestaunen an diesem Abend – Satire oder gar tiefere Bedeutung indes wird man vergebens suchen. Was man mit einigem Recht bedauern kann. Dem Berliner Publikum aber genügte bei der Premiere die glänzende Oberflächen-Politur vollauf – und es warf sich der Divissima Ursli-Clivia begeistert zu Füßen.
Leserkritiken: Zarathustra in Köln
Schauspiel Köln: Streik, Judith, Genesis

Als Zarathustra in die Stadt Köln kam, welche am Rheine liegt, besuchte er das Schauspiel Köln; denn es war verheißen worden, daß man dort Gott uns seine Anhänger sehen solle.

Als er aber nach dem Besuch alleine war, sprach er also zu seinem Herzen; Sollte es denn möglich sein! Diese Kölner Theaterleute haben in ihrer Industriebrache noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist.
Leserkritik: Bochum Theater unten
Schauspielhaus Bochum - Theater unten: Eine Sommernacht.
Premiere am 05.04.2014
Es ist ja zum Heulen, dass die wichtige dritte Figur des DJ Puck, dermaßen untergehen muss. Für diese Rolle ist das Timing noch wichtiger als sonst im Schauspiel. Er macht Geräusche, Soundkulisse und spricht zusätzliche Rollen. Sehr gut gemacht: Manuel Loos. So durch und durch Hipster-DJ!

Er wird aber damit leben können gegen diese überirdischen Leistungen von Kynga Prytula und Henrik Schubert, deren Rollen ja nun mal, teils die vierte Wand durchbrechend kommentierend und hauptsächlich spielend im Vordergrund stehen. Guten Schauspielern glaubt man ihre Rollen. Insofern: Alles gut!!

Der liebenswerte Kleinkriminelle, die frustrierte Anwältin und der hippe Hipster-DJ wurden treffend eingekleidet und agierten in einem nicht zu üppigen aber absolut realitätseindruckfördernden Bühnenbild. In Bochum wurde ich nie enttäuscht und oft sogar begeistert. Heute ganz locker sogar!! Führung übernahm Carla Niewöhner, die hier eine sehr gute Visitenkarte mit ihrer ersten Regiearbeit abgibt.
Gesamt möchte ich vorsichtig 8 von 10 Sternen vergeben
Leserkritiken: Geschichten von hier IV, DT Berlin
Ein Projekt von Frank Abt: Geschichten von hier IV: Was uns bleibt, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Frank Abt)

Wenn eine Serie ihre vierte Auflage erfährt, ist das gemeinhin ein Zeichen für Erfolg. Das Konzept scheint, wie es so schön heißt, angenommen zu werden, Interesse, das heißt Nachfrage, zu generieren. Regisseur Frank Abt und das Deutsche Theater würden in solchen Termini vermutlich nicht sprechen. Wenn ihr dokumentarisches Projekt Geschichten von hier jetzt in seine vierte Runde geht, hat dies vielleicht auch einen ganz profanen Grund: Die Geschichten, die sie finden, wollen einfach nicht ausgehen. Für Geschichten von hier werden Interviews mit „ganz normalen“ Menschen geführt, jeweils über ein bestimmtes Thema, die Erzählungen in einen Theatertext überführt und mit Schauspielern aufgeführt. Diesmal geht es um das Thema Familie, wie sie die nachfolgenden Generationen prägt, wie sich Familienbilder und Ansprüche an die gesellschaftliche Keimzelle verändern. Drei Familien rückt Abt in den Fokus, jeweils drei Generationen, die aus ihrer Sicht und an ihrem Beispiel Familien reflektieren. Es sind spezifisch deutsche Geschichten, welche ihren Fokuspunkt immer in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Und die de Frage aufwerfen, was denn nun eigentlich bleibt, von dem, was vor uns kam.

Jede Menge Gegenstände zunächst, die fein säuberlich gruppiert, auf der Bühne der Kamerspiele ausgelegt sind. Diese betritt der Zuschauer durch einen halb geöffneten Vorhang wie einen erinnerungsraum. Geschirr, Koffer, Fotos, Elektrogeräte, Spielzeug, Schmuck: Stumme Zeugen bewegter Leben, an denen Erinnerungen haften, die nur mit Glück noch wiederzubeschaffen sind. Vier Vertreter der Enkelgeneration treten auf, Studenten der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“, gehen durch die Objektparade, nehme den einen oder anderen Gegenstand auf, erzählen, was ihnen dazu einfällt. Doch nein, hier geht es ja um Wichtiges. Und so beginnt Nils Strunk vorzulesen, aus dem Kriegstagebuch des späteres Lehrers und Politikers Wolfgang Weimar. Befremdliche Geschichten aus Verblendung, jugendlicher Abenteuerlust, heldischem Gepose, erschütternder Härte, aber auch Lebenswillen und pubertärem Liebesverlangen. Die ebenso beeindruckend komplexen wie gleichzeitig erschreckend ideologisierten Selbstreflexionen faszinieren in ihrer Direktheit – sie sind eben keine Erinnerung, sondern unmittelbar aufgeschriebenes Erlebtes. Es sind die Texte, die tragen, nicht die einfallslose Inszenierung. Da werden Szenen angedeutet, dürfen irgendwann auch die anderen lesen, denn es ist ja kollektives Gedächtnis. Der Text aber bleibt auf sich allein gestellt, verbleibt im Nirgendwo, allein gelassen.

Denn, das hatte man fast vergessen, hier soll es doch um Familie gehen. Also teilt sich das Publikum – je nach Farbe auf der Stuhllehne – auf in drei Gruppen, jeweils geführt von einem der Schauspieler, welche die Zuschauer in „ihre“ Familie mitnehmen. Drei Familien, drei Orte im DT: die Tischlerei, die Statistengarderobe, das Reinhardtzimmer. In Letzterem sind drei Generationen einer Familie deutscher Juden versammelt: die „nichtjüdische“ Großmutter, der Vater, ein Psychologe, die Tochter, Psychologiestudentin. Spannend der Ansatz, die Geschichte von hinten, vom Heute aus, aufzurollen. Und so erfahren wir von dem Wirkungen, welche die Familienhistorie auf die folgenden Generationen hatte, bevor wir die auslösenden Ereignisse kennen lernen. Viel ist von Kommunikation zu spüren, der (vielleicht viel zu) offenen heutigen und der verweigerten in der Großelterngeneration. Da wird das, was man nicht hören soll, zum Lebensinhalt und jenes, was immer wieder erzählt wird, zum genervt weggewischten. Auch Familienbilder wandeln sich. Von der alles teilenden Schicksalsgemeinschaft der ersten Generation über die Individualismusgläubigkeit der zweiten bis hin zum unaufgeregten Pragmatismus der Enkel.

Wie die Bedeutung der – nicht wenigen Schicksalsschläge – der Familie, ihrer Geschichte von Ausgrenzung und Entmenschlichung sich von Generation zu Generation wandelt, wie unterschiedliche Aspekte wichtig werden, wie der Zwang zur Erinnerung auch Reaktionen von Gegnerschaft und Verweigerung auslösen kann, ist überaus spannend. Nur leider geschieht das erneut vor allem auf der Ebene der – dokumentarischen – Texte. Das hat insbesondere damit zu tun, dass Abt seinen Figuren die Interaktion weitgehend verweigert. Es wird berichtet, aber nicht miteinander besprochen. Die verhandelten Beziehungen erscheinen dadurch eher abstrakt, nicht greif- und kaum nachvollziehbar. Die Distanz, welche die Aufbereitung der gesammelten Geschichte durch Schauspieler aufbaut – und aufbauen soll – steht wie eine Wand zwischen Zuschauer und Erzähltem. Eine Wand, die umso schmerzlicher wirkt, wenn, wie bei der Premiere, die, deren Geschichten hier erzählt werden, selbst anwesend sind. Die Schauspieler sprechen, als würde sie das alles nichts angehen. Und die verhindert, dass das Erzählte über das Individuelle hinausstrahlt, universell wird oder im zuschauer eigene Erinnerungs- und Reflexionsprozesse anstößt. Was den Zuhörenden die Frage nahelegt, was ihnen das bedeuten mag du ob die Antwort auf die Frage, was denn bleibe, nicht doch eine negative sei.

Da hilft auch der schön gedachte Epilog kaum: Da kommen die drei Gruppen wieder zusammen. Auf der Bühne ist eine Familientafel aufgebaut, es gibt Kartoffelsuppe aus dem zuvor ausgestellten Geschirr. Jetzt könnte sich der erzählraumerweitern, die passiv gehaltenen Zuschauer ihre Geschichten erzählen oder das Gehörte reflektieren. Aber nein: Räume sind an diesem Abend, dazu da, geschlossen zu werden. Und so kommen die „Familien“ zurück, stellen sich auf, und Strunk kann „seine“ Geschichte zu Ende erzählen: vom bei seiner Trauerfeier verlesenen Schuldeingeständnis Weimars, das die vorherige Unmittelbarkeit, die verstörenden Brüche der Selbstreflexion wieder angenehm einebnet und leicht verdaulich macht. Er hat seine Fehler eingesehen, also ist alles gut. Und so geht das Licht aus, man applaudiert und geht nach Hause. Der Rest ist, wie gehabt, Schweigen.

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Leserkritik: "Dieses Grab ist mir zu klein" bei F.I.N.D 2014
F.I.N.D. 2014 – Biljana Srbljanović: Dieses Grab ist mir zu klein, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Werkstattinszenierung/Regie: Mina Salehpour)

Nein, die Weltgeschichte zu beeinflussen traut man diesen reichlich lächerlichen Gestalten wirklich nicht zu. Wie die Jungs in ihren viel zu bunten Klamotten mit ihren – zumeist erfundenen – Heldentaten prahlen, um sich erwachsen zu fühlen und natürlich einem Mädchen zu imponieren, bewegt sich irgendwo zwischen Förmchenwerfen im Sandkasten und Schwanzvergleich. Fast möchte man meinen, Herbert Fritsch würde jetzt an der Schaubühne inszenieren, zu deutlich sind die Zitaten: von der grell karikaturesken Kleidung über die weißgeschminkten Gesichter bis zu den zuweilen weit aufgerissenen Mündern und slapstickähnlichen Varieténummern. Die gefeierte Jungregisseurin Mina Salehpour hat Biljana Srbljanovićs Stück Dieses Grab ist mir zu klein über die Attentäter von Sarajevo, die, ohne es zu wollen, den Auslöser gaben für den ersten Weltkrieg, an der Schaubühne als Werkstattinszenierung herausgebracht – und als infantil-pubertären Posing-Wettstreit interpretiert.

Mit klar besetzten Rollen: Der Todesschütze Gavrilo Princip (Bernardo Arias Porras) ist ein ungeduldiger, leicht reizbarer, sehr auf sein Image bedachter Teenager, sein Freund Nedeljko Čabrinović (Konstantin Shklyar) sein dümmlich naiver Gegenpol, Tilman Strauß spielt den älteren Danilo Ilić als arroganten Besserwisser, Ulrich Hoppe der Geheimbund-Führer Apis als aufgeblasen komplexbeladenen Jammerlappen, während Luise Wolfram als Danilos Schwester Ljubica kokett alle Freche-Mädchen-Klischees bedient. All das Heldengeschwätz, das Srbljanović ihren Figuren zugesteht – Salehpour nimmt es für keine Sekunde ernst. Für sie ist das kindisches Gepose, die Lächerlichkeit alles Heldentums ihr Thema. Céline Demars‘ schräge Bretterbühne ist perfekte Metapher: Morsch ist der ideologische Unterbau, groß das Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit, all das Gerede von Heimat und Ehre und Nation pubertäres Gewäsch. Wo Srbljanovićs Text ambivalent bleibt, unterschiedliche Sichtweisen zulässt und anbietet, bleibt bei Salehpour nur Schwarz und Weiß. Ob sie im Kino sitzen oder die Wirkungen von Cannabis erleben: Das sind keine Helden, sondern selbstsüchtige Gören, denen der eigene Ruhm, das eigene Image wichtiger ist als alles. Heldentum als Egobefriedigung, sonst nichts.

Nun ist das leider nicht abendfüllend und auch für die gerade einstündige Schaubühnen-Fassung reicht das kaum. Dass das Spiel dieser Pubertierenden tödliche Auswirkungen hat wird in einer grellen Varietészene mit Originalzitaten zwar belegt, den farcenhaften Tonfall hat auch diese Sequenz. Das ist zu einfach gedacht und umgesetzt: die simple Figurenzeichnung, die einzelne Inszenierungsidee, die bis zur Erschöpfung ausgeschlachtet wird, die plakative Deutung gepaart mit halbherzigem Stich ins Groteske. Das wirkt nicht nur unfertig, es ist vor allem ein wenig denkfaul. Da hilft auch der subtilere Schlussakkord kaum: Strauß’ Ilić, längst hingerichtet, besucht die baldigen Toten, die nacheinander entspannt da liegen, der Tod ein Traum aus vollbrachter Ruhmestat und zukünftiger Verehrung. Eine trügerische Hoffnung, wie Strauß dem sanft lächelnden Arias Porras offenbart. Auch Princips Ruhm ist vergänglich und wandelbar: „Alles wird verschwinden“, sagt Ilić, „Wie sind verschwunden.“ Ein ernster, fast lyrischer Schluss und doch in seiner Botschaft und Bildsprache zu klar, zu eindeutig. Wenn die Geschichte etwas gelehrt hat, dann, dass Schwarz und Weiß schlechte Ratgeber sind. In Dieses Grab ist mir zu klein – den Satz spricht Apis vor seiner Erschießung – bleiben sie die einzigen.

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Leserkritik: "Posen in Angst" am Berliner Ballhaus Ost
Przemek Zybowski: Posen in Angst, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Johannes Wenzel)

Wir schreiben das Jahr 2040. Die Welt ist vernetzt. Die Welt? Nein, nur dass, was wir Europa, die westliche Zivilisation, Europa nennen. Jeder EU-Bürger ist ständig online. Im Wortsinn: Über einen eingepflanzten Chip ist man mit dem „Bewusstsein“ verbunden, einer kollektiven Kontroll- und Wissensinstanz, die das private, individuelle Bewusstsein, wie wir es kennen längst abgelöst hat. Dabei ist das Individuum nicht tot, es ist nur eben stets mit allen anderen verbunden, teilt ihre Welterfahrung, formt ein gemeinsames Gedächtnis. Bis eines Tages ein Virus droht, die schöne Online-Welt zu vernichten. Noch ist Osteuropa nicht betroffen, Russland besetzt vorsorglich Polen und das Baltikum, Millionen machen sich auf die Flucht gen Osten. Darunter auch Boris, aus ostdeutschem Adel stammend, und die Jüdin Rebekka, die im Berliner Großlazarett, einer Art Arche der Nichtinfizierten, stranden, wo Leiter Che eine Herrschaft der Eliten anstrebt und Ärztin Katja aus dem immunen Boris und seinen ererbten Germania-Möbeln einen Impfstoff entwickeln will. Hin- und hergerissen zwischen Rettung der technisierten Moderne und der Sehnsucht nach einem Offline-Leben sitzt Boris zwischen den Stühlen.

Dies ist die Kurzbeschreibung von Posen in Angst, der neuen Zusammenarbeit des polnischen Autors Przemek Zybowski und des deutschen Regisseurs Johannes Wenzel. Und doch kann sie nicht ansatzweise einen Eindruck geben von dem Abend, den die beiden am Berliner Ballhaus Ost auf die Bühne gewuchtet haben. Denn es ist ein wahres Wortungetüm, das Zybowski erschaffen hat, ein Monster aus Satire, Kulturkritik, Philosophie, abstrakter Lyrik und Sprachskulptur, das zuweilen nicht nur thematisch (die Jelineks Rechnitz. Der Würgeengel zugrundeliegende Geschichte wird angesprochen) erinnern soll. Nur fehlt Zybowskis Text der Wortwitz, die fleischwolfartige Vermengung und Zerhäckselung von Sprache und Sinn und Bedeutung, die Jelinek auszeichnet. Dieser Text ist vielmehr eine Vermengung europäischer Geschichte und Identitätsfindung, des fragilen Selbstverständnisses einer durchtechnologisierten Gesellschaft und einer dystopischen Vision kollektiver Zukunft.

Da geht es um Authentizität und Effizienz, um Gedächtnis und Erinnerung, ich und Kollektiv, steht (etwa in Katjas furiosem schlussmonolog, nach dem natürlich noch nicht Schluss ist) das Chaos der Natur gegen die Ordnung der kontrollierenden Technik. Online, so heißt es einmal, sei die Befreiung von der Angst, einer Angst, die nicht effektiv scheint, und die man der (menschlichen) Natur zurechnet. Seit der Mensch das Konzept des Fortschritts entdeckt hat, arbeitet er an der Optimierung seiner selbst – mit zuweilen schrecklichen Folgen, wie all die Versuche, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen von Hitler bis zu Pol Pot gezeigt haben. Der Glaube an Fortschritt und Technik, der auch heute noch blüht und gedeiht, steht im Mittelpunkt des Stücks. Er wird kritisch hinterfragt, aber nicht gänzlich verworfen. Am Ende erscheint eben auch die bevorstehende große Offlinelücke nicht als das gelobte Land, Technikfreiheit nicht als pure Befreiung. Diese Ambivalenz gehört zu den Stärken von Posen in Angst.

Aber natürlich reicht das nicht: Da werden Fragen kollektiver und individueller Schuld verhandelt, die nie ganz geschlossenen Wunden europäischer Geschichte verhandelt – von Shoah und Vertreibung bis zum EU-Beitritt Polens, die Angst des Westens vor dem Osten thematisiert, die Heuchelei des Konzepts Europas vorgeführt. Wenn die Online-Apokalypse Gedächtnisverlust bedeutet – ein nicht ganz absurdes Szenario – wie kann Erinnerung als Triebfeder menschlicher Existenz erhalten bleiben? Der Abend stellt schon richtige Fragen und er tut gut daran, einfache Antworten zu vermeiden. Das Problem liegt woanders: Schon die Themen- und assoziationsvielfalt überfrachtet den Text, aber das ist erst der Anfang. Zybowski injiziert ihm ein Assoziationsgewitter, dass dem Zuschauer bald der Kopf raucht. Mystizismus, Wissenschaft, Philosophie, sperrige fragmentarisch-elliptische Textflächen – all das verknetet Zybowski zu einem Konvolut, das so hermetisch, so abstrakt wird, dass der Zuschauer bald mit Che sagen muss: „Ich bin völlig überfordert.“ Und da schließt sich eben auch die Tür zu dem, was hier verhandelt werden soll, bleibt der Zugang gesperrt, geht alles in einem Wörtermeer unter, das nicht versiegen will und irgendwann nur noch als nicht mehr zu durchdringendes Rauschen auf das Publikum einprasselt.

Daran ist auch Wenzel nicht unschuldig: Er lässt Zybowskis Texte rezitieren, ohne inszenatorisch viel einzugreifen. Das Ergebnis ist statisches Reklamationstheater, bei dem zumeist ins Publikum gesprochen wird, die Figuren ebenso unvermittelt herumstehen, wie sie die sicher symbolisch gemeinten, aber nie wirklich in die Inszenierung integrierten Kulissenteile, ein perspektivisch verzerrter Einkaufswagen und ein ebensolches Zugabteil sowie Skulpturen erstarrter und verzerrter Natur von Philip Wiegard und Tobias Yves Zintel hin- und herschieben. Im Hintergrund wölbt sich eine Art Eiswüste – die Bühne ist ebenso überfrachtet wie Zybowskis Text und nicht minder gewollt abstrakt und plakativ künstlerisch. Wenzels Regie tut nichts, um die Monotonie der fast zweistündigen Non-Stop-Rezitation zu vermindern, er führt keine Erzählebene jenseits des Textes ein, sondern inszeniert das mehr als szenische Lesung. Irgendwann gegen Ende des Abends ist von der Angst vor der ruhe die Rede, vom Zwang ständiger Veränderung, der Notwendigkeit, dass immer „etwas passiert“. Vielleicht ist Posen in Angst ja in erster Linie eine Verkörperung dieser ach so modernen Ängste. Oder womöglich ist es in seiner Humorfreiheit, Ironieverweigerung und dem kaum erträglichen Sich-Selbst-Ernstnehmen vor allem Symptom, dessen, was beschreiben will. Schade, dass nach diesem Abend vor lauter Wortflut kein Raum bleibt, darüber zu reflektieren.

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Leserkritik "Mongoflipper", Berlin
‚Mongoflipper’, eine Farce von Cornelius Schwalm im Theaterdiscounter, Berlin

Ein großartiges Stück heikles Theater - hervorragend gespielt und inszeniert, poli-tisch anregend aufbereitet, witzig und fesselnd bis zum Schluss!!

Der Schauspieler und Regisseur Cornelius Schwalm, Berlin, hat jetzt sein erstes selbst verfasstes Drama - Sophie Nikolitsch wird als Co-Autorin genannt - auf die Bühne gebracht, das er „seit Jahren“ im Kopf hatte und dessen Spielfassung quasi erst während der Endproben niedergeschrieben wurde. Die Premiere fand am 29. Januar statt, im Berliner Theaterdiscounter – schrecklicher Name, der sofort an Billigware erinnert. Dabei kann die überraschend offene Spielstätte im dritten Stock in der Klosterstrasse mit ihrer Flexibilität punkten, so dass in jeder Inszenierung anders agiert wird und dies allein schon einen Überraschungseffekt mit sich bringt. Und ‚Mongoflipper’ ist erfolgreich. Von 15.-17. Mai läuft bereits die dritte Staffel; der Berichterstatter hatte die Aufführung am 22.03. besucht.

Der Behinderte Pascal/Bernd – sorry: der Mensch mit individuellen Beeinträchtigungen, die umfänglich, vergleichsweise schwer und langfristig sind – diese Rolle also wird gespielt von einer Frau und Verena Unbehaun, von der alles gefordert wird und die alles Geforderte geben kann, lebt diesen Pascal/Bernd so realistisch und glaubwürdig vor, als wäre es das Einfachste auf der Welt.
Auch die anderen 5 SchauspielerInnen (S. Buchbauer, J. Kleemann, M. Metzner, M. Rheinheimer, S. Thiel) leisten überraschend gute Arbeit, denn die Produktionsbedingungen für die unter dem (Schnaps-)Namen MARIACRON auftretende Truppe sind alles andere als rosig – um nicht zu sagen: beschissen! Ein Satz aus der Aufführung ist Beleg genug; als sich die Akteure bei der Probe in diesem ‚Stück im Stück’ in die Haare kommen, rutscht einer heraus: „Und dafür habe ich Zürich sausen lassen!“ – Treffender geht’s wirklich nicht!

'Pascals Reise ins Glück: Operation Germanenkind' - so der Untertitel - erzählt von einem jungen Mann, der auf Suche nach „Heilung“ seiner Behinderung an eine esoterisch-faschistische Organisation gerät; und damit es jede/r versteht, tauchen SS-Uniformen und eine altdeutsche Schrift auf. Als die Heilung, die als medizinischer Durchbruch nobelpreisverdächtig wäre, ausbleibt, eskaliert die Situation. Und erfährt durch die Inszenierung dieses ‚Stücks im Stück’ einen völlig unerwarteten Clou: der Regisseur meldet sich aus dem Off zu Wort und wir sind plötzlich mitten in einer Probe. Und dieser mehrfach wiederholte Kunstgriff trägt die Aufführung locker über die ca. 90-minütige Spieldauer – es wird keine Sekunde langweilig. Und dabei wird das emotionsbeladene Thema Behinderung und Theater, das natürlich die ganze Zeit das Geschehen bestimmt, in vielen seiner Facetten angesprochen, bis hin zur Frage, wie wir, die Zuschauer, reagieren würden, wenn der Behinderte nicht das tut, was wir, möglicherweise auch unbewusst, von ihm verlangen.

Man fragt sich am Ende, welche Vorstellungen man selbst mitgebracht hat, wenn man total überrascht und verblüfft heftig Beifall spendet. Ich kann daher den Besuch dieser packenden Aufführung nur wärmstens empfehlen. Wie gesagt: Ein großartiges Stück heikles Theater - hervorragend gespielt und inszeniert, politisch anregend aufbereitet, witzig und fesselnd bis zum Schluss!! (15.-17.Mai, Theaterdiscounter)
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
'Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama' von Christian Lollike in der Regie von Malte C. Lachmann. Vergangenen Samstag in Dresden auf der Studiobühne gesehen und bestaunt. Folgende Kritik von Tobias Prüwer aus dem Magazin 'Deutsche Bühne' finde ich sehr treffend: 'Disney hat den Märchen die Eier abgerissen, hat sie kastriert“: Über die Disneyfizierung der Welt sind schon Konferenzen abgehalten worden. Und nachdem Kampagnen wie „Pink stinks“ die Zementierung der Geschlechterbilder in Frage stellen, kommt mit „Träume werden Wirklichkeit!“ die ultimative Theaterantwort aus dem Dresdner Staatsschauspiel. Ultimativ, weil in der deutschen Erstaufführung ein scharfzüngig-pointierter Text auf kluge wie unprätentiöse Regie und ein famos ausgelassenes Schauspielerduo trifft. Dicht dran, manchmal sogar mittendrin erlebt das Publikum auf der Studiobühne eine Achterbahn der Gefühle im Leben einer Generation, deren utopisches Potenzial sich darin erschöpft, Prinz und Prinzessin sein zu wollen.Die Betonung klassischer Geschlechterrollen, die Wiederbelebung konservativer Werte und der Traum vom eigenen Schloss als mentale Durchhalteparole für den Arbeitskraftspender stehen lange schon in der Kritik. Dem dänischen Autor Christian Lollike ist es gelungen, eine solche gänzlich ohne pädagogischen Fingerzeig in Worte zu gießen. Das dialogische Stück besteht aus der Präsentation zweier fragmentierter Lebensläufe und mosaikartig eingefügten, fantastischen Spielszenen. Auf schnellen Spontansex – er markiert den Beginn des Stücks, als Frau A und Herr B auf die pinke und babyblaue Bühne stürmen und als Schattenrisse kopulieren – folgt das Gespräch danach. A lebt desillusioniert in einer Ehe und wünscht sich ein Abenteuer samt Prinz. B hätte gern wieder einen Job, würde aber viel lieber die Welt aus den Angel heben – weiß nur nicht wie und wohin die Reise dann gehen soll. „Stell dir vor, wenn wir die sind, die die Fähigkeit verloren haben, sich die Welt anders vorzustellen.“Statt Wunschproduktion durch die Unterhaltungsindustrie, wollen A und B einen „Möglichkeitssinn“ reaktivieren, von dem Robert Musil einmal schrieb: „Wer ihn besitzt, sagt … nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Also versuchen beide, sich eine andere Welt auszumalen und landen jedes Mal im Bild- und Denkuniversum von Walt Disney. Wenn sie Schneewittchen, Aladin und Dornröschen anspielen, gehen sie nicht in Oppulenz verloren.Die Regie setzt auf reduziertes Material: Die Kulisse als rosa beblümte Spielwiese besteht aus einem Rundkissen und einer Kiste sowie einem silbernen Vorhang im Hintergrund. Ein paar einfache Requisiten müssen reichen, um mit einem Palästinensertuch aus B einen Aladin zu machen, ein gelber Rüschenrock markiert die Zwergengefährtin; Figuren- und Objektheaterelemente kommen hinzu. Auf diese Weise sind Ines Marie Westernströer und Thomas Schumacher ganz auf ihr mimetisches Können angewiesen – und sie begeistern durch Vielseitigkeit. Zwischen komischer Grimasse und suizidaler Selbstzerstörungswut, kesser Lippe, romantisch-erotischen Anflügen sowie realistisch gespielter Tristesse beherrschen sie die Klaviatur großer und kleiner Gefühle und Gesten. Sie umschiffen mit Leichtigkeit die Gefahr, sich selbst in eine disneyesken Theatralität der Affektiertheit – „Drama, Baby!“ – zu begeben. Mal leise, mal laut verlassen sie sich auf die Unmittelbarkeit der Theatersituation und das geht wunderbar auf. Und wenn die beiden immer wieder aus der Rolle fallen, das Theater selbst thematisieren und das Publikum ansprechen, bekommt der Zuschauer eine Ahnung, warum Dagobert Duck vehement einen ganz neuen Handlungsrahmen einfordert. Er will ein neues Märchen leben, eins mit Eiern. Bevor sich aber sein Wunsch erfüllt, dräut das Happy End.'
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
Wie kann jemand ein so extrem schwer in unseren Theater-Zeiten durchsetzbares Märchen nur mit einem GELBEN Rüschenrock ausstatten! So dicht liegen im Theater eben Geschmacksverirrung und die harten Realitäten beieinander! - Trotzdem für den zeitgenössisch politisch relevanten Durchblick: Lollike for Büchner price wie einst Zappa for president! Und natürlich Dank an die mutige und überaus witzbegabte Regie!
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
Ein großartiger, berührender, komischer Theaterabend! Tolle Schauspieler!!!
Leserkritik Tod. Sünde. 7 am DT Berlin
Tod. Sünde. 7, Eine Stückentwicklung des Jungen DT, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Wojtek Klemm)

Professionell wirft sich der Junge im enganliegenden blauen Pulli und den knöchelfreien Hosen in Pose und wirft selbstbewusste Blicke in den Zuschauerraum. "Vergib mir meine Perfektion!", sagt er und dreht seinen Körper in Position, als wäre er hier bei einem Cover-Shooting. Ohne Zweifel: Hier ist einer, der im täglichen Ringen um die Selbstoptimierung zu den Gewinnern zählt. Das Ich als attraktiv verpacktes Produkt, der Körper als frei formbares Baumaterial, das Leben als Wettstreit der bunten Hüllen im Supermarktregal der Schönen und Attraktiven: Das ist das Thema der 15 Jugendlichen, die sich hier auf den Trümmern dessen, was von den sieben Todsünden übrig blieb, rekeln und in Positur werfen. Auf der zweistöckigen Holzkonstruktion der Bühne prangt ganz oben ein Jesus-Graffiti, mehr als Dekoration ist es nicht. Wenn gleich zu Beginn ein Mädchen beichten will wird es an die Seite gedrängt: In Zeiten, in denen die schöne Hülle, das positive Image, das Ich als Marke zählen, ist für moralischen Humbug keinen Platz. Und so sind Neid und Zorn und Völlerei (oder besser ihr rauschhaftes Gegenteil) und Hochmut zentrale Markenbestandteile, USPs, mit denen sich das eigene Produkt von Wettbewerb abheben kann. Wer nicht mithält, ist raus und kann nur noch mit aufgesetzt schmerzhaftem Lächeln innere Werte proklamieren. Gehört wird das nicht.

Regisseur Wojtek Klemm und sein jugendliches Ensemble sezieren die Selbstoptimierungswut unserer Gesellschaft mit vollstem Körpereinsatz: Der Körper ist Projektionsfläche und Akteur, Ausdrucksmittel und Sprachapparat, Verpackung und Material. Um seine Beherrschung geht es – und um seine Nicht-Beherrschbarkeit. Ganz wunderbar die Szenen, in der der männliche Teil des Ensemble die coolen Tanzbewegungen im Club in ihre Bestandteile zerlegen und zu einer uniformen Individualismusbehauptung zusammensetzen, in der sich die Mädchen im Kaufrausch wie eine moderne Laokoongruppe an die Wäsche gehen, in der die erschlafften Körper auf Stufen und Geländern abgeworfen sind und einer nach dem anderen in sich zusammensacken. Immer wieder stampft der Rhythmus, zuckt der Körper im Takt oder versucht, zu Boden geworfen, das ihn beherrschen wollende Ich abzuschütteln. Und dann ist da dieses Zittern: die letzte Waffe des domestizierten, objektifizierten Körpers, der nicht hinnehmen will, das er nichts sein soll als Präsentationsmittel und Selfie-Motiv. Der Abend hat seine stärksten Momente, wenn Klemm und sein im aller besten Sinne kompromisslos spielwütiges Ensemble die Körper sprechen lassen.

Treten Worte in den Vordergrund, wir der Eindruck zwiespältiger: Das sind die nahe gehenden, zuweilen verstörenden, sachlich und ohne großen choreografischen Schnickschnack vorgetragenen Geschichten: von der Anmache eines Besoffenen in der S-Bahn, vom Gefühl des Ausgestoßenseins einer, die sich nicht für optimierbar hält, da ist das Stakkato der zwanghaft gegen die Stille anrennenden Kurznachrichten, die sagen: Du bist relevant, du spielst mit. Da sind die Momente, in denen Worte und Körpersprache zusammenfinden, wenn Liebe in Gewalt umschlägt, Nahe mit Aggression beantwortet wird, wenn der Wunsch, im großen Konsumroulette mitzuspielen zum rituellen Tanz wird. Da sind aber auch die aufgesetzten Einschübe: die Geschichte von Kain und Abel oder Westernhagens rezitiertes Lied “Dicke”, die Banalität der gesellschaftlichen Aufforderungen an das Individuum (“Sei schön! Sei wirtschaftlich!”). Der Fokus auf das rein Äußerliche, auf Image und Selbstpräsentation: Ganz frei ist der Abend nicht von dem, was er kritisiert.

Je länger er dauert, desto mehr scheinen die präzise durchchoreografierten Passagen zum Selbstzweck zu werden, beginnt die Phrasenhaftigkeit des gesagten zu stören, drängt sich der Eindruck auf, dass die Analyse einer Welt, welche die einstigen Todsünden zu Werten umgewidmet hat, nicht mehr an der Oberfläche kratzt, als diese Welt es zuließe. Dem Zwang des Spektakulären unterwerfen sich auch die vielen schönen Bilder dieses Abends, das Gesagte bleibt leicht verdaulich, oft Gehörtes hübsch wieder aufbereitet. Da droht der Schrei der Körper im Trubel unterzugehen und doch sind sie es, die sich windenden und sträubenden und mühsam in Form gepressten, die bleiben von einem Abend, der ein wenig zu ängstlich ist, dorthin zu gehen, wo es wirklich weh tut, der sich vom Glanz der Oberfläche zuweilen einfangen lässt und auf halber Strecke stehen bleibt, dem es an Konsequenz fehlt. Und doch ist der halbe Weg, den der Zuschauer mitgehen darf, einer, der fesselt und packt. Vergeben wir ihm also seine Perfektion – und alles was dem Abend fehlt. Denn was drin ist in diesem glitzernden Paket, ist so wenig auch nicht.

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Leserkritik: Empört Euch!, Landesbühnen Sachsen
Empört Euch! –
Ein Generationenprojekt mit Laien und Schauspielern von Judith Kriebel
Premiere an den Landesbühnen Sachsen am 29.6.2014

I
Acht Spieler und der Regisseur finden sich auf der Probebühne zusammen. Sie wollen weiterarbeiten an der Einstudierung eines Stückes mit dem Titel „Empört Euch!“. Die Spieler blättern etwas unschlüssig in ihren Rollenheften, der Regisseur gibt Erläuterungen zum Stück, indem er aus Stéphane Hessels gleichbenanntem Text zitiert. Erste zu probende Szene jene, in der eine Akteurin Angela Merkel beim Vorsitz einer Kabinettsberatung mimen soll. Gegenstand der Besprechung ist der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der in der von den Sachverständigen vorgelegten Fassung nicht veröffentlicht werden darf, nun geht es um die Frage „Wie sage ich's meinem Volke“. Mit den Verdrehungs- und Weglassvorschlägen der „Kabinettsmitglieder“ wird schließlich die Lüge zusammengezimmert, die dem Volk verkauft werden soll. Dass der Wille zur Macht etwas der Dummheit verwandtes hat (Shaw), wird hier sehr schön herausgearbeitet, die überhöhte Dummdreistigkeit im Stück, mit der „das Volk“ belogen wird, ist soweit von der Wirklichkeit wohl nicht entfernt. Leider aber lässt die Szene das eigentliche Problem beiseite: Wie kommt es zur wachsenden Differenz zwischen arm und reich und wie können wir der Entwicklung begegnen? Alles fruchtlose ohnmächtige Empörung, warten bis das System sich selbst totläuft und vielleicht alles mit sich reißt? Die Frage bleibt – nicht nur an dieser Stelle – unbeantwortet.

II
Ohne Einschränkung muss gesagt werden, dass es ein verdienstvolles Projekt ist, eine Interpretation des Textes „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel auf die Bühne zu bringen. Das umso mehr, als bisher nur wenige Theater sich an diesen Stoff gewagt haben, keines aber mit einer derartig lebensnahen Brisanz und konsequenten Herausarbeitung des in diesem Kontext zugleich bedeutsamen Generationenkonflikts. Wir haben es mit einem für die Bühne recht sperrigen Stoff zu tun, der sich der darstellenden Kunst eher entzieht als sich anbietet. Andererseits sind die von Hessel in seinem Essay aufgeworfenen Fragen von derartiger Explosivität und Aktualität, dass sie nach Öffentlichkeit geradezu schreien. Und welches Medium eignet sich besser als die Bühne, Menschen emotional anzusprechen und aufzurütteln? Es sei hier festgestellt: Emotional anzusprechen gelingt. Aufzurütteln im Sinne von „zum Handeln anregen“ ist schon schwieriger, gelingt nur teilweise, kann wohl auch (noch) nicht gelingen, zumal Hessel selbst hinsichtlich der Handlungsvorschläge vage und im ungefähren bleibt. Denn was Hessel verlangt, beispielsweise die „Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie unter Ausschaltung des Einflusses der großen im Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen auf die Gestaltung der Wirtschaft“ ist nichts weniger, als die bestehende Gesellschaft umzukrempeln. Dabei schwebt Hessel offenbar keine Revolution, gar mit Barrikaden vor, sondern ein friedliches Hinüberwachsen in eine gerechte Gesellschaft. Das „Wie“ ist noch zu erfinden. Es konnte von dieser Inszenierung nicht erwartet werden.

III
Damit sind wir bei einer Schwierigkeit, die diese Aufführung hat: Das ist die Frage, was kann man tun, um die Verhältnisse zu ändern. Die Antwort wird interessanterweise reduziert auf eine einzige, die lautet: IHR (die Generation der Älteren im Osten Deutschlands) habt es ja schon mal geschafft! Klartext: Der Osten kennt erstens zumindest die Ansätze einer besseren, gerechteren Gesellschaft und im Osten hat man zweitens die Erfahrung, wie auf friedliche Weise ein missliebiges Regime überwunden werden kann. Dass die am Schluss dieser Inszenierung verlesene Resolution der Ensemblemitglieder des Staatsschauspiels Dresden vom 6. Oktober 1989 weniger Geschichte ist als immer gültiger Forderungskatalog an die Politik, ist im Kontext dieser Inszenierung scharfsichtig herausgearbeitet.

IV
Es ist an vielen Stellen gelungen, das Nichtspannende des Alltags, des fließenden Lebens und Erlebens einzufangen und spannend zu machen. Viel eigenes Erleben der Akteure ist eingeflossen, seitens der älteren Spieler klar zutage tretend, bei den Jüngeren wird nicht ganz so sichtbar, wieviel eigenes Erleben dahinter steht. Andererseits stand den Jungen in vielen Szenen die Empörung buchstäblich in den Gesichtern, die älteren Akteure waren eher leidend, mitunter bis zu einer ergeben-dulderischen Haltung. Man verstand, dass das Erlebte ihnen naheging und sie noch immer beschäftigte – aber man sah es oft zu wenig. Einige Szenen kamen mit viel lautstarker Dynamik daher, die Empörung unterstreichend, was auch durchaus adäquate Emotionen im Publikum auslöste. An einigen wenigen Stellen gab es auch sprach- und bewegungslose Längen, bei denen sich der Eindruck breit machte, die Spieler müssen überlegen, wie das Stück weiterging oder „wer jetzt dran ist“.

V
Beeindruckend die Erzählung von Roswitha Bach vom Seniorenclub Q10 der Landesbühnen Sachsen über ihre Gründe, mit Anderen gegen die Kulturkürzungspläne der Staatsregierung in Dresden auf die Straße zu gehen. Die tief im Persönlichen liegenden Hintergründe, waren sehr bewegend vorgetragen, wenn man sich auch etwas mehr sichtliche Empörung gewünscht hätte. Vielleicht steht auch ganz unten in ihrer Seele das Ohnmachtsgefühl – dem sie auch Worte gibt –, denn die Kürzungspläne konnten nur teilweise verhindert werden.
Von ganz anderem Kaliber die von Jennifer Demmel, Studentin der Theaterakademie Sachsen, maßgeblich bestimmte und emotional wohl überzeugendste Szene, in der sie CO2-Ausstoß und vegane Lebensweise thematisiert, dem Publikum den Vorwurf macht, zu faul zu sein, seine Lebensweise zu ändern und schließlich mit der Erkenntnis zusammenbricht, dass der Kapitalismus sich längst der alternativen Lebensentwürfe bemächtigt und daraus eine willkommene Profitquelle gemacht hat, die das ursprüngliche Anliegen konterkariert.

VI
Sehr viel verdienter Beifall für die Akteure und die Regisseurin. Stellt man die Heterogenität in Rechnung – drei Studentinnen und Studenten der Theaterakademie Sachsen, drei weibliche Mitglieder des Seniorenclubs Q10 der Landesbühnen Sachsen, ein Laienspieler, drei professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler – eine bemerkenswerte Ensembleleistung. Mehr Breitenwirkung und Aufmerksamkeit möchte man dieser Inszenierung wünschen.

http://www.landesbuehnen-sachsen.de/stuecke/schauspiel/item/579-empoert-euch-armuts-zeugnisse-urauffuehrung

Dr. Robert S. Bruse (30.06.2014)
http://empörteuch.de
Leserkritiken: Tell Me Love Is Real, Foreign Affairs Berlin
Foreign Affairs 2014 – Zachary Oberzan: Tell Me Love Is Real

Zufälle, so sagt man, bestimmen unser Leben und manchmal helfen sie auch, Kunst zu schaffen. Zachary Oberzans neuer Abend fußt auf so einem Zufall: Vor einigen Jahren befanden sich Oberzan und Pop-Diva Whitney Houston etwa um die gleiche Zeit in Hotelzimmern an der nordamerikanischen Westküste. Ihr Begleiter: das Antidepressivum Xanax. Houston starb, wahrscheinlich ungewollt, an einer Überdosis, Oberzan überlebte einen Selbstmordversuch. Für den Alumnus des letztjährigen Festivalschwerpunktes Nature Theater of Oklahoma ist das Anlass, die beiden Geschichten zu verschränken: Tell Me Love Is Real beginnt mit einer filmischen Nacherzählung der letzten Stunden Houstons, so wie er sie sich vorstellt. Wir sehen ihn in einem gesichtslosen Hotelzimmer, in Houston-Kostüm- und Makeup, und hören ihn in stiller, resignativer Verzweiflung von der Leere erzählen, die auch der beste Tabletten-Alkohol-Drogen-Cocktail nicht füllen kann.

Depression, Liebessehnsucht und die nicht enden wollende Unsicherheit eines von Selbstzweifeln gequälten freischaffenden Künstlers durchziehen den Abend, der so stark beginnt. Und der sich in der Folge zu einer rasanten Collage aus Film, Konzert und Performance, Selbstbespiegelung und Persiflage, Seelen-Striptease und doppelbödigem Geschichtenerzählen wird. Und zu einer Reise durch die Pop-Kultur: von Paul Simon zu Serge Gainsbourg, von Bruce Lee zu Jean-Claude Van Damme, von Buddy Holly zu Al Pacino, von Leonard Cohen bis zu Elvis Presley spannen sich die Bögen von Oberzans aberwitzigen Ritt auf der stetigen Suche nach Liebe. Denn der Titel, einem Lied Buddy Hollys entnommen, ist programmatisch. Oberzans Abend ist autobiografisch und doch ist nie so ganz klar, wie nahe er sein Publikum an sich herankommen lässt. Leitmotive sind der Tod – vom sich nicht anschnallen wollenden Vater bis zum Selbstmordversuch – Selbstliebe und –hass sowie Mutterliebe. Fiktion und Realität verschränken sich, die schwierige Beziehung zur Mutter läuft parallel zum Interview mit einer jungen Mutter und zu einer Schlüsselszene aus dem zweiten Teil von The Godfather.

Überhaupt sind Inszenierung und Wirklichkeit kaum zu trennen, immer wieder doppelt sich Oberzan, zuweilen spricht er Text, den die Lippen seines Video-Alter-Egos formen, spiegelt die Bühne das gefilmte und wird das Dickicht von Original und Kopie im anschwellenden Strom popkultureller Assoziationen immer undurchschaubarer. Oberzan spielt mit ebenen, setzt Fährten, die nicht immer zum Ziel führen, inszeniert die eigene Depressionsgeschichte als Unterhaltungsrevue, die mitunter hochkomisch und dann wieder tieftraurig ist. Das ist streckenweise so hektisch und überfordernd wie die Welt, in der sich das Individuum wiederfindet. Die Warnfarbe Gelb wird zum leitmotivischen Signal – ein Leben stets kurz vor dem Ausnahmezustand. Doch Oberzan jammert nicht: Er hinterfragt und erfindet, er spielt und singt und beschwört und sucht das wahre Leben in all den behaupteten. Dabei ist es irgendwann nicht mehr wichtig, ob die Liebe, von der Holly singt, existiert – Hauptsache, man kann an sie glauben.

Tell Me Love Is Real ist eine eklektische Tour de Force, die Klischees nie umschifft, sondern stets geradewegs auf sie zusteuert, die Banalitäten genussvoll umarmt, die Fiktion an Fiktion reiht, den Leerlauf als Freund begrüßt und lose Enden als Lebenselixier feiert. Dabei ist Zachary Oberzan ein Künstler, der sein Handwerk versteht, sowohl das filmische wie das theatrale. Einer der Abgründe dort findet, wo wir sie nicht suchen und Nähe, wo sie unmöglich scheint. Vielleicht ist der Schlüsselmoment jene Szene aus einer französischen Fernsehsendung, in der ein betrunkener Serge Gainsbourg eine vollkommen überraschte Whitney Houston schamlos angräbt und jegliche professionelle Fassade fallen lässt. Ein solcher Moment gelingt Oberzan selbst nicht, kann er wohl auch nicht, doch womöglich liegt hier das Geheimnis, nach dem er sucht. Und vielleicht gibt es das gar nicht. Für uns Zuschauer wäre das so schlecht nicht, zwänge es Oberzan doch, ewig weiterzusuchen. Und wie auf- und anregend das sein kann, zeigt Tell Me Love Is Real eindrucksvoll.

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Leserkritiken: "Mephisto" in Weimar
Mephisto - Deutsches Nationaltheater Weimar (Bühnenfassung: Robert Schuster und Nora Khuon, nach dem Roman von Klaus Mann), Premiere: 13. September 2014

Wie schafft man es, frei von Erwartungen ein Stück zu sehen, dessen Vorlage man gelesen oder zumindest verfilmt gesehen hat? Die Besucher ließen sich darauf ein und belohnten die erste Schauspielpremiere der neuen Spielzeit mit 17-minütigem Applaus (dies für die Statistik) und leuchtenden Augen beim Gehen, während die "amtlichen Kritiker" verwirrte Desillusionierung formulierten. Selten waren Meinungen derart gespalten.

Nicht zuletzt und vielleicht sogar zuerst liegt das an der großartigen Dramaturgie. Nora Khuon schafft es, die Geschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen, der seine einst so (scheinbar) linksrevolutionären Ideale aufgibt, um unter dem Regime des aufkommenen Nationalsozialismus Karriere zu machen, über das Ende des Romans hinaus in die Nachkriegs-DDR zu erweitern, und verwirklicht damit, was Klaus Mann immer behauptet hat: Der Roman ist nicht die Biographie von Gustav Gründgens - trotz seines Verbots durch dessen Familie -, sondern steht archetypisch für Karrieristen, Empörkömmlinge und Fähnlein-Nach-Dem-Wind-Dreher.
Ein großer Teil Fremdtexte reichern die Handlung des Romanes an, "Faust-Zitate", natürlich, und unter anderem ein Abriss der Geschichte des "wichtigsten deutschen Theaters", des Deutschen Nationaltheaters Weimar nämlich, in den Zeiten des Dritten Reiches, die erstaunlicherweise kaum dokumentiert ist und die genau jene hervorbrachte: die Seiten je nach politischer Lage wechselnden Funktionäre hervorbrachte.
Dieser mitreißende, fast improvisiert klingende Monolog von Jonas Schlagowsky ("Entschuldigen Sie, wenn ich störe, ich hab da mal eine Frage...") ist einer der Höhepunkte der über 3 Stunden Theater, das vor allem mit einer wunderbar geschlossenen Leistung des 7-köpfigen Ensembles begeistert. Unter der Leitung von Robert Schuster wird die Rolle des Hendrik Höfgen unter 4 Spielern aufgeteilt, was nicht nur auf der Bühne virtuos funktioniert, sondern das Nicht-Fassbare der Figur, den Facettenreichtum bis zur Selbstverleugnung und das Sich-durch-die-Zeiten-Wandeln grandios umsetzt.

Man weiß gar nicht, wen man herausheben soll: Michael Wächter, eine der schillerndste Bühnenfiguren, gibt den revolutionären Jungschauspieler voller Elan und Kraft, Lutz Salzmann trotzt und ringt auf dem Weg zum Ruhm, legt sich dabei sogar mit seinem Schöpfer Klaus Mann an, Sebastian Nakajew schreitet arrogant und herrisch auf dem Höhepunkt der Karriere einher, und DNT-Urgestein Bernd Lange spielt den alten Höfgen souverän, ein bisschen blasiert, fast resigniert.
Auch die übrigen Rollen sind mehrfach besetzt, bis auf den Ministerpräsidenten, den die körperlich eher zarte Elke Wieditz mit einer fast beängstigend latenten Brutalität gibt.

Man griff hinein ins volle Menschenleben, zumindest in das der Protagonisten, und spielte voller Freude deren Hoffnungen und Versagen, Abgründe und Ängste und Leidenschaften. Was soll man sagen: Es war Theater! Endlich, am sonst eher kühlen DNT, großes Theater, theater, das sowohl unterhielt als auch informierte, das inspirierte und zum Nach- und Mitdenken aufforderte, ja, fast zwang. Großes, gutes und wichtiges Theater also. Es bleibt zu hoffen, dass sich viele Menschen darauf einlassen, genießen und mitdenken, betroffen sind und die Parallelen sehen - nicht nur zwischen einem Höfgen in Berlin und vielen anderen Intendanten der Nazizeit, sondern zwischen karriereorientierten Opportunisten damals wie heute...

Die letzte Szene des Abends zeigt Höfgen Faust rezitierend, das Erwachen nach dem Heilschlaf des Vergessens.
Es ist eine Inszenierung WIDER das Vergessen.
Leserkritik Société des Amis, Berlin
Jan Koslowski: Société des Amis. Tindermatch im Oderbruch, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Jan Koslowski)

Dass in diesem Freundeskreis so manches nicht stimmt, zeigt schon ein Blick auf die Bühne. Ja, da sind ein paar spiegelnde Kreise verteilt, die Mehrzahl der Bühnenelement ist jedoch in Dreiecksform gehalten. Nein, hier gibt es Ecken und Kanten, hier wird es auch einmal wehtun. Fünf junge Leute haben sich auf der Bühne versammelt und schwadronieren erst einmal chorisch vom letzten Sommer. In zum Teil gewagten logischen Volten, mäandernden und kreisenden Bewegungen, gespickt mit zahlreichen Wiederholungen, tritt der Text, indem es um das Festhalten von etwas geht, das sich nicht festhalten lässt, um den sich seiner Vergeblichkeit bewussten Versuch, das Auseinanderstreben des einst fest Zusammengefügten, das man gemeinhin Erwachsenwerden nennt, aufzuhalten. Jan Koslowski verweigert sich jedem Realismusverdacht. Er lässt chorisch sprechen, Gesten symbolisch aufladen und mechanisch verfremden, gestelzt deklamieren, immer wieder durch die Sprachgeschichte springen. Es wird gesungen, getanzt, Reden geschwungen, Therapierunden abgehalten, gruppengekuschelt, geküsst, übereinander hergefallen, getuschelt, gestritten, gelangweilt. Was man so halt macht als Freunde.

Vor allem aber wird sich aneinander abgearbeitet: Erwartungen werden enttäuscht, Freundschaftskonzepte gegeneinander geschleudert und entsorgt, Illusionen wird nachgerannt, bevor sie doch zertrümmert werden müssen. Es geht um falsch verstandene Rücksichtnahme, das Idealbild einer Freundschaft, die keine Geheimnisse kennt, um die Rolle von Liebe und Sex und ob sie aus der Freundschaftsdefinition auszuschließen seien, um Nichtgesagtes und um die Frage, ob Freundschaft nicht auch ein Mittel zum Zweck sein könne. Da zerplatzt so manche Gewissheit, entsteht Fremdheit, wo Intimität vermutet wurde und man einfach nie die richtigen Fragen gestellt hat. Die, die schmerzen können wie ein Stich mit einem der Dreiecke. Exemplarisch jagt man durch alle denkbaren Aspekte des Freundschaftsdiskurses, stilisiert die eigene Fünferbeziehung zu gesellschaftlichen Keimzelle hoch und ahnt doch, dass die „utopische Torte der Freundschaft“, die man gemeinsam backen will, bestenfalls zum Windbeutel taugt.

Schnell breiten sich Egoismen aus, wird schmutzige Wäsche gewaschen (allein ein Satz wie: „Mit dir bin ich doch nur noch aus Denkmalschutzgründen befreundet“ lohnt schon den Eintritt), Unerwähntes ausgesprochen und doch immer wieder versucht, sich einzureden, alles sei „Spitze“. So oft hier der Daumen hochgereckt wird, sind anschließende Krämpfe nicht ausgeschlossen. Alles muss immer toll sein, ein einziges Abenteuer, bei dem schlafen, Innehalten nicht erlaubt ist. Freiraum ohnehin nicht. Und so erscheint die Nähe als erzwungen, als einengend, als erdrückend, als künstlich – wie der herausgepresste Chor zu Beginn oder der spontaner Ausdruck der Freude sein sollende Gruppentanz, bei dem jeder Schritt gezählt werde muss, damit nicht alles auseinander fällt. Immer undurchdringlicher auch das Spiel mit den Identitäten, die sich verstärkt hinterfragen, Alternativen ausprobieren, je mehr die kollektive Identität bröckelt.

Koslowski sucht in seiner Inszenierung das Künstliche, das Überhöhte, das Mechanische und Ritualhafte an gesellschaftlich vorgegebenen Modellen und Definitionen, wie jener, was denn eine echte Freundschaft auszumachen habe. Er verwischt Grenzen, spielt genüsslich mit dem Absurden und befreit damit sein Thema von jeder Form diskursivem Ernstes, holt es vom Berggipfel – die fünf Freunde gründen ein Camp namens „Monte Amici“ – zurück auf den Boden wenn nicht der Tatsachen, dann zumindest der Lächerlichkeit. Er erlaubt dem Abend die eine oder andere Albernheit und so manche Länge, verbleibt gern im Plakativen und begnügt sich zuweilen zu sehr mit dem Kratzen an der Fassade. Und doch produziert der Abend vor allem eines: ein Lachen, das sich voll und ganz als befreiend bezeichnet lässt, wirft es doch den ganzen Erwartungs- und Definitionsballast und räumt es das Feld frei. Société des Amis ist keineswegs ein Abgesang auf die Freundschaft – sondern ein Appell, sie sich entwickeln zu lassen, ihr Raum zu geben, indem man sie mit dem einzigen füllt, das sie aufrecht erhalten kann: der eigenen Individualität. Ein bisschen utopisch auch das. Auch nicht schlimm. Man muss ja nicht gleich wieder eine Torte backen.“

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Leserkritik: Orpheus in der Oberwelt, Berlin
andcompany&Co.: Orpheus in der Oberwelt. Eine Schlepperoper, Hebbel am Ufer/HAU2, Berlin

Lampedusa ist schon längst nicht mehr weit weg: Seit der so genannten Flüchtlingskatastrophe vor zwei Jahren, die doch nur eine – wenngleich schreckliche – Episode in einer lang anhaltenden, nicht enden wollenden Tragödie war, ist der Name und das Schicksal der Flüchtlinge, die in immer größeren Zahlen versuchen, das vermeintlich rettende Ufer Europas zu erreichen, eingebrannt in unser kollektives Bewusstsein. Und auch physisch präsent: Es ist noch nicht lange her, da harrten Flüchtlinge mitten im Herzen der deutschen Hauptstadt viele Monate in einem improvisierten Camp aus, um zu sagen: Wir sind keine Nachrichtenmeldung, wir sind hier und wir zwingen euch, sich mit uns auseinanderzusetzen. Also machen wir das, scheinen sich die Mitglieder von andcompany&Co. Gesagt zu haben und befassen sich jetzt am HAU2 mit der so genannten „Flüchtlingsproblematik“.

Aber natürlich nicht einfach so, ein bisschen intellektueller Unterbau muss schon sein. Da ist die Assoziationskette schnell gebaut: vom Evros, der nicht nur etymologisch mit Europa verwandt ist, sondern heute eine scharf bewachte außengrenze des Kontinent und zugleich ein tausendfaches Flüchtlingsgrab bildet, zum antiken Mythos von Orpheus, dem Sänger, der seine Geliebte aus der Unterwelt befreite, was bekanntlich nicht gut ausging, und dessen Kopf später im Evros schwamm. Ein Migrant auch er (Orpheus stammte aus Ägypten) – und ein Schlepper. Bei Orpheus ist der Schritt zur Musik nicht weit, also bedient man sich reichlich bei Monteverdi, unterlegt dessen Musik zum Teil mit neuen Texten – eigenen, aber auch Elie Wiesels berühmtem Satz, kein Mensch sei illegal – und nennt das Ganze „Schlepperoper“.

Jene, die Schlepper, die sich lieber „Facilitator“ nennen wollen, führen denn auch durch den Abend, stellen ihr Handwerk dar und nennen sich „Boten der Liebe“. Kalkulierende Kapitalisten, klar, aber eben ein notwendiges Übel angesichts der monströsen Ausgrenzungsmaschinerie, zu der Europa geworden ist. In der Mitte, der mit allerlei Requisiten zugemüllten Bühne, befindet sich eine Art Felslandschaft, die – Achtung: Metapher! – sich bald als beweglich erweist und irgendwann zum Flüchtlingsboot wird. Balanciert der Abend zunächst noch leichtfüßig zwischen Musik und Thesentheater, eine Gegenüberstellung, die streckenweise durchaus ihren Reiz hat, auch weil der Zusammenprall beider wiederholt ironisch gebrochen wird, gewinnt das Schulmeistern bald die Oberhand. Sollte man gemeint haben, dies durch immer wildere Assoziationsstürme auffangen zu können, erweist sich das schnell als Trugschluss.

Im Gegenteil: Das Assoziationsgewitter verstärkt die betont originell sein wollende Kopflastigkeit des Abends noch. Zumal die Bilder eher plakativer Natur sind und das Kollektiv dazu neigt, jede Metapher auszubuchstabieren, damit sie auch ja jeder begreift. Da wird anhand des Alphabets die migrantische Vergangenheit Europas thematisiert, bekommen die auf einer Steckwand angebrachten Buchstaben eine Bewaffnung – wie das diesen fremden Kulturschatz selbstverständlich sich einverleibende Europa –wird die Ausgrenzung der Menschen kontrastiert mit der Freiheit der Zugvögel, die im Sperrgebiet am Evros ein wahres Paradies gefunden haben, führt der Weg von der Frau Europa hin zu einer „Eurovision“ eines anderen Kontinent, symbolisiert, wie könnte es anders sein, durch ein „Mädchen mit Bart“, eine personifizierte Grenzüberschreitung.

Die Botschaft ist klar: Europa ist schuld – schuld an den Flüchtlingen, schuld an ihrem Leid, schuld an ihrem Tod. Und Europa, aus dem vor einigen Jahrzehnten noch Unzählige wegwollten, hat eine Verantwortung sich nicht abzuschotten und sich eben nicht abzuwenden. Doch war es nicht Orpheus‘ Untergang, sich umzuwenden, hat er durch diesen Liebesbeweis nicht Eurydike – und sich selbst – ins Unglück gestürzt, wäre es nicht besser gewesen, alles um sich herum ignorierend weiterzugehen und sich nicht um das zu scheren, was in seinem Rücken passiert? In den Augen von andcompany&Co. Ist gerade die Sicherung der Außengrenzen dieser Blick zurück, der all die Eurydikes in den Tod schickt.

Zweifellos ein eher konstruierter Vergleich, der den Abend jedoch recht treffend charakterisiert. Er macht viel zu wenig aus der Gegenüberstellung von Mythos und Gegenwart, von barocker Musik und gegenwärtigem Diskurs. Schnell findet sich Orpheus reduziert zu bloßem Assoziationsfutter, die Musik – die den Abend mit einem atemberaubenden, zwischen Barock, orientalischen Klängen und Elektronisch schwebenden Remix, einer musikalischen Vision eines entgrenzten Kontinents, eröffnet hatte – zurückgeworfen auf die Rolle als auflockernder Soundtrack. Zu schwarz und weiß auch die Weltsicht der Macher, die den Fluchthelfer glorifiziert und Europa verteufelt. Und schließlich krankt der Abend daran, dass er sich zu sehr an seiner eigenen Cleverness berauscht, jede Assoziation feiert, vermeintlich originelle Wortspiele bejubelt. Am Ende ist Orpheus in der Oberwelt wenig mehr als eine völlig überladene Assoziationskette, die im eigenen Saft köchelt und den Blick auf das, worum es hier gehen soll, eher verbaut als dass sie ihn öffnet. Das ist ohne Zweifel unterhaltsam, kurzweilig und von durchaus bewundernswerter Neugier geprägt – und fällt in seiner unstrukturierten und wahllos wirkenden Überfülle doch schnell in die Beliebigkeit. Und das ist dann tatsächlich äußerst schade.

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Leserkritiken: "Monster" im DT Berlin
David Greig: Monster, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Simon Solberg)

Erwachsen zu werden gehört ja bekanntlich nicht zu den einfacheren Aufgaben im Leben eines Menschen. Herauszufinden, wer man ist, sein kann und will, das und damit sich selbst zu akzeptieren und zu entscheiden, wie man mit diesem neu gefundenen selbst umgehen, wohin man es führen soll, ist ein Rezept für Überforderung. Wenn dann die Mutter tot ist und der Vater aufgrund einer MS-Erkrankung physisch wie psychisch zunehmend verfällt, wird die Aufgabe nicht leichter. Da lauern die Monster überall – wie im Falle von Duck, die, ganz auf sich allein gestellt, wenigstens diese Ruine einer Kernfamilie aufrechtzuerhalten versucht. Da braucht es Auswege und Abwehrmechanismen. Bei Duck ist es das Geschichtenerfinden, Geschichten, in denen sie als Heldin sich den schrecklichen Monstern im Flur entgegenstellt. Die Monster, das ist die externalisierte, fass- und greifbar gemachte Angst und Verzweiflung, das, was im Inneren nagt und ausgespült werden muss, will man nicht komplett die Kontrolle verlieren. In David Greigs Stück ist die Fantasie nicht mehr Erweiterung von Vorstellungs- und Gedankenwelt, Gelegenheit, dem Nichtvorstellbaren doch näher zu kommen, die Realitätsoptionen weiter zu denken – sie ist schlichte, nackte Notwehr, notwendig, um irgendwie weiterzumachen, zu überleben.

Simon Solberg lässt sich in der Box des Deutschen Theaters ganz auf die zunehmende Verquickung von Realität und Imagination ein. Da werden die – eigentlich recht knuffigen – Monster zu Agenten der Krankheit wie zu ebenso hilflos dahin stolpernden Weggefährten, ohne die es eben auch nicht geht, verzahnen sich Erinnerung und Gegenwart, kämpft Kriegerin Duck wie eine Lara Croft auf Hartz IV im virtuellen Raum, spalten sich Szenen mit Video, Lichtprojektionen und im Raum verteilten Darstellern in fragmentierte Multidimensionalität, die der Zuschauer durch Erweiterung des eigenen Blickfelds – im Wortsinn! – wieder zusammenbringen muss. Projizierte erklärungstexte zur Krankheiten werden pantomimisch illustriert, das Ringen um Restrealität zum Talkshow-Verhör, das kleine Sozialwohnungsdrama zur griechischen Tragödie. Die Grenzen verschwimmen, der Kampf ums kleine, gerade beginnende leben fächert sich auf in unterschiedliche Ebenen und lässt sich erst so, im schwebende Zwischenraum, fassen. Denn die Fantasie ist hier der einzige Ausweg, erlaubt sie doch dem in der tristen Ausweglosigkeit gefangenen Individuum andere Blickwinkel, die ihn sehen lassen, was sonst verborgen bleibt. Wenn der Inszenierung etwas ganz besonders gut gelingt, dann ist es, diesen vor allem geistigen Befreiungsprozess sicht- und erlebbar zu machen.

Inmitten dieser virtuellen wie realen Raumerweiterung und kaleidoskopähnlichen Auffächerung agiert das gemischte Ensemble – zwei DT-Schauspieler und zwei Studierende der „Ernst-Busch“-Hochschule – mit großem Einsatz und Erfindungsreichtum. Linn Reusse gibt Duck als trotziges Kind und abgeklärter Leidensroutinier mit großen Augen und ungebremstem Spieltrieb, Helmut Mooshammers Vater ist ein fein beobachtetes mentales wie körperliches Wrack mit Willen zur Restwürde, Gregor Schleuning eine wunderbare Karikatur eines verklemmten Gymnasiasten, der dann doch den Blick auf so manchen verdrängten Schmerz erlaubt. Grandios ist die Sozialarbeiterin von Natali Seelig zwischen Arroganz, bürokratischer Kälte und Burn Out. Hier ist jeder überfordert mit der Kategorisierung von Leben, der Bewertung des nichtbewertbaren, dem Kampf mit den Monstern. Denn die die man sieht in dieser Scheinwelt, dieser Idylle aus Karton, sind nicht die gefährlichen. Bedrohlich sind nur die in uns selbst, die um sie bekämpfen zu können, erkannt werden, ja sichtbar gemacht werden müssen. Duck tut dies mit dem Geschichtenerzählen, Greig und Solberg nicht viel anders. Monster ist eine Feier der Imagination, ein Plädoyer für die Fantasie und eine Arbeit, die auch im Grips-Theater oder an der Parkaue funktionieren würde. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen.

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Leserkritiken: Next Day von Philippe Quesne im HAU Berlin
Philippe Quesne / CAMPO: Next Day, Hebbel am Ufer/HAU1, Berlin (Regie: Philippe Quesne)

Der französische Theatermacher Philippe Quesne arbeitet auf Einladung des belgischen Kunstzentrums CAMPO erstmals mit Kindern. So sagt es uns der Ankündigungstext zu Next Day, und damit sind die 60 Minuten bereits ausreichend umschrieben. Dabei liegt in einer solchen Ausgangslage etliches Potential: Gob Squad etwa gelang in ihrer Zusammenarbeit mit CAMPO ein faszinierendes Spiel des Lebens mit einem beeindruckenden jugendlichen Ensemble, das es sogar zu einer Einladung zum Theatertreffen brachte. Den jungen Darstellern von Next Day wäre sicher ähnliches zuzutrauen – nur tut Quesne das nicht. Von der ersten Minute an ist deutlich, das ihm nicht wirklich etwas einfällt, was er mit den Neun- bis Zwölfjährigen machen soll. Also wirft er mit Klischees um sich: Die Kinder dürfen zeichnen, mit Schaustoff werfen, Superhelden spielen – die „Superheldenschule“ ist so etwas wie die halbherzige Rahmenhandlung – herumtoben, und weil wir uns ja im kulturellen Umfeld bewegen, spielen sie natürlich auch alle ein Instrument.

Und so schart man sich zusammen, trägt einer nach dem anderen sein Instrument auf die Bühne, bevor dann die „Dirigentin“ jeden Spieler einzeln aufruft, um daraus Stück für Stück Musik werden zu lassen. Die unaufgeregte Langsamkeit des Aufbauens, die Zusammensetzung der Musik aus ihren Einzelteilen – es sind kurze starke Momente, die andeuten, was der Langsamkeitskünstler, der Atmosphärenmagier Quesne aus dieser Konstellation hätte machen können. Hier schauen wir einem werden zu, der Entstehung von Kreativität und Ausdruck aus nüchterner Mechanik, aus zielführendem Pragmatismus – und doch ist das, was da entsteht, mehr als die Summe seiner sichtbaren Teile. Doch so schnell die Hoffnung auf ein spannendes Spiel mit kindlicher Kreativität und Phantasie aufkeimte, so schnell und brutal zerschlägt sie Quesne wieder. Haben wir gerade hören dürfen, dass die jungen Künstler ihre Instrumente durchaus beherrschen, müssen sie durch den berühmten Beginn von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra pflügen, als hätten sie keine Ahnung von dem, was sie da tun. Lustvoll dilettierende Kinder sind dann vielleicht doch amüsanter, zumindest erfordern sie keine anstrengende Auseinandersetzung.

Und so geht das Ganze in der Folge seinen nicht nur musikalischen Bach herunter. Quesne kleidet seine Darsteller in Signalfarben, was eine nette Lichtregie ermöglicht und zwängt ihre Phantasie in das banale Konzept „Wir sind Superhelden und kämpfen gegen Aliens“ ein. Da fliegen dann die Schaustoffwürfel, baucht mal ein Schaumstoffhaus, warum zwischendurch ein Werbespot gedreht und Pfannkuchen gebacken werden, interessiert dann auch nicht weiter. Am Ende sieht die Bühne aus wie ein durchschnittliches Kinderzimmer am Abend. Vielleicht war das ja das Konzept. So richtig begeistert wirken die jungen Akteure aber nicht, ist ihnen die Unterforderung anzusehen. Womöglich wäre es keine allzu schlechte Idee gewesen, wenn Philippe Quesne nur eines getan hätte: sie ernst zu nehmen. Stattdessen veranstaltet er einen Kindergeburtstag, bei dem der schale Beigeschmack vielleicht Programm ist, aber nirgends hinführt.

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Leserkritik: Constellations von Nick Payne am St. Pauli Theater
Constellations
am 24. November 2014 im St.Pauli Theater in Hamburg

Deutsche Erstaufführung
Von Nick Payne

Mit Judith Rosmair und Johann von Bülow
Wilfried Minks, Regie und Bühne


Eine junge Frau, Marianne, Quantenphysikerin, und ein Mann, Roland, Imker, treffen sich, irgendwo. Unterschiedlichste Welten begegnen sich. Das Gespräch kommt schnell auf die Möglichkeit paralleler Universen und darauf, wie sich ein Leben in unterschiedlichsten Varianten gestalten könnte.

Und dann entfalten sich vor dem faszinierten Publikum in vielen kurzen Sequenzen die möglichen Welten auf eine Weise, die ebenso unterhält wie nachdenklich macht – und vor allem staunen lässt.

Staunen über die jetzt sichtbaren Möglichkeiten, die einen vor allem nach diesem Theaterabend zum Nachdenken bringen über das eigene Leben, die eigenen Lebensausschnitte, die ganz anders sein könnten, wenn denn damals oder heute eine Lebensweiche ein klein wenig anders gestellt worden wäre, wenn ein Wort anders ausgesprochen oder verstanden worden wäre und eine ganz andere Lebensentwicklung eingeleitet und bestimmt hätte.

Staunen über das intelligente und intelligent übersetzte Stück, das einen gefangen nimmt, nachdem man vielleicht in der zweiten oder dritten Sequenz noch dachte, wie das wohl werden würde, wenn immer das Dasselbe präsentiert würde. Bis man zunehmend gefangen genommen merkt, wie unterschiedlich eben dieses Dasselbe ist und damit eben gar nicht mehr Dasselbe bleibt und vor allem auch, wie es sich weiter entwickelt.

Staunen über die Leistung der beiden absolut großartigen Schauspieler Judith Rosmair und Johann von Bülow, die diese parallelen Lebenswelten auf eine überaus beeindruckende Weise schaffen – mit höchster, einer wohl nicht überbietbaren „handwerklicher“ Präzision, in einer Weise, die den Zuschauer in ein Karussell des nicht weit entfernten Hamburger Doms verfrachtet, in ein Karussell der möglichen Leben, des eigenen und das der Anderen. Alles dreht sich in rasanter Geschwindigkeit und bleibt doch bekannt und wiedererkennbar. Eine Regie-Leistung des bekannten Alt-Meisters Wilfried Minks, die stürmischen Beifall abverlangt.

Michael Laages ist in seiner Kritik im Deutschlandradio zuzustimmen (http://www.deutschlandradiokultur.de/premiere-constellations-ein-stueck-zum-schwindligwerden.1013.de.html?dram:article_id=304539),
vor allem aber ist allen der Besuch dieses Theaterabends nachdrücklich zu empfehlen. Ein Abend, der in neunzig spannenden, im Fluge vergehenden Minuten, in denen die beiden Schauspieler alle Register ihres Könnens ziehen, Welten erschafft und die Augen öffnet für jegliche Eindimensionalität und gleichzeitig für die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten.
Leserkritiken: KEIN REIN GOLD, Basel
KEIN REIN GOLD: Theater findet doch statt!
Antje Schupp produziert Glücksgefühle in Basel und inszeniert was nicht inszeniert werden durfte

So haben Sie Es-Dur noch nie gehört! Aus einer halbstündigen Soundinstallation zum Einlass schält sich das Vorspiel zum „Rheingold“, dem ersten Teil von Richard Wagners Welt-Musiktheater „Der Ring des Nibelungen“. Mit ihrem Nachhall ist die Basler Markthalle ideal für dieses Schlagerstück, hier findet jetzt Theater statt und die weihevolle Atmosphäre zwingt den Wunsch herbei, sich tatsächlich noch einmal über alle grossen Fragen dieses Daseins Gedanken zu machen. Während das Publikum noch andächtig lauscht und liest, Wagners Regieanweisungen zum Bühnenbild des „Rheingold“ werden über die Köpfe projiziert, saust ein goldenes Wesen durchs Publikum: Schaut her! Kommt mit!
Antje Schupp ist Antje Schupp, Regisseurin, hat bisher in Basel, Saarbrücken und Wien, inszeniert und inszenierte jetzt, wie sie nicht inszenieren durfte und macht dabei grossartig bewegendes Theater. Hier findet statt, was nicht stattfinden konnte oder durfte oder sollte, nämlich: rein Gold, verhindert. Genauer: KEIN REIN GOLD. Elfriede Jelineks grossraumkritischen Text „rein Gold“ sollte Schupp nämlich am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne bringen, doch fiel das Projekt halbseidenen Vorgängen hinter den Kulissen der Theaterwelt zum Opfer. Und was macht die Künstlerin, wenn sie nicht arbeiten darf? Sie arbeitet trotzdem und das ist gut für Kunst und Denken! Kein Stück heisst keine Arbeit und daraus macht sie eine Arbeit. Und die hat es in sich: Denn dieser Abend präsentiert ein Problem, all seine Widerlegungen und deren Widerlegungen gleich mit. Und sonst? Klar: Um Gold und Geld geht‘s, das wusste Goethe, das wusste Wagner, das weiss Elfriede Jelinek und wir wissen das auch. Im Äusserstspätkapitalismus zählt nichts mehr als Geld und wem dies fehlt, dem geht’s an die Substanz. Daher die Angst, daher Wagners Heldenentwürfe, daher die unappetitliche Gegenwart. In heiter-genialistischer Verdrehung des modernen Künstlerbildes setzt sich Antje Schupp mit ihrem Thema selbst in Szenen. War die Formel „Ästhetisiere Dich selbst!“ noch im 20. Jahrhundert ironischer Kommentar auf die Unmöglichkeit autonomer Kunst unter Bedingungen der Warenproduktion, ist diese in Schupps Arbeit gehassliebter Rettungsanker und Antwort auf die Gefangenschaft in der neoliberalen Totalökonomie; die vorm Theater längst nicht halt macht. Die Nöte der Figur ist und spielt die Regisseurin selbst; als Rheintochter, als Rheinschwimmerin im Herbst, als Elfriede Jelinek, als Held und als Antje Schupp. In assoziativer Folge verwebt der Abend, bei gleichzeitiger Präsentation aller Mittel und Techniken, Schupps private und öffentliche Geschichte gekonnt zu einer Analyse des eigenen kritischen Zustands nach drei ausgefallenen Jobs im Jahre 2014. Videos und gespielte Szenen werden zur Revue über Theater, über die Gesellschaft des Geldes, deren Kunst (Wagners „Ring“ als Video in zweieinhalb Minuten erklärt) und eine Quasi-Lecture-Performance verdeutlicht, dass Doppelte Buchführung eine Abrechnung mit Menschen ist. Die Video-Einspielung zum Thema Geld und Kredit zieht sich etwas dahin, aber geschenkt. An diesem Abend steigert Antje Schupp erklärtermassen ihren Marktwert und das ist kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Oder etwa nicht? Nachdrücklich macht sie ihrem Publikum klar, dass ihre finanzielle Situation verzweifelt ist. Das Denken der Wohlstandsgesellschaft beim Schlawittchen gefasst und es fällt auf: Wir alle sind gemeint! Zu ihrem Glück, das erfahren wir zuletzt, hat Antje Schupp ein bisschen geerbt und dieses Erbe in KEIN REIN GOLD investiert. Und hier bekommt der Abend seinen entscheidenden Dreh: Das überlebenskünstlerische Spiel mit Schein und Wirklichkeit ums künstlerische Überleben erscheint in völlig andrem Licht. Im Augenblick des Erinnerns an den verstorbenen geliebten Menschen fällt bis hier Gesehenes und Gedachtes ab: Schupp spielt Schubert, spricht und macht sprachlos. Das ist bestes Theater, denn hier wird Wahrheit erfahrbar. Das individualisierte Problem, der einzelne Konflikt und eine brutale innere Zerrissenheit, werden dem Publikum als gemeinsame Angelegenheit denk- und vor allem fühlbar. Das ist ganz gross und das muss man selbst erlebt haben. Dass Menschen mehr und anderes sein können, als Getriebene einer Wirtschaftsordnung lässt dieser Abend blicken.
Das Publikum verdankt Antje Schupp und ihrem Team (Raum: Christoph Rufer, Dramaturgie: Eva Böhmer, Licht: Thomas Giger, Coaching: Beatrice Fleischlin) einen eleganten und heiteren Parforceritt durch die Welt der Kunst und der Mark(hallen-)wirtschaft. Die Theatermacher wissen um die Gefahren von Larmoyanz und Theorieabsturz und begegnet diesen Fallstricken mit Humor, Gefühl, Kalkül – ohne Kitsch und Sentiment. Grosser Applaus für einen grossen Abend. Es wurde mit Mut und einfachsten Mitteln um künstlerische Souveränität gerungen. Am Ende: Gewonnen, Chapeau!

Simon Berger

Der Rezensent arbeitet als Operndramaturg am Theater Basel.
Leserkritiken: Das Paradies der Damen, Stuttgart
Staatstheater Stuttgart, im „NORD“ (12.12.2014)

Emile Zola: Das Paradies der Damen, Regie: Mareike Mikat

„Das Paradies der Damen“ ist im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts im Roman Zolas eine Art ideales Kaufhaus in Paris, das für modernes Management und Verkaufsmethoden steht, ein Riesenkaufhaus, das den Niedergang des Pariser kleinen Einzelhandels betreibt und beerbt. Man könnte also sagen, es stand am Anfang jenes Prozesses der Warenästhetik, der in Stuttgart mit dem Gerber und dem Milaneo zwei neue und letzte (Sumpf-)Blüten treibt.

Die theatralische Rückschau auf die Entstehung des modernen Kaufhauses und Einzelhandels, von dem wir nicht wissen, ob ihm der Online-Handel nicht den Garaus machen wird, versprach spannend zu werden, zumal der Autor Zola für jene Art des Romans steht, den man Realismus (eigentlich Naturalismus, aber das spielt hier keine Rolle) nennt, und der im postmodernen Theater leider etwas selten geworden ist. Der Neoliberalismus, das ökonomische Pendant zur Ideologie der Postmoderne, liebt den Nebel freier Assoziation, Paradoxes, Klamauk und individuelle Hybris, von Realismus kann keine Rede mehr sein.

Nun betreibt das postmoderne Theater auch eine Art name-dropping, eine Art Verwurstung des kulturelles Erbes der Aufklärung, in dem sich Intendant und Regisseure an großen und kleineren Namen abarbeiten: von Brecht über Thomas Mann zu Wilhelm Raabe und jetzt eben Zola.

Zumindest der erste Teil des Abends war freilich am Roman orientiert und schildert eine Geschichte, nämlich wie eine junge Frau vom Lande nach Paris kommt, eine Anstellung sucht und in jenem neuen Kaufhaus findet. Auch wenn der Ton des ersten Teils mitunter etwas klamaukig ist, wurde eine interessante Geschichte auf amüsante Weise erzählt. Leider ging der Regisseurin Mareike Mikat wohl die Puste aus, der zweite Teil endet im Kitsch der Liebeswirren und Fantasien der beiden Protagonisten, dem Kaufhausbesitzer und jener jungen Frau vom Land. Zwar wird noch mächtig von der Rolle gezogen, aber das Thema des Romans, wie die junge Frau das Kaufhaus umtreibt, verschwindet im „Menschlichen“ und Utopischen.

Den angekündigten Bogen zur Konsumwelt von heute, der auch in der Presse angekündigt wurde, erkennen wir nur in ein paar Video-Sequenzen und Papiertüten, die Aktualisierung bleibt also dünn; die Kannibalisierung des Einzelhandels, die wir auch in Stuttgart und der Umgebung erleben und erleben werden, ist nur historisches Thema. Auch Alternativen, wenn es die denn gebe, sehen wir nur in karikierter Form als „sozialistische“ Fantasien über die Wohltaten des Kaufhauses.- Die Frauen werden als blindwütige Konsumenten dargestellt, warum sie dazu wurden, steht dahin, auch wenn die Beschreibung der Verführungskünste der Warenwelt immer wieder sehenswert ist.

Theater und Roman vermenschlichen gesellschaftliche Entwicklung anhand ihrer Protagonisten, machen typischen Konflikte in gesellschaftlich relevanten Prozessen verständlich und in ihrer Tragik wie Komik menschlich nachvollziehbar und nach-erlebbar. Was wir gesehen haben, ist ein Handels-Kapitalist in Aktion in der Hochphase des Konkurrenzkapitalismus. Eine Charaktermaske und doch auch eine Persönlichkeit dahinter mit einer Message, die sich der Dialektik ihrer Handlung und deren Folgen wohl bewusst ist. Diese Offenheit des Eroberers macht ihn auch anfällig für das historisch Zurückgebliebene, den Charme des Mädchen vom Lande, hier könnte man von Authentizität sprechen. Hinter der Charaktermaske des Kapitalisten verbarg sich noch ein Mensch, der, wir wiederholen uns, den Folgen seines Tuns, die Ruinierung der alten Einzelhandels, wohl bewusst war. D.h. aber auch, in diesem Punkt ist das Stück nicht aktualisierbar, weil der einzelne Kapitalist als Unternehmer schon lange durch Manager und Aktiengesellschaften abgelöst ist; und hinter deren Charaktermasken verbirgt sich nichts mehr.

Die Entfremdung der Menschen im Neoliberalismus hat einen Grad erreicht, bei dem auch die Liebe die Klassengegensätze nicht mehr überbrücken kann, wenn das nicht schon immer Lüge war, und auch der Aufstieg durch Fleiß den meisten Arbeitnehmer ebenfalls nur noch als faulige Mohrrübe vor dem Esel Proletariat erscheint.

Wenn nun auch durch den ersten Teil des Stückes auf der absteigenden Linie der literarischen Bearbeitungen in Stuttgart ein Anderes versucht wurde, so bleibt doch insgesamt nach dem Besuch der ausverkauften Premiere ein Gefühl der Unzufriedenheit, dem Thema mal wieder nicht gerecht geworden zu sein. Daran ändert auch der lange, verdiente Beifall für die SchauspielerInnen nichts.
Leserkritik: Herbstsonate, Stuttgart
Schauspiel Stuttgart
Herbstsonate nach dem Film von Ingmar Bergmann, Regie: Jan Bosse
Premiere 20.12.

Laut dem Interview mit Jan Bosse in der Stuttgarter Zeitung (19.12.) war es die Idee von Frau Haberlandt, dieses Stück zu inszenieren; es war eine gute Idee.
Selbstverständlich ist das nicht, wenn man die Romanadaptionen der letzten Zeit, die der Schreiber dieser Zeilen in Stuttgart sehen konnte, Revue passieren lässt, von „Die Marquise von O. / Drachenblut“ bis zu „Pfisters Mühle“ war man auf postmoderne Brechungen, sei es Disco-Musik, Tanzeinlagen, bunte Kostüme, Anachronismen usw.usf. gefasst; sie fehlten zu seiner großen Freude.
Wir haben ein Stück gesehen, das gut ins 19. Jahrhundert passt, in eine Zeit vor Sigmund Freud, in die Glanzzeit des bürgerlichen Theaters, als dieses die Tiefe und Gebrochenheit (Entfremdung) der bürgerlichen Seele auszuloten hatte, ein Blick in die Abgründe des bürgerlichen Lebens wagte und den Preis des Aufstiegs seiner Klasse noch zu benennen wagte.
Das ist lange vorbei, die Entwicklung auch der theatralischen Mittel ist fortgeschritten, und ob nach all den psychologischen Ratgebern der vergangenen Jahre noch Platz für derartige Dramen ist, wir wissen es nicht.
Von den dramaturgischen Mitteln hat uns nur der durchsichtige „Vorhang“ gestört, auf den von Kameras aufgenommene Großporträts von Mutter und Tochter zu sehen waren. Die beiden Schauspielerinnen Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt brauchten diese Vergrößerung nicht, sie waren auf der Bühne und darüber hinaus in bestem Schauspiel physisch präsent. Auch eine weitere Schwäche, die Wiederholung einer Treppenbesteigung, die etwas von einer hängengebliebenen Schallplattennadel an sich hatte, verzeihen wir gern.
Am beeindruckendsten fanden wir freilich das Spiel der stummen Helena, schwerstkranke Schwester und Tochter; wie sie auf den Stufen des Bühnenaufbaus sich um Fortbewegung bemüht, die gequälte Kreatur, die den wahren Preis des ganzen Fortschreitens zu tragen scheint, abgeschoben und verstoßen von der Mutter.
Apropos Bühnenbild; das erinnerte an Castorfs Ring in Bayreuth, genauer gesagt an den Bohrturm und die Wohnung darunter. Nur gab es auf der teuren Drehbühne Einblicke in die Zimmer des Pfarrhauses, in dem das Drama spielt, und die Leiter (bzw. der Steg) auf der in Bayreuth die Walküren tanzten, führte hier ins nirgendwo; bei uns „tanzte“ Helena vielleicht den Mond an.
Wir haben also ein realistisches Drama vor uns, klassisch inszeniert und gespielt, in dessen Mittelpunkt ein Mutter-Tochter-Konflikt steht, um es mal ganz psychologisch zu sagen, der aber keine Lösung findet. Das wird mancher feststellend bemängeln; nicht so der Schreiber dieser Zeilen, der es für ein Unterscheidungsmerkmal zum schlechten Fernsehen hält, dass weder ein Happy-End angeboten wurde noch eine falsche Versöhnung. Die (kleine, familiäre) Katastrophe ist, dass es so weiter geht. Dies dargestellt zu haben, war der große Gewinn dieses Abends.
Leserkritiken: Hedda Gabler, Hamburg
„Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen, Thalia Theater Hamburg Bild einer Gesellschaft ohne Utopie?

Die kurze Inhaltswiedergabe auf der Webseite des hier in Augenschein genommenen Dramas (http://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/hedda-gabler/ ), das unter der Regie von Jan Bosse am Thalia Theater Hamburg aufgeführt wird, skizziert die Grundlinien der Handlung zunächst mit klaren Worten, einfach strukturierten Sätzen, nachvollziehbar und verständlich. Jene Inhaltsübersicht mündet dann allerdings in eine knapp gefasste Textpartie, die inhaltlich zwecks Aufrechterhaltung des Publikumsinteresses berechtigterweise kaum Konkretes zum weiteren Handlungsverlauf aussagt und sich sprachlich-stilistisch auch von den vorangehenden, im Ausdruck nüchtern gehaltenen Darlegungen durchaus unterscheidet: Jetzt wird das Unheilvolle, Dämonische, Zerstörerische menschlichen Wirkens und Handelns in bildhafte, z.T. angstvoll-emotional besetzte Worte gekleidet. Damit deutet sich bereits all das an, was sich letztlich mit der eigentlichen Katastrophe, deren Wucht zum Ende des Stückes spürbar wird, verbindet. So heißt es am Anfang jener knappen inhaltlichen Zusammenfassung auf der Theater-Webseite, um hier noch die erforderlichen Belege für den oben skizzierten Interpretationsbefund zu liefern: „Es soll der Start in eine erfolgreiche bürgerliche Existenz werden: Gerade von einer langen Hochzeitsreise zurückgekehrt, beziehen Jörgen Tesman und Hedda Gabler ihr Traumhaus, für das sich Tesman leichtsinnigerweise in der Annahme, sehr bald zum Professor berufen zu werden, über seine Verhältnisse verschuldet hat, um seiner anspruchsvollen Frau ein angemessenes Leben bieten zu können.“ Im weiteren Verlauf des Textes dagegen findet sich folgender Satz: „Die Gespenster der Vergangenheit entfachen einen Strudel der Obsessionen, Wünsche und Projektionen, in dem jede der Figuren in diesem komplexen Netz der Abhängigkeiten voneinander ihren Lebensentwurf zu verteidigen sucht.“
Der zwischen den beiden Sätzen bestehende Unterschied in sprachlich-stilistischer Hinsicht – wie schon angedeutet, sachlich-korrekt die Handlungsschritte nachvollziehend, der erste Satz, mehr summarisch, emotionsbezogen und unheilkündend, der letzte - ist markant und lässt einleuchtend die Gesamtstruktur des hier zur Diskussion stehenden Stückes bereits aufscheinen, gibt also einen offenkundigen Hinweis auf das, was den Rezipienten erwartet: Eine den geradlinigen Konventionen, dem Renommee geordneter bürgerlicher Kultiviertheit, auch einer als reputierlich geltenden Anpassungsbereitschaft verpflichtete Existenzform, wie sie von einigen der Dramenfiguren angestrebt bzw. realisiert wird oder – präziser noch, um auf die Herrschaft von System und Gesellschaftsstruktur zu rekurrieren – wie sie von Erwartungen, Normen, Weisungen und Gesetzen einer gehobenen sozialen Schicht über ihren gesellschaftssteuernden Einfluss sowie über ihren Machtapparat, wenn z.T. auch nur implizit, vorgeschrieben und erzwungen wird, eine solche Existenzform, besser gesagt: das Ideal einer solchen Existenzform, steht dem, was als Chaos und Debakel bezeichnet werden kann, durchaus nahe. Und dies genau dann, wenn die handelnden Personen den destruktiven Kräften, den Imponderabilien jenes von „Normen und Werten“ gehobener Bürgerlichkeit getragenen Systems, das auf Handlungsfähigkeit und Selbstbehauptung, aber auch auf Machtstreben und Egoismus setzt, das manche vom Pfad der Tugend, der Normalität abweichende Formen der Lebensführung (hier: Lövborgs Haltlosigkeit) allzu schnell dem Verdikt unterwirft, - wenn also die Akteure den negativen Implikationen oder Begleiterscheinungen des ganzen Systems, um es kurz zu sagen, zu widerstehen sich als völlig unfähig erweisen.
Hedda Gabler selbst stellt als Beispiel eines „energischen Frauencharakter(s)“ (Reclams Schauspielführer (1990), S. 408) eine Persönlichkeit dar, die sich den Alltagstrivialitäten tunlichst zu entziehen versucht, den Normen, Anschauungen und Verhaltensweisen, die sich im vorliegenden Fall mit der üblichen Frauenrolle verbinden, in mancher, aber nicht jeder Weise gerecht wird und insofern eine Sonderstellung für sich reklamiert, die sie letztlich in einen nicht unerheblichen Gegensatz zu dem jungen Gelehrten Tesman bringt, was Habitus und Mentalität anbelangt, d.h. in einen Kontrast zu jenem Lehrstuhlaspiranten, den sie gleichwohl heiratet. In der gängigen Sekundärliteratur vom Schlage einer kurzen Informationsquelle heißt es mit Blick auf die Zukunftsperspektive der Protagonistin: „Die reitende, schießende, tanzende, bohemehafte Hedda Gabler erschrickt, daß sie als Hedda Tesman nun, nach der Hochzeitsreise, in einer Familie aufzugehen und Mutter zu werden habe. Aus Angst vor solcher Zukunft wappnet sie sich mit Hochmut (…).“ (G.v. Wilpert (Hrsg.), Lexikon der Weltliteratur Bd. 3 (1997), S. 542) Eine gewisse Bereitschaft, Geltung und Verbindlichkeit gesellschaftlicher Normen auch für sich selbst zu akzeptieren, wenn es sein muss, zeigt sich an ihrer Furcht vor einem Skandal, der durch sie verursacht werden könnte. Sollte Richter Brack sein Schweigen brechen, würde ruchbar, dass die Protagonistin ihrem ehemaligen Verehrer Lövborg, der nach Teilnahme an jener Herrengesellschaft im Boudoir einer “zweifelhaften Dame“ erschossen aufgefunden wird, die entsprechende Pistole ausgehändigt hat.
Sicherlich ist das Theaterstück, um das es hier geht, anschlussfähig, und insofern lässt es sich wohl mit Fragen, wie sie beispielsweise auf der erwähnten Webseite des Schauspiels artikuliert werden, aber auch mit weiteren Aspekten in Verbindung bringen. Von der „Rolle der Frau“ beispielsweise, exemplifiziert hier an einer Generalstochter, ließe sich selbstverständlich ein Bogen zum umfassenderen Thema der Frauenemanzipation schlagen, gerade im beginnenden 21. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt vielfältiger Begegnungen mit anderen Kulturen.
Die Rezeption des in Rede stehenden, am Thalia Theater Hamburg aufgeführten Dramas fällt ganz unterschiedlich aus: Die Bandbreite der Meinungsäußerungen seitens der Theaterbesucher reicht, soweit dies den Publikumskommentaren ebenfalls auf der Webseite des Stückes zu entnehmen ist, von vollständiger Ablehnung bis zu teilweise überschwenglicher Begeisterung, die erfreulicherweise überwiegt. Die eher euphorischen Meinungsäußerungen betonen zu Recht die ausgezeichnete Leistung der Schauspieler - und hier ist u.a. Jens Harzer in der Rolle des Jörgen Tesman besonders hervorzuheben - und erkennen der Inszenierung Angemessenheit und Überzeugungskraft zu. Einer gewissen Aufregung im Zusammenhang von Zustimmung und Ablehnung mit Bezug auf Bühnenbild und Aufmachung wäre möglicherweise zu entgehen, wenn größere Aufmerksamkeit einem Interpretationsaspekt gezollt würde, der bei vordergründiger Unscheinbarkeit den Blick auf etwas durchaus Bedeutsames lenkt, nämlich auf die Empfindungswelt von Künstlern, hier des 19. Jahrhunderts, überdies auf die starken Gefühlsprägungen und teilweise markanten emotionalen Schwankungen in Kunstwerken jener Zeit. So war das Empfinden von Trauer, Schmerz und Resignation manchem Autor, Maler oder Komponisten alles andere als fremd. Ein Hauch von Melancholie umwittert auch das vorliegende Bühnenstück trotz gelegentlicher Komik, Ironie und Karikatur, wird durch die Musik – sparsame klassische Tonfolgen, zumeist von elegischem Charakter, gespielt von einem Streichquartett - , überhaupt durch den inszenatorisch sensibel gestalteten Duktus der Dialoge und Handlungselemente spürbar gemacht und verweist auf das im Leben Ibsens alsbald einsetzende symbolisch-mystische Alterswerk.
Innere Leere, Langeweile und Lebensekel - Sentiments, die zwar nicht nur, aber gerade doch auch zum Ende des 19. Jahrhunderts besondere Verbreitung fanden, und zwar im Zuge zunehmender Rasanz sowie beginnender Anonymisierung mancher Lebensbezüge, auch im Kontext von Sinn- und Orientierungssuche – jene Sentiments mögen sich im Selbstmord der Protagonistin am Schluss des Stückes ebenfalls widerspiegeln. Ihr Tod erscheint als Flucht vor einem Dasein, das im Spannungsfeld einer sich in Banalitäten täglicher Abläufe verlierenden sowie in Alltagsproblemen aufreibenden Existenz und eines Lebens „mit Weinlaub im Haar“ keine Entfaltungsmöglichkeit in Würde und Schönheit zu erkennen meint.
Leserkritik: Antigone, Stuttgart
Sophokles/Friedrich Hölderlin: Antigone, Regie Laurent Chétouane, Intendant Armin Petras
Kammertheater Stuttgart, Premiere 10.1.2015

Neun junge SchauspielerInnen, drei Männer und sechs Frauen, stehen auf einer großen Bühne. In deren Mitte ein paar zusammengerückte Tische mit Papieren darauf, an den Wänden stehen verschiedene Musikinstrumente. Diese, wie die Garderobe der SchauspielerInnen, sehen aus, als wären sie nicht aus der vorderen Reihe der Kleider- bzw. Requisitenkammer entnommen, sie haben den Charme der Caritas-Kleiderverwertung.
Die Männer fühlen sich wohl etwas einsam, deswegen halten schon zwei gleich an Anfang mal Händchen. (Das war das ganz Aktuelle an dieser Inszenierung.)
Die Stimmung unter den SchauspielerInnen bleibt aber etwas distanziert, sie schwingen wie Atome im Raum, mitunter auch die Arme, treffen sich, sagen etwas, dann gehen sie weiter. Mal rennt einer durch den Raum, mal röhrt er dumpf. Sie tragen den historischen Text mitunter vor, als wären sie Maschinen, die elektronische Texte in Sprache umwandelt, aber den Sinn dessen, was sie da von sich geben, nicht verstehen. Man kennt das von fremdsprachigen Menschen, die Deutsch lernen, mit den Wörtern ihre Mühe haben, so dass sie auf die Satzmelodie nicht achten können. Das macht den ohnehin schwierigen Text nicht verständlicher. (Ich habe nichts verstanden.) Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht auf Rollen festgelegt zu sein schienen, also verschieden Rollen und Regieanweisungen des Theaterstückes von Sophokles vorlasen.
Das Ganze wirkt, als wären junge Leute für dieses Theaterstück engagiert geworden, aber sie sind etwas uninspiriert, erste Probe, der Regisseur ist leider nicht gekommen, lieb und lustlos, nur gelegentlich mit etwas bemühter Ekstase lesen/leiern sie ihren Text herunter. Warum sollte man 25 € bezahlen, um so etwas anzusehen?! Beckett, der in dieser Art Theater schon weiter war, scheint vergessen.
Am Anfang warnte mich ein Kollege, das Stück würde ca. 2,5 bis 3,5 Stunden dauern, ohne Pause, worauf ich mich bestürzt bei einer der Theatermitarbeiterinnen erkundigte. Sie meinte, das Stück entwickle sich auf der Bühne, deswegen wisse man nicht, wie lange es dauere, so zwischen 2,5 und 4 Stunden. Man könne aber jederzeit das Theater verlassen, um z.B. etwas zu trinken, aber man dürfe Getränke nicht wieder mit in den Theatersaal nehmen.
Ein Theaterstück also, das man jederzeit verlassen kann, aber auch wieder kommen, da nicht die Gefahr besteht, einen sinnhaft relevanten Part zu verpassen...
Im Stück gab es zwei Höhepunkte:
1. Nach einer gefühlten halben Stunde erinnerte ich mich mit aufkommender Panik, dass ich vergessen hatte, mein Handy auszuschalten. Was tun? Es ganz ausschalten, hätte die Abspannmelodie provoziert - unmöglich. Auch das Drücken auf die Stummtaste hätte keinen guten Eindruck gemacht, so als wäre ich unaufmerksam, dabei starrten die SchauspielerInnen mitunter ins Publikum als wollten sie uns gleich attackieren. Aber auch zu hoffen, dass mich niemand anruft, erzeugte mir Schweiß auf der Stirn. (Hier nichts zur Raum-Belüftung.) Ich entschied mich unter Aufbringung aller Energie für die Stummtaste. Aber immerhin erregte dieses kleine Abenteuer meine höchste Konzentration.
2. Auf einmal klingelte ein anderes Handy. Welche keineswegs heimliche Freude durchströmte mich, welche wohltuende Abwechslung, welche Schadensfreude ließ mich erzittern!
Vorsichtshalber stand der Mann mit der Mütze, der für das Stuttgarter Theaterelend verantwortlich ist, am Ausgang. Davon ließ sich aber ein Premierengast wie Herr E. Reuter nicht beeindrucken; er ging mit Begleitung als erster. In schönen Abständen gingen vereinzelt weitere Theaterfreunde. Wir gingen so nach einer einunddreiviertel Stunde, da war vermutlich die Hälfte des Textes durch.
In der Stuttgarter Zeitung wurde das Stuttgarter Schauspiel vor kurzem bilanziert, die Tonnenideologie des Intendanten wurde gelobt (Viel hilft viel). Ich meine das Gegenteil: Die massenhafte Abfertigung klassischer Literatur und Theaterstücke zeigen eine abschüssige Linie, in der die Stücke immer uninspirierter, sinnfreier und geistärmer werden. Vielleicht wie bei unser Regierung in Stuttgart und Baden-Württemberg: Der Charme des Anfangs ist vorbei, die Erwartungen sind enttäuscht, jetzt wurstelt man sich auf immer armseliger, formeller Weise weiter durch. Dass es so nicht weiter gehen soll, hat einer der ehemals Mächtigen, aber vielleicht noch Einflussreichen im Lande, mit seinem frühen Weggang deutlich gezeigt.
Leserkritik: Giovanna d'Arco, Bonn
Giavanna D`arco, Oper Bonn
Geistige / seelische Anregung und vielleicht auch Erbauung / Unterhaltung sind wohl die vordergründigen Motivationen für den Gang ins Theater / in die Oper.
Fettfilm, so der Name des Regie-Duos, haben unter diesen Aspekten eine perfekte Leistung abgelegt. Trotz Erkältung sang Carlos herzerweichend schön. Auch die weiteren Rollen waren nicht nur erstklassig besetzt, es waren auch alle spielfreudig und auf der Höhe ihrer Sangeskunst. Die Chöre schmeichelten den Ohren ohnelgeichen. Einfach zauberhaft.
Genauso zauberhaft waren auch die Rahmenbedingungen. Die stilistisch sehr einfach gehaltene Bühne, in deren Zentrum ein Kreuz jede Szenedominiert, wird mit Projektionen komplettiert. So findet z. B. ein nahtloser Übergang zwischen drinnen und draußen statt oder von Burg zu Wald. Aber das ist noch längst nicht alles. Was das neue 3D für`s Kino - das sind diese Projektionen für`s Theater. Bauten, Ausstattungen, Spezialeffekte, Zusatzinformationen, neue und zusätzliche Dimensionen, ...
Hört sich nach Spektakel an. Ist es aber nicht. Sehr ruhig, wohldosiert und harmonisch werden diese "Zusätze" integriert und geben einen besonderen Zauber und Glanz.
Leserkritiken: "Jedermann" im Thalia Theater Hamburg
Hugo von Hofmannsthal: Jedermann (Thalia Theater Hamburg)
Regie: Bastian Kraft
Premiere: 19. Oktober 2013
Eine umjubelte Inszenierung: schauspielerisch leistungsstark – inhaltlich durchschnittlich

Ein Bühnenstück, dessen weltliterarische Bedeutung vor allem durch die Einbeziehung in ebenfalls weltbekannte Festspiele im Laufe mehrerer Jahrzehnte beachtliche Breitenwirkung gewonnen hat und das sich - wie im vorliegenden Fall - , was die Gründung und Einrichtung ebensolcher Festspiele sowie die bei den Aufführungen mitwirkenden bzw. im Mittelpunkt stehenden Künstler anbelangt, dann auch noch mit berühmten Namen verbindet, kann sich in der Regel Anerkennung und Bekanntheit zuschreiben, die über das normale Maß hinausgehen, und dies mit der Konsequenz, selbst Maßstäbe zu setzen oder doch wenigstens „Orientierungshilfen“ für die Aufführungspraxis zu liefern. Solche zumeist impliziten Leitlinien lassen sich bei Inszenierungen und Adaptationen akzeptieren, ablehnen oder einer differenzierteren Betrachtung zuführen, sollten aber nicht unbeachtet bleiben und insofern auch im Denk- bzw. Empfindungshorizont sowie künstlerischen Aktionsradius eines jeden Regisseurs im Hinblick entweder auf Anerkennung, Verarbeitung oder Distanzierung Platz finden. Außerdem haben sich literarische sowie aufführungsrelevante Standards im Bewusstsein des Publikums ebenfalls etabliert, zumindest des aufmerksamen, an Literatur und Theater interessierten. Die Notwendigkeit von Achtsamkeit gegenüber Aufführungspraxis und Rezeptionsgeschichte eines Dramas trifft auch und gerade dann zu, wenn durch Neuinterpretation und stärkeren Aktualitätsbezug eine sich von den historischen Konstituenzien und Einbindungen emanzipierende Originalität und an „Modernitätsfaktoren“ ausrichtende Qualität des aufzuführenden Werkes angestrebt wird. Letzteres ist bezüglich der Inszenierung von “Jedermann“ durch Bastian Kraft am Thalia Theater Hamburg der Fall – im Übrigen eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen - , und die Präsentation des sich hier mit dem Theaterstück verbindenden Gesamtkonzepts von Schauspiel, Bühnenbild und Musik kann unter den Bedingungen seiner Individualität, einer gewissen Eigengesetzlichkeit und -dynamik, vor allem eingedenk der darstellerischen Leistung des Protagonisten als überaus beachtlich bezeichnet werden.
Die Ausführungen auf der Webseite des Theaterstückes, mit kleineren sprachlichen Abweichungen auch im Programmheft, weisen ebenfalls darauf hin, dass ein von Charakter und Anspruch ambitioniertes Werk in Szene gesetzt wird. So geht es hier doch um Fragen und inhaltliche Befunde, die zunächst einmal üblicherweise nach Maßgabe ihrer historischen Bedingungen, ästhetischen und literaturgeschichtlichen Konditionen in Augenschein zu nehmen sind, die aber ein höheres Maß als vielleicht sonst üblich an Verallgemeinerungsfähigkeit und relativer Zeitlosigkeit zu erkennen geben. Gerade aus diesem Grund bieten sie immer wieder Anlass, trotz veränderter Zeitverhältnisse, sich wandelnder Bedürfnisse, Weltdeutungen, philosophischer Betrachtungen und politischer Strukturen jenen eher leicht verständlichen, z.T. gar als Kitsch belächelten Stoff von gleichwohl „menschheitsbezogener“ und einer in dieser Hinsicht auf existentielle Fragen zielenden, damit das Publikum immer wieder berührenden Machart und Qualität ins Bewusstsein der Theaterbesucher und damit der Menschen generell zu rücken.
Wenn auf der Webseite des hier kommentierten Theaterstückes mit Ausrichtung auf den Zuschauer schon im Vorfeld seines eigentlichen Theaterbesuchs diverse Fragen „weltbewegenden Charakters“ aufgeworfen werden, die natürlich die Rezeption des Betrachters, sofern die vorgegebenen Einlassungen zur aktuellen Inszenierung gelesen werden, steuern, dann wäre zu überlegen, ob gegenwärtige Aufmachung und Präsentation des Dramas derartige Gedankenschwere provozieren, implizit ansprechen oder gar involvieren. Zudem heißt es auf jener Webseite sowie im Programmheft (S.5):
„Der ,Jedermann' als literarisches Mysterienspiel antwortet mit christlicher Überzeugung: Es sind die humanistisch-christlichen Werke, die am Ende zählen.“

Es soll nicht bestritten werden, dass diese Position auch der vorliegenden Inszenierung bei Bedarf abzugewinnen ist, sie wird aber eingebettet nicht nur in den Komplex von Handlungsschritten, Dialogen und Reflexionen, die von Hofmannsthal vorgegeben sind, sondern eben auch in einen Reigen akustisch gelegentlich mächtig auftrumpfender sowie auch optischer, manchmal im Übrigen greller Effekte, allesamt von mitunter satirischem, unterhaltsamem, reißerischem, dann auch wieder sensibel-einfühlsamem Charakter, Effekte, die z.T. ein wenig wegführen von der Ernsthaftigkeit der im vorliegenden Bühnenstück angesprochenen Thematik und der sich in sprachlicher Feinsinnigkeit ausdrückenden Fragilität von Aspekten und Fragen, die um „Leben und Tod“, letztlich um „Glauben und Erlösung“ kreisen. Eine gewisse Zurücknahme des religiösen Gestus durch die hier in Rede stehende Inszenierung wird auch im Programmheft (S.5) angedeutet: „Der ‚Jedermann‘ als literarisches Mysterienspiel antwortet mit christlicher Überzeugung: (…). Doch welche Gültigkeit hat diese Antwort für den, der vom Glauben abgefallen ist?“ Und an anderer Stelle: „Heute ist der Mensch auf die eigene Person zurückgeworfen: Er muss das Göttliche, so er es sucht, in sich suchen, und alle Figuren seines persönlichen Mysterienspiels aus sich selbst erwachsen lassen.“
Sinnverlust, Orientierungssuche, auch die Aufgabe, dass „der Mensch der Neuzeit (…) sich dem Konflikt zwischen Zugewinn an Individualität und Handlungsfreiheit einerseits und der Frage nach dem rechten Leben andererseits stellen“ (Webseite) muss, sind in ihrem Aktualitätsbezug wohl kaum zu bestreiten. Auf einem anderen Blatt dürfte allerdings stehen, dass sich das Reflektieren und Spekulieren auf der Theater-Webseite, auch in der kurzen inhaltlichen Zusammenfassung im Programmheft hinsichtlich der dort angesprochenen Aspekte und Fragen keineswegs immer so originell ausnimmt, wie es vielleicht zunächst scheint, drehen sich doch Diskurs und Geschehen schon seit vielen Jahren um jene dort ins Spiel gebrachten z.T. gesellschaftspolitischen oder philosophischen Positionen (Auf der Webseite ist beispielsweise von der Rollenpluralisierung des Einzelnen die Rede: „Er ist Aktionär oder Kaufmann und will zugleich Mensch bleiben - (…).“). Längst sind Herausforderungen auf das Gemeinwesen zugekommen, deren Bewältigung noch aussteht, vielleicht sogar noch lange auf sich warten lässt. Dies sei nicht zuletzt gesagt unter dem Eindruck der schwerwiegenden, schrecklichen Ereignisse vom 7. Januar 2015, nur zwei Tage vor dem Zeitraum, in dem der vorliegende Kommentar aufgesetzt wurde.
Fragen nach Religion und Glaubensrichtung, hier Christentum, theologische Einzelaspekte wie „Gnade und Gerechtigkeit“, „Vergebung und Erlösung“ werden in der gesellschaftlichen Realität heute von zahlreichen inhaltlichen Standpunkten naturwissenschaftlichen, auch politischen oder gesellschaftlichen Charakters, d.h. von Aspekten, die sich teilweise weit von religiösen Bezugssystemen lösen, dabei aber manches Mal an erkenntnistheoretische Grenzen stoßen und auf metaphysische Positionen „zurückgeworfen“ werden, überlagert, durchdrungen, umgeben, in ihrer Bedeutung relativiert oder auch vollständig zurückgewiesen, kurzum: Die von Hofmannsthal in den Blick genommene, durch Antike, Christentum und abendländische Kulturtradition geprägte Welt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ort einer längst erfolgten Säkularisierung der Gesellschaft mit ihren Annehmlichkeiten und Vorzügen, aber auch Problemen und Krisen, in jüngster Zeit mit Gegen- und Rückwärtsbewegungen von z.T. gefährlichen Ausmaßen. Eine Inszenierung, die sich über die Inanspruchnahme moderner Elektronik, dabei geht es um Videoprojektionen, Licht- und Leuchteffekte sowie akustische Einspielungen, berechtigterweise weit in die Bereiche des bewusst geübten Gegenwartsbezuges hineinwagt, hätte vielleicht gerade auf dem Weg der über Technologie und Elektronik gebotenen Möglichkeiten noch etwas beherzter Fragen und Gesichtspunkte gegenwartsrelevanter, ebenfalls mit „Leben, Tod und Glauben“ verknüpfter Bezugsfelder zum Gegenstand ihrer intentionalen Ausrichtung machen oder derartig Gegenwartsbezogenes zumindest andeuten können, anstatt dann doch im Wesentlichen Deutungsbefunde auf der Theater-Webseite als quasi bemerkenswert auszuweisen, denen ein gewisser Allerweltscharakter nicht ganz abzusprechen ist. In diese Richtung zielt z.B. die Einsicht, dass Hofmannsthal den „Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, den damit einhergehenden Sinnverlust und die Entfremdung des Menschen durch die Ausweitung der Geldwirtschaft“ (Webseite) thematisiert.
Welche Fragen wären vielleicht noch spannender und zeitgemäßer? Zwei Beispiele seien genannt: Wie wäre mit der eigenen Religion heute bei häufig verloren gegangenem theologiebasierten Wissen umzugehen angesichts vielfältiger Begegnungen mit anderen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, die z.T. mit erheblichem Kenntnisreichtum sowie inneren Überzeugungen ihrer Anhänger vertreten werden? Wie ließen sich christlich-humanistische Werte, wie es in leichter sprachlicher Abwandlung der auf der Webseite des Stückes verwendeten Formulierung heißen könnte, Werte, die sich auch in Menschenrechten widerspiegeln, wie ließen sich Ideale wie Nächstenliebe, Friedensbereitschaft, Solidarität und darüber hinaus auch gerade von den Religionen weiterzuentwickelnde liberale Positionen wie Emanzipation, kritisches Bewusstsein, Selbstbestimmung des Individuums und Gleichheit von Mann und Frau bei einem auf intellektueller wie populärwissenschaftlicher Ebene zu optimierenden Austausch von Glauben, Naturwissenschaft und Aufklärung nach Möglichkeit von allen Religionen befördern?
Für eine Inszenierung, die sich die zumindest begrenzte „Neuformulierung“ eines Ideengehaltes, eine modernisierte Deutung des Stückes angelegen sein lässt, wäre es ratsam gewesen, durchaus etwas mehr Mut im Hinblick auf Fragen zu zeigen, die im heutigen Zeithorizont verortet sind. Den Titel „'Jedermann' von Hugo von Hofmannsthal“ in einen Titel „'Jedermann' nach Hugo von Hofmannsthal“ umzuwandeln, hätte auch auf der Linie des Zeitgeistes gelegen, und diese Bemerkung ist keinesfalls nur ironisch gemeint.
Wenn sich die Regieführung den Gegenwartsbezug eines aufzuführenden Werkes gerade durch eine experimentelle, „unorthodoxe“ Gestaltung und Rahmengebung (hier eine Konzert-Performance!) zu einem Anliegen von zentralem Stellenwert macht, dann aber die Einrichtung des Bühnenstückes in Aussage und Wirkungsweise z.T. im eher Konventionellen und auch Bekannten stehen bleibt, weil sich ein durchaus auch bedeutsames Exemplar der Theaterliteratur wie im vorliegenden Fall inhaltlich mit Bezug auf „hochmoderne“ Frage- und Problemstellungen verständlicherweise als im Wesentlichen unergiebig erweist, dann zeigen sich die Grenzen einer vom Aktualitätsrausch gesteuerten Inszenierung. Hier wäre dann doch die Frage zu stellen, ob nicht ein etwas bescheidenerer Anspruch letztlich ertragreicher und „erkenntnistheoretisch“ erfolgversprechender gewesen wäre, nämlich das Werk als ein Drama des Autors und nicht als ein Stück in erster Linie – wenn auch implizit - des Regisseurs und des als „Solist“ agierenden Protagonisten zu präsentieren, es vielleicht nicht ausschließlich, aber doch deutlicher in seiner (relativen) Originalität gewissermaßen auch in Hamburg in Erinnerung zu rufen und aus den vielfältigen historischen Bezügen bei etwas vorsichtigerem Aktualitätstransfer inszenatorisch zu deuten. Der sog. „Hamburger Jedermann“, der im Sommer in der Speicherstadt zur Aufführung gelangt, hat nicht den Stellenwert, um hier als Vergleich oder Maßstab herangezogen zu werden.
Gleichwohl: Das Spiel des Hauptdarstellers, der fast alle Figuren des Dramas auf sich vereinigt, war hervorragend und überaus beeindruckend, wie auch vielfach den vom Publikum u.a. auf der Webseite abgegebenen Kommentaren zu entnehmen ist. Es handelt sich um Philipp Hochmair, ihm wird von der Inszenierung in ihrer Spezifik eine enorme schauspielerische Leistung abverlangt. Das Zusammenwirken von Spiel- und Klangwelt war ebenfalls bemerkenswert, wenn auch eine gelegentliche Unausgewogenheit der Phonstärke im Verhältnis von Sprache und Rock-Musik zu konstatieren ist.
Die am Hamburger Thalia Theater dargebotene Inszenierung des „Jedermann“ von Hofmannsthal hat selbstverständlich Recht und Qualität, einen festen Platz im Repertoire des Hauses zu behaupten, zeigt aber in ihrem hinsichtlich Aufmachung und Darbietung ausgeprägten Bestreben nach Zeitgeistanpassung und Aktualitätsbezug in inhalts- und aussagerelevanter Hinsicht kaum innovatives Potential und setzt insofern auch keine neuen Maßstäbe. Demnach sollte bei künftigen Inszenierungen, was das vorliegende Werk anbelangt, die Frage nach einem „Zurück zu Hofmannsthal“ ernsthaft ins Kalkül gezogen werden, um (literatur-)geschichtliches Verständnis und Eigenständigkeit des Rezipienten bei notwendigen geistigen Transferleistungen stärker zum Zuge kommen zu lassen sowie gewisse Tendenzen der Dominanz bezüglich Regietheater und Zeitgeistaffinität zu relativieren.

Michael Pleister, d. 23.01.2015
Leserkritiken: Fabian, Schaubühne Berlin
Erich Kästner: Fabian – Der Gang vor die Hunde, Schaubühne am Lehniner Platz (Studio), Berlin (Regie: Peter Kleinert)

Klar, wir befinden uns im Jahr 1931. Die Weimarer Republik ist am Ende, die Frage ist nicht mehr, ob sie von einer Dikatur abgelöst wird, sondern nur noch wann und von welcher. Aber eigentlich sind wir auch und in erster Linie im Hier und Jetzt. Zu Beginn hält, eingefangen per handy-Kamera, ein Bus vor der Schaubühne und spült eine Gruppe junger Leute aus der (wengleich noch jungen) Berliner Nacht vor ein, wie mehrfach angemerkt wird, doch ein wenig saturierteres Publikum. Natürlich, so sagt uns die launige Eröffnungsansprache, die ein wenig überflüssigerweise die theatrale Situation verankert, wird hier 1931 gespielt und ist doch 2015 gemeint. Immer wieder werden die Darsteller, allesamt Studierende der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch”, vermeintlich aus der Rolle fallen, über Flüchtlingspolitik, Feminismus und die prekäre Situation junger Menschen am Beispiel des Schauspielberufs sprechen, mal ironisch, dann mit kaum unterdrückter Wut, doch stets angenehm im Ungefähren bleibend, so dass an diesem unterhaltsamen Abend nichts wirklich weh tut.

Das gilt auch für die eigentliche Handlung, die Geschichte des jungen Germanisten Dr. Jakob Fabian, der sich mit einem Werbejob über Wasser hält, in der Berliner Nacht das Leben sucht und am ende wie zuvor schon sein bester Freund Stefan zerbricht. “Berlin hat Fieber”, sagt er einmal, und es ist ein Fieber, das tödlich ändert. Regisseur Peter Kleinert verarbreicht es in homöopatischen Dosen. Eine drehbare Bühnenwand öffnet immer wieder neue Räume, weitere und engere, die mal ein Nachtklub, mal ein Badezimmer, mal eine Zeitungsredaktion sind und in rasanter Abfolge von Episoden Vignetten einer sich zwar immer schneller, aber ausschließlich um sich selbst drehenden Gesellschaft zeigt, die längst jede wirkliche Mitte verloren hat. Ein wirklicher Rausch oder Strudel ergibt sich nicht, die bunten Bildchen, die Regisseur und Ensemble zeichnen, sind nett anzuschauen und schnell wieder vergessen. Das ist mal semirealistisch, oft karikaturesk verzerrt und zeigt stets eine welt, die keinen Sinn mehr kennt. Da sind Nazi und Kommunist ununterscheid- und austauschbar, verbringt der Abend überproportional viel zeit im Zerrbild einer Zeitungsredaktion, die längst jeden journalistischen Ethos über Bord geworfen hat. Der gerade zum “Unwort des Jahres” gekürte Begriff “Lügenpresse” kommt da in den Sinn und bleibt unwidersprochen.

Keine Frage: Man schaut dem jungen Ensemble um Timocin Ziegler, der die Titelrolle spielt und als einziger weder Rolle noch Zeit wechselt, gerne zu bei ihrem lustvollen, blitzschnell Gestus und Ausdruck wechselnden Spiel, das mehr Dynamik bringt, als die ermüdend mechanischen Schauplatz wechselt, bei denen es auch nicht hilft, dass die Bühnendrehung manuell geschieht, die Figuren und Darsteller also selbst zu Regisseuren dieser dann doch immer gleichen Welt werden, bei der eben alles ein Kreis ist und es kein Vorwärtskommen gibt. Das ist dann doch sehr schlicht gedacht, die halbherzigen Gegenwartseinschübe, die ebenso abgetrennt vom sonstigen Bühnengeschehen wirken wie sie unreflektiert Kästners Zeitanalyse einfach in die Jetztzeit zu pappen scheinen, tun ein übriges, dass dieses stets kontrollierte und nie fiebrige Gewusel immer verdaubar bleibt, keine Fragen stellt und letztlich so harmlos ist, dass es beim ersten schritt des Zuschauers in die echte Berliner Nacht verfliegt wie der ausgiebig eingesetzte Bühnennebel. Vor die Hunde geht hier nichts und niemand – nicht einmal die aufgemalten Hundesilhouetten auf der Drehwand.

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Leserkritik: Fabian, Schaubühne Berlin
Knapp zwei Stunden lang ist das durchaus unterhaltsam gemacht, auch wenn der Funke von der Bühne nicht so recht überspringen mag: Zu ähnlich sind sich die einzelnen Szenen, für einen richtigen "Tanz auf dem Vulkan" bleibt vieles doch zu brav.

Die umstrittensten Passagen des Abends sind die zahlreichen Momente, als die Schauspieler aus ihrer Rolle treten. Die Monologe, wie prekär die Lage für Schauspieler sei oder ein Seitenhieb gegen Pegida, wurden in manchen Kritiken besonders lobend erwähnt. Die Idee, das Porträt einer komplett verunsicherten Gesellschaft ganz konkret auf die Gegenwart zu beziehen, drängt sich auf den ersten Blick ja auch geradezu auf. In der Umsetzung ist diese Aktualisierung jedoch nicht gelungen, die Einschübe argumentieren zu sehr mit dem Holzhammer und könnten deshalb ersatzlos wegfallen.

Mehr dazu hier: http://e-politik.de/kulturblog/archives/24010-fabian-oder-der-gang-vor-die-hunde-ernst-busch-schauspielstudenten-tanzen-an-der-schaubuehne-durch-das-nachtleben-der-weimarer-republik.html
Leserkritiken: Es sind nur Regeln, die wir brechen, Melchingen
Sibylle Berg schreibt in ihrer Spiegelkolumne über die Morde von Paris: "Viele Kommentatoren suchen immer noch nach Gründen. (...) Eine Hoffnung gibt es nicht. Keiner hat uns Gerechtigkeit versprochen. Die Menschen werden weitermachen wie immer, sie werden sich hassen und töten."

An diese Sätze musste ich denken beim ersten Teil der Uraufführung von ES SIND NUR REGELN DIE WIR BRECHEN von Marc von Henning im Theater Lindenhof in Melchingen auf der Schwäbischen Alb. In einem Verhörraum unter einer trüben Lampe versucht eine Kriminalbeamtin einem verschüchterten Verdächtigen einen Autodiebstahl nachzuweisen. Die Geschichte ist eingebettet in eine andere Geschichte, nämlich die, dass die Schauspielerin, die Tochter der Stenografin sei, die dieses Verhör aufgezeichnet habe und indem sie diese jetzt Szene nachspiele, wir, die Zuschauer, wiederum in der Rolle des Stenografin das Ganze miterleben dürften. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei dem Verdächtigen um keinen einfachen Autodieb handeln kann, denn nach und nach übernimmt er die Initiative und entwickelt in erschreckender Normalität das vollkommen Abgründige, dem weder die Kommissarin, noch das System das sie repräsentiert, im geringsten gewachsen ist.

Im zweiten Teil nach der Pause ist der Boden übersät von Papierschnitzeln, in deren Mitte ein überdimensionales Geschenkpaket liegt. Zuvor hatte der männliche Schauspieler sich als Sohn einer Lektorin zu erkennen gegeben und davon erzählt, dass seine Mutter immer wieder von ihrer Arbeit abgelehnte Manuskripte nach Hause mitgebracht und im Kreise ihrer Familie daraus vorgelesen habe. Alle diese Geschichten und Dramen, die nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten, lagen nun, so scheint es mir, verstreut um das überdimensionale Geschenkpaket auf dem Boden herum und eine davon wird pantomimisch dargestellt. Ein altes Ehepaar verzettelt sich in allem Möglichen und erkennt erst zu spät was sie im Innersten verbindet. Musik und Texteinblendungen und der Geruch in der alten Scheune, in der im Lindenhof Theater gespielt wird, schaffen eine einzigartige poetisch reale Atmosphäre.

Ich hoffe und wünsche dem Theater Lindenhof und dem Stück, dass noch Viele der Weg zu ihm auf die Schwäbische Alb finden werden.

https://www.theater-lindenhof.de/
Leserkritik: Fiesko zu Genua, Dresden
Es ist kompliziert, sagt Intendant Schulz zur Einführung, mit dem Stück und vor allem mit dessem Ende. Auch Schiller war sich nicht sicher, wie das ausgehen solle (eine hübsche Analogie zum Titelhelden) und fertigte – das heutige Regietheater vorwegnehmend - zwei Schlüsse. Man durfte gespannt sein, aber auch annehmen, dass Jan Philipp Gloger in seiner ersten Arbeit am Haus einen eigenen finden wird.

"Explosion"... Von Null auf Hundert in Millisekunden beginnt das Stück mit einem Ausbruch von Leonore als eifersüchtige Gattin des Fiesko, die ungern Bestandteil eines Dreiecks mit Julia sein möchte, auch wenn sich ihr dank Kalkagno eine ähnliche Konstellation böte. Das kracht schon mal ordentlich.

Gianettino versucht derweil, alles klar zu machen mit der Nachfolge von dem Andrea Doria und heuert einen Killer an, um den beim Volke beliebten Fiesko vorsorglich aus dem Weg zu schaffen. Dann öffnet sich die Bühne und gibt statt karger Gasometer-Außenwände einen Saal frei, in welchem sich die geschlossene Gesellschaft der oberen Paarhundert von Genua orgiastisch-bacchantisch vergnügt (nicht nur hier ist der Opern-Backround des Regisseurs deutlich zu spüren). Mittendrin Fiesko, den es von der Politik offensichtlich zu WeinWeibGesang gezogen hat, zur Enttäuschung seiner Freunde. "Harmonie ist (auch) eine Strategie"...

Kronprinz Gianettino (Jan Maak) kommt diabolisch daher und hat neben der Macht noch andere Interessen, z. B. an der Tochter von Verrina, dem Gralshüter der republikanischen Demokratie. Dass dies auf das Unerfreulichste von Erfolg gekrönt ist, führt dann zu einer Art Rütli-Schwur auf Italienisch. Verrina sammelt die Verschwörer um sich - so richtig bedrohlich wirkt das aber nicht, eher wie ein schlechter Mantel-und-Degen-Film.

Fiesko scheint für die republikanischen Zwecke moralisch ungeeignet, er neigt eher der Basis der Bedürfnispyramide zu, die dank Julia, Gianettos Schwester, im verlockendsten Licht erscheint. Deren erster Auftritt ist herrlich affektiert, und auch sonst gibt Karina Plachetka ihrer Rolle eine verspielte Verruchtheit, die nicht nur Fiesko (scheinbar) wehrlos macht. Ihr Duett mit Leonore erinnert stark an jenes von Polly und Lucy aus der Dreigroschenoper, Chapeau, die Damen.

Jener entgeht dem täppisch ausgeführten Attentat und dreht den Mohren Hassan schlicht um, was ihm einen Spion beschert und dem Publikum eine Autoknacker-Pantomime von Feinsten, dargeboten von Thomas Braungardt. Schon hier sind unbedingt die großartigen Kostüme von Eva Martin zu erwähnen, die unaufdringlich-deutlich die Charaktere nachzeichnen.

Hassans Bericht aus dem Volke erzählt von diffusem Unbehagen ohne konkrete Forderungen, nicht erst das „Hum, humhumhum“ zieht eine Parallele zum nahegelegenen Theaterplatz, wo der Bürger neulich seinen Unmut Gassi führte.

Langsam kriecht die Katze aus dem Sack, Fiesko agiert öffentlich als Lebemann, um seine Absichten zu tarnen: "Du musst nicht zeigen, was Du kannst, Du darfst nicht sagen, was Du denkst, man soll nicht wissen, wie Du fühlst"... Der Weg zur Macht führt über die Verstellung. "In diesem Krieg sind alle Tricks erlaubt."

Nur was er macht mit der Macht, ist noch offen. Seine Fabel aus dem Tierreich belegt die Ungeeignetheit der Demokratie für das Volk, andererseits ist er p.c. genug, die Republik zu preisen. "Als wir wiederum nicht wussten, was zu tun, wohin sich wenden, liefen wir stundenlang umher"... Fiesko geht das pragmatisch an: Erstmal die Macht haben, dann mal sehen. Er schlüpft in einen kleidsamen Anzug, stellt mediokratisch geschickt den Anschlag auf sich nach und nistet sich im Herzen der Bürger ein. Gianetto ist in der Defensive, auch wenn er seinerseits am Putsch plant. Ein tolles Tempo im Wechselspiel der Konkurrenten, die Bühne (Marc Bausback) zeigt, was sie alles kann, die Spannung wächst.

Der Aufzug der Verschwörer in Fieskos Heim erinnert an die Olsenbande, aber Fiesko erbarmt sich ihrer, gibt seine Pläne preis und fordert unbedingte Gefolgschaft ein, was den alten Verrina misstrauisch macht.

Doch auch Fiesko ist im Zweifel: Soll er's wirklich machen oder lässt er's lieber sein? Jein... Ein dialogischer Monolog, Schiller scheint sich hier thematisch bei Brecht bedient zu haben (Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?). Der Preis adelt den Betrüger, stellt Fiesko schließlich fest, nachdem er probeweise im Publikum Platz genommen hat, woraufhin auf der Bühne nichts mehr passiert. Christian Erdmann fesselt nicht nur hier allein den ganzen Saal, eine großartige Präsenz, eine spielerisch-ironische Distanz zur Rolle, eine ganz ganz wunderbare Leistung, die den Jupiter, den Antonio, den Oskar und den Weltaufsichtsrat noch einmal übertrifft.

Aber auch Ines Marie Westernströer hält als Leonore mit, der Gegenentwurf zur dekadenten Julia, schrill, laut und dennoch anrührend, nicht nur im Dialog mit Fiesko kurz vor der Pause.

Nach jener ist zunächst zu beobachten, dass der Mohr dem Fiesko über den Kopf zu wachsen droht, seine weitere Verwendung ist kritisch. Die Verschwörer sehen aus wie Putins Freischärler, sind aber bei weitem nicht so gefährlich.

Ein Erotik-Hörspiel auf dunkler Bühne mit überraschendem Ende, Fiesko stellt mit dem Interruptus Julia öffentlich bloß, um Leonore zu versöhnen. Er hat jetzt ein Mikro in der Hand und inszeniert sich als Edelputscher. Der Wille zur Macht hat sich durchgesetzt, aber Leonore ist dagegen: "Sag alles ab, geh einfach weg, halt die Maschine an, frag nicht nach dem Zweck", kleine prallt auf große Welt, Fiesko zweifelt ein letztes Mal, aber zu spät: Die Revolution rollt.

Wie jene in Szene gesetzt wird, ist wieder große Oper (Musik Kostia Rapoport, Licht Jürgen Borsdorf, Choreographie Axel Hambach). Am Ende hängt der Mohr im Hintergrund, Kalkagno (Sascha Göpel betont unmilitärisch) fehlt ein Ohr und Bourgognino (Kilian Land als Draufgänger) hat den Kronprinzen erlegt. Fiesko hielt sich eher raus, nur als ihm nach der Schlacht eine Gestalt im Herzogsmantel erscheint, sticht er sie nieder. Gewonnen.
Leider war letzteres ein Irrtum, im Purpur liegt Leonore, die dann doch am Kampf teilnehmen wollte. Dumm gelaufen, wie gewonnen, so zerronnen, "mein Ruin ist was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstäubt, wie eine Welle die mich trägt und mich dann unter sich begräbt"... Totenstille im Saal.
Doch Fiesko motiviert sich erstaunlich schnell raus und erscheint im Herzogspurpur, Leonore ist noch als Märtyrerin von Nutzen.

Aber die Rechnung geht nicht auf: Verrina (Tom Quaas gibt ihn sehr ernsthaft und entschlossen) lässt die Bühne abräumen, da kann Fiesko noch so viel über seine Bedeutung deklamieren. Die Republik in ihrem Lauf hält auch ein Fiesko nicht auf, auch wenn er noch so strampelt wie der letzte Tänzer in der Dorfdisko, das Licht geht an, der Vorhang fällt.
Als er sich dann noch davor produziert, greift die Demokratie zum Revolver. Ende eines Tyrannen, bevor er einer werden konnte.

Ein starker Abend. Gloger leichterte den schillerisch hochtrabenden Text sinnvoll und brachte eine Fassung auf die Bühne, die oftmals an Shakespeare erinnert un die der Berichterstatter gern auf der Don Karlos-Ebene einordnet.
Leserkritik: "Alice" DT Berlin
Nach Lewis Carroll: Alice, Deutsches Theater/Kammerspiele (Junges DT), Berlin (Regie: Nora Schlocker)

Welches ist denn nun das Wunderland? Sicherlich der quietschrosa Bühnenkasten, in den sich aus ein schwarzen Papploch sukzessive 16 Alices schälen, große und kleine, weibliche und männliche, solche, die ihre Pubertät noch vor und andere, die sie bereits hinter sich haben. Doch dann erhellt sich eine andere Dunkelheit, die des Zuschauerraums, plumpst das Publikum quasi durch das Carrollsche Loch und sieht sich bestaunt von den sechzehn, die sich mit großen Augen wundern über die seltsamen Gestalten, die scheu und frech unsere Gesten und Haltungen nachahmen und ausprobieren, die im Gegenüber das eigene Selbst suchen. Sind wir Alice oder sie, sind wir Herzkönigin und Humpty Dumpty oder jene auf der Bühne, sind wir gar die Bühne und sie der Zuschauerraum? Oder sind alle potenziell alles und damit zunächst einmal nichts? Es ist ein ganz starker Anfang, der das Thema des Abends, das sich in der nur einfach klingenden Frage "Wer bin ich?" zusammenfassen lässt, vollkommen wortlos durchdekliniert und als kaum durchdringbares Dickicht erscheinen lässt, jenes Dickicht, durch das sich jeder kämpft, der den langen Weg ins Erwachsensein antritt.

Schnell sind wir in der Alice-Geschichte, in der vieles ist, aber nichts einfach. Multiple Alices ringen mit einander, kommentieren die eigenen Handlungen, die hier jene eines anderen sind, durchlaufen verschiedene Lebensalter, werden von Dritten – die vielleicht auch sie selbst sind Rollen, Identitäten zugewiesen, die sie abweisen. Identität, so sehen wir, brauch immer den anderen, dessen Rolle stets ambivalent bleibt. Eindrucksvoll die Szene, in der einer der Spieler, Valentino, das eigene Ich im Ausschlussverfahren sucht. Er probiert jene der anderen fünfzehn aus und findet jede nicht so recht passend. Am Ende zurückgeworfen auf sich selbst, ist er jedoch alles andere als glücklich. Die Ich-Frage ist längst nicht beantwortet, die Sehnsucht nach einer einfachen Definition der Marke "Ich bin Bjarne", die Orientierung an einer – vermeintlich – klaren Rollenvorgabe, nicht gestillt. "Ich bleibe hier unten und warte, bis ich jemand anders bin", ist einer der klügsten und zugleich bittersten Sätze des Abends.

Der sich in der Folge lustvoll in Lewis Carrolls zwei Alice-Bücher stürzt, Geschichtenfetzen ausprobiert und sich virtuos in Identitätsversuche unterschiedlichster Art wirft. Da werden Lebensphasen – die frühe Kindheit, das erste Verliebtsein, die eigene Familiengründung – angedeutet und liebevoll als gesellschaftliche Muster ironisiert, geht es immer um den Blick des anderen, der Identitäten vorgibt, an denen man sich abarbeitet. Alice, charakterisiert durch die Farbe Rosa, reduziert sich weitgehend auf die Beobachterrolle, die das lernende, werdende Ich stets auch einnimmt. Das Ausprobieren von Ich-Optionen bleibt zentrales Mittel: etwa mittels einer riesenhaften Puppe eines dicken Mannes, die sich die Spieler – im Wortsinn – einverleibt, kein angenehmer Zeitgenosse, dessen Machtspiele man zwar wegwirft, aber doch nicht ganz abstreifen wird. Grausamkeit – in ihrer kindlichen wie in "erwachsener" Form – bleibt eine Präsenz, mit der die Ich-Sucher umgehen müssen. Ob sie als Schweine dem Futter hinterherjagen, als Baby die Mutterbrust suchen, sich im Heulwettstreit zu überbieten suchen oder sich nach begangener Tat zum grinsenden Familienbild aufreihen: Stets geht es darum, vorgefertigte Bilder anzunehmen oder zu konterkarieren, sich mit Rollenvorgaben auseinanderzusetzen – los kommen sie von ihnen nicht. Und wenn sie später eigene Bilder malen, ein selbstbild, ein Ich-Verständnis entwickeln, dann ist das ohne das vorherige Ringen mit dem Fremdbild nicht denkbar.

Es ist ein lustvoller, im besten Sinne spielfreudiger Abend geworden, der genüsslich Ich-Entwürfe durchspielt, ins Lächerliche zieht, als Steinbruch nutzt, um das Grundproblem des modernen Menschen, die Frage nach dem Ich , der eigenen, natürlich ganz individuellen Identität, durchdekliniert und auf Normalmaß zurechtstutzt. Ja, der Abend hat seine Längen, verliert sich zuweilen in der eigenen Spielbegeisterung, manche Szene ist Selbstzweck, der eine oder andere Spieler ein wenig überdreht. Auch die Ausgangsidee der Spiegelung von Bühne und Publikum, das Zurückwerfen des Zuschauerblicks, wird in immer angestrengteren Publikumseinbeziehungsversuchen mehr Krampf als Erkenntnismittel, die vierte Wand hat Risse, aber sie steht. Und doch ist es gerade das zuweilen ziellos erscheinende Spiel, das Suchen ohne Kompass, das lustvolle Sich-Stürzen ins Ungewisse, das den Abend nicht nur durchgängig unterhaltsam macht – sondern dann eben doch einen präzisen und faszinierenden Spiegel des seltsamen Prozesses der eigenen Identitätsfindung bietet, der dann auch auf uns „Erwachsene“ zurückfällt. Denn wenn wir glauben, er sei irgendwann abgeschlossen, das kindliche Suchen vorbei, dann sind wir es, die im Wunderland hängen geblieben sind und hoffen, dass wir niemals aufwachen.

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Leserkritik Fiesko zu Genua, DD: sehenswert
Sehenswert!

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Leserkritik: Romeo und Julia (I), Thalia Theater Hamburg
Regietheater: publikumswirksam, zeitgeistkonform, neokonservativ?
„Die Tragödie von Romeo und Julia“ v. W. Shakespeare, inszeniert von Jette Steckel am Thalia Theater Hamburg
Regie: Jette Steckel
Premiere: 6. September 2014
Wenngleich es problematisch sein kann, zum Zweck der Qualifizierung von Situationen, Gegenständen, Sachverhalten, auch von Ideen, Gedanken, kreativen Handlungsoptionen Adjektive im grammatischen Superlativ in Gebrauch zu nehmen, also mit Bezug auf belebte oder sachbezogene Wirklichkeit von der jeweils besten, schönsten oder höchsten Erscheinungsform bzw. Qualität zu sprechen, so erweist es sich gleichwohl als nicht ganz abwegig, das vorliegende Drama mit Blick auf den Autor und dessen weltumspannende Bedeutung für die Literatur- und Kulturgeschichte, mit Blick auf die ästhetische Qualität, auf die Aufnahme durch Publikum und Literaturkritik sowie auf die bereits realisierten Adaptationen als „größte Liebesgeschichte aller Zeiten“, wie es auf der Webseite des Bühnenstückes wiedergegeben wird, zu bezeichnen – und dies, es sei noch einmal wiederholt, bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen. Die Rezeption des vorliegenden Werkes ist nicht zuletzt aufgrund seiner Berühmtheit ebenso umfangreich wie differenziert. Viele Aspekte, Ideen und Gedanken, die im hier kommentierten Drama angelegt oder verwirklicht sind, die es suggeriert oder insinuiert, sind im Laufe der Zeit bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung durch Inszenierungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen zum Tragen gekommen. Insofern dürfte es schwierig sein, einem literarischen Kunstwerk, hier einem Theaterstück, das über Bedeutungszuweisungen, seine Eigengesetzlichkeit und ästhetische Qualität, über die Rezeptionsgeschichte sowie den Stellenwert des Autors eine scharfe, wenngleich keinesfalls apodiktische Prägung bezüglich Aussage, Gehalt, Struktur und Relevanz erfahren hat, in einer notwendigerweise von Kreativität geleiteten Absicht Züge und Ausdrucksformen moderneren, zeitgemäßen Zuschnitts zu verleihen, die dem Qualitätsurteil einer u.U. gelungenen Gesamtpräsentation den Boden bereiten, d.h. eine reelle Chance geben. Angesichts der inhaltlichen wie interpretatorischen Komplexität des hier mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten Werkes erscheint es durchaus berechtigt, sich ihm aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern, was auf der entsprechenden Webseite dem Publikum unter Hinweis auf die Regieführung von Jette Steckel als etwas im vorliegenden Fall bereits Umgesetztes avisiert wird. Es multiperspektivisch in Augenschein zu nehmen, so z.B. von der theatralen und hier auch musikalischen Seite, scheint ebenso folgerichtig wie angemessen, in theoretisch-verallgemeinerungsfähiger Hinsicht auch notwendig zu sein. Dann aber in concreto eine sog. physische Seite, wie es der Text der bereits erwähnten Internetpräsenz des Theaterstückes auszudrücken pflegt, ins Spiel zu bringen und sie ihrerseits mit einer „Massenbewegung“ (Webseite) zu verknüpfen, besser gesagt zu identifizieren, mit einer Massenbewegung, die über die Indienstnahme von 40 jungen Leuten im Stück erfahrbar gemacht wird, erweist sich gegenüber der Shakespeare‘schen Textvorlage doch als recht eigenwillig. Denn die Darsteller stehen ebenfalls für die beiden Titelhelden – das Personenregister des Programmhefts macht dies deutlich - und geben damit einen Fingerzeig auf eine allgemeinere, wenngleich nicht ganz unproblematische Identifikationsperspektive. Die Liebesbeziehung von Romeo und Julia eher unbedarft als übertragbar auf den heutigen Durchschnittsmenschen zu deuten, dürfte sich schnell als naive Einschätzung des bekanntlich subtilen Verhältnisses von Realität und literarischer Darstellung erweisen. Dagegen ist es notwendig, das vorliegende Drama sehr wohl – bewusst abgesehen von Fragen nach Applikation und Transfer bezüglich menschlicher Daseinsformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts - in seiner Lebensechtheit, seinem Realitäts- und Weltbezug zu begreifen, fungiert doch die realistische Komponente des Werkes auch als Grundlage für vielfältige, gerade vom Rezipienten anzustellende Reflexionen auf abstrakter Ebene.
Fortsetzung folgt!
Leserkritik: Romeo und Julia (II), Thalia Theater Hamburg
Romeo und Julia/ Fortsetzung

Das Drama handelt mit dem Thema „Liebe“ nicht nur von einem in der Natur des Menschen liegenden, genetisch bedingten oder, anders gesagt, naturwüchsigen Element anthropomorpher Existenzform, vielmehr steht das Liebesverhältnis, um das es hier geht, im Zeichen spezifischer gesellschaftlich sowie kulturell konditionierter Bezugsfelder, genauer gesagt, unter dem Verdikt ungünstiger Voraussetzungen in sozialer Hinsicht, im Einflussbereich menschlicher Feindseligkeiten, sich auf die Aktionsmöglichkeiten der Titelfiguren hemmend auswirkender Handlungskonstellationen sowie verhängnisvoller Zufälle. Die Beziehung von Romeo und Julia ist, um etwas modernere Begrifflichkeit in Anschlag zu bringen, eingebettet in ein unheilvolles Geflecht gesellschaftlicher Zwänge, in ein Netz systemimmanenter Verhaltensweisen, Denkstrukturen sowie systemkonformer Handlungsschritte der die beiden Protagonisten umgebenden Zeitgenossen. Etwas schlichter gesagt, auch ein wenig plakativer, überdies dem eher herkömmlichen Sprachduktus verpflichtet: Jenes Liebesverhältnis steht im Spannungsfeld einer alle Fesseln und Begrenzungen sprengenden Selbstbehauptung einerseits und einer sich z.T. destruktiv sowie menschenfeindlich gerierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit andererseits.
Und was ist schließlich festzuhalten? Zunächst einmal das, was mit den hier zuletzt fixierten Sätzen ausgedrückt werden sollte. Die Liebe in ihrem Anspruch auf Unbedingtheit und seelische Grenzenlosigkeit - Eigenschaften und Zielsetzungen gleichermaßen, die nicht zuletzt aus den Gefühlsdispositionen der beiden Hauptfiguren resultieren – scheitert unweigerlich an Konstellationen und Konventionen sozialer Strukturen, an der Missgunst von Menschen sowie an tragischen Irrtümern und Unwägbarkeiten. In diesem Zusammenhang sei zur Kenntnisnahme eines weiterführenden, jedoch z.T. gegensätzlichen Gedankens auf eine Formulierung hingewiesen, die sich in der kurzen Einführung auf der Webseite des Bühnenstückes findet und trotz ihrer Unscheinbarkeit nicht unbeachtet bleiben sollte. Die entsprechende Textstelle lautet: „Die große, alles sprengende Liebe erweist sich in der Bereitschaft, für die Liebe zu sterben. Sie scheitert nicht am feindlichen Umfeld – sie braucht es.“ (Webseite)
Die Tragik des Unterganges beider Protagonisten nicht eindimensional kausal aus mangelnder Berechenbarkeit sowie aus der Brutalität äußerer Umstände zu begreifen, sondern eher korrelativ zu erfassen, d.h., die hier in Rede stehende Liebe in ihrer Apologie und Apodiktik nach Maßgabe einer gewissen Verallgemeinerungsfähigkeit möglicherweise als abstrakten Absolutheitsanspruch schlechthin zu interpretieren, der ein abweisend reagierendes Umfeld geradezu sucht und insofern auf den gesellschaftlichen Widerspruch offensichtlich angewiesen ist, um den Menschen, hier die beiden Haupthelden, am Zwiespalt von „Anspruch“ und „Wirklichkeit“, „kategorisch“ und „vergeblich“ letztlich zugrunde gehen zu lassen, wird durch das oben angeführte Zitat ebenso suggeriert wie bestätigt. Jene Textstelle - wenn auch im ersten Teil ihres zweiten Satzes fragwürdig der dort ausgesprochenen spezifischen Negierung wegen („Sie scheitert nicht am feindlichen Umfeld“), so doch interessanterweise zugespitzt in den letzten drei Worten („sie braucht es“) - weist zurück auf die eigentliche Tragik, die bekanntlich in der Regel als Untergang des Helden im Spannungsfeld widersprüchlicher Wirkungsareale menschlichen Denkens und Handelns, um es zum Zwecke weitgefasster Praxistauglichkeit bewusst allgemein auszudrücken, definiert wird. Dies, nämlich die eigentliche Tragik des Stückes trotz der in der Sekundärliteratur gelegentlich verwendeten Bezeichnung „Trauerspiel“ statt „Tragödie“ deutlich herauszupräparieren, sollte ein Hauptanliegen jeder Inszenierung auch im Jahre 2015 sein.

Fortsetzung folgt!
Leserkritik: Romeo und Julia (III), Thalia Theater Hamburg
Romeo und Julia/ Fortsetzung und Schluss

Im Kontext von Inhalt und Aussage wird in „Romeo und Julia“ auf spezifische Weise, letztlich auf abstrakter Ebene auch die sich in der Tragik, in Debakel und Katastrophe offenbarende, im Übrigen erschütternde Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit exemplifiziert, wobei das Ideal selbst nicht der Destruktion anheimfällt, sondern in Gestalt einer Utopie bestehen bleibt („Aber ihre Liebe währt ewig“/Webseite) und der gesellschaftlichen Entwicklung stets vorauseilen dürfte. Auch wenn sich diese Einsicht vielleicht nicht sonderlich originell ausnimmt, so sollte doch die von ihr im Hinblick auf das Drama implizit angesprochene Ambivalenz und Differenziertheit von inhaltlicher Struktur, Beschaffenheit und Aussage bei späteren Inszenierungen und Adaptationen beachtet werden. Beide Eigenschaften – Ambivalenz und Differenziertheit, hier auch als Qualitätsmerkmale zu verstehen - gehen unter der Regie von Jette Steckel, die letztlich zu eindimensional auf Jugendaffinität setzt, offensichtlich die sinngemäße Übertragbarkeit inhaltlicher Aspekte und Positionen auf gegenwärtige Verhältnisse vorwiegend im Blick hat, alles in allem auf Anwendbarkeit, Publikumsgeschmack sowie - damit verbunden - auf Zeitgeistkompatibilität zielt, zumindest teilweise verloren. Die Applikationstendenzen der Inszenierung - und die Eigendynamik der Regieführung hätte mit dem Zusatz „nach Shakespeare“ statt „von Shakespeare“ auch im schriftlichen Begleitmaterial deutlich gemacht werden können –, jene Absichten der Übertragbarkeit und Anwendung werden gerade von den jüngeren Theaterbesuchern erkannt, wie mancher Verlautbarung unter der Rubrik "Rezensionen der Thalia-Schülerbotschafter“ auf der entsprechenden Webseite explizit oder auch nur implizit zu entnehmen ist.
Wenngleich die von Jette Steckel zu verantwortende Inszenierung des weltberühmten Dramas Schwächen und Unzulänglichkeiten zu erkennen gibt, so erweisen sich einige Abschnitte als durchaus eindrucksvoll, insbesondere dort, wo dem gesprochenen Wort in seiner poetischen Qualität und der Musik in etwas dezenterer Einspielung Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden.
Die Schauspieler stellen ein hohes Maß an Professionalität unter Beweis, ihr Spiel fügt sich glänzend in den „Habitus“ der Inszenierung ein. Diese allerdings ist – wie bereits angedeutet – mit Vorsicht zu genießen: Wortwitz, Slapsticks und Komik erweisen sich manches Mal als deplacierte Albernheiten und lassen die „Tragödie von Romeo und Julia“ in gefährliche Nähe zum Trivialen und Banalen, gelegentlich überhaupt auf die Ebene eines gehobenen Unterhaltungsstückes geraten. Dies ist einer sich als Regietheater erweisenden Darbietung geschuldet, die bei all ihrer äußerlichen Eigenwilligkeit, all ihren z.T. extremen Turbulenzen kaum Erschütterung oder Potenzial kritischer Nachdenklichkeit generiert, vielmehr auf postmodernes Spiel, Zeitgeistanpassung, insofern indirekt auf (kultur-) politische Bewusstseinskonformität ausgerichtet ist und sich damit letztlich als ein eher neokonservatives Paradigma gesellschaftlicher Realität entpuppt.

Dr. Michael Pleister, 05.03.2015
Leserkritiken: Die Verwandlung/DT Berlin
Nach Franz Kafka: Die Verwandlung, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Miriam Scholl)

Drei Ebenen versucht Scholl in die Darstellung einzuziehen: Neben der Sprache sind das Musik und ton sowie Bewegung. Doch weit davon entfernt, drei unterschiedliche, miteinander interagierende Narrative zu schaffen, darf der Text dominieren und ist alles andere pure Begleitung und Illustration. So werden die Bewegungszustände Gregors nachgeahmt , zum Teil auf mehrere Figuren verteilt, vielleicht ein wenig stilisiert – das bloß Illustrative verlassen sie kaum. Da fällt es schon as dem Rahmen, wenn die Vergrößerung des Bewegungsspielraums Gregors mit der Verteilung der einzelnen Teile des Schlagzeugs im Raum dargestellt wird. Damit ist der Höhepunkt der Abstraktion aber schon erreicht. Dem gegenüber steht die ausgefallene Idee, das Handlungselement den Umräumend von Gregors Zimmer durch Mutter und Schwester darzustellen, indem man, ja, die Bühne umräumt. Theater als Umzugsunternehmen.

Der Musik ergeht es nur wenig besser: Auch die musikalische Ebene überscheitet so gut wie nie den Bereich des Illustrierende. Höchstens noch dürfen Stimmungen musikalisch angedeutet werden, setzen Eskalationen auf Dissonanzen, während Momente der Resignation in stille Fragmente mit Klavier oder Harfe münden. Dem Lesungscharakter des Abends tut das wenig Abbruch. Und so stehen der zunehmenden Einfallsarmut und dem Scheitern einer mehrdimensionalen Erzählung am Ende nur noch der Enthusiasmus der Spieler und das Rutschen der Matratzen entgegen. Und doch macht es Spaß zuzusehen, wie sich die sechs in den Text werfen, mit ihrer Stimme, ihrem musikalischen Talent, ihren Körpern. Wenn in diesem Abend noch so viel mehr drin wäre, liegt es zumindest an ihnen nicht.

Mehr: https://stagescreen.wordpress.com/2015/03/15/aufraumen-mit-kafka/
Leserkritiken: Elektra, Berlin
Corinna Harfouch tritt nach vorne und setzt zu einer etwas umständlichen Einführung zu ihrer Elektra-Matinee an. Sie hätten zwei Alternativen vorbereitet, sich nun kurzfristig für eine Textcollage mehrerer Autoren entschieden statt sich ganz auf Hugo von Hoffmansthals Bearbeitung, das Libretto der Strauss-Oper, zu konzentrieren.

An der Elektra reize sie die Unerbittlichkeit, mit der sie in den Wunden bohre und die Verbrechen der Klytemnaistra und des Aigisthos anklage. Sie stemme sich gegen den Versuch, das begangene Unrecht unter den Teppich zu kehren, und habe ihr ganzes Leben der Rache verschrieben. Sie “nerve” und sei “niemand, den man gerne zum Kaffee einlade”, meint Harfouch, aber ihr ständiges Mahnen habe eine wichtige und tief beeindruckende Funktion.

Zum Ende ihrer knappen Vorrede verhaspelt sie sich kurz, wünscht einem Gast, den sie persönlich begrüßt, einen “Guten Abend”, korrigiert sich schnell und beginnt dann ihr knapp einstündiges Solo.

Plötzlich wirkt sie verwandelt: eben noch nervös und unsicher, geht sie ganz in der Rolle der Elektra auf. Mal aggressiv donnernd, mal vorsichtig tastend trägt sie Fragmente aus den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der vergangenen Jahrtausende vor. Aischylos und Sophokles, zwei der Großmeister der griechischen Tragödie, mischt sie mit neuzeitlichen Annäherungen von Hugo von Hoffmannsthal, Gerhart Hauptmann, Jean-Paul Sartre und Jean Giraudoux.

Ein fulminanter Auftritt einer großen Schauspielerin!

http://e-politik.de/kulturblog/archives/24455-corinna-harfouchs-fulminante-elektra-collage-kammerspiele-matinee-am-dt.html
Leserkritiken: Blutsbrüder, Volksbühne Berlin
"Blutsbrüder - Cliquenturbo nach Ernst Haffner", Volksbühne, 3. Stock

"Cliquenturbo nach Ernst Haffner": Dieser Name ist Programm: In hoher Schlagzahl tobt das Ensemble über die kleine, nur mit einem Baugerüst und einem alten Röhrenfernseher ausgestattete Bühne. Die jungen Männer (und wenigen Frauen) schreien ihre Verzweiflung heraus, sie schlagen sich ins Gesicht und mehr oder minder erfolgreich durchs Leben. Wenn sie nicht gerade qualmend in Kneipen herumhängen, versuchen sie, sich mit Schneeräumen, Schuhreparaturen oder als Stricher über Wasser zu halten.

Diese Tour de force ist örtlich und zeitlich sehr klar verortet: die Handlung spielt wie in der Romanvorlage im Scheunenviertel rund um die Volksbühne – abgesehen von kurzen Ausflügen in den Westen der Stadt (Tauentzien, Kudamm). Dieses Berlin in der Spätphase der Weimarer Republik ist eine “Vorhölle”. Gewalt, soziale Verwerfungen, Perspektivlosigkeit bilden den Nährboden für den Faschismus.

Die Studenten aus dem aktuellen Abschluss-Jahrgang spielen mit großem Einsatz, Gabriel Schneider ragt als einer der beiden Hauptdarsteller neben dem Volksbühnen-Ensemble-Mitglied Patrick Güldenberg heraus. Dennoch ist das Ergebnis nicht ganz überzeugend: zu sehr drängt sich der Eindruck auf, dass Klink dem Noch-Hausherrn Frank Castorf nacheifert. Eingespielte und zum Teil live auf der Bühne gedrehte Videos, eine Überlänge und eine “wilde Folge von Sauf-, Prügel-, Klau- und Sexszenen”, wie es das "Neue Deutschland" lakonisch zusammenfasst hinterlassen den schalen Eindruck, dies alles schon vielfach gesehen zu haben.

So bleibt als Fazit ein trotz einiger Längen unterhaltsamer Abend, dem aber Biss und Einfallsreichtum fehlen, um bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Mehr dazu hier: http://e-politik.de/kulturblog/archives/24548-blutsbrueder-ernst-busch-schauspielstudenten-schlagen-sich-durch-das-berlin-der-weimarer-republik.html
Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil I
Hier gibt es Sprechbühne statt Regietheater!
„Die Brüder Karamasow“ nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij am Thalia Theater Hamburg
Regie: Luk Perceval
Premiere: 30. April 2013
Wenn auf der Webseite sowie im Programmheft (S.5) jenes Bühnenstückes, das derzeit am Thalia Theater Hamburg aufgeführt und hier im Folgenden mit einem Kommentar bedacht wird, in Bezug auf dessen literarische Vorlage von einem “monumentalen Roman“ die Rede ist – und diese Zuweisung von Qualität bzw. Beschaffenheit entspricht nachweislich der Wirklichkeit –, dann deutet sich an, mit welch schwieriger Aufgabe derjenige befasst ist, der in diesem Fall eine Version für die Bühne in Angriff zu nehmen sich anschickt. Worte wie „Quintessenz seines gesamten literarischen Schaffens“, bezogen auf den Dichter des vorliegenden Werkes, oder „Klassiker der Weltliteratur“ weisen ebenfalls in die Richtung einer sich hier mit der Inszenierungsabsicht verbindenden Aufgabe von hohem Anspruch, was den Umfang des zu bearbeitenden Stoffes, die inszenatorische Ergiebigkeit und literaturästhetische Qualität von „Produkt“ und Vorlage anbelangt. Die „große(n) Themen der Menschheit“, wie es in dem Text auf der Webseite des Stückes heißt, „die ewige Feindschaft der Brüder, de(r) Konflikt zwischen Vater und Sohn, de(r) Kampf der Geschlechter, und nicht zuletzt das Ringen um Sinn und Moral, tief verankert in Gewalt, Blut und Mord“, diese „Themen“, z.T. wohl eher Motive, wecken beim Rezipienten hohe Erwartungen und richten dessen Aufmerksamkeit selbstverständlich zugleich auf die Frage, inwieweit es dem Regisseur gelingt, die Überzeugungskraft eines sich aus der Lebensfülle inhaltlich konstituierenden Romans – zugleich ein Meilenstein seines Zeichens in der Literaturgeschichte – mit den Mitteln des Theaters zu realisieren, d.h. mit einer Inszenierung, die sich notwendigerweise dem Aspekt origineller Wirkungsmacht als Maßstab für den Ausweis eigener Qualität verpflichtet fühlen sollte.
Während in ein Werk der Epik vom Schlage eines über 1000 Seiten umfassenden Romans, d.h. in ein Werk der sog. Großepik, eine Fülle von Gesichtspunkten, Faktoren und Elementen bezüglich Zeichnung und Charakteristik der agierenden Figuren, hinsichtlich Handlungsschritten, Denkweisen, Empfindungen und Ideologien, überdies auch mannigfache sprachästhetische Aspekte der Gestaltung einfließen, geht es in einer Adaptation für das Theater doch gezielt darum, das ausgewählte und damit der entsprechenden Inszenierung zugrunde liegende Werk einer anderen Literaturgattung als der des Dramas in seiner inhaltlichen Konstellation zunächst im Hinblick auf eine erträgliche Dauer der angestrebten Aufführungspraxis, damit gleichzeitig hinsichtlich einer angemessenen Zeitspanne für die Mobilisierung der dem späteren Publikum abzufordernden Wahrnehmungs- und Aufnahmepotenziale zu begrenzen, und das wiederum macht es notwendig, manche inhaltlichen Aspekte der Vorlage – schlicht gesagt – wegzulassen. Und was bedeutet dies im Falle des vorliegenden Projekts?
Die Regie lässt es sich angelegen sein, was speziell die Bearbeitung des Romans von Dostojewski für dessen Einrichtung als Bühnenstück angeht, inhaltlich zu sondieren, dementsprechende Kürzungen und Straffungen vorzunehmen, sich auf Relevantes zu konzentrieren sowie manche Textpositionen zu akzentuieren, dabei aber der Vorlage insgesamt in Struktur und Aussagekraft gegenüber soweit Achtsamkeit walten zu lassen, dass es für den Titel des Theaterstückes durchaus zu Recht heißen kann „nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij“.

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Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil II
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Wenngleich also der Ausgangstext für die Umsetzung in ein Oeuvre der Bühnenkultur berechtigterweise nicht unerheblich reduziert wurde, so leben offensichtlich Geist und Atmosphäre, die sich inhaltlich mit dem, was den Kürzungen zum Opfer gefallen ist, verbinden, in der Gesamtanlage des Werkes fort. Dies findet in der Presse (Die Zeit) mit einem Kommentar, der auf der Webseite des Dramas nachzulesen ist, seine Bestätigung: „Luk Perceval und Susanne Meister haben den Text rabiat gekürzt und vieles weggelassen, und doch hat man den Eindruck, das Gekappte und Verworfene sei nicht verloren, sondern im dunklen Raum noch „da“ und könne von den famosen Spielern jederzeit zurückgeholt (…) werden.“
Die Einschätzungen des Publikums, soweit sie der Internetseite zu entnehmen sind, setzen in der Gesamtbewertung zwar nicht durchgängig, aber doch z.T. - verständlicherweise - unterschiedliche Schwerpunkte bzw. variieren, widersprechen sich gar gelegentlich in den Qualitätszuweisungen: Was dem einen Zuschauer Langeweile bereitet, gereicht dem anderen zur Anregung, zur Steigerung von Aufmerksamkeit oder Spannung. Für eine angemessene Interpretation und damit natürlich auch für eine Beurteilung von Inszenierungen bzw. Adaptationen der vorliegenden Art dürfte es gerade angesichts der Gesellschaft heute, die im Zuge elektronischer Visualisierungszwänge zunehmend rezeptiver Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit ausgeliefert ist, stets im Sinne von Solidität und Sorgfalt geboten sein, den Ausgangstext des jeweils bearbeiteten Stoffes im Blick zu haben, sich mindestens auf Inhaltsangaben sowie Interpretationsansätze zu beziehen, wie sie in der einschlägigen Sekundärliteratur, nicht zuletzt in anspruchsvolleren Nachschlagewerken manifest sind. Und dies in erster Linie zum Zwecke einer dem Rezipientenurteil, speziell seiner im Allgemeinen wünschenswerten Besonnenheit verpflichteten, im Übrigen zuweilen unter Zeitdruck stehenden Wahrnehmung sowie Verinnerlichung des relevanten Stoffes, insbesondere was entscheidende inhaltliche Zusammenhänge, stilistische Gesichtspunkte, literaturästhetische Ansprüche, Fragen zum Verhältnis von Inhalt und Form sowie Hinweise in Richtung Weltdeutung und Interpretationsansätze unter dem Aspekt literarhistorischer Einordnung anbelangt.

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Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil III
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Angemessene Einfühlung, produktives Sich-Hineinversetzen in Gehalt und Strukturen des vorliegenden Romans allein schon in dem Maße, wie es für die Bearbeitung des Stoffes im Rahmen einer anderen Literaturgattung, hier also für die Aufführung am Theater, geboten erscheint, erweisen sich unter dem Akzent einer ebenso emotionalen wie intellektuellen Aufnahmebereitschaft der Akteure, die die entsprechende Inszenierung mit Leben zu erfüllen haben, sowie unter Inaugenscheinnahme des Publikums, das im Zuge des jeweiligen Theaterabends das „Ergebnis“ nachvollzieht, als ambitionierte Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, soll doch das ganze Projekt, womöglich mit dem Ruch der Vermessenheit verbunden zu werden, nicht unnötig in Gefahr stehen. „Gewagt, aber gelungen“ ließe sich frei formulieren in Anlehnung an den auf der Webseite des Stückes wiedergegebenen Kommentar in „Spiegel online“, der dort auch mit einem Hinweis auf den entsprechenden „Kraftakt durch kluge Regie und ein Star-Ensemble“ versehen ist. Das Stück lebt in der Lesart des Ausgangstextes wie auch der Bühnenfassung - und hier ganz besonders - von der Kraft des Wortes, um es ein wenig ebenso plakativ wie schlicht auszudrücken, und insofern ist die auch in manchen Presse- wie Publikumskommentaren lobend hervorgehobene hohe Qualität der Monologe und Dialoge durchaus zu bestätigen. Dass zuvörderst Wort, Satz und Text Aussagekraft und Ausdruckswillen des Stückes tragen, wird durch die mit Blick auf Bühnenbild, Accessoires und Requisiten als eher dezent zu charakterisierende Ausstattung der Szenerie untermauert. Bei Erwägung gerade der letztgenannten Aspekte inszenatorischen Wirkens und theaterspezifischer Darstellungsformen - Dominanz verbaler Ausdruckskraft sowie szenische Ausstattungsreduzierung - wäre wohl eher eine behutsame Einschätzung und Beurteilung von Handlung, Bühnenbild sowie Sprache gerade auch im zweiten Teil des Stückes angemessener als ein Urteil, das sich allzu eilfertig – und dies ist eine Anspielung auf die eine oder andere Meinungsäußerung vonseiten des Publikums - auf eine Herabwürdigung der Regie mit den Worten „langweilig“ oder „uninteressant“ kapriziert.
Schließlich ist die Arbeit der Darsteller zu würdigen, hierüber ist schon manches gesagt, wie sowohl den Publikumskommentaren als auch den Pressestimmen auf der entsprechenden Webseite zu entnehmen ist. Es liegt auf der Hand, im Zentrum der vorliegenden Bühnenfassung die hervorragende Leistung der Schauspieler zu sehen, deren Einfühlungsvermögen, deren Konzentration und ausgeprägte Sensibilität in der Wahrnehmung ihrer Rollen, vor allem auch deren Sprachgestus dem Theaterstück von geradezu epischem Charakter Ausdrucksstärke und Überzeugungskraft verleihen oder, um es selbst ein wenig poetischer zu sagen, der Romanadaptation „Leben einhauchen“. Diese wiederum lässt – und damit ist sie natürlich dem Ausgangstext verpflichtet - in ihrem Ernst und ihrer Schwere die tiefen Spuren extremer Situationen menschlichen Daseins, des damit verbundenen Leides und Schmerzes, überhaupt die ganze Härte der Lebenstragik, die allzu häufig um das Thema „Schuld“ kreist, anschaulich werden.

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Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil IV
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Auf Einladung wurde das Bühnenstück im Oktober 2013 auch in Russland aufgeführt, und zwar im Baltic House Theatre-Festival in St. Petersburg. Dabei ergingen sich die Pressestimmen aus Russland in Wohlwollen und Zustimmung, z.T. in Begeisterung, soweit dies auf der Website des Thalia Theaters festgehalten ist. Allein damit wird deutlich, dass man sich gegenseitig Respekt und Anerkennung zollt, was – wenn auch eigentlich selbstverständlich - als Zeichen der Hoffnung gesehen werden kann in einer Zeit, die damals schon einen spürbaren anti-westlichen Affekt seitens russischer Herrschaftseliten zunächst im Zusammenhang des sich anbahnenden Ukraine-Konfliktes (Assoziierungsabkommen mit der EU) erkennen ließ, mittlerweile durch Spannungen und Turbulenzen auf internationalem Terrain schlechthin gekennzeichnet ist. Offensichtlich gibt es – und dies sei in etwas ebenso abstrahierender wie verallgemeinernder Absicht angemerkt - auf bi- wie multinationaler Ebene immer wieder Bereiche menschlichen Zusammenwirkens, die sich als weitgehend immun erweisen gegenüber politischer Propaganda, Manipulation und Infiltration - vor Kurzem mit Blick auf Osteuropa noch auf dem Hintergrund mancher unheildrohender martialischer Gedanken- und Wortspiele, in welchen Abstufungen und auf welcher geographischen sowie politischen Seite auch immer.
Der vorliegende Kommentar soll nicht abgeschlossen werden ohne ein Resümee, das sich bezüglich der hier besprochenen Aufführung zu dem Qualitätsurteil einer überzeugenden Leistung versteht, und zwar in doppelter Aufmerksamkeitsrichtung sowohl auf die literarische Vorlage - hier wäre selbstverständlich von einer überragenden Leistung zu sprechen - als auch auf die Adaptation für die Bühne und damit auf das „Weiterleben“ einer Reihe aussage- wie ausdrucksrelevanter Elemente im Gestaltungs- und Wirkungshorizont der vorgängig in den Blick genommenen Inszenierung.


Dr. phil. Michael Pleister, d. 12.04.2015
Leserkritik: Saddam Hussein – A Mystery Play, Berlin
Einen schwächeren Eindruck als "The Civil Wars" hinterließ "Saddam Hussein – A Mystery Play" von Yonatan Levy aus Tel Aviv, das während des F.I.N.D.-Eröffnungs-Wochenendes im Schaubühnen-Studio zu sehen war. Die knapp einstündige Performance mit vier Akteuren hat ihren Ausgangspunkt bei einer in vielen politischen Reportagen beschriebenen Kuriosität: der irakische Diktator Saddam Hussein umgab sich mit Doubles, die ihn bei öffentlichen Auftritten vertreten und potentielle Attentäter verwirren sollten. Die vier Schauspieler und Tänzer ähneln sich aber weder untereinander noch dem längst gestürzten Politiker.

Es wird nicht ganz klar, warum Levy und sein Team sich zwölf Jahre nach dem Irak-Krieg noch mal mit den Akteuren befassen, die damals die Welt in Atem hielten: Saddam Hussein gegen George W. Bush (mit seinem Vize-Präsidenten Dick Cheney und seinem einflussreichen Berater Karl Rove im Hintergrund). Das Programmheft kündigte eine “Inszenierung zwischen Satire und Ritual, in absurden Szenen, verklärend-verwirrenden Texten, liturgischen Gesängen und aberwitzigen Choreographien” an.

Stattdessen erlebte das Publikum eine recht müde vor sich hinplätschernde Szenen-Folge, die noch dazu erstaunlich eindimensional blieb. Der Konflikt wurde monokausal auf die Gier nach Öl reduziert, weshalb sich die Schauspieler auch mit schwarzer Farbe übergießen und einschmieren mussten. Wenn man schon beschließt, sich mit diesem Konflikt zu befassen, wäre es doch viel interessanter gewesen, auch andere Facetten auszuleuchten: das Verhältnis von George W. Bush zu seinem Vater, der bereits 1991 in einen ersten Irak-Krieg mit Saddam Hussein verstrickt war; oder die religiösen Begriffe, die in den Reden des von evangelikalen Strömungen stark geprägten US-Präsidenten oft wiederkehrten.

Saddam Hussein – A Mystery Play. – Text und Regie: Yonatan Levy. Von und mit: Amir Farjoun, Nir Shauloff, Saar Székely, Yonatan Levy. – F.I.N.D. #15-Gastspiel von HaZira Performance Art Arena (Israel). – 1 Stunde ohne Pause

Festival Internationale Neue Dramatik 2015 vom 17. bis 26. April an der Berliner Schaubühne
Leserkritik: Das Glück hatte ich mir anders vorgestellt, Deutsches Theater Berlin
Leserkritik: Das Glück hatte ich mir anders vorgestellt - Deutsches Theater Berlin (23. - 25. April 2015)
Ein sensationeller Abend!! 21 Zwölf- bis Sechzehnjährige (!) spielen (und leben!) Szenen aus dem autobiografischen Roman "Warum das Kind in der Polenta kocht" (den ich mir anschliessend umgehend besorgt habe) von Aglaja Veteranyi, die sich entsetzlicherweise 2002 ertränkte. Ich konnte mich nicht sattsehen an den Gesichtern dieser jungen Menschen, ihrem Einsatz, ihrer Spielfreude und -besessenheit, der klugen, witzigen, erschütternden Inszenierung von Birgit Lengers und Yannik Böhmer. Ein großer Theaterabend, der beste bisher in diesem Jahr!

Ein Jammer, dass das Stück nur an drei Abenden lief und offensichtlich keine KritikerInnen von der Presse u.ä. zugegen waren...

http://mobil.deutschestheater.de/spielplan/anders_vorgestellt/
Leserkritik: Einige von uns, She She Pop am Schauspiel Stuttgart
'Einige von uns' - als Lehrstück angekündigt, war die Uraufführung am 14.05. im Staatstheater Stuttgart wohl eher ein Mysterienspiel, also ein liturgisches Drama, das in den Zusammenhang mit einem Gottesdienst gehört und in einem Kirchenraum stattfindet.

'Einige von uns', damit gemeint waren Akteure aller Bereiche, die an einem großen Schauspielhaus reibungslos zusammenwirken müssen, wenn etwas Gutes entstehen soll. Als Einführung bekommen die Zuschauer, die vorerst auf den hinteren Plätzen im Zuschauerraum platziert werden, wie vor ca. 20 Jahren im Filmraum der Schule, einen kurzen Lehrfilm über die Katakomben eines Theaters zu sehen. Danach werden die Zuschauer auf die Bühne dirigiert, wo eine frontale Stadionbestuhlung für Sie vorbereitet ist. Die Akteure aus den verschiedenen Bereichen des Theaters, stellen sich nun frontal zum Publikum auf und erzählen über sich, ihre Aufgaben, ihre Probleme und Konflikte wie sie sich in einer größeren Organisation so ergeben, teils einzeln, teils im Chor, immer aber in bedeutungsvoller sakraler Tonlage. Irgendwann bekommt das Publikum mit, dass die Texte die von den Akteuren gesprochen bzw. gesungen werden auf die Wand hinter ihnen projiziert werden. Als der/die Letzte das begriffen hat, schwebt vom Schnürboden herab eine Tafel, mit den Texten für das Publikum, das dieses dann andächtig im Chor vorträgt, dass man sich zeitweilig vorkommt wie in einer Kirche - es fehlt nur noch die Orgel.

Das Ganze zog sich noch eine ganze Weile aufklärerisch dahin, bis so ziemlich alle Fragen von Allen beantwortet und die Antworten noch einmal zusammengefasst waren. Aber irgendwie fehlte noch ein Schlusspunkt - und da die Publikumsbeschimpfung schon seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist, wurde eine Publikumserschießung angekündigt. Delegierte des Publikums durften zwar noch ein bisschen dagegen argumentiert, doch es war klar, dass die Waffenmeisterin ihren Auftritt bekommen musste. Man hätte rufen mögen, lieber erschossen werden als zu Tode gelangweilt zu werden!

Was bleibt mir Positives von diesem Abend? Einmal der Gedanke, dass das Theater eine Arche Noah ist, in deren Bauch alte Handwerkskunst überleben kann, die am aussterben ist, bzw. die schon ausgestorben ist. Und zum Anderen: Ganz zu Beginn, als das Publikum in den Saal geströmt ist hat es geglaubt, dass es dabei gefilmt wird, denn auf der Großleinwand könnte man sehen, wie sich das Theater füllt. Fast jeder Jeder hat nun versucht sich auf der Projektionsfläche wieder zu erkennen und weil das nicht gelingen wollte, durch Aufstehen, Winken usw. Bezugspunkte zu schaffen. Diese Bezugspunkte könnten nicht gefunden weil es sie nicht gegeben hat, denn der Film zeigte ein anderes Publikum, das zu einem anderen Zeitpunkt den Saal gefüllt hat. Darüber haben sich spontane Unterhaltungen und Kommentare entwickelt, zwischen Menschen, die ansonsten schweigend nebeneinander Platz genommen hätten.
Leserkritiken, Mephisto, Weimar: großer, gewaltiger Abend!
"Mephisto" nach dem Roman von Klaus Mann
Bühnenfassung von Robert Schuster und Nora Khuon, Regie: Robert Schuster, Deutsches Nationaltheater Weimar
Was für ein Triumph für Klaus Mann!
Eine ganz andere Inszenierung als in Halle, mal politisches Kabarett, mal ein Gespräch im Hause Thomas Mann mit dem anwesenden Herrn von Goethe, mal eine Aufrechnung der unwürdigen Rolle des Deutschen Nationaltheaters Weimar im Faschismus und danach, ein ergreifender Text von Jorge Semprún über einen femininen Jungen in Buchenwald, eine böse Abrechnung mit Gründgens und Mitläufer-Konsorten, ein großer, gewaltiger Theaterabend!
http://www.nationaltheater-weimar.de/de/index/spielplan/stuecke_schauspiel/stuecke_details.php?SID=1431
Leserkritik, Mephisto, Halle: packend, immens politisch
"Mephisto" nach Klaus Mann
Regie: Henriette Hörnigk, neues theater Halle
Es funktioniert! Es funktioniert!! Eine dreieinhalbstündige Adaption des "Mephisto", packend, immens politisch, unterhaltsam, keine überflüssige Minute. Wunderbar gespielt! Nur konsequent die Idee der cleveren Regisseurin Henriette Hörnigk, aus der problematischen Figur der "Juliette" eine Tunte zu machen. Der Schluss ein Triumph: Klaus Mann gross auf der Leinwand, alle verkriechen sich in ihre Löcher...
http://buehnen-halle.de/produktionen/mephisto-2014-2015
"You can' t go home again!"

(Anmerkung der Redaktion: Zur Nachtkritik dieser Inszenierung geht's hier entlang: http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10813:mephisto-am-neuen-theater-in-halle-adaptiert-henriette-hoernigk-klaus-manns-gruendgens-roman&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40)
Leserkritik: Der aufhaltsame Austieg des Arturo Ui zum 403. Mal am BE
Schon von weitem ist eine schnarrende Stimme über Megaphon zu hören: die traditionelle Balkonrede darf auch bei der 403. Aufführung von "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" nicht fehlen. Aber ausgerechnet zum Jubiläum – genau zwanzig Jahre nach der Premiere am Pfingstsamstag 1995 – hätte Heiner Müllers legendäre Inszenierung beinahe ausfallen müssen. Dank mehrerer kurzfristiger Umbesetzungen und mit Mut zum Improvisieren konnte das große Event am Berliner Ensemble dann doch stattfinden.

Das Stück stammt noch aus der Ära vor Claus Peymann. In den Archiven der Feuilletons ist nachzulesen, unter welchen recht schwierigen Umständen die Proben begannen: Heiner Müller hatte einen Machtkampf mit Peter Zadek hinter sich, der das Haus lange in Atem gehalten hatte. Die Geschäftsführung wünschte sich sehnlich einen Kassenhit und Müller habe sich zunächst gesträubt, Brechts Parabel über den Aufstieg Adolf Hitlers aus dem Jahr 1941 auf die Bühne zu bringen. Dem jungen Hauptdarsteller Martin Wuttke aus Gelsenkirchen traten einige Kollegen eher reserviert gegenüber, wie sich Stephan Suschke, Heiner Müllers damaliger Assistent, erinnert.

Die Besetzung war dennoch ein Glücksgriff: Wuttke wurde damals als Schauspieler des Jahres 1995 ausgezeichnet und trägt das Stück bis heute. Vom ersten Auftritt als hechelnder Hund bis zur finalen Machtübernahme nach Ausschaltung aller Gegner, zappelt er mit beeindruckend-nervöser Energie über die Bühne. Das Herzstück des Dramas ist und bleibt Uis Lehrstunde bei einem Schauspieler, der ihm zeigen soll, wie man sich in der Öffentlichkeit möglichst vorteilhaft bewegt und die Massen rhetorisch überzeugt. Bei der Premiere war der große Bernhard Minetti in dieser Rolle zu erleben. Nach dem letzten Vorhang ließ es sich Peymann nicht nehmen, die lange Reihe der Namen zu verlesen, die in Minettis Fußstapfen seitdem als Schauspieler zu sehen waren: kein einziges leeres Hemd darunter, und derzeit übernimmt Jürgen Holtz diesen Part. Das Aufeinandertreffen der beiden Schauspielgrößen Wuttke und Holtz ist der Höhepunkt des Abends und ein kabarettistisches Kabinettstückchen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25174-heiner-muellers-arturo-ui-feiert-am-be-sein-jubilaeum-martin-wuttke-nimmt-schauspielunterricht-bei-juergen-holtz.html
Leserkritik: Leonard Cohen im Theater Lübeck
Theater Lübeck: Zum Abschluss der Spielzeit eine Uraufführung

Wir sind Leonard Cohen

Lübeck, 5. Juni 2015. Das Lübecker Schauspiel bietet seit vielen Jahren mit großem Erfolg Liederabende – über die Beatles, Rio Reiser, Edit Piaf, Jim Morrison. Schauspieldirektor Pit Holzwarth hat selbst mehrere dieser Abende kompiliert. An diesem Freitag hatte seine neueste Arbeit "Leonard Cohen – I’m a hotel – Songs of love and hate" ihre gefeierte Uraufführung in den voll besetzten Kammerspielen.

Der kanadische Lyriker, Komponist und Sänger Leonard Cohen (81) ist für eine Darstellung auf der Bühne zweifellos ein harter Brocken. Im englischen Sprachraum wird er gefeiert. Aber auch in Europa ist er durch seine Tourneen bekannt geworden. Erst spät hat er zur Musik gefunden. Innere Ruhe wollte er auf einer griechischen Insel und in einem buddhistischen Kloster finden. Nachdem seine Managerin sein Vermögen unterschlagen hatte, musste er noch im Alter wieder "tingeln".
Der Leiter der Lübecker Bühnenmusik Willy Daum hat sechzehn Songs für seine fünfköpfige Combo und sieben Schauspieler arrangiert. Denn Pit Holzwarth – der sich für diese Produktion eingehend mit Cohen und seiner Philosophie befasst hat - lässt fast sein ganzes Schauspielensemble – Astrid Färber, Susanne Höhne, Vasiliki Roussi, Andreas Hutzel, Henning Sembritzki, Timo Tank und Jochen Weidenthal – als Leonard Cohen agieren. Das tun sie mit Hingabe und großer Brillanz auf einer äußerst schrägen Fläche in einem luftigen Pavillon (Ausstattung Werner Brenner). Warum allerdings in dieser Produktion so viel geraucht wird, bleibt dem Zuschauer verborgen. Über diese Zeiten sollten wir doch auch am Theater hinaus sein…

Handlung gibt es an diesem Abend kaum. Wie auch? Gerade einmal Cohens Zeit im Kloster lässt sich szenisch darstellen. Sonst beschränkt sich der Regisseur Holzwarth darauf, seine Darsteller weiße Küchenstühle hin- und hertragen zu lassen Die "Meditation über das Leben" erfolgt durch die Musik und gelegentliche Gespräche.. Der harte Beat entspricht sicher dem Lebensgefühl der jüngeren Generation, die im Premierenpublikum überwiegend vertreten ist. Die Älteren haben da ihre Mühe, sich hinein zu hören. Jedenfalls kommt diese Produktion gut an, wird mit viel Zwischenbeifall aufgenommen und am Schluss stürmisch gefeiert.

Weitere Aufführungen: 7.Juni, 18.30, 13., 23. und 25. Juni, 2. Juli, jeweils 20 Uhr.

http://www.theaterluebeck.de/index.php?seid=4&St_ID=719
Leserkritik: Muttis Kinder in der Berliner Bar Jeder Venunft
Christopher Nell, der Mephisto aus Robert Wilsons "Faust" am BE, ist Teil des beeindruckenden Trios "Muttis Kinder".

Mehr über den Auftritt der drei singenden Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich während des Studiums in Rostock kennengelernt haben, hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25184-muttis-kinder-beeindruckendes-schauspieler-trio-in-der-bar-jeder-venunft-nimmt-sich-zeit-zum-traeumen.html
Leserkritik: Nachtasyl in der Berliner Schaubühne
Wer gerne ein paar aufmunternde Botschaften mit nach Hause nehmen möchte, hat es an den Berliner Bühnen derzeit schwer: Johann Kresnik hämmerte uns in "120 Tage von Sodom" an der Volksbühne ein, dass der Turbokapitalismus uns alle unterjocht. Von Stephan Kimmig wurden wir mit Farid Nagims niederschmetternder These aus "Tag der weißen Blume" in den Sommerabend entlassen, dass die Lage in Russland ohnehin hoffnungslos sei und trotz aller Umwälzungen am Ende alles beim Alten bleibt. Am düstersten ist aber Michael Thalheimers neue Inszenierung an der Schaubühne.

"Nachtasyl" beginnt mit leisem Wummern, Bert Wredes Handschrift ist beim Soundtrack unverkennbar. Dieses Wummern bleibt uns 90 Minuten erhalten, die Monotonie dieses Klangbreis wird nur durchbrochen, wenn an einigen Stellen die Regler nach oben gedreht werden und die Bässe noch lauter wum mern. Auch Olaf Altmann ist ein bewährter Mitarbeiter von Thalheimer, seine eindrucksvollen Bühnenbilder z.B. bei "Medea" trugen dazu bei, dass Thalheimer-Inszenierungen zu einer starken Marke wurden: hohe Wiedererkennbarkeit, aber nach so vielen Jahren eben auch in der Gefahr, sich nur noch selbst zu kopieren.

Altmanns Bühnenbild verlangt den Schauspielern einiges an sportlichem Durchhaltevermögen ab. Nach und nach plumpsen sie in die Kloake. Das Milieu ist nicht nur für Freunde bildungsbürgerlicher Umgangsformen gewöhnungsbedürftig: wenn sich die Figuren einfach nur angiften, ist das nächste Brüllduell sicher nicht mehr weit. Sie verhöhnen sich, demütigen sich, der Sadismus trieft ihnen ebenso aus allen Körperöffnungen wie manche Flüssigkeit, die mit Knigge nicht vereinbar ist.

Vieles ist überdeutlich ausgepinselt und in seiner Botschaft schlicht, drei Figuren lohnen aber einen zweiten Blick: Neben Pepel und Luka ist das vor allem Wass ilisa (Jule Böwe). gemeinsam mit ihrem Mann leitet sie das Nachtasyl, in dem die unglücklichen Figuren gestrandet sind. Sie ist mit Abstand das fieseste Aas und zieht sadistisch alle Strippen.

Wie kann man in dieser trostlosen Kloake überleben? Wassilisa verfährt nach der Devise: Jeder ist sich selbst der Nächste. Mit einer Mischung aus Drohungen und geschickten Manipulationen versucht Wassilissa, alle gegeneinander auszuspielen, ihren Mann aus dem Weg räumen zu lassen und doch noch ein besseres Leben zu beginnen. Als sich alle in einer Traube um den Prediger Luka scharen, bleibt sie als einzige demonstrativ fern, lauernd in ihrer Ecke. Sie keift und bezirzt, faucht und umgarnt, und das alles mit einer Stimme, für die sie einen Waffenschein bräuchte. Bei der Tonlage, mit der sie ihrem Liebhaber, der sie verlassen möchte, ein verzweifelt-beleidigtes "Pepel! Pepel!" hinterherkräht, kann man gut verstehen, dass er nur noch weg will.

Händels opu lente Barockoper "Giulio Cesare in Egitto" (an der Komischen Oper zu sehen) scheint auf den ersten Blick ein Gegenprogramm zu Gorkis Elends-Panorama zu sein: hier ein “Happy-end” mit der Hochzeit des Traumpaars, dort hoffnungsloses Prekariat ohne Mut und Perspektive. Hier facettenreiche Arien mit großem Orchester, dort monotones, bedrückendes Wummern. Hier Schwelgen im Prunk der Ausstattung (ein besonderer Blickfang: die drei Krokodile in ihren Vitrinen!), dort verdreckte, heruntergekommene Gestalten.

Aber die Botschaft ist dieselbe: die Welt ist eine brutale, gewalttätige Kloake. Daraus gibt es kein Entrinnen: weder für Kleopatra, noch für Wassilisa!

Vollständiger Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25194-ist-die-welt-eine-kloake-oder-lohnt-es-sich-doch-zu-kaempfen-gorkis-nachtasyl-an-der-schaubuehne-und-haendels-giulio-cesare-in-egitto-an-der-komischen-oper.html
Leserkritik: Mahagonny im Theater Kiel
"Mahagonny": Die Kapitalismus-Anklage berührt nicht mehr

von Horst Schinzel

14. Juni 2015. Als vor 85 Jahren die Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" des Komponisten Kurt Weill (1901 – 1950) nach einem Textbuch von Bert Brecht in Leipzig uraufgeführt wurde, endete der Abend in einem handfesten Theaterskandal. Die Gesellschaft der Weimarer Republik goutierte diese Parabel von der eigens zu dem Zweck, die Mitmenschen auszubeuten, gegründeten und letztlich an ihrer inneren Zerrissenheit gescheiterten Stadt durchaus nicht. Seither haben wir erkennen müssen, dass andere Gesellschaftsformen genauso wenig erfolgreich waren. Und so hat sich diese Anklage gegen die Kapitalismus denn doch überlebt. Folgerichtig wird diese Oper nur noch selten gegeben – in Kiel zuletzt vor 39 Jahren.

Jetzt hat der als Fachmann über das unterhaltende Musiktheater gepriesene frei schaffende Regisseur Ansgar Weigner in seinem Kieler Debüt sich am Kleinen Kiel um dieses Werk bemüht.
Ihm ist ein überaus lebendiger Abend gelungen. In dem abwechslungsreichen Bühnenbild von Norbert Ziermann und den farbenfrohen Kostümen von Christof Cremer agieren Solisten wie der von Lam Tram Dinh einstudierteund von Viola Crocetti-Gottschall choreografierte Chor – in dem besonders die Solistinnen des Jugendchors gefallen – beweglich und mit Charme.
Das ändert nichts daran, dass die Aussage der Handlung heute nicht mehr beeindrucken kann. So bleiben die Zuschauer dieses Premierenabends höflich-unbewegt. Einzelne Ansätze zu Szenenbeifall verebben schnell. Und auch der Schlussbeifall ist nur etwas mehr als freundlich.

Er gilt vor allem den großartigen Solisten. Allen voran Michael Müller, der gesanglich wie darstellerisch eine eindrucksvolle Charakterstudie des unglücklichen Jim Mahoney abliefert. Neben ihm beeindrucken Marina Fideli und Agnieszka Hauser als schmierige – ihrem Fach sehr fremden – Leokardia Begbick und Jenny Hill Aber auch die übrigen Bewohner der erst von einem Hurrikan und dann von der eigenen Gier bedrohten Kleinstadt werden von Matthias Koslorowski, Ks Jörg Sabrowski, Fred Hoffmann, Andreas Winther Timo Riihonen und Martin Fleitmann überzeugend dargestellt. Leo Siberski – der sein Amt als Erster Kapellmeister zum Jahresende aufgibt – weiß den großen Apparat mit dem Philharmonischen Orchester geschickt zusammen zu halten. Schade, dass im letzten Drittel des zweiten Teils die Übertitlungsanlage versagt. Die Premierenzuschauer verlassen sehr nachdenklich das Opernhaus.

I
Leserkritik: Der Russe ist einer, der Birken liebt am Gorki Theater, Berlin
Cem (Dimitrij Schaad) ist der Sympathischste aus diesem Typen-Kabinett orientierungsloser Figuren und hält auch noch Kontakt zu Mascha (Anastasia Gubareva), als sie alle anderen Brücken hinter sich abgerissen hat. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie am Tod ihres Lovers schuld sei. Traumatische Erinnerungen an die Kindheit im Krieg brechen wieder auf. Sie entscheidet sich, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und geht nach Israel. Ihren neuen Job verliert sie schnell wieder und versucht, nach den Enttäuschungen mit den Männern nun mit einer Frau (Orit Nahmias) glücklich zu werden.

Nachtkritikerin Simone Kaempf ging mit “gemischten Gefühlen” von der Premiere im November 2013 nach Hause und auch die meisten anderen Kritiken waren wesentlich verhaltener als der einhellige Jubel der Feuilletons über Olga Grjasnowas Roman-Debüt "-Der Russe ist einer, der Birken liebt" (2012), das diesem Abend zugrunde liegt.

Die eingestreuten Songs und Anekdoten von Dimitrij Schaad, mit denen er ein neues Kapitel anmoderiert, eine willkommene Abwechslung von der mäßig interessanten Handlung. Vieles ist grotesk überzeichnet, manches immerhin gelungener Slapstick. Die größten Lacher erntet die Nazi-Karikatur Horst. Diese Kabarettnummern fügen sich mit der düsteren Schlussbotschaft der verstört am Boden kauernden Mascha, wie vergeblich alles menschliche Streben nach Glück doch sei, nicht recht zu einem stimmigen Ganzen.

Seit dieser Eröffnungs-Premiere am Gorki durften wir dort einige wesentlich stärkere Regie-Arbeiten von Yael Ronen erleben.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25318-der-russe-ist-einer-der-birken-liebt-am-gorki-schoene-musik-duesteres-ende.html
Leserkritiken: Die Lügen der Sieger
Ursina Lardi (Schaubühne) und Lilith Stangenberg (Volksbühne) in Christoph Hochhäuslers Polit-Thriller "Die Lügen der Sieger" im Kino.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25315-zwei-starke-filme-in-victorias-schatten-freistatt-und-die-luegen-der-sieger.html
Leserkritik: Dämonen, Berlin
Dieses Aufeinandertreffen von vier neurotischen Mittdreißigern in der Wohlstandshölle einer Designer-Küche ist sichtlich von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" inspiriert.

Frank und Katarina können nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander. Sie haben sich hoffnungslos ineinander verhakt. Demütigen und demütigen lassen ist das Prinzip ihres Aneinander-Vorbei-Lebens.

Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Noréns "Dämonen" ist eine gutgeölte Ehehöllen-Groteske, die manchmal etwas plakativ und zotig daherkommt, aber ansonsten treffsicher die Leiden von Paarbeziehungen aufspießt. Auch mehr als fünf Jahre nach der Premiere sorgen die Dämonen mit ihren zugespitzten Dialogen für viel Gelächter, ein volles Haus an der Schaubühne und langen Applaus.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25375-daemonen-an-der-schaubuehne-ein-stellungskrieg-der-sich-ehe-nennt-und-ratten-auf-dem-grabstein.html
Leserkritik: Die Ungehaltenen, Berlin
Hakan Savaş Mican und Necati Öziri nach dem Roman von Deniz Utlu: Die Ungehaltenen, Maxim Gorki Theater/Studio Я, Berlin (Regie: Hakan Savaş Mican)

Die Touristen, die “Skinny Jeans”, die Jutebeutel: Elyas ist wütend. Kreuzberg, seine Heimat verändert sich, verliert den Halt, der einzige, den der abgebrochene JuraStudent, Tod eines sterbenden Vaters, der nie Zeit für ihn hatte, je besaß. Die letzte Illusion von Heimat verschwindet für den Jungen, der da, wo seine Heimat zu sein hat, nie war, und an dem Ort, der als Heimatersatz diente nie mehr war als geduldet. Elyas ist ein Unbehauster, ein Haltloser, einer, der sich in die Lethargie geflüchtet hat, um nicht suchen zu müssen – nach Sinn, Heimat, sich selbst. Doch auch da kann er nicht, denn sein Schneckenhaus beginnt zu zerfallen. Er muss sich stellen: der Heimatlosigkeit, dem Schweigen der Familie, dem Vater, dessen pragmatische Kälte er stets mit Indifferenz zu strafen versuchte. Also konfrontiert er sich: mit dem Vater, mit der Heimat seiner Eltern, mit der eigenen Fähigkeit zu fühlen, zu lieben, der Unfähigkeit zu handeln. Deniz Utlus Roman Die Ungehaltenen befasst sich mit diesen doppelt Entwurzelten, jenen, die gegangen sind und nie ankommen dürfen, auch denen die geblieben sind, ohne je gegangen zu sein. Denn hier, in dieser Unbehaustheit treffen sie sich: der Kreuzberger Junge, der immer Türke sein soll, der abgeschobene Bochumer, der nicht Türke sein kann und die Eltern, die die Heimat nie hinter sich gelassen haben. Vater und Sohn, die nie wirklich miteinander sprachen und es nun nicht mehr können – sie teilen ein Schicksal.

Regisseur Hakan Savaş Mican inszeniert am Studio des Maxim Gorki Theaters die Suche, die dieses Schicksal ist und es vielleicht wenn nicht überwinden, so doch womöglich zu so etwas wie führen kann. Die Bühne (Sylvia Rieger) ist kahl, ein Drumkit, mehrere Instrumente, dahinter eine lange Sitzreihe aus grauen Plüschkissen. Ein Wartesaal verkleidet als Zuhause. Mehmet Ateşçí ist Elyas. Er wütet uns klagt und schimpft, verschließt sich, resigniert, spottet – und singt. Er probiert sie aus, alle möglichen Varianten, mit der eigenen Verlorenheit umzugehen. Er vergräbt sie unter Verachtung, schottet sich ab, und bekommt sie doch nicht los. Er verliebt sich und kann die Begehrte doch nicht festhalten, weil er sich sich nicht zu halten vermag – und sie, strauchelnd wie er, sich ebenso wenig. Er fährt in die Türkei, besucht das Grab des Vaters, spricht sich aus, doch bleibt es Monolog, kommt nichts zurück. Der Abend ist ein einziges Selbstgespräch. Die anderen drei Darsteller*innen sind Stichwortgeber, Projektionsflächen, Teile von Elyas, die er nicht akzeptieren kann oder weil und deshalb ausschließt. Doch sie lassen ihn nicht los, belagern ihn mit ihren Vorwürfen, ihren Augen (Mehmet Yilmaz’ stummer, mehr fragender als anklagender Blick als komatoser Vater), ihren Liedern und Melodien (Musik: Vulkan T.), die zwischen Heute und Gestern, Hier und Dort schweben. Stadtlandschaften erscheinen, die Dächer Berlins, dann die Istanbuls, dazwischen endlose vorbeiziehende Bänder namenloser Straßen und Autobahnen (Video: Benjamin Krieg). Ateşçí berührt die Leinwand und bleibt doch außen vor.

Mehr: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/30/der-nichtangekommene/
Leserkritik: Underdog, Kornél Mundruczós
Wie in Kornél Mundruczós Theaterarbeiten, die am Hamburger Thalia oder beim "Leaving is not an Option"-Festival im März 2014 am Berliner HAU zu sehen waren, treiben ihn auch in seinem Kinofilm "Underdog" die politischen Entwicklungen in Ungarn um.

Die Botschaft seines taz-Interviews von 2014 und dieses beeindruckenden Films ist: Europa darf nicht wegschauen, wenn mitten in der EU der ungarische Premier Victor Orbán und seine Fidesz-Partei Minderheiten ausgrenzen, das Verfassungsgericht entmachten und Freiheiten systematisch eingeschränkt werden.

Der Film spitzt sich mit Bildern, die sich ins Gedächtnis einbrennen, zu einer Politparabel zu: nicht nur Lili wehrt sich, sondern auch die Hunde. Hinter ihrem Anführer Hagen vereinen sie sich zu einer beißkräftigen, beängstigenden Kampfhund-Formation, die durch die Straßen rennt und sich an ihren Peinigern rächt. Die Anklänge an das Kinderfilm-Genre sind glänzend gefilmten Verfolgungsjagden und geballter Wut gewichen. In einem TV-Interview erzählte eine Hundetrainerin, wie aufwendig es war, bis sich die Hunde zu einer solchen Meute zusammenballten und als geschlossener Pulk gemeinsam losrannten.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25394-ungarische-politparabel-underdog-rache-der-kampfhunde-brennt-sich-ins-gedaechtnis-ein.html
Leserkritik: "Schlafe, mein Prinzchen" im Berliner Ensemble
Eigentlich sollte Franz Wittenbrink am Berliner Ensemble einen Liederabend zur "Villa Aurora" inszenieren: Lion Feuchtwanger hat dieses Anwesen in den Hügeln bei Los Angeles gekauft, als er vor den Nazis ins Exil fliehen musste. Das im spanischen Stil erbaute Schlösschen entwickelte sich in den 1940er Jahren zu einem Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Thomas Mann, Charlie Chaplin oder Bertolt Brecht gehörten zu den prominenten Gästen. Heute dient die Villa Aurora als Künstlerresidenz inklusive Stipendiatenprogramm, unterstützt vom Auswärtigen Amt und der Staatsministerin für Kultur.

Wer Wittenbrink-Abende kennt, die an vielen großen Häusern zu erleben waren, kann sich sehr gut ausmalen, wie ein "Villa Aurora"-Abend aussehen dürfte: ein unterhaltsamer Reigen aus Liedern, bunt gemixt aus verschiedenen Genres, ohne Scheu, zwischen E und U hin und her zu springen. Das würde bestimmt wieder gute Unterhaltung im typischen Wittenbrink-Stil, von dessen "schwebender Leichtigkeit" die Süddeutsche Zeitung einmal schwärmte.

Aber diesen "Villa Aurora"-Abend können wir uns bisher leider nur in unserer Vorstellung ausmalen. Wittenbrink entschied, dass er sich stattdessen viel lieber einem ganz anderen Thema widmen möchte, das ihn seit langer Zeit beschäftigt.

Anfang 2010 begannen die Nachrichtensendungen fast täglich mit schrecklichen Enthüllungen, an welcher eben noch hochangesehen Bildungs-Institution offensichtlich systematisch sexueller Missbrauch an Kindern betrieben und vertuscht wurde. Regisseur Franz Wittenbrink war damals in Sandra Maischbergers ARD-Talkrunde zu Gast und berichtete über seine Zeit bei den Regensburger Domspatzen in den 60er Jahren. Auch im Programmheft zu Schlaf, mein Prinzchen schreibt er über seine Zeit bei diesem Chor mit Weltruf und ehrwürdiger Tradition. Er erwähnt harte Strafen für Banalitäten wie einen fallengelassenen Bleistift und Schläge auf den nackten Hintern. Vor “direktem sexuellem Missbrauch” sei er verschont geblieben, vermutlich auch weil sein Onkel damals bayerischer Ministerpräsident war.

Der Dramaturg Steffen Sünkel berichtete bei der Einführung, dass die erste Reaktion an Claus Peymanns Berliner Ensemble war: Ein Liederabend zum sexuellen Missbrauch – kann das gut gehen? Wie passen die fröhlichen Songs und Wittenbrinks oft ironischer Stil, die das Publikum an so vielen Abenden mit einem Lächeln nach Hause gehen ließen, zu diesem bedrückenden, zu lange tabuisierten Thema? Das kann doch kaum funktionieren, oder?

Darauf gibt es hier eine Antwort: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25426-wittenbrinks-schlaf-mein-prinzchen-ein-klassik-pop-liederabend-zu-kindesmissbrauch-kann-das-funktionieren.html
Leserkritik: Dietrich Brüggemanns Film "Heil"
Im Kino: "Heil" von Dietrich Brüggemann - Nazi-Farce mit Theaterprominenz

Intendant Ulrich Khuon stellte das edle Foyer des Deutschen Theaters für die Dreharbeiten zur Verfügung, sein Sohn Alexander übernimmt einen kleinen Part als schnöseliger Moderator einer Akademie-Diskussion vor den elegant gekleideten Anhängern der Sarrazin-Thesen. Jerry Hoffmann aus dem Gorki-Ensemble spielt als Bestsellerautor Sebastian Klein, der von Nazis entführt wird, eine der tragenden Rollen.

Mehr über die Kalauer, Karikaturen und Kumpels in "Heil" gibt es hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25534-dietrich-brueggemanns-nazi-farce-kalauer-karikaturen-und-kumpels.html
Leserkritik: Löwenverleihung an Christoph Marthaler
Goldener Marthaler

Im Rahmen des 43. Festival Internazionale del Teatro wurde zwischen Marmorsäulen und Parkettboden am vergangenen Montag in Venedig die Verleihung des Silbernen und Goldenen Löwen vollzogen. Beim Eintritt in die ehrwürdige Sala delle Colonne am Canal Grande glänzen die zwei Löwen auf der Tribühne; von Offizieren bis Studenten, durchschwitzten Hemden bis Samtkleidern, ist versammelt, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen. In seiner Rede wies Paolo Barrata, der Chef der Theater Biennale, auf das seit drei Jahren bestehende College-Theater im Rahmen des Festivals hin: Studenten aus über 37 Nationen nehmen dieses Jahr an verschiedenen Workshops der Meister-Regisseure teil, deren Stücke zur Biennale eingeladen sind. Sie unterrichten während der Biennale Dramaturgie, Tanz und Theater.

Der Silberne Löwe ging an die Freie Gruppe um Serrano aus Barcelona. Alex Rigola, künstlerischer Direktor des Festivals, begründete diese Entscheidung mit der durch die Truppe voran gebrachte glückhafte Verschmelzung von Film und Theater. Nach ein paar Blitzlichern ging es auch schon weiter zu Christoph Marthaler; er bekam den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk, wie Rigola betonte für die das einfühlsame Verständnis zwischen Musik und Theater und der menschlichen Atmosphäre zwischen ihm und seinen Mitarbeitern. Marthaler dankte mit einer etwas saloppen Mini-Ansprache, dass er sehr gerührt sei. Italien sei für ihn immer ein wichtiges Land für die Arbeit und den Ausbruch aus der Schweiz gewesen. Auch wenn der Preis sein Lebenswerk auszeichnet, solle dies nicht bedeuten, dass er aufhöre. Beim nächsten Mal würde er sich gerne den "goldenen Elefanten" abholen. V.S.
Leserkritiken: Tartüff und Hamlet, Monbijoutheater Berlin
Klassiker-Bearbeitungen "Tartüff" und "Hamlet" im Monbijoutheater

An Tagen wie diesen, an denen die Sahara-Hitze neue Allzeit-Rekorde knackt, lädt das Sommertheater zu einem Besuch ein. Vor allem wenn es so schön gelegen ist wie das Monbijoutheater, das unter dem früheren Namen Hexenkessel Hoftheater noch bekannter sein dürfte: neben der Strandbar Mitte an der Spree, gleich gegenüber vom Bodemuseum, werden in dieser Saison zwei Klassiker im Doppelpack angeboten: "Tartüff" und "Hamlet".

Das Sommertheater wird zwar oft geschmäht, zuletzt in dieser Kolumne (http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11345:kolumne-als-ich-noch-ein-zuschauer-war-wolfgang-behrens-ueber-das-zweifelhafte-vergnuegen-des-sommertheaters-und-den-masochismus-des-publikums&catid=1503:kolumne-wolfgang-behrens&Itemid=100389), dennoch haben sich auch an diesem Abend so viele Besucher vorgenommen, sich ein eigenes Bild zu machen, dass das Amphitheater sehr gut gefüllt ist.

Den Tartüff bringen Regisseur Darijan Mihajlović, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur sowie als Professor auch schon serbischer Kulturstaatssekretär war, und sein katalanischer Dramaturg Maurici Farré, der von seinen Heiner Müller-Arbeiten an der Volksbühne bekannt sein könnte, recht frei nach Molière auf die Bühne: die Hilflosigkeit, mit der Orgon und seine Familie dem Heuchler so sehr auf den Leim gehen, dass sie ihm sogar den gesamten Besitz überschreiben, bietet dem Regieteam und dem Ensemble einige Steilvorlagen für einen turbulenten Abend.

Wild wuseln sie durcheinander, toben über die Ränge, schleichen sich auch mal ins Publikum. Denjenigen, die bei der freien Platzwahl mutig nach ganz vorne gingen, rücken die Schauspielerinnen und Schauspieler auch ganz hautnah auf die Pelle. Köpfe werden gestreichelt, Küsse angedeutet und Lektionen erteilt: „Erste Reihe ist immer Scheiße“, stichelt der Darsteller der Madame Pernelle, der sich als Rampensau besonders lustvoll ins Publikum wirft, aber früh verschwindet.

Die Szene, als Orgons Frau Elmire dem Tartüff eine Liebes-Falle stellt, bietet besonders viel Raum für Komödienspaß, der sich dann auch gerne in derbere und zotige Regionen vorwagt. Der Spuk endet, als der Sonnenkönig auf großen Stelzen hereinschreitet und die Familie per Dekret von Tartüff befreit, den Roman Kanonik als Mischung aus „Teddybär und Arschloch“ spielt, wie Friedhelm Teicke in der zitty schrieb.

Etwas weniger drastisch geht es bei der Tragödie des Dänenprinzen Hamlet zu, die Gabriele Blum und Peter Kaempfe von der bremer shakespeare company mit nur drei Schauspielerinnen und Schauspielern stemmen. Hausmeister Olsen weist das Publikum ein, wie es das neue Königspaar mit den verteilten rot-weißen Fähnchen zu bejubeln hat, und stöhnt am Ende darüber, dass er schon wieder so viel Blut wegwischen muss. Die drei Akteure wechseln flink die Rollen: die Gertrud muss auch den Polonius und den Rosenkrantz übernehmen, der Hamlet ist im nächsten Moment Güldenstern und ganz am Ende Fortinbras. Auch dieser Dramen-Klassiker schnurrt ebenso wie Tartüff auf gut verdauliche, unterhaltsame 90 Minuten zusammen.

Das Sommertheater im Monbijoupark ist nicht nur willkommene Abwechslung für Theatergänger, die im Sommer nicht nur unter der Hitze, sondern auch unter den Entzugserscheinungen der Spielzeitpause der großen Häuser leiden, sondern eignet sich auch als Einstiegsdroge für alle, die ihre Schwellenangst überwinden und sich in einem schönen Ambiente an die klassischen Stoffe und die Freude am Theater heranwagen möchten.

"Tartüff" und "Hamlet" sind noch bis 6. September 2015 regelmäßig im Monbijoutheater zu sehen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25640-tartueff-und-hamlet-im-monbijou-sommertheater-besser-nicht-in-die-erste-reihe.html
Leserkritik: El Dschihad, Berlin
Claudia Basrawi und Team: El Dschihad, Ballhaus Naunystraße, Berlin (Regie: Claudia Basrawi)

El Dschihad beginnt wie ein Abend Hans-werner Kroesingers: ein nüchtern-sachlicher investigativer Versuchsaufbau, der bis zur Ermüdung Akten wälzt, Zeitzeugen befragt und Informationen sammelt, zusammenfügt und interpretiert. Doch das ist ihm schnell viel zu mühsam. Und so verlegt er sich, statt Fragen zu stellen, auf das möglichst vielgestaltige, vordergründig ironisch gebrochene Präsentieren vorgefertigter Antworten, denen der historische Rahmen eine allzu einfache Erklärungsgrundlage gibt. Statt sich dahin zu begeben, wo es weh tun könnte, zeigt er uns lustvoll und immer mit einem Augenzwinkern, wie leicht wir uns manipulieren lassen, natürlich überzeugt davon, dass er dies selbstverständlich nicht tue. Er schürft nicht tief, sondern wirft uns plakative Erklärungsmuster um die Ohren, die leicht verdaulich verabreicht werden, attraktiv verpackt sind und sich leicht konsumieren lassen. Der Zuschauer kann sich zurücklegen und sich wie in einer besonders kreativ gestalteten Unterrichtsstunde von vorgekauten Wahrheiten berieseln lassen. Selbst zu denken, ist hier nicht von Nöten, alles ostbekömmlich dosiert, um keinen Widerstand herauszufordern. Wie sehr der Abend die Mittel nutzt, die er vorgibt, zu kritisieren, wird dabei wohl kaum jemandem bewusst, zu sehr lässt man sich im wohligen Gefühl des Wissenden ablenken. Dass das Ballhaus Naunynstraße, vor nicht allzu langer zeit Keimzelle neuer theatraler Blicke und Perspektiven auf Themen, die wir gern verdrängen, die neue Spielzeit mit einem so selbstgefälligen und denkfaulen Abend eröffnet, stellt mehr Fragen, als El Dschihad es über seine 70 Minuten Dauer hinweg tut.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/09/02/der-vorhang-zu-und-keine-fragen-gestellt/
Leserkritik - Tanz im August, Berlin I
Tanz im August: "Voronia", La Veronal, Schaubühne; "Bul-ssang", Korea National Dance Company, Volksbühne

In dieser Woche dominierte der Tanz auf den Berliner Spielplänen. Auf der Zielgeraden des Festivals „Tanz im August“ waren zwei Gastspiele von klangvollen Namen zu erleben. "Voronia" der katalanischen Gruppe La Veronal in der Schaubühne enttäuschte jedoch komplett. André Sokolowski (Kultura-extra) ärgerte sich über apokalyptischen Kunsthonig, Frank Schmid versuchte dem Jammertal in seiner kulturradio-Rezension noch etwas abzugewinnen, musste aber auch das bittere Fazit ziehen, dass dieser Abend in „pathosgetränkten Mummenschanz“ kippt.

Während das Publikum Platz nimmt, sind die Ensemblemitglieder aus Barcelona auf der Bühne damit beschäftigt, zum Spielzeitauftakt noch mal richtig durchzuwischen: in weißer Anstaltskleidung gehen sie mit Staubsauger, Lappen und Wischmop gründlich zu Werke. Am besten hätten sie es dabei belassen, in den kommenden siebzig Minuten folgt nur ein lieblos aneinandergeklatschtes Sammelsurium aus verrätselten Motiven der Kunst- und Religionsgeschichte. Der Abend verliert sich zwischen einem Fahrstuhl zur Hölle, einer leeren Tafel, einer Eisbärenmaske, einem kleinen Jungen, einem Lamm und dem Kurzauftritt von vier nackten Männern, die verzweifelt gegen die Wand hämmern, in Belanglosigkeit. Das Ganze ist von bombastischen Opernklängen unterlegt, die Tänzer winden sich schmerzverzerrt in Verrenkungen. Erstaunlich, dass nicht noch wesentlich mehr Besucher vorzeitig gingen.

Die Vorschusslorbeeren waren groß, bei „Tanz im August“ 2014 galt die Gruppe „La Veronal“ mit ihrem Vorgängerstück Siena als Überraschungs-Hit des Festivals. Ihr neuer Auftritt ist jedoch gründlich misslungen.

Stimmiger war das Gastspiel der Korea National Contemporay Dance Company in der Volksbühne: „Bul-ssang“ von Anh Aesson stammt aus dem Jahr 2009 und ist ein bonbonbunter Mix, der Tradition und Moderne aufeinderprallen lässt. Zu den coolen Beats von DJ Soulscape (am rechten Bühnenrand) tänzeln und springen die fünfzehn Artisten durch einen Parcours aus Buddha-Statuen und Konsumtempeln.

Der Versuch, die Zerrissenheit des asiatischen Landes zwischen dem Bewahren traditioneller Werte und Gangnam Style-Turbo-Beschleunigung zu zeigen, kommt phasenweise etwas platt daher. Dennoch ist Ahn Aesson und ihrem quirligen Ensemble zugutezuhalten, dass sie aus ihrer Grund-Idee eine schlüssige und auch unterhaltsam anzusehende Choreographie entwickeln. Für mehr als 60 Minuten hätte ihr Konzept aber kaum getragen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25705-25705.html
Leserkritik - "Cantatatanz", Nico and the Navigators, Zionskirche, Berlin
Einen deutlichen Kontrast zu diesem südkoreanischen Gastspiel setzte die Gruppe Nico and the Navigators mit der Wiederaufnahme von Cantatatanz (aus dem Jahr 2011) in der Zionskirche. In dem sakralen Raum herrschen an diesem Abend protestantische, karge Strenge und der Weltschmerz von Johann Sebastian Bachs Kantaten. Die japanische Tänzerin Yui Kawaguchi tritt zunächst verhüllt, fast wie unter einer Burka, in den Altarraum, während Countertenor Terry Wey sein „Bist Du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.“ (BWV 508) anstimmt. Beide umkreisen sich in den nächsten knapp 75 Minuten, nehmen sich nach und nach mehr Raum und navigieren durch das gesamte Kirchenschiff, so dass die Besucher auf den vorderen Plätzen die Wahl haben, sich die Hälse zu verdrehen oder über weite Strecken nur die Musik ohne die szenischen Bilder auf sich wirken zu lassen.

Dieses Experiment, Bachs „asketische Schlichtheit“ und „mathematische Klarheit“ („Nico and the Navigators“-Gründerin Nicola Hümpel in einem Interview mit dem Stadtmagazin tip) hat seinen ästhetischen Reiz. Gegen Ende hätte dem Stück aber noch ein stärkerer Regiezugriff gutgetan, da sich einige Längen eingeschlichen haben.

Womit haben wir es bei diesem Aufeinanderprallen von Tanz und christlicher Barockmusik im religiösen Raum zu tun? Hümpel grenzt sich in dem besagten Interview ab: „Nein, denn wir sind ja nicht Tanz. Wir waren immer: weder noch. Musiktheater sind wir in einem gewissen, noch nicht festgelegten Sinne. Bildertheater sind wir inzwischen auch nicht mehr, denn das finden wir bäh!“ Konsequenterweise war dieser Abend auch kein Bestandteil des „Tanz im August“-Festivals, sondern stand ganz für sich in der Berliner Kulturszene, gefördert von Bundes- und Landesmitteln.

Thematisch dockt Cantatatanz mit seinen Fragen nach dem Sterben, dem Jenseits und der Religion allerdings genau an das Spielzeit-Motto „Der leere Himmel“ des Deutschen Theaters Berlin an, das Intendant Ulrich Khuon bei der „Früh-Stücke“-Matinee mit seinen Regisseuren, Dramaturginnen und Schauspielern vorstellte. Ein Zufall der Spielplan-Gestaltung? Oder Untersuchungsmaterial für Soziologen, Kultur- und Religionswissenschaftler, die sich in ein paar Jahren intensiver damit befassen könnten, was diese geballte Auseinandersetzung mit den letzten Dingen über eine Gesellschaft aussagt, die zwischen Griechenland-Hilfspaketen und Anschlägen auf Flüchtlingsheime ganz offensichtlich darum ringt, neuen Halt zu finden?

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25705-25705.html
Leserkritik: "Hiob" in Bochum
Bochum, 06.09.2015 Hiob (nach dem Roman von Joseph Roth)
Die Premiere in den Bochumer Kammerspielen endete mit stehenden Ovationen für die Schauspieler, besonders Michael Schütz (als Mendel Singer) und Jana Schulz (als dessen Sohn Menuchin). Auf einer leeren, schrägen Bühne waren sie und Irene Kugler (als Deborah), Xenia Snagowski (als Mirijam) und Florian Lange, Damir Avdic und Klaus Weiss (alle in mehreren Rollen) immer sichtbar. Wer gerade in welcher Rolle agierte wurde teilweise durch minimale Requisitenausstattung deutlich. Die Jahre, die die Romanvorlage umfasst, wurden per Text verdeutlicht. Den Emotionen ließen die zumeist verhalten agierenden Rollen nur gelegentlich heraus. Und hier liegt wohl auch der Knackpunkt dieser Inszenierung. Während der Roman eine Hiobfigur als modernes Märchen des 20. Jahrhunderts entwirft, in dem ein einfacher und frommer jüdischer Lehrer zu einem Herausforderer Gottes wird, der durch ein Wunder wieder zum erträglichen Leben zurückfindet, kann diese Theaterfassung nicht die emotionale Dichte, ja vielleicht auch Rührseligkeit der Vorlage widerspiegeln, obwohl die manchmal etwas eigen - manchmal Nebensächlichkeitn zu stark betonende- wirkende Textfassung sich an den Roman hält. Mag der Widerspruch zwischen einem in Hose und Jacket gegkleidetem Mendel Singer, der erzählt, er würde einen Kaftan tragen, noch die Fantasie anregen, so ist eine vergleichbar spröde Textpassage über innere Stimmen, Gedanken und Gefühle im Theater bei so einer Vorlage vielleicht unpassend. Es wird ja kein Jelinek-Text inszeniert! Manche Versuche der Lichtdramaturgie versuchten emotionale Akzente zu setzen, zumal das Stück ohne Kenntnis des Romans nicht vollständig verständlich gewesen wäre. Dessen Humor wurde teilweise aufgenommen, dessen Ernsthaftigkeit in seiner Tiefe nur gestreift. Warum also ein kaum ironisches und nicht-metaphysisch dargebrachtes Stück eines Theodizeeproblems, erschließt sich dem Zuschauer nicht.Vielleicht könnten aber Lisa Nielebock (Regie) und Koen Tachelet (Textfassung) hier weiterhelfen.
Leserkritik: Fidelio in Lübeck
Viel Glanz zur Eröffnung der Spielzeit

von Horst Schinzel

7. September 2015. Vor dem Hause wurden Unterschriften für den ungekürzten Erhalt des Angebots des Lübecker Stadttheaters gesammelt. Und drinnen erlebten die Lübecker Theaterfreunde zur Eröffnung der Spielzeit an diesem Sonntag eine glanzvolle – wenn auch nicht widerspruchslos aufgenommene - Inszenierung von Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“. Die mit der Umsetzung betraute – an der Trave schon bekannte – freischaffende Regisseurin Waltraud Lehner aus Frankfurt hat der Versuchung nicht widerstehen können, das zweihundert Jahre alte Werk gegen den Strich zu bürsten. Generell spielt die Oper bei ihr im Hier und Jetzt. Wozu das etwas beängstigende Bühnenbild von Ulrich Frommhold beiträgt.

In der Eröffnungsszene bügelt Andrea Stadel als Marzelline nicht etwa die Wäsche, sondern zieht genüsslich an ihrer Zigarette. Dies auch in späteren Szenen. Ihr Verehrer Jaquino (Daniel Jenz) kommt als Hippie daher, der seine Gitarre malträtiert. Wenn die Gefangenen nach ihrem Hofgang in ihre Zellen zurückgeführt werden, werden sie mit Eis am Stil delektiert. Zwar singt Jean-Noel Briend als Florestan dem Textbuch gemäß „Gott, welch Dunkel hier“, aber in seinem Verließ ist es erstaunlich hell. Und in der Schlussszene tritt der von Joseph Feigl brillant einstudierte Chor als eben befreite Gefangene im dunklen Anzug und Abendkleidern auf. Wen wird es da wundern, dass sich in den Schlussbeifall vereinzelte Buh-Rufe mischen.

Das große Erlebnis dieses Abends ist, als Gast in der Rolle der Leonore die von Madagaskar stammende Yannick-Muriel Noah zu sehen und zu hören. Ihr Umgang mit der fremden Sprache ist beachtlich. Sie weiß zu spielen und zu singen. Sie führt ihre große Stimme bis in die Höhen scheinbar mühelos. Neben ihr glänzt Jean-Noel Briend als Florestan eindrucksvoll. In der sehr statuarischen Inszenierung haben es Taras Konoshchenko als Kerkermeister Rocco, Joachim Goltz als Gouverneur Don Pizarro und Steffen Kubach als Minister Don Fernando doch recht schwer. Dennoch bleibt der Abend nicht zuletzt durch das von Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri sicher geführte Orchester eine abgerundete Leistung, und das Premieren-Publikum geizt nicht mit Beifall.
Leserkritik: Hiob, Regie: Lisa Nielebock, Bochum
Hiob, oder: die Begegnung mit sich selbst

von Ulrich Sollmann

Bochum, 7. September 2015. Premiere im Schauspielhaus Bochum. Eröffnung der Saison in den Kammerspielen. Eine ungeschminkte Inszenierung, die gerade durch die Ästhetik der Einfachheit und Klarheit der Figuren besticht.

Die Geschichte ist einfach und schnell erzählt. Lisa Nielebock führte Regie und bringt es auf den Punkt: „Sein eigenes Leben mit allen Beschwerlichkeiten zu akzeptieren und in Gott zu vertrauen, ist das zentrale Motiv der biblischen Hiob-Geschichte“. Nielebocks Inszenierung macht unmissverständlich klar, dass man seinem eigenen Leben mit all seinen Schicksalsschlägen nicht entgehen kann.

In enger Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Joseph Roth verleiht Nielebock dem Stück „Hiob“ eine besondere Aktualität. Geht es doch um ein basales und existenzielles, man könnte fast schon sagen, ewiges Thema des Menschen: nämlich die Suche nach sich selbst. Indem man seine eigenen Schicksalsfragen an Gott richtet, schützt dies nicht davor, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Vor sich selbst Farbe zu bekennen, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

Indem man den Umweg über das Zwiegespräch mit Gott sucht, ihm alles Wirken zuschreibt, baut man sich seine eigene Schicksalsinstanz. Diese verkörpert die persönliche, unbewusst nicht eingestandene Ohnmacht. Und verlagert Selbstzweifel, Selbsthass aber auch Selbstliebe in eine Lichtgestalt, die man bekämpfen oder verehren kann. Je nach persönlicher Stimmungslage. Persönliches Schicksal wandelt sich unbemerkt in göttliche Vorsehung, göttliche Bestimmung oder göttliche Liebe. Schicksal kann somit nicht mehr als persönliches Schicksal wahrgenommen und gelebt werden.

Menschen handeln auf Erden, im Hier und Jetzt. Als Erwachsene müssen sie mit dem Leben, mit all seinen Besonderheiten, den vielfältigen Überraschungen und Schmerzen klarkommen. Trägt man doch eine umfassende Verantwortung, die sich zumindest in der Verantwortung darin spiegelt, dass man und wie man fühlt. Eine Verantwortung, die darin mündet, gerade dies Erleben als sein eigenes Erleben anzunehmen. Sich selbst dem eigenen Erleben hinzugeben.

Nielebock stellt die einzelnen Figuren in ihrer jeweiligen Besonderheit, ihrer Individualität und auch Einsamkeit auf die Bühne. Jeder hat seinen eigenen Platz. Jeder prägt das Bühnenbild auf seine eigenen Art und Weise.

Es erübrigt sich daher auch jegliches besonderes Bühnenbild. Gerade die Einfachheit besticht überzeugend. Und bietet Raum sowie die Möglichkeit, dass sich die einzelnen Figuren entfalten können, wo auch immer sie stehen und wirken. Ob aufeinander bezogen oder dadurch, dass sie die gefühlte Einsamkeit zum expressiven Ereignis werden lassen. Jeder für sich. Jeder als Ereignis für sich.

Mendels Zusammenbruch schließlich bringt die Wende. Enttäuscht von Gott, ohnmächtig dem unausweichlichen Strudel der eigenen Gefühle ausgeliefert, bricht er zusammen und erfährt in diesem Moment sich selbst. Und darum geht es ja schließlich: innerlich loszulassen, sich selbst (dem eigenen Schicksal) hinzugeben, das Leben als Leben und nicht als göttliches Schicksal zu erleben und anzunehmen.

Mendel kann schließlich (wieder oder zum ersten Mal?) am wahren Leben teilhaben, an seinem eigenen Leben teilhaben.

Nielebocks Inszenierung ist eine sensible, unmissverständliche und mahnende Einladung, (wieder) am lebendigen Leben teilzuhaben und nicht indem man den Umweg über das Zwiegespräch mit Gott sucht. Nicht auf die göttliche Vorsehung oder gar Erlösung zu warten. Und dabei das Leben zu verpassen.
Leserkritik: Hiob, Bochum: ernste Klarheit
Was für ein schöner, sensibler und ergreifender Kommentar! - Da kann man Frau Nielebock, ihrem Team und Bochum zu seiner Wahl von Regie und Vorlage nur gratulieren, wenn das bei auch nur einem einzigen Zuschauer dabei herauskommt! (Neidzerfrissmichnichtbitte!) Abgesehen davon, dass bei dieser ernsten Klarheit in so einem kleinen Text jeder dem Spott hingegebene Berufskritiker erblassen müsste...
Leserkritik: Publikumspreis in Gütersloh
Publikumspreis für „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“

Im Rahmen der Saisoneröffnungsfeier 2015/2016 wurde im Theater Gütersloh am Samstag zum ersten Mal der Publikumspreis „Güte-Siegel“ für die Theater-Saison 2014/2015 verliehen. Gewonnen hat das Staatsschauspiel Dresden mit Stefan Bachmanns Inszenierung „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“ von Friedrich Schiller, die im Oktober 2014 dort zu sehen war. Bürgermeisterin Maria Unger und der Künstlerische Leiter Christian Schäfer überreichten im Namen des Gütersloher Publikums Siegerurkunde und eine Siegertorte an Ines Marie Westernströer und Christian Clauß. Praktischerweise waren die beiden Schauspieler an diesem Abend im Haus, denn das Staatsschauspiel gastierte am Wochenende erneut mit Lessings „Miss Sara Sampson“ im Gütersloher Theater. Das überraschte Ensemble freute sich riesig!
Auf Platz 2 landete „Alice“ von Gauthier Dance Stuttgart, Choreographie von Mauro Bigonzetti, auf Platz 3 Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vom Deutschen Theater Berlin in der Inszenierung von Michael Thalheimer.
Leserkritik: Cyrano, Theater Bielefeld
Leserkritik: Cyrano, Regie: Thomas Winter, Bielefeld – Wolfgang Ueding

Bielefeld, 6. September 2015. Das Herausragendste am Titelhelden des ersten Musicals der Saison in Bielefeld darf man nicht beim Namen nennen. Darauf stößt uns die deutsche Indoor-Erstaufführung des niederländischen Singspiels von 1992 gleich in der ersten Szene mit der - na - Sie wissen schon. Schließlich kennt man den erfundenen „Cyrano de Bergerac“ aus vielen Filmen und Musicals und eigentlich schon seit 1897.
Damals machte sich Edmond Rostand in Frankreich einen folgenschweren Spaß mit dem echten Cyrano. Der führte ungefähr zur Zeit der drei Musketiere eine scharfe Klinge, eine freche Zunge sowie ein Adel und Kirche lästerndes Leben. Außerdem fabulierte er von seiner Reise zum Mond. Rostand verpasste seiner Version ein romantisch schmachtendes Herz und in rasenden Reimen einen historisch nicht belegten Riesenzinken. Oops. Jetzt ist sie heraus, die Nase, für deren Erwähnung der fechtende Poet jedem Prügel verpasste. Bis der Rüpel an die schöne Roxanne gerät und eine der großen Liebesgeschichten der Welt beginnt.
Genauer: eben nicht so richtig los geht. Denn erstens soll Roxanne der Familie wegen reich verheiratet werden, und der begattungswillige Graf Guiche fummelt ständig in die Handlung. Zweitens verguckt sich der schöne, kurznasige und ganz unpoetische Christian in das Fräulein. Weil er, drittens, gut Freund ist mit Cyrano, diktiert der Haudegen dem Trampel die Liebesbriefe und wirbt so über Eck um die Frau, die er sich wegen seines Gesichtshandicaps nicht selbst zutraut.
Das Drama spitzt sich zu, als Roxanne nun ihrerseits sich mehr in die wohlformulierende Seele Christians verirrt als in den schönen Körperschein. Und damit es richtig tragisch wird, schickt der böse Guiche die befreundeten Konkurrenten auch noch in den Krieg. Es entbrennt eine Schlacht um die Liebe, bei der alle verlieren, aber das Herz gewinnt.
Der Cyrano-Stoff wurde vielfach bearbeitet, als Oper, als Ballett, als Komödie mit Steve Martin, aber noch nie so, wie jetzt in Bielefeld. Musik und Liedtexte blieben, wie die Niederländer Koen und Ad van Dijk sie erfanden, nahe an Andrew Lloyd Webbers Phantom-Pop und den orchestralen Les Miserables. Dazu bastelte der Bielefelder Regisseur Thomas Winter gesprochene Passagen aus dem Originalstück von Rostand hinein, um die opulenten Bühnenszenen mit tanzenden Bäckern und Nonnen, und die furiosen Degenduelle mit gleichzeitig aufgesagten Spottgedichten besser zu verbinden. Außerdem tummelt sich manchmal mitsingendes Volk im Zuschauerraum, sodass dieser „Cyrano“ ein packendes Rundum-Spektakel wird.
Wenn auch in einem eher spärlichen Bühnenbild. Und leider ohne Hit und trotz manierlicher Klingenarbeit ohne echte Treffer. Sogar das Paradestück des Stoffs, bei dem der Nase-Weise (sorry!) sich spitz formulierend besser disst als sein Beleidiger, und bei jeder Pointe einen Stich setzt, geht im Gewühl eher unter.
Trotzdem: Wer Musicals mag, sollte seine Nase in dieses Stecken (sorry!).
Leserkritik: Katze im Sack, Theater Bielefeld
Leserkritik: Katze im Sack, Regie: Christian Schlüter, Bielefeld – Wolfgang Ueding
Bielefeld, 16. Mai 2015. Am Premierenabend gingen draußen gerade die Regionalliga-Aufstiegsfeierlichkeiten des lokalen Fußballvereins in die Verlängerung, da plante drinnen ein Neureicher seinen endgültigen Durchbruch zur Oberklasse. Durch Vortäuschung und Hinterlist. Er wird an Zufall und Verwechslung komisch scheitern, ganz wie schon am vorvorletzten Jahrhundertende. Damals wuppte sich Georges Feydeau gerade mit schnellen Lustspielen zum König des Pariser Vaudeville hoch. Heute verlegt Regisseur Christian Schlüter den dünnen Stoff in eine imaginäre 50er Jahre Welt. Der Kern aber bleibt.
Der Süßstofffabrikant Pacarel möchte gern außer reich auch noch anerkannt werden. Also bestellt er einen hoffnungsvollen Sänger aus der Provinz, bindet ihn vertraglich, und will ihn samt einer von seiner Tochter selbstgebastelten Oper am örtlichen Theater herausbringen. Das verspricht viel Ehre für die Familie und liefert wackelige Gründe für viele Verwechslungen. Denn natürlich ist der prompt erscheinende junge Mann nicht der Tenor, für den ihn alle halten. Und natürlich verliebt der sich in Pacarels Frau, hält sie aber für die dessen Freundes. Während Pacarels Tochter lieber dem Scheinsänger verfällt als ihrem aufgezwungenen Verlobten. Der nun wieder hat einen Sprachfehler, den er aber auch nur vortäuscht, weil er sie gar nicht will und weil diese Sorte Komödie einfach jeden albernen Trick benutzt. Um ihn mehrfach zu brechen, was es noch lustiger macht.
Vertauschte Briefe, verpatzte Verabredungen, amouröse Peinlichkeiten und eine offensichtliche Lust an der Unmoral im Verborgenen treiben sämtliche Fälscher mehrfach wechselnd zu Fast-Paaren. Ein paar modernere Anspielungen auf „Monty Python“, „The Big Lebowski“, „Saturday Night Fever“ und, jedenfalls am Premierenabend, die Arminia, heben die brüchige Spießigkeit des Adenauer-Settings nicht auf. Sie dienen bloß dem Effekt und bieten den Schauspielern Gelegenheit für Körperkomik. Besonders Christina Huckle als irrtümlich Geliebte und Oliver Baierl als irrtümlicher Aufsteiger nutzen die weidlich.
Am Ende feierten draußen vor dem Theater Am Alten Markt immer noch einige Aufsteigerfans mit einem kleinen, verkehrsbehindernden Feuerchen. Fast als Fanal gegen das dem Original gehorchenden happy ending. Kauf' nicht die Katze im Sack. Glaub' nicht, das Glück liege in der Klassenerhebung. Auf der Bühne führt das amoureske Doppelbodenbrechen nämlich zu gar nichts außer Spaß.
Leserkritik: El Dschihad, Ballhaus Naunynstraße Berlin
„El Dschihad“: Dokumentartheater ohne klaren Zugriff

Das Projekt von Claudia Basrawi und ihrem Team klingt sehr interessant: zur Spielzeiteröffnung des Ballhaus Naunynstraße wollten sie in einem Dokumentartheaterabend dem facettenreichen Begriff "El Dschihad" auf den Grund gehen. Ein naheliegender Gedanke in einem Jahr, das mit dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" begann, in dem Meldungen über Geiselnahmen oder Zerstörungen von Kunstschätzen durch den IS einen Stammplatz in den Nachrichten haben und in dem ein Ende des syrischen Bürgerkriegs und des Leids der Flüchtlinge noch längst nicht abzusehen ist.

Dem El Dschihad-Abend ist auch einige Rechercherabeit anzumerken: aus den Archiven wurde beispielsweise ein Plan aus der Ära des deutschen Kaiserreichs ausgegraben. Max von Oppenheim wollte muslimische Kriegsgefangene in einem sogenannten „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin mit islamistischen Ideen aufwiegeln und „die ganze mohemmadanische Welt zum wilden Aufstand entflammen“. Ausgerechnet dort, wo nur noch die Überreste einer hölzernen Moschee an die Instrumentalisierungsversuche aus dem Kaiserreich erinnern, soll demnächst ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge entstehen.

Es gäbe also genügend Ansatzpunkte für einen anregenden, lehrreichen Theaterabend. Dass das Projekt nicht gelungen ist, liegt vor allem daran, dass Claudia Basrawi, die den Abend mit einem autobiographischen Monolog eröffnet, und ihre Mitspieler Elmira Bahrami, Erdinç Güler, Mario Mentrup und Rahel Savoldelli ihr Material nicht in den Griff bekamen.

Mit gespielter Naivität stellen sie sich gegenseitig Fragen, spielen Experten-Interviews nach und springen durch die Jahrzehnte. Sie bemühen sich sehr darum, das ernste Thema möglichst komisch zu präsentieren, verheddern sich aber in einer Aneinanderreihung kleiner Schnipsel. Der Erkenntnisgewinn blieb deshalb leider gering. Schade, dieser Stoff hätte wesentlich mehr hergegeben.

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Leserkritik: Zwei Herren aus Verona, Berliner Ensemble
Zwei Herren aus Verona, Berliner Ensemble, Pavillon

„Zwei Herren aus Verona“: Ernst Busch-Hochschüler holen aus Shakespeares Frühwerk das Beste heraus

Eine schlechtere Ausgangssituation hatten die sieben Studentinnen und Studenten der HfS Ernst Busch, die unter der Regie von Veit Schubert Zwei Herren aus Verona im Pavillon des Berliner Ensemble einstudierten. Diese Komödie gehört zum Frühwerk von William Shakespeare und ist vermutlich 1590/91 entstanden. Dass dieses Stück im Gegensatz zu Othello, Hamlet oder Romeo und Julia kaum auf den Spielplänen steht, hat seine Gründe: viele Themen und Motive werden angerissen, der Schluss wirkt unglaubwürdig. Die Dramaturgin Anika Bárdos urteilte bei der Einführung im Gartenhaus, dass es sich um einen Text voller Anfängerfehler handele, weil Shakespeare zu viel gewollt habe.

Dennoch schaffen es die jungen Talente, aus diesem Stoff einen wunderbaren Theaterabend zu machen. Die Übersetzung von Frank Günther wurde auf eine knapp zweistündige Fassung klug gekürzt, ihr frischer Ton und die schnellen Rollenwechsel sorgen für eine komischen, schwungvolle Inszenierung.

Aus dem sehr guten Ensemble ragen Leonard Scheicher und Felix Strobel als Valentin und Proteus heraus: der beste Freund wird im Streit um die begehrte Frau zum Intriganten. Zwischen all den Verwicklungen um nicht abgeschickte Briefe, chancenlose Nebenbuhler, sächselnde, aus Klappen im Boden auftauchende Waldbewohner und kauzige Kammerdiener bleibt genug Raum für eine feine Charakterisierung der Hauptfiguren. Zu dem gelungenen Theaterabend trägt auch die schöne musikalische Untermalung bei. Schon bevor sich der Vorhang hebt, gibt Felix Strobel mit der Gitarre eine Kostprobe seines Könnens.

Die Zwei Herren aus Verona sind seit ihrer Premiere im Dezember 2014 ein Publikumserfolg auf der kleinen Bühne des Berliner Ensembles und bieten die Chance, vielversprechende Talente bei ihren ersten Karriereschritten zu erleben.

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Lesereinwurf: warum nicht Darmstadt?
Liebe nachtkritik, bei aller Liebe, ich muss da mal ein paar Zaubersprüche loswerden:
Ein Theater, wie jenes in Darmstadt, das immerhin nach einer wie auch immer relevanten, aber national weltberühmten Kritikerumfrage in Deutschland auf Platz 3 gelistet wird, und auf nachtkritik.de schonungslos in die klickzahl- und werbeeinahmeträchtigen Schlagzeilen gehoben wurde, als es mal im Personalgebälk krachte, wäre doch auch mal einen klitzekleinen Kritikerbesuch zur Saisoneröffnung wert. Wenn schon nicht zur gestrigen Premiere, dann doch wenigstens zur heutigen. Selbst die Besprechung einer weiteren Vorstellung wäre ja schon mal ein Fortschritt zur bisherigen Nichtbeachtung Darmstadts, die schon erwähnte einmalige Aufregung einmal beiseite gelassen. Obwohl selbst diese doch auch ein Grund wäre, mal zu berichten, wie es in Darmstadt weitergeht, oder ob, und überhaupt.
Andernfalls müsste ich leider mit Ariel und Caliban ein paar für euch dann eher unerfreuliche Takte wechseln, ihr wisst, das kann ich...
Calibanistan, 1611


Lieber Prospero,

In der letzten Spielzeit haben wir Darmstadt bereits gut abgedeckt. Um den "Sturm" wurde hier auch sehr gekämpft. Aber die Inszenierung kam an einem Tag heraus, als im deutschsprachigen Raum insgesamt 20 Premieren stattfanden. Etwa 50 können wir im Monat insgesamt nur besprechen. Besonders zu Spielzeitbeginn kriegt man dann nien alle Eröffnungspremieren unter. Da müssen wir manchmal Entscheidungen treffen, über die wir selber nicht glücklich sind. Unsere Berichterstattung über die Personalien hatte nichts mit Klickkalkül zu tun, sondern schlicht mit der Tatsache, dass wir es als unsere journalistische Aufgabe betrachten, diesen Themen eine überregionale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber daran sehen Sie auch: Wir haben Darmstadt im Blick und werden sicher ein amderes Mal kommen.

Herzliche Grüsße ais der Redaktion, Esther Slevogt
Leserkritiken: Back to Black
„Back to Black“: Tänzeln um den Tod in der Box des Deutschen Theaters

Der Anfang des Abends wirkt fast wie ein Meditationskurs: die Box des Deutschen Theaters ist bis auf Notbeleuchtung abgedunkelt, mit sonorer Stimme fordern die drei DT-Ensemblemitglieder Katrin Wichmann, Markwart Müller-Elmau und Thorsten Hierse das Publikum auf, sich auf die Dunkelheit einzulassen und die kommenden 90 Minuten über Kopfhörer zu verfolgen.

Das Regie-Duo Auftrag: Lorey, das sich selbst an der Grenze zwischen Performance und installativer Kunst verortet, hat sein „Back to Black“-Experiment im Programmheft als Schule für die Wahrnehmung folgendermaßen theoretisch aufgeladen: „Die Dinge, die uns umgeben, sind nicht einfach da und müssen nur passiv wahrgenommen werden. Unser Gehirn konstruiert sie, indem es alle Sinneseindrücke miteinander verbindet, verarbeitet, filtert und formt. Mithilfe einer spezifischen Zuschauersituaton trennen Auftrag: Lorey die Ebene der akustischen Wahrnehmung von der visuellen. Dahinter steckt der Versuch, die Wahrnehmung darauf zu lenken, wie wir wahrnehmen und mit der gleichzeitigen An- und Abwesenheit von Sinnesinformationen zu spielen. Hier eröffnet sich mithilfe des Theaters ein Raum, unser Verständnis von Tod als kulturelles und geschichtlich bedingtes Konstrukt zu erkennen. Darin liegt die Chance, die eigenen Wahrnehmungsmuster und die Gestalt der eigenen Realität zu befragen.“

Als das Licht wieder angeht, geht der Abend zum Glück nicht so verquast weiter. Zunächst schildern die Schauspieler sehr persönliche Erlebnisse, wie sie mitten im Alltag mit dem Tod konfrontiert wurden. Katrin Wichmann erzählt von einem Workshop mit Flüchtlingskindern in diesem Sommer, bei dem ein Jugendlicher ertrank. Thorsten Hierse berichtet von einem Ausflug, bei dem seine Mutter plötzlich das Bewusstsein verlor und erst nach einigen Minuten wiederbelebt werden konnte.

Im Saal wurde es bei diesen traurigen Schilderungen sehr still. Die Schauspieler legen nun schnell den Schalter um und versuchen für den Rest des Abends, auf möglichst humorvolle Art um die Themen Sterben und Tod zu kreisen. Katrin Wichmann stimmt den Gute-Laune-Song Dumb Ways to die an, ihre beiden Mitstreiter schlenkern mit ihren Armen und Beinen – genauso wie die Animationsfiguren im Video. So leichtfüßig tänzeln die Drei um ihr Thema auch im Rest des Abends herum, der streckenweise aber zu leichtgewichtig daherkommt.

Assoziativ kommen sie vom Hundertsten ins Tausendste, springen von den Sterbeszenen, die sie schon immer mal spielen wollten, über die letzten Worte und Mahlzeiten in US-Todeszellen zu einem weiteren Web-Video, das eine Anleitung gibt, wie man den eigenen Tod fingiert und dann – am besten in der Ostukraine – untertaucht. Wir erfahren außerdem, dass das Kunstblut am Deutschen Theater nach Himbeere schmeckt. Ganz basisdemokratisch wurde das ausdiskutiert, zur Auswahl standen noch die Geschmacksrichtungen Erdbeere und Pfefferminz.

Während Thorsten Hierse im Kugelhagel zu Boden sinkt und sich langsam eine Kunstblutlache um ihn herum ausbreitet, fragen sich seine Kollegen Katrin Wichmann und Markwart Müller-Elmau gegenseitig, was sie unbedingt noch erleben möchten, bevor sie sterben: ein Jahr in Paris leben, in einem Kostümschinken á la „Sissi“ mit wallenden, schönen Kleidern mitspielen, lange Gespräche mit guten Freunden führen. Als das Ping-Pong nach einigen Runden endet, hat das Publikum einen streckenweise unterhaltsamen Abend überstanden, der sein Thema nicht recht zu fassen kriegt, aber uns immerhin mit der interessanten Frage in den Herbst-Abend entlässt: Was will ich
vor dem Sterben unbedingt noch erleben?

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Leserkritiken: Diskussionsveranstaltung "Streit ums Politische"
"Streit ums Politische: Heimatloser Antikapitalismus?" im Studio der Schaubühne: den populistischen Bewegungen auf der Spur

Die Flüchtlinge werden wohl bald wieder vor verschlossenen Türen stehen, prognostiziert der Soziologe Heinz Bude zum Auftakt der Gesprächsreihe „Streit ums Politische“, die an der Schaubühne in Kooperation mit der Vodafone-Stiftung fortgesetzt wird. Seine düstere Analyse: die gesellschaftliche Mitte droht zwischen wachsendem Prekariat und einer reichen Oberschicht zerrieben zu werden. Der demokratische Kapitalismus kann seine Versprechen kaum noch einlösen. Linke Volksparteien werden fast in ganz Europa zum Auslaufmodell, neue Bewegungen entstehen am rechten Rand.

Am ersten von vier Abenden, die sich mit dem „heimatlosen Antikapitalismus“ auseinandersetzen wollen, ist Claus Leggewie zu Gast. Der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen engagierte sich in der 68er-Protestbewegung und hat die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über gesellschaftliche Konflikte in den vergangenen Jahrzehnten mit zahlreichen Veröffentlichungen mitgeprägt.

In einer Tour d´horizon skizzierte Leggewie das antikapitalistische Denken der vergangenen anderthalb Jahrhunderte als ein „freiflottierendes“ Phänomen: Noch in den 1940er Jahren war Kapitalismuskritik auch in den westlichen Gesellschaften tief verwurzelt, ein bekanntes Beispiel ist das ganz der katholischen Soziallehre verpflichtete Ahlener Programm der CDU von 1947.

In den Nachkriegsjahrzehnten ist es gelungen, den Kapitalismus durch den Sozialstaat zu domestizieren und breite Bevölkerungsschichten am Wohlstand eines „Spätkapitalismus auf Pump“ teilhaben zu lassen: In den 1970ern kam es zu einem markanten Einschnitt: der Club of Rome und die Ökologiebewegung stellten die Frage nach den Grenzen des Wachstums. Maoistische und trotzkistische Kadergruppen debattierten an den Universitäten über die aus ihrer Sicht bevorstehende Revolution. Weltpolitisch setzte sich jedoch plötzlich die Deregulierungsphilosophie der Chicago-Schule in den Regierungsprogrammen von Thatcher und Reagan durch, China begann seinen langen Marsch in den Staatskapitalismus.

Leggewie zeichnete das Bild einer seit den 80er Jahren anhaltenden Dauerkrise. Gleichzeitig erstarkte der Populismus an den Rändern, vor allem dort ist der antikapitalistische Diskurs heute zu Hause. Die Front National-Vorsitzende Marine Le Pen wettert gegen die Ausbeutung billiger „Arbeitssklaven“, auf der linken Seite des politischen Spektrums wird Jeremy Corbyn mit seiner entschiedenen Absage an Tony Blairs „New Labour“-Kurs und der Forderung nach Verstaatlichungen der umjubelte Star der Urwahlen um den Parteivorsitz in Großbritannien.

An dem Abend dominierte die Ratlosigkeit, mit welchen Rezepten man diesem Populismus begegnen und kritisches politisches Denken wieder satisfaktionsfähig machen kann. Rückbesinnung auf die Rezepte von John Maynard Keynes? Oder eine sozial-ökologisches Modernisierung, die sich Rot-Grün auf die Fahnen geschrieben hatte, bevor Gerhard Schröder das Ruder übernommen hat?

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Leserkritiken: Schwankender Westen
"Schwankender Westen" mit Udo di Fabio und Harald Schmidt, Auditorium Friedrichstraße

Wann haben wir eigentlich das letzte Mal etwas von Harald Schmidt gehört? In diesem Jahr, in dem sich die Schlagzeilen nur so überschlagen, wird so richtig klar, welche Leerstelle er hinterlassen hat. Harald Schmidt fehlt mit seiner bissigen, manchmal auch zynischen, immer lebensklugen Rundschau über die Aufgeregheiten des Politikberiebs und mit seinem Spott über aufgeblasene Nichtigkeiten im Medienbusiness und Kunstgewerbe.

Am Donnerstag Abend durften wir ihn auf Einladung des C.H.Beck-Verlags im Auditorium Friedrichstraße erleben. Es war absehbar, dass er sich bei der Buchvorstellung von Schwankender Westen des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio nicht brav auf die Rolle des Stichwortgebers beschränken würde. Harald Schmidt lief sich im Lauf des Abends wieder warm, setzte hier einen kleinen Nadelstich mit einer Anekdote über die schon fast vergessenen „Stuttgart 21“-Wutbürger, ließ dort eine kleine Sotisse aus dem Gehege seiner Zähne fallen.

Ansonsten bot der Abend wenig Neues: in gewohnt selbstverliebter Art zitierte Udo di Fabio seine bekannten Stichworte von Pico della Mirandola bis zur normativen Doppelhelix. Wer wollte seiner Gegenwartsanalyse widersprechen, dass wir uns in einem merkwürdigen Schwebezustand zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Öffnung der Grenzen und neuen Kontrollen befinden?

Schmidt und di Fabio endeten am selben Punkt wie Leggewie und Bude: der Druck der Populisten macht es den „Krawattenträgern“ und „Eliten“ schwerer, auf die Krisen besonnen zu reagieren. Di Fabio konstatierte „Verkantungen“ und fragte bang, ob die Stabilitätskultur der gesellschaftlichen Mitte noch tragfähig sei.

Das Selbstbewusstsein der westlichen Gesellschaften sei durch Finanz- und Staatsschuldenkrise erschüttert, die Träume á la Francis Fukuyama von einer Idylle nach 1989 geplatzt. Als Ausweg hatte di Fabio nur anzubieten, dass wir unser kulturelles Erbe besser kennenlernen und unserer Identität selbstvergewissern müssten: das sind natürlich Steilvorlagen für weitere bohrende Sticheleien von Schmidt, der mit Seitenhieben und Anekdoten die Frage umkreiste, was sich denn nun eigentlich hinter den Schlagworten vom kulturellen Erbe des Westens und der Aufklärung verberge.

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Leserkritiken: Dracula, Oldenburg
Dracula in Oldenburg Kleines Haus.

Premiere mit berechtigt tosendem Applaus. Schauspieler bis auf einen gebremsten Dracula wunderbar, was aber nicht stoert.

Bild, Ton, Ausstattung, Kostuem ueppig und lustig.

Komplett perfekte Uebertragung ins Element of Crime. Herzzerreisend lustig ohne beliebigen Trash.

Keine Minute Spannungsabfall. Grosse Projektion ohne Videokunstmuell.

Muss man hin und nur wenige Spieltage.
Leserkritiken - Rainald Grebes "Westberlin" an der Schaubühne
„Westberlin“: Rainald Grebes Nostalgie-Revue an der Schaubühne

Sieben Zeitzeugen, echte „Insulaner“ aus dem Kalten Krieg, machen sich gemeinsam mit Rainald Grebe auf eine Zeitreise nach Westberlin.

In einer runtergekommenen, verqualmten Kaschemme hängen sie ihren Jugenderinnerungen nach. Evelyn, mit 84 Jahren die Älteste, berichtet von den Rosinenbombern der Luftbrücke. Die Jüngeren erzählen von ihren Erlebnissen auf dem Straßenstrich hinter dem Bahnhof Zoo oder einem gescheiterten Experiment in einem besetzten Haus im hintersten Winkel Kreuzbergs: die Kommune kapitulierte am Ende vor den Bergen ungespülten Geschirrs und der Ratten.

Zwischendurch werden berühmte Szenen wie der Sprung des Grenzsoldaten am Tag des Mauerbaus nachgespielt. David Bowie, Rolf Eden, Wolfgang Neuss und Christiane F. geistern durchs Bühnenbild, gegen Ende wird der Birkenwald aus Peter Steins „Sommergäste“-Inszenierung beschworen, die 1974 an der Schaubühne damals noch am Halleschen Ufer Premiere hatte.

Die Zeitzeugenberichte sind authentisch. Der Rest des etwas mehr als zweistündigen Abends kommt streckenweise unterhaltsam, aber doch wesentlich uninspirierter daher, als wir es von Rainald Grebe gewohnt sind. Der gebürtige Kölner, der mit seinen Oden auf Thüringen, Brandenburg und die Pärchen in den gentrifizierten Wohngebieten von Mitte und Prenzlauer Berg bekannt wurde, fremdelt auf West-Berliner Terrain.

Der Grundton des Abends ist nostalgisch, der Altersdurchschnitt des Publikums recht hoch. „Far Out“ und „Dschungel“ sind Geschichte und von denen, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Frontstadt prägten und an diesem Abend aufgezählt werden, lebt auch niemand mehr: Harald Juhnke, Brigitte Mira, Günter Pfitzmann, Otto Sander… Am stärksten bleiben die beiden Gesangseinlagen in Erinnerung, als das gemischte Ensemble aus West-Berliner Bürgern und Schaubühnen-Profis „Heroes“ von David Bowie anstimmt und Iggy Pops „The Passenger“ covert.

Bleibt nur noch die Frage: War West-Berlin wirklich so piefig, wie es bei dieser Show am Ku’damm dargestellt wird?

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Leserkritiken - Thisisitgirl im Studio der Schaubühne
"Thisisitgirl": Feminismus-Revue zwischen Lachen und Kopfschütteln im Studio der Schaubühne

Als einen „Abend über Frauen und Fragen und Frauenfragen für Frauen und Männer“ hat die Schaubühne ihre neue Produktion „thisisitgirl“ angekündigt. Herausgekommen ist ein typischer Patrick Wengenroth-Abend: temporeich, mit Hang zu stark überzeichneter Komik und Travestie, manchmal aber gefährlich nah am Trash. Ein Abend, bei dem die eingeflochtenen Diskurs-Schnipsel feministischer Theorie nur eine Nebenrolle spielen und bei dem das Publikum zwischen Lachen und Kopfschütteln hin- und hergerissen ist.

In einem spießigen 50er-Jahre-Wohnzimmer-Ambiente saugt der Regisseur erst noch mal persönlich durch. Als er sich dezent zurückgezogen hat, übernimmt Iris Becher, die einzige Frau, die an diesem Abend auf der Bühne steht, das Kommando. Sie ruft nacheinander ihre drei Kollegen Ulrich Hoppe, Laurenz Laufenberg und Andreas Schröders auf die Bühne, stellt sie kurz vor und platziert sie dann in einer Ecke.

Die Sketche und Songs dieser etwas mehr als zweistündigen Revue werden lose von einer Rahmenhandlung zusammengehalten: Die Sessel werden zur Psycho-Couch, auf der Iris Becher sich als Psychotherapeutin um die drei verzweifelten Häuflein Elend kümmert, die von Panikattacken und Ödipus-Komplex geplagt unter der Last, traditionelle männliche Rollenbilder erfüllen zu müssen, zusammengebrochen sind. Das kommt stellenweise äußerst platt daher, z.B. mit dem Running-gag, dass die drei Schauspieler regelmäßig daran scheitern, die Tür zur Praxis zu öffnen.

In einem Spiel mit dem zum Beispiel hier kritisierten sexualisierten Blick auf Schauspielerinnen wird Laurenz Laufenberg von seiner Kollegin Iris Becher auf sein blondes, blauäugiges Äußeres reduziert und als „Traumschwiegersohn, Ryan Gosling unter den Berliner Schauspielern“ vorgestellt. Sie taxiert ihren Kollegen mit Blicken und zieht ihn bis auf verrutschendes Träger-Hemdchen und Frauen-Unterwäsche aus, mit der er durch den Abend stakst.

Zwischendurch setzt Iris Becher von der Tribüne aus zu einer Wutrede an, die entfernt an Thomas Wodiankas Auftritt in „Small Town Boy“ erinnert, ohne dessen Intensität zu erreichen. Auf der Bühne dominieren aber weiterhin Zerrbilder von Männlichkeit: grölende Fußballfans berauschen sich an ihren Gesängen und am Bier. Ein Büroangestellter buckelt vor dem Chef und reagiert seinen Frust einem Rap über das Aufreißen von Frauen im Club ab.

Der schnelle Wechsel kleiner Miniaturen hat trotz einiger flacher und zu klamaukiger Passagen auch unterhaltsame Momente. Tiefere Erkenntnisse zu Feminismus und Geschlechterfragen sind an diesem Abend jedoch kaum zu erwarten.
Leserkritik - On Fire, Constanza Macras im Gorki Theater
"On Fire": Gastspiel von Constanza Macras am Gorki

Constanza Macras und ihr Dorky Park-Ensemble produzieren Schlag auf Schlag neue Chroeographien: ihre „Ghosts“ hatten gerade erst Premiere an der Schaubühne, nun gastiert On fire am Gorki zum ersten Mal in Europa. Diesen Abend entwickelte Macras gemeinsam mit südafrikanischen Tänzerinnen und Tänzern, die Premiere fand im Februar in Johannesburg statt.

Das Grundproblem dieser Inszenierung über die Frage, „wie Traditionen und Riten in urbanen Zentren heute aussehen“, haben Elisabeth Nehring im Deutschlandfunk und Sandra Luzina im Tagesspiegel gut auf den Punkt gebracht: die Stereotype werden temporeich auseinandergenommen und durcheinandergewirbelt. Aber viele Anspielungen auf arikanische Mythen und Riten sowie auf die aktuelle Situation im Post-Apartheid-Südafrika sind ohne fundierte Einführung kaum verständlich.

In die 90 Minuten, die über weite Strecken ohne Dialog auskommen, hat Constanza Macras (zu) vieles hineingepackt, aber doch nur angerissen. Ihr „On Fire“-Abend dreht sich in Hochgeschwindigkeit um sich selbst und rauscht somit über weite Strecken an seinem Publikum vorbei.

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Leserkritik - Buchvorstellung "Protest! Wie man Mächtige ..."
Buchvorstellung/Diskussion: "Protest! Wie man Mächtige das Fürchten lehrt", Studio der Schaubühne

Srdja Popovic über politischen Protest im Schaubühnen-Studio: Vom Rocksänger zum weltweiten Berater von NGOs

Eine muntere Einführung in die Strategien von Protestbewegungen und zivilen Ungehorsam gab der serbische Aktivist Srdja Popovic. Wie es sich für ein mittlerweile global tätigen Vortragsreisenden und Berater gehört, startete er den Abend im leider nicht gut besuchten Studio der Schaubühne mit einer kurzen, knackigen, launig vorgetragenen Power-Point-Präsentation.

Im Gespräch mit taz-Redakteur Martin Reichert und in seinen Antworten auf Publikumsfragen stellte er die Quintessenz seines Buches Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt vor : Wer gegen Diktatoren wie Assad oder Milosevic kämpfen will, dürfte hoffnungslos unterlegen sein, wenn er auf Gewalt setzt. Stattdessen sollten sich Protestbewegungen kreative Aktionen ausdenken, mit denen sie das Regime im besten Fall der Lächerlichkeit preisgeben oder zumindest in unangenehme Situationen bringen. Als Beispiel nannte er das Abspielen verbotener Lieder auf Recordern, die überall in der Stadt in Papierkörben versteckt waren, so dass die Sicherheitskräfte hektisch damit beschäftigt waren, im Müll zu wühlen.

Natürlich gehöre zu erfolgreichem Protest auch immer eine durchdachte Strategie, aber den ersten Stein müsse man durch sympathische Aktionen ins Rollen bringen. Unbedingt ist auch darauf zu achten, dass die Protestbewegung sich nicht nur auf kritische, junge Akademiker beschränkt, da sie dann so folgenlos zu verpuffen droht wie die Demonstrationen und Sitzblockaden in Hongkong. Die Aktivisten müssen für weite Teile der Gesellschaft attraktiv sein und immer auch den Mainstream im Blick haben.

Lesenswert ist auch dieses Guardian-Porträt (https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/macht-laune) über Popovic, der als junger Rocksänger in Belgrad in die Otpor-Protestwelle in Belgrad hineinrutschte, die im Herbst 2000 zum Sturz von Milosevic führte.

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Leserkritiken: Claus Peymann liest "Holzfällen" am BE
One Man Show im Berliner Ensemble

Claus Peymann liest „Holzfällen. Eine Erregung“ von Thomas Bernhard

Am 8. September, einem bereits kühlen Berliner Herbstabend standen wir im Foyer des Berliner Ensemble, unter vorwiegend älteren Damen und Herren, und warteten ungeduldig auf Peymanns groß angekündigte Lesung. Es wird, alle warten ungeduldig, eine Verspätung wegen der noch zu dekorierenden Bühne bekannt gegeben. Daraufhin schimpft eine ältere Dame, ganz im Stil Bernhards, dem Verspätungen überaus zuwider waren, „nur Peymann kann so etwas zumuten“.

Peymann hatte Holzfällen bereits im Juli in Bad Vöslau bei der Eröffnung des „Schwimmenden Salon“ gelesen. Eine Darbietung, die er, wie er beim Steigen auf die grell beleuchtete Bühne kundtut, als misslungen betrachtet. Er hoffe, wie er sagt, nun auf einen Erfolg im zweiten Versuch zu Hause im BE. Die Bühne des bürgerlichen Foyers, dessen Wände von Spiegeln bedeckt sind, ist trotz der angeblich so aufwändigen Dekorierung karg. Es findet sich nur ein Ohrensessel, während von der Decke ein mit Hand geschriebenes Zitat von Voltaire, das Motto von Holzfällen, hängt: „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.“

Der ehemalige Direktor des Wiener Burgtheaters, seit 15 Jahren Intendant am BE, liest mit gebrochener, fast heiserer Stimme, wobei er einem beinahe wie ein Opa vorkommt, der seinen Enkeln ein Kinderbuch vorliest. Obgleich Peymann mit dem Text innig vertraut ist, entfallen ihm beim Lesen oft die Worte. Auffallend ist, dass Peymann, wie ein Theatermann die Geschichte des künstlerischen Abends bei den Auersberger schauspielert. Bei jeder Wiederholung betont er die Aussprache aggressiver, trifft jedoch selten den richtigen Ton und wird so laut, dass er beinahe schreit. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf den gelesenen Text: Das Schimpfen, Bernhards Merkmal, wird von Peymann durch seine gekünstelte Schauspielerei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die zentrale Figur des Ich-Erzählers wird von Peymann dabei verschlungen, womit die Musikalität des Bernhardschen Texts in Peymanns Stimme untergeht. Dass Peymann die einzelnen Seiten der von Angelika Hager gekürzten Fassung auch noch gewalttätig umblättert, schlägt in dieselbe Kerbe und ist ermüdend.

Im Lauf der Lesung gerät Peymann, unruhig gestikulierend, ins Schwitzen und verfällt immer mehr der Atemlosigkeit. Jeder, der es einmal versucht hat, weiß, dass sich Bernhards Texte am Schönsten im eigenen Kopf lesen. Daher ist das Wagnis, Bernhard laut vorzulesen immer mit großem Respekt zu betrachten. Umso mehr stellt sich da die Frage, weshalb Peymann auf eine Lesung insistiert, während er de facto eine Vorführung gibt? Das theatrale Element misst die zentrale Idee des Texts, das Selbstgespräch, dass die Figur des Erzählers ruhig in ihrem eigenen Kopf führt. Da wird nicht gestikuliert, aufgestanden oder sonst wie bewegt, sondern still gesessen. Die Beweglichkeit und Dynamik besteht allein in der Kette der Gedanken, die den Erzähler während des Abends in der Wiener Wohnung zurück zu den Gefühlen und Ereignissen von vor 30 Jahren führen und ihn in eine höchst innerliche Erregung versetzen.

Peymann beeilt sich sehr beim Vorlesen des Textes, wobei es scheint, als hätte er den ganzen Abend nur auf jene eine Stelle gewartet, in der der Burgschauspieler gefragt wurde, was er denn von dem neuen Mann, dem deutschen Theatergenie, im Burgtheater halte? Peymann geniert sich auch nicht den impliziten Bezug zu explizieren und macht dem Publikum damit endgültig klar, worum es bei der Lesung geht: ihn selbst! Auch wenn Peymann mit dem Bezug nicht falsch liegt, er ist 1986 Burgdirektor geworden, ist jedoch das offene Aufdecken der Identität der Figur (während der Lesung!) fehl am Platz, denn der Text von Bernhard lebt, wie Daniel Kehlmann einmal schrieb, von dem komplexen Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, was auch bedeutetet, dass die eindeutige Identifikation einer Figur mit einer Person in der Realität, den Tod des Textes bedeutet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Claus Peymann die Lesungen von Bernhards Texten besser seinem Kollegen Hermann Beil überlassen und sich auf Inszenierungen, wie jene von „Die Macht der Gewohnheit“ konzentrieren, sollte. Das macht er deutlich besser.
Leserkritiken: zur Peymann-Lesung
Wenn Bernhard je ein Selbstgespräch ruhig im Kopf geführt hätte, gäbe es wohl seine ganze Literatur nicht.

Dass er seine Kopfgeburten in Bühnenfiguren reden hat lassen, weist wohl eher auf den Wunsch hin Dynamik und Beweglichkeit nicht nur als Gedankenketten erlebt zu wissen.

Wie weit es heute noch möglich ist, die "künstlerische Abendgesellschaft" der 80ziger Jahre in Wien, samt jener eitlen Burgschauspieler, die ja so gegen Bernhard und Peymann revolutioniert haben, in Berlin im Foyer begreifbar zu machen, kann ich natürlich nicht beurteilen. In Bad Vöslau, waren auch viele ältere Menschen, die diese Zeit und den Hochmut gegen Bernhard und Peymann noch erlebt haben. Da entstand in der Erinnerung alles wieder. Auch an die Freude, dass Bernhard und Peymann als Sieger aus diesen Kulturkampf hervorgegangen sind. Ich habe mit mehreren Besuchern darüber gesprochen, die das auch so sahen. Warum Peymann die Lesung als nicht gelungen bezeichnet, weiß ich nicht. Sein Wiener Publikum war anderer Meinung.
Leserkritiken: Rainald Grebes Westberlin
Jede Geschichte ist eingebettet in eine Spielsituation, wird von ihr auch ironisch gebrochen und erhält eine Distanz, die sie nur noch wahrhaftiger erscheinen lassen. Hier blitzen Leben auf, zu kurz, die gemeinsam mit einer Vielzahl anderer ein Bild malen könnten, von dem, was West-Berlin gewesen sein mag. Die mediale Bespiegelung durchbrechen sie nicht. Und so führt Grebe eine Parade bekannter Bilder und Episoden auf: Es geht um die Luftbrücke und den Mauerbau, um Alltagsprobleme wie die chronische Wohnungsnot, die Pfitzmanns und Bowies und Juhnkes dürfen ebenso wenig fehlen wie Christiane F., Grebe gibt den Langhans und die Hagen und den späten Neuss (stilecht in seinem fotoverklebten Zimmer), dem schwulen Nachtleben wird ebenso Tribut gezollt wie dem Café Kranzler und der alten Schaubühne – Grebe lässt eine Reminiszenz an Peter Steins legendäre Sommergäste spielen und schwadroniert über den Geruch der 300 Birken des Bühnenbilds. Liselotte Pulver tanzt auf dem Tisch, man singt “Heroes” von Davis Bowie und lauscht Kennedys Rede, bevor Iggy Pop am Ende alle Stühle und Tische umstößt. Zurück sind wir in der Stunde Null, am Anfang, wie in diese Torso-Stadt schon so manches mal erlebte.

Grebe selbst hält sich ungewöhnlich stark zurück. Lange dauert es, bis er überhaupt erscheint, und erst als er die West-Berlin-Nostalgie wegwischt, in dem er seine eigene Vergangenheit im Ost-Berlin der frühen 1990er verklärt, übernimmt er so etwas wie Kontrolle über den Abend. Doch auch im Rolf-Eden-Kostüm bleibt er Außenstehender, Beobachter, Nicht-so-recht-Verstehen-Könner. Sein Blick auf West-Berlin hat etwas antiquarisches, ist getränkt von einer Anti-Nostalgie, die denn doch verklärt, wo sie aufklären, verdeckt, wo sie entdecken sollte. Westberlin ist ein Abend, der von der Macht medial vermittelter Klischees handelt und sich selbiger nie ganz entziehen kann. Und der doch in seiner Collagenhaftigkeit, seiner Wertungsverweigerung, in der jede Assoziation, jede Vignette gleich wichtig ist, und in der in kurzen Momenten aufblitzenden Wahrhaftigkeit gelebter Leben, in der Reibung zwischen Wahrheit und Klischee, deren Grenzen schnell verschwimmen, andeutet, warum dieses seltsame Gebilde, bei dem schon die Frage, ob man es mit oder ohne Bindestrich schreibt (Grebe wählt sicher nicht zufällig die DDR-Variante), von existenzieller Bedeutung schien, eine solche Faszination ausübte und dies – die zahlreichen Film- und sonstigen Projekte, die sich derzeit damit befassen, sprechen eine deutliche Sprache – bis heute tut. Kein großer Abend und auch kein kleiner. Oder vielleicht beides gleichzeitig: weltbewegend bedeutsam und ungeheuer trivial. Wie West-Berlin, Westberlin oder Berlin (West) eben.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/10/13/currywurst-im-birkenhain/
Leserkritiken: Les Contes d'Hoffmann, Komische Oper Berlin
„Les Contes d´Hoffmann“ an der Komischen Oper: Barrie Koskys Ideen zünden diesmal nicht

Jaques Offenbach hinterließ „Les Contes d´Hoffmann“ (noch bekannter unter dem deutschen Titel „Hoffmanns Erzählungen“) als unfertige Materialsammlung, dennoch wurde das Werk zum Welterfolg. Jeder Regisseur muss seine eigenen Schneisen durch den Wust an verschiedenen Fassungen schlagen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgetürmt haben. Ulrich Lenz, der Chefdramaturg der Komischen Oper, gab dankenswerterweise eine kenntnisreiche, ausführliche Einführungsgeschichte in die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werks.

Dieses Unfertige wäre eigentlich wie geschaffen als Spielwiese für Barrie Kosky, den Intendanten der Komischen Oper, der zur Spielzeit-Eröffnung selbst Regie führt. Seine Inszenierungen sprühen vor Ideen, überzeugen durch ihren Witz und überraschen mit neuen Lesarten. Leider springt bei „Hoffmanns Erzählungen“ diesmal der Funke jedoch nicht über.

Er entschied sich, die Titelfigur auf drei Personen aufzusplitten: Hoffmann wird vom Schauspieler Uwe Schönbeck sowie den beiden Sängern Dominik Köninger und Edgaras Montvidas verkörpert. Als armer Tropf sitzt Schönbeck im Dunkeln auf einer abschüssigen Rampe inmitten eines Meeres leerer Flaschen. Bei solch düsteren Szenen wähnt man sich eher in einer Inszenierung von Michael Thalheimer und seinem Bühnenbildner Olaf Altmann als bei Kosky.

Nicole Chevalier beeindruckt zwar in ihrer Vierfach-Rolle als Stella, Olympia, Antonia und Giulietta, die durch die Phantasien in Hoffmanns alkoholgeschwängertem Kopf geistern. Daraus wird aber kein wilder Galopp und erst recht kein albtraumartiger Horrortrip, wie in der Einführung versprochen worden war. Der gesamte Abend bleibt ungewohnt ideenlos und brav, die angezogene Handbremse löst sich nicht. Georg Kasch kritisierte in der Berliner Morgenpost: „Am Ende ist einem dieser passive Kopferotiker einfach egal. Zumal das Unheimliche seiner Fantasien merkwürdig abstrakt bleibt.“

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Leserkritiken: Toxik, HAU Berlin
„Toxik“: Rate-Krimi von machina eX im HAU 3

Wer sich durch den Kreuzberger Hinterhof bis in den 2. Stock bis ins HAU 3 durchgekämpft hat, hat schon mal die erste Bewährungsprobe bei „Toxik“, dem neuen Abend von „machina eX“ und Martin Ganteföhr, bestanden. Als auch die letzten der 12 Zuschauer eingetrudelt sind, öffnet sich für die Gruppe die Tür zu einem dunklen, langgestreckten Raum. Die meisten treten recht zögerlich ein und tasten sich dann zum Krankenbett der Frau M. (Lea Willkowsky) vor.

Gemeinsam mit dieser verstörten Frau macht sich die Gruppe auf eine 90minütige Spurensuche. Alle Teilnehmer sind ständig in Aktion: unter Zeitdruck muss der nächste Code geknackt werden, bevor es dann gleich zum übernächsten Beweismittel weitergeht. Mit dem Rateteam, das sich am Mittwoch Abend im HAU 3 zusammengefunden hat, habe ich einen Glücksgriff getan. In der sehr jungen, studentisch dominierten Gruppe sind alle mit Begeisterung bei der Sache. Durch ein gutes Zusammenspiel und dank einiger Geistesblitze in den jeweils letzten Sekunden konnten fast alle Rätsel des Indizien-Parcours gelöst werden.

Dieser Abend steht und fällt mit den Erfolgserlebnissen und der Gruppendynamik: Einige Kritiken blieben sehr verhalten und beklagten sich, dass ihre Teams zu sehr im Nebel stocherten. Wenn es nicht gelingt, zumindest mehr als die Hälfte der Rätsel zu lösen, steht man am Ende mit Puzzleteilen, die nicht zueinander passen wollen, und geht mit leeren Händen nach Hause.

Wenn man dagegen das Glück hat, ein gut funktionierendes Team zu erwischen, macht das Knobeln Spaß und wird durch eine schlüssige Auflösung belohnt, die hier natürlich nicht verraten werden darf.

Die vier Schauspieler mischen sich unter die Gruppe, besonders die aufdringliche Nachbarin (Katharina Schenk) sucht ständig Kontakt und raunt uns etwas ins Ohr, wobei man nie sicher sein kann: Ist das die richtige Fährte? Oder will sie uns nur ablenken? „Toxik“ ist eine sehr unterhaltsame Alternative zum Sonntagabend-Krimi und eine willkommene Abwechslung zu den klassischen Theaterabenden, die man vom Parkett aus verfolgt.

Die weiteren Termine im HAU 3 bis zum 21. Oktober sind leider bereits ausverkauft.

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Leserkritiken: Starman, Sven Ratzke im Tipi Belrin
David Bowie-Hommage: „Starman“-Premiere von Sven Ratzke im tipi

An David Bowie kommt man derzeit nur schwer vorbei: Vor einem Jahr widmete ihm der Martin Gropius-Bau eine Retrospektive. In Rainald Grebes „Westberlin“-Revue an der Schaubühne durfte er natürlich auch nicht fehlen, sein „Heroes“ war sogar einer der Höhepunkte der vor sich hinplätschernden Show.

Nun widmet ihm Sven Ratzke einen ganzen Abend: „Starman“ hatte am 13. Oktober im tipi am Kanzleramt Premiere und ist dort noch am 17. und 18. Oktober zu sehen, bevor die Tour beginnt.

In seiner androgynen, schillernden Erscheinung, die von den hochtoupierten roten Haaren bis zu den schwarzen High Heels perfekt aufeinander abgestimmt ist, wirkt Ratzke, als sei er gerade mit einer Zeitmaschine aus den 70er Jahren im Regierungsviertel gelandet. Gemeinsam mit seiner dreiköpfigen Band bietet der deutsch-niederländische Entertainer ein gelungenes Konzert aus Bowie-Nummern, das sich bis hin zu „Heroes“ dramaturgisch geschickt steigert.

Zwischen den Songs nimmt er sein Publikum im vollbesetzten Kleinkunstzeit mit auf versponnene Trips durch Anekdoten, die manchmal zum Schmunzeln sind, sich aber auch manchmal allzu sehr verheddern. Bevor er wieder zu dem zurückkehrt, was er am Besten kann, nämlich zu singen, lässt Ratzke meistens noch eine neckische Bemerkung über die bedauernswerten Gäste in der ersten Reihe fallen. Vor allem der Tourist, den er im Lauf des Abends einfach nur noch als „Mannheim“ abspricht, bekommt sein Fett weg. Aber das sind wir ja von Ratzke schon aus früheren Prigrammen wie „Hedwig and the angry Inch“ gewohnt.

Ratzke bekommt glücklicherweise aber immer noch rechtzeitig die Kurve, so dass er mit „Starman“ sein Ziel erreicht: eine gelungene Hommage an David Bowie zu bieten.

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Leserkritiken: X-Freunde, Theater unterm Dach Berlin
"X-Freunde", Theater unterm Dach (Gastspiel: Box des Deutschen Theaters Berlin)

Selbstausbeutung des Kreativprekariats

Hysterisch strampeln sich die drei Figuren auf der fast leeren Bühne durch das Hamsterrad ihres Lebens. Felicia Zeller nimmt in ihrem Stück „X-Freunde“ die Selbstausbeutung des Kreativprekariats aufs Korn: ein Abend, der Pflichtprogramm für die bis zum Burn-out von Projekt zu Projekt weiterhetzenden Mitarbeiter der PR-Agenturen und Unternehmensberater-Szene sein sollte.

Tilla Kratochwil, Jaron Löwenberg und Christoph Schüchner spielen die drei bedauernswerten Turbobeschleuniger, die dem Traum vom Glück vergeblich hinterherjagen, in Stephan Thiels Inszenierung, die in der Box des Deutschen Theaters Berlin gastierte und noch 2x (am 17. und 18. Oktober) im Theater unterm Dach zu sehen sein wird.

Für die eine sind die spöttisch hochgezogenen Mundwinkel des Projekt-Koordinationsmanagers auf die Dauer so unerträglich, dass sie in ihrer Agentur kündigt und sich lieber selbständig macht. Der Neustart endet absehbar im Fiasko: dauertelefonierend preist sie ihr Anti-Gleichgültigkeits-Konzept an, während ihr arbeitsloser Mann orientierungslos zwischen Kühlschrank, Fernseher und Baumarkt schlurft. Der Dritte im Bunde ist ein Künstler, der ständig twittert oder mit seiner Kuratorin telefoniert, aber bei seinem Skulpturen-Projekt „X-Freunde“ nicht vom Fleck kommt.

Die Inszenierung kreist 90 Minuten lang um die Neurosen durchaus realistisch dargestellter Großstädter. Bissige Dialoge und hingeknallte Satzfetzen wechseln sich ab. Kritisch bleibt anzumerken, dass auch dieser Abend Gefahr läuft, in seinem Hamsterrad auf der Stelle zu treten. Die Botschaft ist schnell angekommen, wird nur immer wieder neu ausgepinselt: Tillmann Strauß und Jule Böwe haben das Drama der ständig super-busy um sich selbst rotierenden Jobnomaden und Workaholics in Falk Richters Zeitdiagnosen-Choreographie „Never forever“ in einem kurzen Sketch prägnanter und unterhaltsamer vorgeführt.

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Leserkritiken: Felix Krull, Berliner Ensemble
"Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", Berliner Ensemble/Pavillon

Die beiden Ernst Busch-Schauspielstudenten Leonard Scheicher und Felix Strobel, die in der Shakespeare-Komödie „Zwei Herren aus Verona“ überzeugten, sind derzeit noch an einem weiteren Abend zu erleben. Für die kleine Bühne im Pavillon des Berliner Ensembles haben sie sich einige Szenen aus Thomas Manns Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ herausgepickt.

Während einer unterhaltsamen, knappen Stunde wirbeln sie in schnellem Rollentausch durch ihre Best-of-Auswahl aus dem Klassiker. Natürlich dürfen die berühmte Musterungsszene, bei der Krull einen epileptischen Anfall simuliert, ebenso wenig fehlen wie seine erfolgreichen Versuche, sich vor der Schule zu drücken. Auch bei den Szenen im Pariser Luxushotel, wo der Sohn des bankrotten Schaumweinfabrikanten, landet, kommen die beiden Schauspieler fast völlig ohne Requisiten aus.

Wie gut die beiden Talente aufeinander eingespielt sind, merkt man vor allem bei den turbulenten Szenen in der zweiten Hälfte: als Krull der exzentrischen Madame Houpflè in die Hände fällt, als Lord Kilmarnock ihn als zukünftigen Kammerdiener anwerben möchte und er schließlich vom Marquis de Venosta ein Angebot bekommt, das er nicht ablehnen kann.

„Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ sind eine amüsante, kleine Zugabe. Ihr Duo-Auftritt ist aber nicht so überzeugend wie die „Zwei Herren aus Verona“, wo Scheicher und Strobel in eine gelungene Ensemble-Leistung eingebettet und vom Regisseur Veit Schubert noch besser geführt worden waren.

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Leserkritiken: Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind, Schauspiel Leipzig
„Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind" von Bernhard Studlar in der Diskothek am Schauspiel Leipzig

Der Hausherr einer Dachgeschosswohnung im 8. Stock überrascht bei den Vorbereitungen zu einer Party auf seiner Terrasse einen ungebetenen Gast, eine junge, lebensmüde Frau. Diese findet schnell gefallen an der Situation und zwingt den Gastgeber mit dessen Pistole, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wer sich am Ende der ausufernden Party von der Terrasse stürzen wird, bleibt dabei offen. Der österreichische Autor Bernhard Studlar lässt in seinem neuen Stück „Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind" eine illustre Gesellschaft von typischen Großstädtern aus der bürgerlichen Mittelschicht aufeinandertreffen. Lauter Figurenklischees von Nichtrauchern, Biofanatikern, Ökokleingärtnern, Linksliberalen oder Anlagestrategen und vor allem gestresste Eltern am Rand des Wahnsinns, die mit zunehmendem Alkoholkonsum ihre Kontenance fahren und es danach umso mehr krachen lassen.

Werden die Szenen zwischen dem Gastgeber (Dirk Lange) und der jungen Frau (Sophie Hottinger) immer wieder per Video eingespielt, hat Hausregisseurin Claudia Bauer für die Gespräche auf der eigentlichen Party dann eine fast schon geniale Idee. Während ein Teil der in neonfarbenen Satinkleidern steckenden SchauspielerInnen am Rand die Texte per Mikro einspricht, bewegen sich die anderen dazu pantomimisch in immer wieder neuen, teils bizarr durchchoreografierten Szenen. Dabei tragen sie Masken und spielen ihre namenlosen Figuren unabhängig vom Geschlecht, wobei auch die Stimmen teils cross gesprochen oder verzerrt und immer wieder in Loops, fast schon wie ein melodiöser Sing Sang vorgetragen werden.

Ein großartiger Verfremdungseffekt, der tatsächlich auch über den gesamten Abend seine Spannung halten kann. Die sechs SchauspielerInnen Sophie Hottinger, Dirk Lange, Wenzel Banneyer, Tilo Krügel, Annett Sawallisch und Katharina Schmidt lösen sich immer wieder beim Sprechen und Performen ab. Es gibt keine Charaktere, nur ein Typenballett austauschbarer Figuren. Sie wirken wie fremdgesteuert und reagieren in einer körperlich stark überzogenen Dauererregung direkt auf die jeweiligen Gegenüber. Gehetzte ihrer selbst, übermüdet und im ständigen Stress nicht wahrgenommen zu werden. Abhängig voneinander oder dem Handy, das wie ein monströser Hinkelstein an ihnen hängt. Identifizieren kann man sie, wenn überhaupt, nur mittels ihrer ständig wiederholten in Worthülsen gekleideten Satzfetzen.

Dem gegenüber stellt die Regisseurin am Beginn des Abends noch während des Einlasses, kaum bemerkt vom Publikum, Versfragmente aus der Offenbarung des Johannes über die apokalyptischen Reiter in Dauerschleife. Zu einer Art Apokalypse entwickelt sich schließlich auch die ganze Party. Und so sind die folgenden Gespräche lose mit den Schlagworten Hunger, Krieg, Krankheit und Tod überschrieben. Von verhasstem Smalltalk über kleine Komplimente und Sticheleien bei Biobier und asiatisch veganem Essen gerät man schnell in Ekstase über Themen wie Kindererziehung, Biogärtnern, Sex oder Politik und teilt seine Ängste, Psychosen und Coachingversuche. Wobei man sich schnell wieder aus zu anstrengenden, fordernden Beziehungsgesprächen verabschiedet und lieber über sich selbst spricht. Die Partygäste mutieren dabei langsam von Maskenmenschen zu Pelzkopfträgern mit Pestschnabelmasken, und schließlich bleibt auf der zugemüllten Bühne nur noch ein schmatzendes Wurmwesen übrig, während im Video ein großer Komet auf die Stadt zurast. Eine bemerkenswerte Inszenierung und Schauspielleistung, die Appetit auf mehr machen.

Quelle: http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_bernhardstudlar_diermuedeten.php
Leserkritiken: Kritische Masse, Berlin
„Kritische Masse“: wütende junge Frauen im Gorki-Studio

Was Patrick Wengenroth mit „thisisitgirl“ nur versprochen hat, hat Suna Gürler mit ihrer Jugendgruppe „Aktionist*innen“ im Studio Я am Gorki bereits vor einigen Monaten eingelöst: „einen Abend über Frauen und Fragen und Frauenfragen für Frauen und Männer“, der auf der Höhe der Zeit ist.

Die Regisseurin und ihr ausschließlich aus jungen Frauen zusammengesetztes Ensemble setzen sich in dieser Stückentwicklung mit den Konflikten auseinander, die sie aus ihrem Alltag kennen: den Schönheitsidealen, die ihnen von der Werbung eingetrichert werden und manche in die Magersucht treiben; die Wut darüber, nicht den Mut gehabt zu haben, auf eine schräge Anmache in der U-Bahn konsequent zu reagieren; oder die von Aneinander-Vorbei-Reden und fehlender Augenhöhe geprägte Kommunikation mit ihrem Freund.

Herausgekommen ist „Kritische Masse“: eine energiegeladene, unterhaltsame, sehr persönliche Stunde der jungen Protagonistinnen, die uns ihre Sicht auf die Welt vorstellen. Die Eröffnungsszene nimnmt parodistisch Bezug auf die ersten zehn Minuten von „Fallen“, als ein Trupp testosterongeladener junger Männer in Sebastian Nüblings Choreographie über den Sand auf dem Gorki-Vorplatz jagte: Die Mädchen rennen auf das Publikum zu und kommen mit Urschrei-Lauten abrupt zum Stehen.

Eine schnappt sich das Mikro und beginnt mit ernster Miene aus Traktaten von Feministinnen und Kulturanthropologinnen zu zitieren, deren Namen nur den wenigsten im Publikum vertraut sein dürften. Recht schnell greift eine der Mitstreiterinnen ein: Wir wollten doch anders anfangen! Auch im späteren Verlauf wendet sich die restliche Gruppe ab, als eine von ihnen es wagt, den Begriff „Feminismus“ in den Mund zu nehmen.

Statt abgelesener Theorien wird es authentisch: dieser Grundton tut dem Abend sehr gut. „Kritische Masse“ ist bei aller Wut sehr unterhaltsam und gerade wegen der unverblümten Tonlage, mit der je nach Typ etwas zögerlich-abwägender oder auch ganz rotzig frisch von der Leber weg aus dem echten Leben erzählt wird, auch lehrreich. Ein „energetischer und kluger Sturmlauf“, wie Patrick Wildermann im „Tagesspiegel“ treffend schrieb.

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Leserkritiken: Tucké Royale, Berlin
Tucké Royale im Studio Я: Performance gegen Schubladen-Denken

Wenn es einen Wettbewerb um den längsten und skurrilsten Stücktitel gäbe, hätte Tucké Royale beste Chancen auf den ersten Platz: „Ich beiße mir auf die Zunge und frühstücke den Belag, den meine Rabeneltern mir hinterließen“ heißt die Solo-Performance, die im Dezeber 2013 im Ballhaus Ost Premiere hatte und mittlerweile zum Repertoire des Gorki-Studios gehört.

Mit Witz und beeindruckender Bühnenpräsenz führt Tucké Royale durch den kurzen, knapp einstündigen Abend aus LGBT-Theorie, autobiographischen Erzählungen, Songs, Verwandlungskünsten und kleinen Scherzen.

Die stärkste Passage ist, als Tucké Royale von der Aufnahmeprüfung an der HfS Ernst Busch berichtet. Die Auswahl-Jury sei mit dieser schillernden Persönlichkeit, die in keine ihrer Schubladen passt, sichtlich überfordert gewesen. Erst im zweiten Anlauf und nach schmerzhaften Kompromissen wurde Tucké Royale unter bürgerlichem Namen zum Puppenspiel-Studiengang zugelassen. Aber als „humanoider Hermaphrodit“ (so die Selbstbezeichnung) eckte Tucké Royale auch dort an und sah sich mit irritierten Nachfragen konfrontiert.

Auf die „Sprengung des Körpergefängnisses“ folgt ein Sprachkurs: „Die Sprache muss befreit werden, damit sie uns nicht hinterherhinkt“, referiert Dr. Tucké Royale. Das Publikum wird aufgefordert, die Lektionen der Personalpronomen (aus „er“, „sie“ und „es“ wird „herm“) nachzusprechen.

Nach der nächsten Umziehpause folgt ein weiteres Lied. Über die „Rabeneltern“ erfährt man nichts Näheres, die im Programmheft erwähnte Geburtsstadt Quedlinburg spielt auch nur eine kleine Rolle. Aber das macht nichts, der Abend dreht sich vor allem um das Hier und Jetzt.

„Ich beiße mir auf die Zunge…“ ist ein selbstbewusster Auftritt, der „frontal gegen die Wand unseres Schubladensystems“ fährt, wie es Elke Koepping treffend ausdrückte.

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Leserkritiken: Münchhausen, Deutsches Theater Berlin
münchhausen, Deutsches Theater/Kammerspiele

Milan Peschels „münchhausen“: Mit Schirm, Charme und Melone, aber zu wenig Tiefgang

Ein vertrautes Gesicht kommt zurück auf die Bühne: Milan Peschel, eine der Größen vergangener Volksbühnen-Zeiten (1997-2008) und ein Eckpfeiler des Gorki der Petras-Ära, der zuletzt eher auf der Kinoleinwand zu sehen war, linst hinter dem mit kitschig-blauen Wolken bedruckten Vorhang hervor. Mit Schirm, Charme, Melone und einer kleinen Verspätung kommt er auf die Bühne. Da sein Bühnenpartner, ein Franzose, der mittlerweile bei „Zalando“ arbeitet, um die Familie zu ernähren, nicht auftaucht, plaudert Peschel erst mal los.

Einige Anekdoten dieses münchhausen-Solos, zu dem erst kurz vor Schluss Martin Otting hinzustößt, sind ganz hübsch anzuhören: an Champions League-Abenden spielen einige Kollegen extra schnell, um noch rechtzeitig zu Bier und Chips auf die Couch zu kommen. Die Frauen sind davon genervt und spielen provozierend langsam. Milan Peschel erzählt mit seinem charakteristischen schelmischen Grinsen, dass er an solchen Abenden dann gerne mit Tempo-Variationen noch zusätzliche Verwirrung stiftet. Auch seine Frank Castorf-Parodie sorgt für einige Lacher: Peschel malt sich aus, wie sein alter Kumpel ihn demnächst wieder anrufen wird, dass er doch dringend einspringen müsse, da einige Kollegen die Exzesse der Berlin-Premiere der siebenstündigen „Brüder Karamasow“ nicht überstehen.

Für eine gute Stunde könnte so ein Abend wunderbar funktionieren. Aber die fast zwei Stunden nehmen leider Kurs auf seichte Gewässer: Zwischen Zigarettenqualm und Bierkonsum tigert Peschel durch das Gerümpel auf der Hinterbühne und bittet einen älteren Herrn auf die Bühne, dem er Uralt-Kalauer erzählt. Sehr verständlich, dass ein älteres Ehepaar zum Ausgang flüchten will, dabei aber in die falsche Richtung irrt. Peschel ist so charmant, eine kurze Pause in seinen Monolog einzulegen und den beiden anzubieten: „Gehen Sie doch einfach hier vorne vorbei“. Er vergisst auch nicht, den beiden noch ein „Schönes Wochenende“ zu wünschen.

In den Monolog streut er Ausschnitte aus alten Tschechow-Aufführungen und vor allem aus der „Anna Karenina“-Inszenierung, die er mit Fritzi Haberlandt in der Regie von Jan Bosse am Haus von Armin Petras spielte. Petras und Bosse waren auch an diesem „münchhausen“-Abend beteiligt: der eine schrieb die Vorlage, der andere führte wieder Regie.

Als dritten Themenstrang hat Peschel einige Reflexionen über den Theaterbetrieb eingeflochten. Zwischen Slapstick, einem „Aufhören!“-Zwischenruf, den Peschel mit einem knappen „Neee, geht noch weiter!“ an sich abprallen lässt, und dem nächsten Schluck Bier finden sich zwar immer wieder auch ein paar nachdenkliche und nachdenkenswerte Sätze, „Was zum Mitnehmen“, denn das Publikum soll ja „nicht nur Faxen konsumieren“. Aber die Durststrecken dieses Abends sind zu lang, so dass es keine Überraschung ist, dass einige Peschels Parole „Da müssen wir gemeinsam durch!“ nicht länger folgen wollen.

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Leserkritiken: Idomeneus, Deutsches Theater Berlin
Idomeneus, Deutsches Theater Berlin

„Idomeneus“: Fröhliches Klassentreffen und intelligentes Spiel mit dem Mythos

Die Premiere von „Idomeneus“ am Deutschen Theater Berlin war im April 2009 von der schweren Erkrankung des Regisseurs Jürgen Gosch überschattet. Die Kritiken rückten damals den Schlussmonolog von Alexander Khuon („ich hänge am Leben“) und die Tränen angesichts von „Grauen“ und „Schmerz“ in den Mittelpunkt und setzten ihn mit dem persönlichen Schicksal des Regisseurs in Beziehung. Gosch wurde bei seiner letzten Premiere zum Schlussapplaus im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und erlag nur wenige Wochen später seinem Krebsleiden.

Im Herbst 2015, mehr als 6 Jahre später, haben sich die Vorzeichen grundlegend geändert: „Idomeneus“ steht ab und zu weiterhin als eine der letzten Übernahmen aus der Willms-Ära, bevor Ulrich Khuon und sein Team vom Hamburger Thalia-Theater die Intendanz am DT übernahmen, auf dem Spielplan. Das Ensemble ist mittlerweile in alle Himmelsrichtungen verstreut. Margit Bendokat, Meike Droste, Alexander Khuon und Bernd Stempel gehören immer noch zum Ensemble, andere wie Christian Grashof und Barbara Schnitzler sind mittlerweile nur noch selten zu sehen. Die dritte Gruppe ist längst an anderen Häusern engagiert (Niklas Kohrt, Katharina Schmalenberg, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch) und kommen für dieses Stück an die alte Wirkungsstätte zurück.

So bekommt der Abend den Charakter eines fröhlichen Klassentreffens: Nicht nur in den ersten Minuten ist eine große Vertrautheit zu spüren, als die Körper ineinandergeknäuelt vor der weißen Wand hin und herwogen, sich sehr nah auf die Pelle rücken und dennoch ein erstaunlich konzentriertes chorisches Sprechen hinbekommen. Vor allem auch später ist dem Ensemble anzumerken, dass es sich über das Wiedersehen freut und gerne wieder mal zusammen auf der Bühne steht. Diese kleinen Gesten, hier ein Zwinkern, dort ein Zulächeln oder ein gemeinsames Schmunzeln, prägen den „Idomeneus“ sechs Jahre nach der Premiere.

Und das Stück selbst? Roland Schimmelpfennigs Vorlage, die er für Dieter Dorn schrieb, ist ein kurzweiliges, intelligentes Spiel mit dem Mythos: Wie aus Mozarts Oper bekannt, verspricht der König dem Meeresgott, ihm die erste Person zu opfern, die sie am Strand treffen, wenn er sie aus dem Unwetter rettet und heil nach Hause kommen lässt. Als dem Idomeneus ausgerechnet sein Sohn Idamante in die Arme läuft, entspinnt sich ein dramatischer Konflikt: Muss Idomeneus sein dem Gott gegebenes Versprechen halten und den eigenen Sohn opfern? Oder darf er sich darüber hinwegsetzen?

In flapsigem Ton und kurzen Szenen spielt das Ensemble mehrere Varianten durch, bis zum nächsten Cut: „So war´s nicht. So ist es nicht gewesen.“ – Der Mythos wird zur Spielwiese, auf der sich Assoziationen, Überschreibungen und Neuinterpretationen austoben.

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Leserkritiken: Coup Fatal, Wien et al
Coup Fatal, Haus der Berliner Festspiele

„Coup Fatal“: Crossover aus Barock-Arien, E-Gitarre und afrikanischen Trommeln

„Coup Fatal“ hatte im Juni 2014 bei den Wiener Festwochen Premiere und tourt nun über die Festivals, Mitte Oktober war es im Haus der Berliner Festspiele zu Gast. Der belgische Regisseur Alain Platel entwarf mit dem Countertenor Serge Kakudji und 13 Musikern ein Crossover aus Barock-Arien (v.a. von Gluck und Händel), die neben afrikanischen Trommelklängen stehen und auch noch durch E-Gitarren verzerrt werden.

Der Abend zeigt beispielhaft, was bei einem solchen Stilmix schief gehen kann: unverbunden stehen die verschiedenen Traditionen und Stile nebeneinander. Weder Fisch, noch Fleisch reiht sich ein Musikstück an das nächste. Von dem angekündigten theoretischen Überbau, dass der Abend auch die Lage in dem von Bürgerkrieg und Rohstoff-Ausbeutung geplagten Kongo thematisieren wird, sind in diesem hektischen Stilmix höchstens Spurenelemente zu erahnen.

Der Saal im Festspielhaus ist bei der Berliner Premiere nur zur Hälfte gefüllt, einer der drei geplanten Abende wurde kurzfristig abgesagt. Von denen, die sich nach Wilmersdorf aufgemacht haben, bejubeln dennoch einige die Musiker mit stehenden Ovationen. Immer wieder nahmen die Künstler schon während der Konzert-Performance Kontakt zum Publikum auf und tigerten durch die ersten Reihen: zwei Zuschauerinnen wurden zu einem Tanz auf der Bühne eingeladen.

So kam zwar Partystimmung auf, ein sehenswerter Abend wurde dennoch nicht daraus. Drastisch, aber leider nicht unberechtigt schrieb der Wiener „Standard“ schon nach der Uraufführung von der „Crossover-Hölle der Verharmlosung“.

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Leserkritiken: Gift, Deutsches Theater Berlin
Gift, Deutsches Theater Berlin

„Gift“ am DT: Starschauspieler Ulrich Matthes und Dagmar Manzel als verzweifelte Schiffbrüchige an der Boje

Vor dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang sieht es aus wie im Wartezimmer beim HNO-Arzt oder bei der Meldestelle im Bürgeramt: schlichte weiße Plastikstühle, ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender mit Pappbechern. „Am Bühnenbild wurde wirklich sehr gespart“, raunt eine Sitznachbarin ihrem Begleiter zu. Für das Bühnenbild mag spartanisch noch ein Euphemismus sein, dafür trumpft Christian Schwochow bei seinem Regie-Debüt „Gift“ am Deutschen Theater mit einer Deluxe-Besetzung auf: Dagmar Manzel und Ulrich Matthes.

Sie spielen „zwei Verzweifelte, zwei Schiffbrüchige, die sich an einer Boje festhalten“: Sie waren mal ein Paar. Erst haben sie ein Kind verloren, dann einander. Nach langer Zeit treffen sie sich an diesem Un-Ort, dem Wartesaal eines Friedhofs, wieder. Ihr Sohn Jakob wurde dort beerdigt, auch das ist etliche Jahre her. Sie wurden in einem Brief benachrichtigt, dass sein Grab wegen Gift im Boden verlegt werden müsse.

Stockend überwinden sie das Schweigen. Aufgestaute Aggressionen machen sich Luft. „Er“ sei – wie immer – so schrecklich distanziert. „Er“ mache es sich so furchtbar leicht, beginne mit einer jüngeren Frau einfach ein neues Leben in der Normandie. „Sie“ sei unfähig, über die Vergangenheit hinwegzukommen und habe sich in ihrem Schmerz eingerichtet.

Es ist symptomatisch, dass wir an keiner Stelle die Vornamen dieses gescheiterten Paares erfahren. Die beiden Protagonisten sind nur Sprachrohre für die Textbausteine, die ihnen die niederländische Autorin Lot Vekemans in ihrem „Klipp-Klapp-Dialogstück“ zugewiesen hat.

Das Problem dieses Abends sind die Schwächen der Textvorlage, die zwischen „Geh wohin Dein Herz Dich trägt“-Erbauungsliteratur á la Susanna Tamaro (daran fühlte sich auch Mounia Meiborg in der SZ erinnert) und dem glücklosen Versuch, die Melancholie aus Ingmar Bergman-Filmen zu kopieren (ähnlich Thomas Rothschild in einem Kommentar auf Nachtkritik) schwankt.

Dennoch machen die beiden Schauspielstars das Beste aus dieser schwachen Vorlage: auch wenn die hölzernen Dialoge allzu vorhersehbar und „wohltemperiert“ vor sich hinplätschern, ist es dennoch sehenswert, Matthes und Manzel zuzusehen: ihre kleinen Gesten, ihre unsicheren, sich belauernden Blicke, ihre sarkastische Schärfe zu erleben.

Für diese beiden Könner hat sich der Weg an diesem November-grauen Abend mitten im Oktober ins auch fast zwei Jahre nach der Premiere vollbesetzte Deutsche Theater doch gelohnt. Ohne ihre schauspielerische Klasse wäre dieses Kammerspiel auf der Großen Bühne in grauer Trübsal auf Grund gelaufen.

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Leserkritiken: 100 Sekunden, Deutsches Theater Berlin
100 Sekunden (wofür leben), Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele

Märtyrer-Clips, Comedy und Kerzen-Kitsch am DT

Auf einem verschlungenen Weg geht es in den Backstage-Bereich der Kammerspiele des Deutschen Theaters, wo recht unbequeme, kunterbunt zusammengewürfelte Stühle bereitstehen, wie man sie eher auf dem Flohmarkt als auf der Theaterbühne vermuten würde. Die vier Schauspieler (Michael Goldberg, Camill Jammal, Katharina Matz und Wiebke Mollenhauer) haben sich unter das Publikum gemischt. Abwechselnd erheben sie sich und stellen das Schicksal eines Menschen vor, der für seine Überzeugung in den Tod ging.

Die Uhr tickt unerbittlich: es bleiben genau 100 Sekunden. Eine Stimme aus dem Off zählt die letzten Sekunden herunter und ruft dann mit schneidender Stimme: „Stopppp!“ Provozierend stehen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten völlig unvermittelt nebeneinander: vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennnung ein Auslöser der Arabellion war, geht es zum Hungerstreik des RAF-Mitglieds Holger Meins. Der Chef-Archäologe von Palmyra, der im August vom IS geköpft wurde, steht neben Magda Goebbels, die ihren Kindern Gift gab, neben Jeanne d´Arc, die Katharina Matz mit viel zu großem, verrutschendem Helm spielt, neben dem biblischen Abraham, der im Alten Testament Gott seinen Sohn Issak opfern sollte, neben japanischen Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, neben einem Atomwissenschaftler, der sich nach dem Super-Gau von Tschernobyl verstrahlen ließ, und so weiter und so fort.

In diesem Sammelsurium aus Märtyrer-Clips fällt es nicht weiter auf, dass sich auch die Geschichte des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow, der die Welt am 26. September 1983 vor dem Atomkrieg rettete, dazwischenschmuggelt. Nach 100 Sekunden kommt der Cut und dann gleich die nächste Geschichte, sofern nicht doch wieder der sakral wirkende Klagegesang dazwischen geschoben wird, in dem Wiebke Mollenhauer und Camill Jammal anscheinend Athena beschwören.

Noch etwas haben diese kurzen Szenen gemeinsam: historische Figuren mit der Autorität von Säulenheiligen wie Friedensnobelpreisträger Mahatma Gandhi werden ebenso ironisch gebrochen wie die schon erwähnte Jeanne d Arc mit ihrem schlecht sitzenden Helm. Im Fall von Gandhi lässt sich Jammal einfach nicht davon abbringen, ihn ständig mit Ben Kingsley zu verwechseln, der für seine Gandhi-Darstellung den Oscar gewann.

All die Überzeugungstäter kann man nicht mehr richtig ernst nehmen: „Die Aufklärung hat mit den Göttern und großen Geschichten gehörig aufgeräumt. Doch nicht nur das fortschreitende wissenschaftliche Zeitalter, sondern auch das Ende des großen Systemwettlaufs zwischen Ost und West hat den Himmel der Überzeugungen, der Utopien und Ideologien entleert“, beklagt der Text im Programmheft zu „100 Sekunden (wofür sterben)“, das den Besuchern in die Hand gedrückt wurde.

Das Ende der Utopien mündet in eine schräge Party. Die Wand wird durchgebrochen, Katharina Matz schlüpft in einen Raumfahrer-Anzug, Camill Jammal wirft sich einen Poncho über, setzt sich Insekten-Fühler aus Plastik auf und spielt am Klavier, auf dem sich Wiebke Mollenhauer im Abendkleid räkelt. Von „Live is Life“ bis „Atemlos“ werden Stimmungshits angespielt. Die gute Laune des Ensembles will aber nicht so recht auf das Publikum übergreifen.

Das Publikum wird am Schluss von der Hinterbühne in die Zuschauerränge der Kammerspiele geführt. Auf jedem leeren Platz wird eine Kerze angezündet. Diesen Abend kann dann auch das kitschige Schluss-Bild nicht mehr retten: Christopher Rüpings jüngste Arbeit am Deutschen Theater verliert sich in Ironie und Comedy.

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Leserkritiken: Fear, Schaubühne Berlin
"Fear", Schaubühne

„Hässliche hassende Frauen“ könnte das Stück heißen, ätzt Tilman Strauß. Oder „Kelle, Kuby, von Storch“ in Anlehnung an „Ritter, Dene, Voss“, legt er nach. „Aber das wollten wir Dir nicht antun, Ilse“, ruft er Ilse Ritter zu, seiner Bühnenpartnerin aus Falk Richters vorheriger Arbeit „Never Forever“, die in einer der ersten Reihen sitzt.

Es ist auch nicht notwendig, sich noch weiter den Kopf über einen alternativen Titel für die neueste Stückentwicklung von Falk Richter zu machen: „Fear“ ist die passende Überschrift für diesen zweistündigen Streifzug durch wabernde Ängste vor Islamisierung und durch Hasspredigten. Diese bunte, temporeiche Collage ist – wie wir es von Falk Richter gewohnt sind – mit tänzerischen Elementen verknüpft, für die an diesem Abend vor allem Denis Kuhnert, Frank Willens und Jakob Yaw zuständig sind.

„Fear“ ist eine fulminante Abrechnung mit AfD, Pegida und Co., ganz auf der Höhe der Zeit. Von Akif Pirinçcis „KZ“-Rede, die mittlerweile ein Fall für den Staatsanwalt ist, bis zu Björn Höckes Deutschland-Fahnen-Auftritt bei Jauch wurde bei den Endproben aktuellstes Zitate- und Video-Material aufgenommen.

Schlag auf Schlag geht es von einem Pamphlet zum nächsten Einspieler. Gut recherchiert werden nicht nur die bekannten Köpfe der rechtspopulistischen Bewegung zitiert, sondern Bezüge hergestellt, Netzwerke aufgezeigt und auch einige Namen genannt, die der breiten Öffentlichkeit noch nicht so bekannt sind. Zu Wort kommen natürlich die Demo-Teilnehmer, die treuherzig darauf pochen, dass sie ganz bestimmt keine Nazis seien, aber man müsse doch mal sagen dürfen…

Als diese Auseinandersetzung mit Pegida, AfD und Co. im Sommer von der Schaubühne angekündigt worden war, wähnten sich viele noch in dem Glauben, dass das Randphänomene seien, die sie nichts angingen und bald vergessen seien. Die AfD schien sich in parteiinternen Machtkämpfen vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. „Im Sommer noch hätte Veranlassung bestanden, das Ende von Pegida zu prognostizieren. Von einer Bewegung, die Zehntausende zu mobilisieren vermochte, war eine kleine Gruppe dauerprotestierender wütender Bürger übrig geblieben“, leitete Hans Vorländer seine Pegida-Analyse in der FAZ ein.

Falk Richter und seinem Ensemble geht es darum, dass wir genau hinsehen, uns mit dem Denken und der Sprache derer auseinandersetzen, die Ängste schüren, Minderheiten beschimpfen und Hass säen. Wenn Bernardo Arrias Porras zu Beginn die Haltung eines Hipsters karikiert, d er lieber auf Dachterrassen feiere und Serie wie „True Detective“ gucke, weil ihn diese Proteste irgendwo in Dresden oder Heidenau doch nichts angingen, dann wird sehr deutlich: So einfach dürfen wir es uns nicht machen.

Gegen Ende drohte diesem hochtourig rasenden Abend etwas die Luft auszugehen. Aber da musste er offensichtlich noch mal Atem holen, bevor er in einer Travestie-Nummer kulminiert, die ihr Publikum auch weiter polarisieren wird: Tilman Strauß schlüpft in ein Glitzer-Abendkleid und gibt sich als AfD-Europaparlamentarierin Beatrix von Storch aus, die ihre Ahnen ihres Adelsgeschlechts beschwört und auf ihrem Schloss von nächtlichen Angstattacken vor Überfremdung geplagt wird.

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Leserkritiken: Wintersonnenwende, DT Berlin
"Wintersonnenwende", Deutsches Theater Berlin

Jutta Wachowiak hatte bei ihrem Comeback auf der Großen Bühne des Deutschen Theaters Pech: mit Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“, das nach der Uraufführung am „Dramaten“ Stockholm als deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan stand, erwischte sie eine schwache Vorlage.

Der raunende Tonfall dieser kruden Mischung aus einer Prenzlauer Berg-Bashing-Komödie à la „Stück Plastik“ und einer Mahnung à la „Biedermann und die Brandstifter“ ist kaum auszuhalten.

Der Abend begann noch recht vielversprechend: gebildete Akademiker, der Schriftsteller Albert (Felix Goeser) und seine Frau Bettina, eine Filmemacherin, (Judith Hofmann) bereiten sich auf Weihnachten und den Besuch der etwas überspannten Corinna (die bereits erwähnte Jutta Wachowiak) vor. Mutter und Tochter sind sich in herzlicher Abneigung verbunden.

Die Nachricht, dass sich Corinna bis Anfang Januar in der Altbau-Wohnung einquartieren wird, weckt Vorfreude auf pointierte Wortgefechte und vergnügliche zwei Stunden im bewährten Salonkomödien-Stil, im besten Fall so zündend wie bei Yasmina Reza oder Edward Albee.

Leider fehlt schon diesem ersten Teil das nötige Temperament. Zwischen Chopin und Bachs „wohltemperiertem Klavier“ schleppt sich der Abend dahin. Statt scharf gewürzter Dialoge hören wir viel Betuliches und sehr viele ins Publikum gesprochene Regieanweisungen: in der Regel sind das Gedanken über andere Anwesende, die man aus Höflichkeit vor allem in den hier porträtierten gutbürgerlichen Kreisen lieber für sich behält. Wie der Dramaturg David Heiligers in der Einführung erklärte, war es der ausdrückliche Wunsch des Autors Roland Schimmelpfennig, dass diese Regieanweisungen gesprochen werden.

Noch schlimmer wird es aber im zweiten Teil: der ungebetene Gast Rudolph (Bernd Stempel), eine Zufallsbekanntschaft von Corinna, der ihr während der Bahnfahrt mit guten, geradezu „ritterlichen“ Manieren den Hof machte, entpuppt sich als antisemitischer, esoterisch angehauchter Rattenfänger.

Plumpe Anspielungen auf den Traum der Nationalsozialisten von einem „1000jährigen Reich“ und auf das Abtauchen vieler Nazis nach Südamerika (Paraguay wird immer wieder genannt) werden zu einer schwer erträglichen Textmasse angedickt, die mit dem Holzhammer davor warnt, dass das gutsituierte Bürgertum den Extremisten schutz- und kraftlos gegenüber steht.

Die Endzeitstimmung von Schimmelpfennigs Text schreibt Regisseur Jan Bosse im Programmheft-Interview einfach fort: „Die Zwischenzeit, in der wir leben, geprägt von der Ahnung wie der Befürchtung großer kommender Umwälzungen, wird wohl von unseren Nachfahren als Inseldasein zwischen den großen Kriegen wahrgenommen werden.“

Der Abend scheitert jedoch daran, diese These überzeugend zur Diskussion zu stellen und die geeigneten theatralischen Mittel dafür zu finden. Er kommt nicht über ein Raunen hinaus, mit dem er sein Unbehagen artikuliert. Er ist ärgerlich, vor allem für Jutta Wachowiak, die einen würdigeren Rahmen für ihr Comeback verdient hätte.

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Leserkritiken: Arms and the Man
Leicht und bekömmlich
Arms and the Man (George B. Shaw) – Regie: Richard Cottrell – Drama Theatre, Sydney Opera House
Der Poet W. B. Yeats schrieb über die Wirkung von „Arms and the Man“ bei der ersten Aufführung, dass das Publikum geteilter Meinung gewesen sei. Ein Teil amüsierte sich, der andere Teil war entgeistert und sprachlos. Ich würde mich wohl eher zum zweiten Teil zählen. Nicht etwa des Textes, sondern der Inszenierung wegen.
Der Dreiakter im Drama Theatre der Sydney Oper beginnt plötzlich. Auf der Rundbühne ist Raina zu sehen, die schmachtend an ihrem Fenster steht und in die Nacht hinausschaut, umgeben von weißem Interior und aufwendig gestaltetem Bühnenbild. Belangloses Palaver zwischen Mutter und Tochter enthüllt, dass Raina mit dem Offizier Sergius verlobt ist, der mutig gegen die Russen kämpft. Im Kanonenhagel schneit ein Schweizer durchs Fenster hinein, der als serbischer Soldat Bekanntschaft mit Sergius gemacht hat – Kapitän Bluntschli, der statt Patronen Schokolade in seinem Munitionsgürtel bunkert. Und so geht die Dreiecksgeschichte los. Raina verguckt sich in den ungewöhnlichen, sarkastischen Opportunisten und lädt ihn ein für ein Weilchen bei ihr und ihrer Mutter zu verweilen.
Der Krieg ist vorbei, Sergius und Rainas Vater kehren zurück und geben sich als siegreiche, kampferfahrene Männer – wie das halt so ist. Unangenehmerweise berichten die beiden von einem Schweizer, der sich bei einer bulgarischen Dame und ihrer Tochter während des Krieges eingenistet hatte. Nebenher spinnt sich eine Geschichte zwischen dem Dienstmädchen Louka und Sergius, der seine angestauten lieblichen Gefühle für Raina irgendwo abladen muss. Der Schweizer Bluntschli kehrt zurück und nimmt die notgedrungene Einladung zu bleiben gern an. Zwischen all den beteiligten Personen kommt es zum Hiat, die Aussprache steht an, nur der Vater hat eine lange Leitung.
Dann Partnertausch: Ohne weiteres Getue lösen Sergius und Raina ihre Verbindung, Louka angelt sich den jungen Offizier und der Schweizer gesteht irgendwie seine Zuneigung zu Raina und umgekehrt. Diese galt seit ihrer ersten Begegnung ihm, dem „chocolate cream soldier“.
So also die Geschichte, unterhaltsam, ohne Probleme zu verstehen. Was die ganze Sache langweilig macht, ist die Einfaltslosigkeit und die Bravheit. Von der Dekoration bis zu den Kostümen, über die Positionierung im Raum, die Beleuchtung, ist alles leicht verdaulich. Peinlich genau achten die Darsteller darauf die Drehbühne nicht zu übertreten, fast schon schamlos ist es, als das Kleid der Mutter über den weißen Boden der Drehbühne ragt. Alles ist hübsch ausdekoriert bis hin zu den Löckchen der Damen. Was nun also sagen, über diese Inszenierung.
Die übertriebene Darstellung einzelner Situationen, besonders in den Momenten zwischen Raina und Sergius verwenden die Techniken des Darstellenden Spiels. Der lieblichste Luftkuss aller Zeiten, die triefigsten Worte, schmerzlich schmachtende Blicke. Im Gegenzug die unterkühlte Liebesbekundung am Ende zwischen Raina und Bluntschli. Der Fokus wird allmählich deutlich: die Aufdeckung der Künstlichkeit der romantischen Konventionen. Das Warten auf den heiß Geliebten, die den Krieg überdauernde Liebe wird komplett entmystifiziert, ins Reich der Fantasie verbannt und ins absurd Lächerliche gezogen.
All die Mittelchen und die Überzeichnung wirken äußerst blechern und einstudiert, dass sie kaum bei mir ankommen. Sie sind nur zu beobachten.
Das wirklich Überraschende und für mich als deutschen Zuschauer Ungewöhnliche, ist der Herr vor mir, der sich zum Applaus erhebt und die rechte Seite des Publikums zu Standing Ovations auffordert; nach nur drei Applausordnungen ist aber Schluss mit der Begeisterung und der Applaus versiegt rasch und die Lichter gehen an.
Nichts Aufregendes, nichts Interessantes, schlichte Unterhaltung, kein inneres Aufstoßen, leicht und bekömmlich wie Fischfilet mit Gemüsebeilage.
Leserkritiken: Transit, Deutsches Theater Berlin
„Transit“ – Monolog in de Box des Deutschen Theaters über eine Flucht nach dem Roman von Anna Seghers

Thorsten Hierse sitzt verloren in der Box des Deutschen Theaters Berlin. Das karge Bühnenbild beschränkt sich auf einen Stuhl und die Flasche Rosé, die der Schauspieler in den 90 Minuten seines „Transit“-Monologs leeren wird. Aus dem Hintergrund sorgt Tobias Vethake für einen Live-Musik-Klangteppich, der die Erinnerungen des Gestrandeten untermalt.

Hochkonzentriert arbeitet sich Hierse durch den Abend und nimmt die Perspektive des namenlosen Ich-Erzählers aus der Romanvorlage von Anna Seghers ein: er ist aus einem Zwangs-Arbeitslager bei Rouen entkommen und hat sich nach Südfrankreich durchgeschlagen. Mit vielen Leidensgenossen verbringt er seine Zeit vor allem mit Warten: in Konsulaten auf ein Visum, am Hafen auf ein Schiff, das die Flüchtlinge vor den Nazis in Sicherheit bringen soll, oder im Café auf eine interessante Begegnung, einen kleinen Flirt.

Während Hierse auf seinem Stuhl sitzt, einige Schritte geht, wieder zum Glas greift und aus dem Leben eines Flüchtlings berichtet, tänzelt Wiebke Mollenhauer in unregelmäßigen Abständen diagonal über die kleine Bühne: mal spielerisch tänzelnd, mal atemlos rennend. Sie spielt die Marie, auf der Suche nach ihrem Geliebten, jedoch ständig zwischen mehreren Männern hin und hergerissen. Der Ich-Erzähler genießt ihre Nähe, bekommt sie aber nicht zu fassen.

Alexander Riemenschneider blieb in seiner Regiefassung nah am Roman-Text und verzichtete auf Aktualisierungen. Das Programmheft referiert zwar Statistiken und Entscheidungsquoten des BAMF, das für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist, der Abend vertraut aber ansonsten ganz auf die Kraft der Vorlage.

„Transit“ ist ein kleiner, stiller Abend in der sehr gut besuchten „Box“, auch die nächste Vorstellung am 25. November ist bereits wieder ausverkauft.

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Leserkritik: Die juristische Unschärfe einer Ehe, Berlin
Die juristische Unschärfe einer Ehe, Gorki:

Sie finden keinen Halt: auf der schrägen weißen Wand versuchen die vier Schauspieler, sich nach oben zu hangeln und vorwärts zu krabbeln, sie rutschen aber doch immer wieder ab.

Altay, Jonoun und Leyla sind auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ beschreibt eine queere Ménage-à-trois, die zwischen Sehnsucht nach Nähe und der Jagd nach Abenteuern im Nachtleben hin und hergerissen ist. Wie unter einem Brennglas wird ihr „unaufgeräumter Gefühlshaushalt“ (FAZ zur Roman-Vorlage von Olga Grjasnowa) im Schlussmonolog zusammengefasst: Wo gehöre ich hin?

Es ist eine Stärke dieses Abends von Nurkan Erpulat, dass er sich hier von seiner Roman-Vorlage löst: diese Worte über die Ratlosigkeit, über das „Finden“ und das „Bleiben“ bringen auf den Punkt, worum die Protagonisten kreisen. Der Schluss ist überzeugender als Grjasnowas abrupt abbrechende letzte Roman-Seite, die einen Rückflug bei Champagner von Baku nach Berlin schildert.

Damit macht Erpulat auch einiges wett, das in den vorangegangenen knapp zwei Stunden nicht funktionierte. Am schwersten wiegt, dass er seine Figuren nicht ernst genug nimmt.

Mehr Tiefenschärfe und klarere Konturen hätten zwar auch den Figuren im Roman gut getan. Aber auf der Bühne geht noch mehr verloren: Was motiviert sie? Wie stehen sie zueinander? Vor allem der Psychiater Altay (Taner Şahintürk) wird in einigen Episoden zum albernen Abziehbild banalisiert.

Eine der Schlüsselszenen des Romans ist das Auftauchen von Yves, einer Trans-Schönheit mit Perlen, blauen Lidschatten und einem nachtblauen Satinkleid, der vom schwulen Altay mit nach Hause gebracht wird. Dort entspinnt sich ein subtiler Dreiecks-Flirt mit der lesbischen Leyla, die mit Altay in Moskau eine Scheinehe einging und vor der Homophobie in den Westen flüchtete. Aus Grjasnowas behutsamer Beschreibung eines Spiels mit Geschlechterrollen wird auf der Bühne nur oberflächliche Travestie (mit Mehmet Ateşçi im Fummel).

Der Roman bietet mehr lange Erzählstrecken als knackige Dialoge. Er würde sich sehr gut als Vorlage für ein Road-Movie mit Off-Stimme eines Erzählers im Programmkino eignen. Auch die sehr scharf beobachteten Skizzen, mit denen Grjasnowa Berliner Kieze von Charlottenburg über Mitte und Kreuzberg bis Neukölln pointiert beschreibt, mit denen sie vor allem Missstände in den postsowjetischen Kaukasus-Republiken kommentiert, sind sicher nur schwer in theatralische Mittel zu übersetzen. Auf diese Stärken des Romans müssen wir bei Erpulats Inszenierung verzichten.

Die vier Schauspieler helfen sich, indem sie abwechselnd mit dem Mikro an die Rampe treten und längere Passagen in den Zuschauerraum sprechen, bevor sie sich wieder einander zuwenden.

Leider haben Erpulat und sein Ensemble aber auch einige der raren Chancen verschenkt und z.B. diesen bühnenreifen Dialog aus der Vorlage einfach links liegengelassen: auf drei Seiten schildert Grjasnowa, wie sich Krankenschwestern, Ärzte und der Chefarzt eines Moskauer Krankenhauses in Altays Anwesenheit in homophobe Hasstiraden hineinsteigern.

Statt diese gelungene Steilvorlage dankbar aufzunehmen, wird in Erpulats Bühnenfassung nur das übliche Stammtisch-Gebrabbel wiederholt. So bleibt diese Szene weit hinter dem Witz der Vorlage zurück und erreicht leider auch nicht das Niveau und den Biss von Falk Richters Anklagen homophober Ressentiments („Small Town Boy“ am Gorki und „Fear“ an der Schaubühne).

Trotz dieser genannten Schwächen ist dem Abend zugute zu halten, dass er es schafft, eine stimmige Atmosphäre zu entwickeln. Wenn die Protagonisten ins Berliner Nachtleben zwischen Berghain und SO 36 eintauchen, dröhnen die Beats, tanzen die Körper ekstatisch und werden gestählte Muskeln auf der Videoleinwand stolz präsentiert. Zum „Vorglühen“, als Einstimmung auf den Feier-Marathon, eignet sich Erpulats Stück dennoch nur bedingt: diese Szenen machen nur einen Bruchteil des Abends aus, vor der Party müssen noch längere Durststrecken im Frontal-Unterricht-Stil ausgehalten werden.

In Erinnerung bleiben auch die Ballett-Szenen: alle vier Akteure (Mehmet Ateşçi / Mareike Beykirch / Lea Draeger / Taner Şahintürk) quälen sich in weißen Kleidern und Schühchen durch den Drill. Schaufensterpuppen-Gliedmaßen werden unnatürlich abgespreizt. Die drei Arten des Schmerzes, die Grjasnowa beschreibt, sind ihnen ins Gesicht geschrieben.

Fazit: Ohne die genannten Mängel wäre die Auseinandersetzung mit den Themen, die das Gorki beschäftigen, noch interessanter geworden: mit der Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Kulturen, der Suche nach den Wurzeln, dem Ausprobieren alternativer Lebensentwürfe.

„Die juristische Unschärfe einer Ehe“ ist zwar kein neues Aushängeschild des Gorki, fügt sich aber schlüssig ins Repertoire.

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Leserkritiken: Fidelio für Kinder, Taschenoper Lübeck
Jugendoper über die Lust, gefangen zu sein

Von Horst Schinzel

Die private Theatertruppe „Taschenoper Lübeck“ der Prinzipalin Margrit Dürr bemüht sich seit vielen Jahren mit großem Erfolg, klassische Opern für Kinder zu bearbeiten.
Jetzt hatte im Lübecker Theater die neueste Produktion „Fidelio für Kinder“ ihre Uraufführung .Nun eignet sich Beethovens Freiheitsoper nur sehr bedingt, auf ein kind- und jugendgemäßes Format herunter gestutzt werden. So sind den Bearbeitern Margrit Dürr und Julian Metzger arg die Gäule durchgegangen. Herausgekommen ist ein „fideles Gefängnis“ – so Gouverneur Pizarro (Jan Westendorff) bei seinem ersten Auftritt -, in dem es fünfundsiebzig Minuten lang ausgesprochen heiter und fidel zugeht. Das entspricht sicher dem Gesichtskreis der anvisierten Zuschauer ab acht Jahren, lässt aber von Beethoven nur die herrliche Musik übrig.
Die Vorstellung beginnt durchaus dramatisch. Die erwartungsvoll im Kammerfoyer versammelten Zuschauer werden von Rocco (Tobias Hagge) und seiner Tochter Marcelline (Dorothee Bienert) gefangen genommen und über geheimnisvolle Stiegen in das Studio getrieben, wo sie auf kargen Hockern Platz nehmen müssen. Sie teilen ihr Schicksal mit dem aufmüpfigen Florestan (Richard Neugebauer). Eine Gefangenschaft, die aber durchaus erträglich ist. Rocco, Marzelline und der später hinzu kommende Fidelio (wuschelköpfig Margrit Dürr) treiben mit ihren Gefangenen Sport und üben einen makabren Kanon ein „Ich bin gefangen, Du bist gefangen, wir sind gefangen“. Das alles ist von Sascha Mink zur Musik einer siebenköpfigen Combo – deren Musiker mit Pickelhauben ausgestattet sind – flott und jugendgemäß inszeniert worden. Die musikalische Leitung hat Carl Augustin.
Der ernste Hintergrund dieser Gefangenschaft zeigt sich erst sehr zum Schluss. Gouverneur Pizarro gibt sich lange durchaus jovial. Doch dann will er Florestan mittels einer geheimnisvollen Elektrokonstruktion ermorden. Fidelio gelingt es, diese so umzupolen, dass Pizarro selbst ihr Opfer wird.
Die Zuschauer der Uraufführung – die dank der Zuwendungen Lübecker Stiftungen ermöglicht wurde – waren begeistert und feierten alle Beteiligten lang und anhaltend.


HS-Kulturkorrespondenz Eutin
Leserkritik Fidelio: Kinderstutzopern alle schrecklich
ALLE auf Kinder zurechtgestutzte Opern sind schrecklich und lassen nicht einmal die Musik zurück, weil die vom Inhalt dabei verharmlosend getrennt wird. Oper ist die beste musische Bildung für Kinder die man sich vorstellen kann (sehr überzeugend dazu z.B. Anne-Sophie Mutter), weil sie mit Theater und szenischer Darstellung verknüpft ist. Bild, Ton, Lebensproblem werden wahrnehmbar eins. Etwas, was angeht. Auch Kinder. Für Kinder zurechtgestutzte Opern sollten später durch die jeweiligen Kinder zu schwersten Bestrafungen im Sinne von Racheakten an Erwachsenen führen!!
Leserkritiken: Peer Gynt, Deutsches Theater Berlin
Peer Gynt, Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin

„Peer Gynt“: Margit Bendokat und Samuel Finzi tasten sich durchs Dunkel

Das Licht ist in den Kammerspielen des Deutschen Theaters stark heruntergedimmt. Samuel Finzi (als Peer Gynt) und Margit Bendokat (in allen anderen Rollen von Aase bis Solveig) tasten sich über den Sand und durch eine stark gekürzte Fassung von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht.

Gotscheff-Schüler Ivan Panteleev trieb den Minimalismus, der schon in seiner „Warten auf Godot“-Inszenierung polarisierte, an diesem knapp zweistündigen Abend noch weiter auf die Spitze.

Kunstpausen dehnen sich zu halben Ewigkeiten, jede kleine Geste wird zelebriert. Das mag zwar stellenweise virtuos gemacht sein und Margit Bendokats Stimme, für die man in der deutschen Sprache erst noch ein passendes Adjektiv erfinden müsste, ist immer ein Hörerlebnis. Aber diese Inszenierung ist ansonsten einfach entsetzlich langweilig.

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Leserkritiken: Macbeth, Film mit Michael Fassbender
Leserkritik zur "Macbeth"-Verfilmung mit Michael Fassbender

An „Macbeth“-Bearbeitungen gibt es wahrlich keinen Mangel. Am Deutschen Theater Berlin hatte erst vor wenigen Monaten Ulrich Matthes in dieser Shakespeare-Rolle Premiere, leider blieb Tilmann Köhlers Regiearbeit ziemlich blutleer.

Der australische Regisseur Justin Kurzel entschied sich für ein opulentes Leinwandspektakel an schottischen Originalschauplätzen: mittelalterliche Heere prallen aufeinander, das Blut spritzt. Die Kamera hält in Großaufnahme drauf, wenn Macbeth den König Duncan ermordet und auch immer sonst, wenn Leiber von Schwertern durchstoßen oder Speeren durchbohrt werden.

Wir erleben eine gekürzte Fassung, die nah an der klassischen Vorlage bleibt, nur ganz am Anfang, vor dem berühmten Auftritt der Hexen, etwas hinzudichtet: das Ehepaar Macbeth bestattet ein Baby. Dass sie ein Kind verloren haben, wurde von Shakespeare nur kurz angedeutet. Hier wird es an so prominenter Stelle in Szene gesetzt, weil Kurzel uns sagen will: die beiden sind schwer traumatisiert und reißen die Welt um sich herum mit in den Abgrund.

Dräuend und wabernd breitet sich ein düsterer Klangteppich über dem Drama aus, graue Nebel wallen durch die Herbstlandschaft, zum großen Finale wird die Leinwand in Rot getaucht. Fürs Auge ist in dieser neuen Shakespeare-Verfilmung, die in Cannes Premiere feierte und in diesem Herbst in den Kinos startete, manches geboten. Es ist deutlich zu merken, dass der Regisseur sein Handwerk bei Werbe- und Videoclips gelernt hat.

An Oberflächenreizen mangelt es in diesen zwei Stunden nicht, leider fehlt dem Film aber der erhoffte Tiefgang. Dieses Defizit kann auch der Glanz der prominenten Besetzung mit Michael Fassbender als Macbeth und Marion Cotillard als Lady Macbeth nicht überstrahlen. Dementsprechend verhalten war die Resonanz in den Feuilletons.

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Kommentar zu Leserkritiken: Macbeth, Film
Die erste Shakespeare-Verfilmung, die mich schon im Vorfeld nicht interessiert hat. Nach gelesenem Interview mit Cotillard hab ich gewusst warum: es war ja so eine riesenhafte Leistung das Shakespeare-Englisch zu lernen. Also die Aussprache. Original-Aussprache 16./17.Jhdt. Uns von Tonaufnahme authentisch ünerliefert - wow! - Alleerdings kann man heute keinem Regisseur mehr vorwerfen, sein Handwerk bei Werbe- und Videoclip erlernt zu haben, es gibt bereits eine ganze so hergestellte Kinofilm-Generation, das ist auch Filmgeschichte, die genutzt UND überwunden werden will... Vielleicht.
Leserkritiken auch unter Rezensionen posten
Eine Anmerkung: ich finde die Rubrik Leserkritiken ja gut und sinnvoll. Aber wäre es nicht auch gut, wenn die Leserkritiken zu auf nachtkritik schon besprochenen Inszenierungen auch dort gepostet oder dorthin sortiert werden? Und: sollen hier auch Filmkritiken stehen? Wenn ja, auch gut, aber dann kommt von mir demnächst (nur noch bis zum 17.12. warten) eine Hymne auf 'Star Wars - Das Erwachen der Macht'. Nicht das Beschwerden kommen!

(Liebe/r dabeigewesen,
das geschieht auch so.
Gruß
jnm)
Leserkritiken: Kommentar zu Beiträgen kulturblog
Von den letzten 24 Beiträgen sind 18 von kulturblog. Liebe nachtkritik, dann bitte lieber diesen Pfad schließen. Oder verlinken. Dies lebt doch von eurer journalistischen Auswahl?
Ich verliere die Lust, hier etwas zu schreiben, wenn ich schon diese textkolonnen sehe.
Leserkritiken: My fair Lady in Kiel
Wer kennt nicht Ohrwürmer wie „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen“ oder „Ich hab getanzt heut Nacht“? Wenn dann Frederik Loewes immerhin schon sechzig Jahre altes Musical „My fair Lady“ so schwungvoll über die Rampe kommt, wie an diesem Sonnabend in der Regie und Choreografie der an der Förde schon bekannten frei schaffenden Ricarda Regina Ludigkeit, kann der Erfolg nicht ausbleiben. In dieser Produktion müssen alle Beteiligten 165 Minuten lang in dem fantasievollen Bühnenbild von Hans Kudlich und den prächtigen Kostümen von Gabriele Heimann und Silja Oestmann vor allem tanzen. Aber auch spielen und singen. Das tun alle Beteiligten in dem großen Ensemble mit Hingabe.
Die Geschichte von dem schrulligen Phonetik-Professor Henry Higgins, der aus dem Straßenmädchen Eliza eine Dame der Gesellschaft machen will, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Mit Kammersänger Jörg Sabrowski und Lesia Mackowycz – die mit Julie Caffier alterniert – sind diese beiden Hauptrollen überzeugend besetzt. Eine großartige Charakterstudie bietet der Gast Rudi Reschke als Alfred Doolitle. Ihnen zur Seite stehen Fred Hoffmann als Oberst Pickering, Michael Müller als Freddy Eynsford- Hill und Ilka von Holtz als Mrs. Higgins. Sie alle kommen eigentlich von der Oper, aber sie schlagen sich in diesem schwierigen Genre tapfer. Dass die Stubenmädchen Barbara Wanasek und Vera Scholten ständig Treppen rauf und runter laufen müssen, ist halt ein Gag.
Am Pult stellt sich Till Drömann vor. Er führt das Philharmonische Orchester mit Schwung durch den Abend. Der Opernchor ist von Lam Tran Dinh sicher einstudiert- Das Premierenpublikum ist begeistert und feiert alle Beteiligten.

Weitere Aufführung

26. November, 19.30 Uhr
Leserkritiken: Es wechseln die Zeiten + Wir wollen spielen, Berliner Ensemble
Leserkritiken zu "Es wechseln die Zeiten" und "Wir wollen spielen!", Berliner Ensemble

„Es wechseln die Zeiten“: altbackene, verqualmte Brecht-Revue am Berliner Ensemble

Hinter „Es wechseln die Zeiten“ verbirgt sich genau das, was der Untertitel ankündigt: „Eine Revue durch Brechts Stücke in Liedern und Gedichten“. Als das Berliner Ensemble mit „Mutter Courage und ihre Kinder“ am Théâtre de la Ville in Paris zu Gast war, schlugen die französischen Theatermacher vor, als Rahmenprogramm ein Best-of aus Brechts Songs und Texten zu gestalten. Seit der Premiere im September 2014 stand die Produktion „Es wechseln die Zeiten“ auch einige Male an Bertolt Brechts alter Wirkungsstätte am Berliner Schiffbauerdamm auf dem Spielplan.

Es ist eine naheliegende Idee und durchaus legitim, den Ahnherrn und Übervater des Hauses mit einer kleinen, etwas mehr als einstündigen Hommage zu ehren. Aber dieser Abend ist eine altbackene Enttäuschung. Regisseur Manfred Karge sitzt vorne links am Bühnenrand und hangelt sich streng chronologisch durch Brechts Werk. Hinter ihm sitzen die Musiker, rechts haben sich BE-Ensemble-Mitglieder um einen langen Tisch versammelt. Wenn sie nicht gerade an der Reihe sind, einen kurzen Song zum Besten zu geben, vertreiben sie sich die Zeit damit, sich und das Publikum mit Qualm einzunebeln.

Dieser Abend ist eine Zumutung für die Atemwege und in all seiner Einfallslosigkeit schnell abzuhaken.

„Wir wollen spielen!“: Ernst Busch-Schauspiel-Absolventen zeigen ihr Können auf der BE-Probebühne

Empfehlenswerter war einen Tag später „Wir wollen spielen!“: der aktuelle Absolventen-Jahrgang der Ernst Busch-Hochschule zeigte kurz nach dem Intendantenvorspiel auf der Probebühne des Berliner Ensembles ihr Können mit kurzen Ausschnitten ihrer Abschlussarbeiten.

Der Schwerpunkt lag auf klassischen Stoffen: Stella Hinrichs sprach das Gretchen, Annemarie Brüntjen und Jaela Carlina Probst duellierten sich als Elektra und Klytaimnestra. Tschechow war mit gleich drei Szenen vertreten: aus „Die Möwe“, „Platonow“ und „Der Bär“.

In den mehr als drei Stunden, die von einer kurzen Pause unterbrochen waren, ragten folgende Kabinettstückchen besonders hervor:

Leonard Scheicher und Felix Strobel (das Duo aus „Zwei Herren aus Verona“ und „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“) schlüpften in die surrealen Figuren aus Roland Schimmelpfennigs Theaterfassung von „Alice im Wunderland“.

Lukas Darnstädt spielt den Monolog eines Beziehungsunfähigen, der seine Partnerinnen nach allen Regeln der Kunst verführt und dann eiskalt abserviert: eine Episode aus dem Band „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ von David Foster Wallace, der die Feuilletons zu Beginn des Jahrtausends begeisterte.

Jaela Carlina Probst interpretierte das Lied „Gastgeber“ des Kleinkunstduos „Pigor singt. Benedikt Eichhorn muss begleiten“, das über Gäste, die zu früh erscheinen und nur im Weg stehen, lästert.

Zum Schluss sorgte das Quartett Annemarie Brüntjen, Gaja Vogel, Tim Riedel und Tiomcin Vogel mit einem längeren Ausschnitt aus dem Broadway-Hit „The Odd Couple“ für Komödienspaß.

Auch in den anderen Szenen präsentierte sich der Abschlussjahrgang 2016 als talentierte Truppe. Hoffentlich sehen wir viele von ihnen bald mit festen Engagements wieder.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26593-26593.html
Leserkritiken: Hoffmanns Erzählungen in Lübeck
Der freischaffende Regisseur Florian Lutz hatte sich in der vorigen Spielzeit in Lübeck mit einer hoch umstrittenen und viel diskutierten „Tannhäuser“-Inszenierung vorgestellt. So sind denn Lübecks Theaterfreunde an diesem Freitag mit vielen Erwartungen, wohl auch Befürchtungen, in das Haus an der Beckergrube gekommen. Und sie sind positiv überrascht worden. Lutz bot drei Stunden lang eine weitgehend werkgetreue und überaus phantasievolle Produktion von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ – eine Produktion überdies, die die neuesten Erkenntnisse über die Intentionen des Komponisten, dem der Tod die Feder aus der Hand genommen hatte, berücksichtigt.
Bei Lutz ist Hoffmann – der von dem in Lübeck bereits bekannten Franzosen Jean-Noel Briend gesungen wird – ein dem Untergang geweihter Alkoholiker. Der die Liebe einer idealen Frau sucht und doch nur sich selbst liebt. Konsequent werden die Rollen der vier vermeintlichen Geliebten Stella, Olympia, Antonia und Guilietta von nur e i n e r Sängerin Fabienne Conrad – auch sie Französin – dargestellt. Sie verfügt über eine große einschmeichelnde Stimme. Bei den vertrackten Koloraturen der Olympia sind freilich Schärfen nicht zu überhören. Aber im Laufe des Abends fängt sich die Sängerin und bietet sängerisch wie darstellerisch Großartiges. Kaum etwas Anderes ist über den Hoffmann des Jean-Noel Briend zu sagen. In dem von dem Leiter der Bühnenmusik Willy Daum arrangierten „Chant bachique“ zur Begleitung von Rock-Musikern gewinnt er geradezu dämonische Form. Ihm steht als kommentierende Muse Wioletta Hebrowska als Staatsministerin für Kultur in gewohnter Qualität zur Seite. Beachtlich auch, dass endlich einmal auf einer Opernbühne gutes Französisch zu hören ist.
In dem fantasievollen Bühnenbild von Martin Kukulies- das alle technischen Möglichkeiten des Hauses nutzt – und in den bunten Kostümen von Mechthild Feuerstein müssen fast alle Mitglieder des Ensembles mehrere Rollen übernehmen – so Gerard Quinn die der Bösewichter. Viele Aufgaben kommen dem von Joseph Feigl und Jan-Michael Krüger einstudierten Chor kommen zu. Den Olympia-Akt hat Regisseur Lutz in ein Fitness-Studio verlegt, wo Daisy Reinhard als Model und Oliver Reinhard als Bodybilder gefallen. Eindrucksvoll auch die Lichtgestaltung durch Falk Hampel. Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri hat das Philharmonische Orchester wie das Geschehen auf der Bühne jederzeit im Griff.
Das Premierenpublikum ist sehr angetan, geizt nicht mit Szenenbeifall und feiert zum Schluss alle Beteiligten. Einzelne Buh-Rufe wird der Regisseur verschmerzt haben.

Weitere Aufführungen: 22, November, 16 Uhr, 11. Dezember, 19.30 Uhr
Leserkritiken: Jugend.Erinnerung 1945/2015
Junges DT: Jugend.Erinnerung 1945/2015

Jugend.Erinnerung 1945/2015 ist mehr als ein Theaterabend, ja, er ist nicht einmal in erster Linie einer. Es ist ein Projekt des Zusammenkommens, des einander und sich selbst Hinterfragens, des Infragestellung eigener Überzeugungen und des Finden von Gemeinsamem jenseits über Generationen verhärteter, meist konfrontativer Narrative. Es ist eine reise, metaphorisch und im Wortsinn. Eine Reise zum Kern von Menschsein, von Jugend, von Leben. Ein daraus resultierender Theaterabend kann nur Versuch bleiben, Stückwerk sein, er muss an der Nichtvermittelbarkeit der gemeinsamen Erfahrung scheitert. Dieser macht es sich mitunter ein wenig zu leicht, bleibt oft ratlos und vermittelt doch eine, dennoch meist schwache, Ahnung dessen, was diese Jugendlichen gemeinsam erlebt haben und wie sich Erinnerung lebendig halten kann, selbst wenn jene, die sich erinnern könnten, längst tot sind. Vor allem aber deutet er an, warum die Erinnerung so wichtig ist und wohin es führen könnte, sich dieser gemeinsam zu stellen. Eine Idee, die gerade im heutigen Europa etwas mehr Beachtung verdient.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/11/16/krieg-der-flaschen/#more-4831
Leserkritiken: Herzerlfresser/DT Berlin
Ferdinand Schmalz: der herzerlfresser, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Ronny Jakubaschk)

Es ist Schmalz wie Jakubaschk zu verdanken, dass die Figurenzeichnungen zum Spannendsten gehören, was der Abend zu bieten hat. Insbesondere Harald Baumgartner als Bürgermeister sticht heraus: Sein Rudi ist skrupelloser Pragmatiker und rastlos Suchender zugleich, Baumgartner gibt ihn als harten Machtmensch und pubertären Verliebten. Und doch erfasst die Eindeutigkeit des Textes bald auch die Figuren. Hier jedoch zeigt sich die Stärke von Jakubaschks Zugriff: Seine Mischung aus Schauermärchen und fast Brüchiger Moritat, seine Beschwörung der Künstlichkeit hält den Text am Leben, weil er dem grandiosen Ensemble die Gelegenheit zum Spiel lässt und dem Text als ebensolches eine Freiheit verleiht, die er auf dem Papier nicht hat. Und so brechen sich durch die schnell ermüdende Eindeutigkeit der Botschaft – von der Notwendigkeit, unser Leben zu ändern, ist mehrfach die Rede – vor allem Fantasie und ein naiv-neugieriges Liebesbedürfnis Bahn, das dem Text zwar ein wenig in den Rücken fällt, ihn aber letztlich stärkt, indem es seine Schwarz-Weiß-Malerei in unterschiedlichsten Tönen einfärbt. Auch wenn Jakubaschks Rahmen – der Abend beginnt mit einem stilisierten Figurenreigen und kehrt später dahin zurück – ein wenig eng wirkt, so bleibt doch eine Restanarchie, die sich nicht so leicht kategorisieren und noch weniger einfangen lässt. Am Ende stehen Spott und Hoffnung. Ein interessantes Pärchen.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/11/30/spott-und-hoffnung/
Leserkritik "Gewehre der Frau Carrar", Berlin: Brecht-Museum
Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar, Berliner Ensemble (Probebühne), Berlin (Regie: Manfred Karge)

Brecht wollte in den Kopf des Zuschauers, nicht in sein Herz. Auch hier, in der Geschichte der Mutter, die glaubt, ihre Söhne retten zu können, in dem sie im Krieg neutral bleibt und zu den Waffen greift, als sie erfährt, dass sie gescheitert ist. Wenn der Abend etwas schafft, dann kurze Momente der Berührung zu schaffen. In der innigen Beschwörung der Toten durch den sacht berührenden Chor, in der versteinerten Verzweiflung des trotzig verhärteten Gesichts der Titelfigur und der wütenden ihres Bruders (Roman Kaminski), in der Stille, die sich zwischen Brechts eher plakativ geratenen Texten immer wieder Bahn bricht. Das Hirn des Zuschauers dagegen darf auf Standby bleiben. Dieser Abend spricht nicht zum Publikum, hat ihm nichts zu sagen. In einer zeit, in der die Frage, ob, wofür und wie man Partei ergreifen sollte, welche Rolle Gewalt spielen darf oder gar muss, aktueller ist denn je, kapselt sich Karges Inszenierung ab wie in einer Zeitblase. Man meint, in einem Brecht-Museum zu sein, die Zeit eingefroren wie das an Wiegel erinnernde Spiel, ins Archiv zu blicken zurück in eine Zeit, in der die Standpunkte fest und klar waren, das Theater eine propagandistische Funktion hatte und sich die Welt unterteilen ließ in Schwarz und Weiß. Es ist ein befremdlicher Blick, nachdem das Hinaustreten in die Verwirrung und Ratlosigkeit unseres Heute beinahe befreiend wirkt.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/12/02/abends-im-museum-2/
Leserkritik "Gewehre", BE Berlin: Museum als Wahrheit?
Ich weiß nicht - jemand der so jung Baal geschrieben hat, hatte wohl selbst kein Problem mit den Etagenwechseln zwischen Zeh und Scheitel... Brecht wollte vielleicht Kapitalismuskritik in den Kopf der Leute kriegen UND Theater machen für sein eigenes Herz. Weil Theater halt in das Herz der Zuschauer geht, ist der Weg nach oben leichter. So oder so. Und ein Brecht-Museum ist doch ganz schön! Lauter schöne feste klare Standpunkte in den Vitrinen? - Sehr schön. Wenn das für die Verwirrung und Ratlosigkeit heute befreit, hat ja Katharsis stattgehabt! Wenn das möglich ist mit Brecht am Stück, ist das Museum vielleicht eine Wahrheit?
Leserkritik: Hochzeit des Figaro, Staatsoper Hamburg
Figaros Hochzeit in der Hamburgischen Staatsoper
eine unprofessionelle Kritik

Im Jahr 1953 hörte und sah ich als Schüler die erste Opernaufführung meines Lebens: den Figaro in der Hamburgischen Staatsoper – ein prägendes, bis heute erinnertes schönes Erlebnis. Jetzt, als Opa, wollte ich meinen beiden zwölfjährigen Enkelmädchen ein Gleiches zukommen lassen. Das war ein Fehler!

Statt der Komödie, der Ironie und Schalk versprühenden Bloßstellung einer spätfeu-dalen Gesellschaft, erlebten wir eine mit angedeuteten Obszönitäten „angereicherte“ Groteske, zu welcher selbst der optische Rahmen keinerlei der Handlung adäquate Atmosphäre schuf. Nur die Stimmen und das Orchester vermittelten Mozart in her¬vorragender Weise, die Musik hatte man nicht kaputtgekriegt.

Man kann dem Regisseur nicht absprechen, dass er Einfälle hatte, sogar manche guten und erheiternden. Z.B. während der Ouvertüre die Leinwand mit den zu Figu-ren und Symbolen sich wandelnden Noten. (Obwohl auch der sonst übliche geschlossene Vorhang durchaus Erwartungsstimmung entstehen lässt.) Doch wer setzt Grenzen, wenn, wie so oft, eine die Gesamtwirkung dominierende, überehrgei-zige Regie sich in den Vordergrund drängt und das Werk missachtet.

Manche „genialen“ Einfälle entpuppen sich als fixe Ideen, die, um sie konsequent durchzuhalten, bewirken, dass für die Handlung unerlässliche Komponenten nur in Form von Notlösungen zu realisieren sind. So z.B. der anfangs noch mit Notenblät-tern tapezierte kubische Raum in dem bis zum Ende alles abläuft. (Wieso eigentlich Notenblätter? Um selbst dem Dümmsten im Publikum zu verdeutlichen, dass Mozart ein Komponist war!) Die Folgen sind, dass Cherubino nicht durch ein Fenster entfleuchen kann, sondern sich durch das matrat¬zenlose Bett in einen imagi¬nären Abgrund stürzen muss; und dass man den Sängern die Angst vorm Stolpern über das bis zum Finale auf dem Boden angehäufte Papier anmerkt.

Natürlich kann man unter diesen Bedingungen auch nicht im letzten Akt der Oper das Versteckspiel in einem von Büschen umgebenen dunklen Hain zeigen. Zuschauer, die den Figaro von früheren Opernbesuchen schon kennen, werden sich das doch wohl selbst so vorstellen können! Für den Neuling müssen eben sechs Akteure mit nach oben gehaltenen Papierfidibussen genügen. (Shakespeare lässt grüßen.) Und die intimen Zwiegespräche laufen natürlich vor den Augen und Ohren der auf der Bühne agierenden kompletten Darstellerriege ab. Wozu denn heimlich und dunkel?

Was die heutzutage in Mode gekommenen obszönen Einlagen betrifft: Sicher – wer weiß es nicht? – Mozart war selbst kein Kind von Traurigkeit. Möglicherweise wäre ihm und da Ponte Ähnliches eingefallen, hätten sie in unserer Zeit gelebt (nur viel-leicht etwas charmanter). Haben sie aber nicht. Und zu ihrer Zeit wäre der Figaro so gar nicht erst auf die Bühne gekommen. Wer ein Werk in seinen historischen Kontext einordnen kann, braucht solches, für die Handlung überflüssige, ja, von ihr ablen¬kende, Modernisierungsbeiwerk nicht. Und wer von Geschichte keine Ahnung hat, dem wird ein falsches Bild von der Entstehungszeit vermittelt.
Wieso ist es zum Verständnis der Oper notwendig, dass kopulierende Paare (zwar immerhin noch in Unterwäsche) gezeigt werden? Und warum geschieht das umringt von den anderen Darstellern? Sicher stecken hinter diesem Einfall sehr subtile tiefenpsychologische Klimmzüge. Mag ja sein, aber Ich kann auf solche und andere Belehrungsversuche sehr gut verzichten und will mir von keinem Regisseur seine begrenzte Weltsicht aufzwingen lassen. Man merkt die Absicht und ist verstimmt!

Meine beiden Enkelinnen, obwohl dank etlicher begeisternder Opernaufführungen des Hamburger Theaters für Kinder schon mit dem Metier etwas vertraut und von mir über den Handlungsablauf des Figaro vorab informiert, haben dem Bühnengesche-hen in der Staatsoper nicht zu folgen vermocht. Ich befürchte, es war bis auf weiteres (wenn nicht sogar für immer), das letzte Mal, dass sie und ich erwartungsfroh in das Haus an der Dammtorstraße gekommen sind. Vielleicht wird es mir gelingen, sie demnächst einmal wieder in die Max-Brauer-Allee zu locken. Vielleicht ersatzweise auch zum König der Löwen.

Hamburg, den 26.11.2015
Robert Schomacker
Leserkritiken: Die lächerliche Finsternis/Jena
Wolfram Lotz "Die lächerliche Finsternis" in Jena

Die Jenaer Aufführung von „Die lächerliche Finsternis“ in der Inszenierung von Jan Langenheim ist ganz anders als die am Wiener Burgtheater- direkter, bunter und in mancher Hinsicht besser. Die Ausstatter stellen das Lotz’sche postkoloniale Phantasieland, eine Mischung aus afrikanischer, vietnamesischer und afghanischer Wildnis und dem inneren Dschungel von uns Mitteleuropäern, konkret und liebevoll auf die Bühne. Die Schauspieler erschaffen ihre Figuren aus genau derselben Mischung aus Skurrilität, Drastik und Poesie, die schon die Texte von Lotz so toll macht. Nirgends Karikaturen, lauter echte Menschen, Existenzen mit einem Schicksal. Jeder Witz ist in einem Untergrund des Schreckens verankert. Die fünf Schauspieler sind untereinander und mit dem Autor auf einer Wellenlänge. Dadurch entsteht ein zwar unmögliches aber in sich völlig schlüssiges Universum.

In Jena kommt ganz deutlich heraus, was bei der Wiener Aufführung eher untergeht: in den Eingeweiden des postmodernen Dschungels steckt ein klassisches Drama- mit einem klassischen Helden, dem naiven, gutmütigen Gefreiten Dorsch, und einem Gegenspieler- seinem paranoiden Vorgesetzten Pellner. Je tiefer sie in den Dschungel eintauchen, desto höher steigen Angst und wilde Projektionen. Dorsch versucht Pellners Freundschaft zu gewinnen, aber der ist in absurdem Maß kontaktgestört. Wie Ilja Niederkirchner und Maciej Zera den sich ins Lebensbedrohliche steigernden Kampf der beiden um Nähe und Distanz spielen, ist sehr komisch, schrecklich,- und eine schauspielerische Glanzleistung. Als Zuschauer kann man nicht anders: man empfindet Mitgefühl mit diesen beiden Antihelden, die bei ihrer Mission ebenso auf verlorenem Posten stehen wie in ihren eigenen Körpern. Anders als in der Wiener Aufführung hat man nicht nur Mitleid mit den Opfern, sondern man steckt tief mit drin in der Haut der Nachkommen der Kolonialherren, die unsere eigene ist. Die Jenaer Aufführung zwingt, ohne moralischen Zeigefinger aber unnachgiebig, zum Blick in die Finsternis des eigenen Herzens.

Es ist gerade an verschiedenen Stellen zu lesen, dass sich die Theater, was das Thema der anschwellenden Angst vor Fremden angeht, heutzutage plakativ und eindeutig äußern müssten, das sei zwar schade für die Kunst, aber etwas Anderes sei gerade nicht drin, die Zeiten seien eben so. „Die lächerliche Finsternis“ in Jena beweist das Gegenteil.

Nächste Vorstellungen am 21.12. und 22.12. http://www.theaterhaus-jena.de/

ganze Kritik: gretelwallfisch.blogspot.com
Leserkritik: Der Herzerlfresser, Deutsches Theater Berlin
der herzerlfresser, Deutsches Theater Berlin/Box

Das Deutsche Theater Berlin versuchte im Advent, aus den Gefühlsverwirrungen im Kapitalismus komödiantische Funken zu schlagen.

„Der Herzerlfresser“: Zombiejagd und Gefühlschaos in der österreichischen Provinz

Im ersten Fall ist dies noch halbwegs geglückt: „Der Herzerlfresser“ ist ein unterhaltsamer Abend in der Box, auf der kleinsten Bühne des traditionsreichen Hauses.

Der dritte Text von Ferdinand Schmalz (hinter diesem Pseudonym verbirgt sich ein junger Autor aus Graz) ist eine Groteske aus der österreichischen Provinz. Die Figuren sind stark überzeichnet, aber bei weitem nicht so boshaft und skandalträchtig wie bei seinem Landsmann Werner Schwab. Statt deftiger Gesellschaftskritik stehen bei Schmalz die Sprachverliebtheit und ein Konfettiregen aus Metaphern und Wortspielen im Mittelpunkt. „Herz“ und „Fuß“ ziehen sich als Leitmotive durch die Dialoge und Aperçus dieses Abends.

Regisseur Ronny Jakubaschk entschied sich dafür, das Ganze als Farce zu inszenieren: knallrot und giftgrün sind die dominierenden Farben. Grell geschminkte Schauspieler, die Karikaturen alpenländischer Trachtenmode tragen, stolpern durch die Jagd nach dem „Herzerlfresser“, einem Frauenmörder, der seinen Opfern das Herz herausreißt. Elias Arens spielt die Titelfigur als Mischung aus Zombie und Vampir, mit blutigen Lefzen und mahlendem Kiefer, ständig auf der Suche nach dem nächsten Opfer.

Die Jagd nach dem Serienmörder gerät zwischendurch immer wieder in den Hintergrund, da die Figuren vor allem mit ihrem Gefühlchaos zu kämpfen haben. Amourös geht es hier kreuz und quer durcheinander, Missverständnisse lassen die Angebetete zunächst unerreichbar scheinen, bevor die Paare doch noch zueinander finden. Das Gefühlschaos wird noch dadurch verschärft, dass die Figuren auch noch ständig damit befasst sind, ihre Chancen auf dem kapitalistischen Markt zu optimieren: die Fußpflegerin Irené (Isabel Schosnig, nach längerer Zeit zurück am Deutschen Theater) träumt vom Beauty-Salon im neuen Einkaufszentrum. Bürgermeister Rudi (Harald Baumgartner) ist der Prototyp eines mit Schärpe durch die Gegend stolzierenden Provinzpolitikers, der davon träumt, Investoren anzulocken und auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen, sich dabei aber maßlos überschätzt.

Eigentliche Hauptfigur des Abends ist aber der Gangsterer Andi: Thorsten Hierse, der häufig ernste Rollen spielt, beweist sein komödiantisches Talent und bringt die verschiedenen Facetten seiner Figur wandlungsfähig zum Leuchten: mal dominiert die Schmierigkeit des Kleinkriminellen; mal seine sensible Seite, da er Fauna Florentina (Lorna Ishema, neu im DT-Ensemble) umwirbt; mal wirft er sich als Lockvogel in Frauenkleider und schlägt aus der Travestie-Nummer Funken.

„Der Herzerlfresser“ bietet knapp achtzig Minuten kurzweilige Unterhaltung. Jakubaschk vertraute seinem Regiekonzept aber anscheinend doch nicht ganz: anstatt seine Groteske als temporeiche Farce zu spielen, lässt er die Schauspieler immer wieder in stilisierte, zeitlupenartige Bewegungen verfallen, die dem ansonsten munteren Abend einiges an Schwung nehmen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/27018-emotionen-im-kapitalismus-herzerlfresser-nora-7-pleasures.html
Leserkritik: 7 Pleasures, Mette Ingvartsen
„7 Pleasures“: dänischer Performance-Star Mette Ingvartsen und ein Knäuel nackter Körper zu Gast im Hebbel am Ufer (HAU)

Eine lange Schlange bildete sich vor der Kasse des HAU 2: viele hofften, mit Wartenummer noch eine Karte für das „7 Pleasures“-Gastspiel von Mette Ingvartsen zu ergattern. Die Erwartungen waren groß. Gewaltig war auch der theoretische Ballast, der sich in Ingvartsens Programmheft-Interview um ihre neue Arbeit rankt.

Klischeebilder von Nacktheit und Sexualität sollten dekonstruiert werden. Die übersexualisierte Ästhetik der Werbung sollte aufgespießt werden. Hedonismus und Sinnlichkeit, sowohl zwischen Menschen als auch Gegenständen, sollten ausgelotet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Körper sollte auch unter politischen Aspekten verhandelt werden. Langer Rede, kurzer Sinn: es geht auch hier um die Gefühle und das Zusammenleben im Kapitalismus.

Platzt diese Theorieblase? Steht Ingvartsen, die als einer der Stars der europäischen Performance-Szene gehandelt wird und 2017 gemeinsam mit Chris Dercon die Volksbühne umkrempeln soll, mit ihrem Regiekonzept am Ende ebenso nackt da wie ihre Performerinnen und Tänzer während dieses 90minütigen Abends?

Zunächst passiert erst mal nichts. Bässe wummern im Hintergrund, aber noch genug Zeit, sich mit der Sitznachbarin über den neuen Pollesch auszutauschen – bis sich mitten im Publikum die Darsteller des Abends nach und nach von ihren Plätzen erheben. Sie ziehen sich langsam aus, zwängen sich durch die engen Reihen des HAU und schreiten langsam auf die Bühne, wo sie ein großes, hin und her wogendes Knäuel bilden.

Katrin Bettina Müller hat die perfekt choreographierte Ästhetik dieser Eröffnungsszene in der „taz“ sehr gut beschrieben: „Wie das fließt und vorwärts gleitet, lautlos dahin schmilzt, sich träge ausbreitet, in träumerischer Langsamkeit Hindernisse überrollt und schließlich zum Stillstand kommt.“

Nach etwa einer halben Stunde löst sich das Knäuel der Performance-Künstler Schritt für Schritt auf. Das zweite Drittel fällt leider deutlich ab. Ekstatische Zuckungen, dazu umkreisen sie eine Yucca-Palme, einen Schreibtisch oder eine Couch. Das Urteil von Michaela Schlagenwerth, die sich in der „Berliner Zeitung“ an eine Mischung aus „Sport, Seelenhygiene und Kindergeburtstag“ erinnert fühlte, fällt vernichtend aus. Aber in der Tat hinterlässt dieser Mittelteil viele Fragezeichen und wirkt an manchen Stellen redundant.

Im letzten Drittel findet der Abend zurück in die Spur. Einige Akteure ziehen sich an, andere bleiben nackt: der Fokus richtet sich auf Machtgefälle und Abhängigkeiten in den Beziehungen. Der gesamte Abend kommt ohne Worte aus, diese starken Schluss-Szenen sprechen aber eine deutliche Sprache und regen zum Nachdenken an.

Fazit: Streckenweise bleibt Ingvartsen hinter ihrem Anspruch zurück. Zwischendurch gelingt es ihr aber doch, einige der Themen, um die es ihr geht, deutlich zu markieren.

Höchstwahrscheinlich wird der Andrang auch heute Abend vor der letzten der drei Berliner Aufführungen wieder enorm sein. Ebenso wahrscheinlich wird die Auseinandersetzung über Ingvartsen und ihre Performance-Kunst in den kommenden Jahren weiter hitzig geführt werden. Die Meinungen, was ihre Arbeiten taugen, gingen in den Berliner Feuilletons zwischen „taz“ und „Berliner Zeitung“ weit auseinander. Und ganz sicher wird auch weiter über den Plan von Müller/Renner/Dercon gestritten werden, der Volksbühne nach der Ära Castorf ein neues Profil zu geben und Ingvartsen dabei eine zentrale Rolle zu geben.

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Leserkritiken: andcompany&Co mit WARPOP.../HAU Berlin
andcompany&Co.: WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion, Hebbel am Ufer/HAU3, Berlin

Ein Spielplatz ist es, den andcompany&Co. auf die Bühne bringen, wenn sie versuchen, unsere Zeit aus der Sicht des apokalyptischen Zeitalters vor rund dreißig Jahren zu befragen. Sie erzählen von Kindern, die Pläne schmieden, was sie in den letzten fünf Minuten ihres Lebens tun würden, bei denen Rutsche (drei davon sind hier aufgebaut) und Raketeneinschlag nicht ohne einander zu denken sind. Damals trieb die Angst die Menschen auf die Straße, kannten die Kinder wenig anderes als Wochendausflüge nach Mutlangen oder in den Hofgarten. Auch heute wird wieder lautstark protestiert, werden Friedenstauben hochgehalten und sind doch die Parolen andere. Die Protagonisten nicht unbedingt. So mancher, ein Jürgen Elsässer zum Beispiel, hat die Seiten gewechselt und ist sich doch treu geblieben. Ein Prophet der Angst. In ihr sehen die Akteure von andcompany&Co. das verbindende Element und so drehen sie die Achtziger durch den Fleischwolf: Parolen, Geschichten, Musik und visuelle Welten des MTV-Jahrzehnts werden geshreddert, wild komponiert und zusammengesetzt und plötzlich sind wir im Jahr 2015, entdecken wir untern Haarspray- und Punkperücken die Köpfe von heute, wird die Endzeitkämpferin Sarah Connor aus den Terminator-Filmen zur Sängerin Sarah Connor, die angefeindet wird, weil sie Flüchtlingsfamilien aufnimmt.

“Die Zeit, die vergeht nicht mehr”, heißt es an einer Stelle. 1984 ist heute, der “große Bruder” heißt Facebook oder NSA, die Friedensbewegung nennt nicht heute Pegida, die totalitäre Kraft der Angst bleibt ungebrochen. So manchem wird die klare Linie, die das Kollektiv zwischen der Friedensbewegung und dem heutigen “Wutbürgertum” zieht, nicht behagen, sie ist sicherlich auch nicht vollkommen fair und doch macht der Abend eindeutige Parallelen klar. Es ist die Angst, die uns treibt wie sie uns damals trieb, in die Arme einer Gemeinschaft, die von der Apokalypse fasziniert ist und nach einfachen Antworten sucht, vielleicht auch nach Führern, die diese zu geben vermögen. Die Angst, die uns zwingt, gegen etwas zu sein, ohne dass wir wissen, wofür wir sind. Und umgekehrt. Angst fürt zu Verunsicherung führt zu Lähmung führt zur Einebnung aller Werte. Es ist eine Angst, die uns unserer Sprache beraubt. Mal verschwinden die Vokale, mal die Konsonanten, wird aus “Abendland” A-E-A und “ah ja” und “eieiei”, starke Symbole für die Macht kollektiver Lähmung, die uns einschränkt bis hin zu dem Punkt, da wir nicht mehr in der Lage scheinen, uns zu bewegen. Da helfen auch keine Zeitreisen mehr, die Zukunft ist jetzt, und sie ist nicht tröstlich.

Der Abend mit dem unaussprechlichen Namen ist ein audiovisuelles Mixtape aus Popkultur, Politik, Urängsten und Populismus, das auf wahnwitzig virtuose Weise Achtziger und Heute verschränkt, die Gegenwart als Widergänger der Vergangenheit zeigt und vorführt, wo und wie wir uns wiederholen. Er ist so überladen, dass lose ende bleiben, nicht alles funktioniert und zuweilen stoßen Banalismen wie ein müdes Re-Enactment von Monty Pythons ideologischer Zersplitterungssatire oder gewollt Jelinek-hafte Wortspielgewitter, die auf halber Strecke stehen bleiben, sauer auf. Und doch zeigt dieser spielwütige und wütende Abend zweierlei auf: ersten, wie wenig wir aus dem Zeitalter der Angst gelernt haben, und zweitens, wie einfach es sein müsst, den ausgetretenen Pfad zu verlassen. es ist das einfache, was so schwer zu machen ist. Das platt zeigefingerhebende Ende ist wenig überzeugend, der Abend in seinem wahnwitzigen, realistisch irrsinningen Mischmasch, den wir zu oft für Gesellschaft und politische Kultur halten, ist es umso mehr. Übrigens kommt in diesem Text das Wort “Angst” dreizehnmal vor. Auch das ist wohl eine Aussage.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/12/15/angst-essen-vokale-auf/
Leserkritik: Zwischeneinander, DT Berlin
Ich hatte kürzlich die Chance, die Klassenzimmerproduktion "Zwischeneinander" des Deutschen Theaters / Jungen DT in der Box des DT zu sehen. Sehr beeindruckend und berührend, was die beiden Schauspieler (Katharina Schenk und Roland Bonjour) in dieser zeitlich und örtlich konzentrierten Weise (das Stück wird in der Regel innerhalb einer Schulstunde, 45 Minuten, in einem Klassenzimmer aufgeführt) über Nähe und Begegnung, über soziale Medien und das Jungsein vermitteln. Wenn man auf die inzwischen üblichen Schnickschacks und Krücken, auf Video, Bühne, etc. verzichten muß, bleiben Körper, Stimme, Text... und das reicht völlig aus. Die schauspielerische Leistung ist ohne Fehl und packend, der Text (eine Mischung aus eigenen, mit einer neunten Berliner Klasse geschriebenen und im Internet gefundenen Texten) ist stark. Es ist fast schade, daß diese Produktion nunmehr gar nicht mehr im DT, sondern nur in Schulen zu sehen ist, wobei es natürlich gut ist, daß das Junge DT auch hier auf Qualität setzt und sich nicht mit 'Klassikern für Jugendliche' an das Zielpublikum heranwanzt. Absolut sehenswert!
Leserkritiken: Die Physiker am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Eine groteske Komödie ohne Perspektive?

"Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg
Anmerkungen zum Werk, zu seiner Aussage sowie ein Hinweis auf seine Inszenierung

Regie: Sebastian Kreyer / Premiere: 25. April 2015

Die Komödie "Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt ist 1961 im geistigen Horizont des Kalten Krieges entstanden und damit in einem Zeitalter, in dem die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung, wenn auch häufig nur unterschwellig, durchaus präsent war. Die Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg auf Hiroshima und Nagasaki fielen und deren damaliger Einsatz seit Längerem durchaus umstritten ist, gaben in ihrer weltgeschichtlich-apokalyptischen Dimension einen Vorgeschmack auf das, was eine Epoche ständiger, wenn auch im Wesentlichen latenter atomarer Bedrohung bereitzuhalten imstande ist. Durch die Kubakrise von 1962 – es ist das Jahr der Uraufführung des vorliegenden Stückes – rückte die Möglichkeit eines Untergangsszenarios in unmittelbare, besser gesagt, greifbare Nähe und wurde vermutlich in letzter Konsequenz durch das Zurückschrecken vor einem von Menschenhand verursachten Weltenbrand, durch das Gefühl, im Kriegsfall eine Menschheitskatastrophe ungeahnten Ausmaßes verantworten zu müssen oder, um es kurz zu sagen, durch die Rückbesinnung auf Vernunft und Weitsicht – fixiert an politische Handlungsschritte und -kriterien – buchstäblich in letzter Minute abgewendet: "Samstag, 27. Oktober, der sogenannte ,schwarze Samstag': (…) Ein US-Zerstörer zwingt mit einer Granate das sowjetische U-Boot B-59 zum Auftauchen. Das U-Boot hat Nuklearwaffen an Bord; um Haaresbreite bricht der Nuklearkrieg aus. Doch Wassili Alexandrowitsch Archipow, einer der drei Offiziere an Bord des U-Bootes, weigert sich, einen Torpedo ohne weiteren Befehl aus Moskau abzuschießen. (…) Ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug wird über Kuba von einer SA-2-Guideline-Flugabwehrrakete abgeschossen; der Pilot Major Rudolf Anderson wird dabei getötet. Kennedy untersagt einen Gegenangriff ausdrücklich und erklärt sich noch einmal zu weiteren Verhandlungen bereit. Um 19:45 Uhr Washingtoner Zeit findet ein Geheimtreffen zwischen Robert F. Kennedy und dem Sowjetbotschafter Dobrynin statt. John F. Kennedy lässt seinen Bruder erklären, dass er auch einem Abzug der in der Türkei stationierten amerikanischen Jupiter-Raketen zustimmen würde, wie es bereits im zweiten – schon förmlicheren – Schreiben von Chruschtschow gefordert worden war. Diese Möglichkeit hält er vor den meisten Mitgliedern des ExComm geheim, die mehrheitlich einen Luftangriff fordern. Dobrynin gibt diese Nachricht sofort nach Moskau weiter. Spätnachts entscheidet Nikita Chruschtschow, das Angebot Kennedys anzunehmen und die Raketen aus Kuba abzuziehen. (…) Zentral für die Lösung der Kubakrise war, dass sowohl John F. Kennedy als auch Nikita Chruschtschow sich der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst waren. Beide versuchten, alle Entwicklungen unter Kontrolle zu behalten, dem politischen Gegner Zeit für seine Entscheidung zu geben und nicht blind auf die Ratschläge ihrer militärischen Berater zu vertrauen.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Kubakrise )

Die wissenschaftlichen Entdeckungen der in der vorliegenden Komödie zur Troika der drei Physiker gehörenden Zentralfigur namens Möbius bergen offenbar ein derart zerstörerisches Potenzial in sich, dass eine auf Rückzug und Verheimlichung zielende Verhaltensstrategie, die „die Welt vor dem Zwang der Auswertung“ jener „für die Menschheit mörderischen wissenschaftlichen Entdeckungen zu bewahren“ trachtet (Reclams Schauspielführer (1990), S. 892), den Außenstehenden, d.h. den Rezipienten, zunächst als moralisch achtbare, im Übrigen auch plausibel wirkende Option menschlicher Orientierung erscheinen mag. Möbius hat, wie im Bertelsmann Schauspielführer von 1966 nachzulesen ist, "schließlich ein furchtbares Opfer dafür gebracht, daß seine Entdeckungen nicht in die Hände der Mächtigen fallen und n icht neue unvorstellbare Energien zur Vernichtung der Menschheit freigesetzt werden: (…).“ (S. 446) Und in den Materialien für Lehrkräfte, wie sie auf der Theater-Webseite des Stückes zur Lektüre und entsprechenden Verwendung in Lehr-/Lernprozessen bereitstehen, heißt es: "Möbius ist gar nicht verrückt, sondern spielt den Irren nur, um sich in der Anstalt verstecken zu können. Er hat die Formel aller Formeln gefunden und glaubt, dass seine Erfindung, sobald sie in die falschen Hände gerät, Unheil über die Menschheit bringen wird. Aus moralischen Gründen hat er sich also von der Welt zurückgezogen.“
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623/ Materialmappe, S. 5)
Forschung, Entdeckung und Erkenntnis können Entwicklungen sichtbar machen sowie Ergebnisse zeitigen, in deren Konsequenz angstbesetzte Fragen aufzuwerfen sich erschütternd problemlos anbietet, so z.B. ob die Welt inskünftig nicht von „apokalyptischen Panne n“ (Programmheft, S. 19) heimgesucht wird oder, wie es Dürrenmatt in seinem Interview von 1990 weiter ausdrückt, "die Menschheit nicht in einer evolutionären Krise steckt und auf ihr Ende zugeht.“ (Programmheft, S. 19) Der hiermit angedeutete Zustand von Gesellschaft und menschheitsgeschichtlicher Entwicklung mutet in der Tat paradox an: Hoher zivilisatorischer Entwicklungsstand einerseits, Krisen und Weltvernichtungsgefahren andererseits sind die beiden Seiten der gleichen Medaille, hier einer globalen Eliteherrschaft, wie sie sich im 20./21. Jahrhundert herausgebildet bzw. weiterentwickelt hat. Eine "Katastrophenwelt“ (Programmheft, S. 19) – diese Bezeichnung findet sich im oben angesprochenen Interview - angemessen darzustellen, ist im Sinne Dürrenmatts nur im Rahmen einer Groteske zu bewerkstelligen, einer Komödie mit schwarzem Humor und sogenannter schlimmstmöglicher Wendung.

Die Bewunderung des menschlichen Erfindergeistes schlägt genau dann in ein verzweifeltes, gar sardonisches Lachen um, wenn kaum noch zu leugnen ist, dass die Grenze oder auch nur der fließende Übergang zwischen Intelligenz und existenzvernichtender Paradoxie menschlichen Denkens und Handelns überquert zu werden im Begriffe steht. Die Wandlung von Bewunderung in eine Art Galgenhumor, von Adoration in Sarkasmus als Reaktion auf das, was der Mensch zu leisten und zu schaffen in der Lage ist, entspricht der Metamorphose von Genialität in Absurdität, was die Konsequenzen seines Denkens und Wirkens anbelangt. Dürrenmatt antwortet in dem erwähnten Interview von 1990 auf die Frage, woher die Lust komme, Komik mit Grauen zu mischen, folgendermaßen: „Ich muss immer dort lachen, wo andere nicht lachen müssen, und um gekehrt. Das Auseinanderklaffen von dem, wie der Mensch lebt, und wie er eigentlich leben könnte, wird immer komischer. Wir sind im Zeitalter der Groteske und der Karikatur.“ (Programmheft, S. 18) Und an anderer Stelle: "Ich hab gelegentlich den Eindruck, die Welt spielt ein noch viel verrückteres Theater. Man weiß nicht, ob Pakistan und Indien die Atombombe haben. Früher oder später wird man sie haben. Der Gedanke ist ungeheuerlich: Atomwaffen in den Händen unberechenbarer Drittwelt-Potentaten.“ (Programmheft, S. 19) Und: „ (…) – in diese Welt der apokalyptischen Pannen führt unser Weg.“ (Programmheft, S. 19)
Eine solchermaßen die Grenze zum Weltuntergang streifende Vision ist in ihrem Realitätsbezug und dem damit verbundenen zerstörerischen Potenzial letztlich nur durch ein beherztes Plädoyer für die Unsterblichkeit der auf Universalität setzenden Aufklärung und ein am Kantischen kategorischen Imperativ ausgerichtetes, ebenfalls universell zu verstehendes Handeln, wenn das einmal ein wenig pathetisch so ausgedrückt werden darf, zu überwinden. Die bereits erwähnte Kuba-Krise von 1962 zeigt, dass politische Turbulenzen, auch katastrophale, gar existenzvernichtende Zusammenbrüche von globaler Dimension nur durch Besinnung auf Vernunft, durch kluges Handeln und Beachtung humanitärer Gebote verhindert werden können.
Ein Forscherdrang im weitesten Sinne, welcher der menschlichen Natur immanent zu sein scheint, das Streben des Homo sapiens nach Erkenntnis und Einsicht, sein Tatendrang, sein Wunsch nach Weiterentwicklung und aktiver Lebensgestaltung, all dies lässt sich nicht aufhalten, im Gegenteil: Die Teilhabe möglichst vieler Gesellschaftsmitglieder an Wissenschaft und Forschung, an Weltwissen, an themenbezogenen Auseinandersetzungen und politischen Diskursen ist im Sinne der Menschen, vor allem ihres sich u.a. über Mitsprache und Mitwirkung einstellenden Wohlergehens nicht nur wünschenswert, sonder n im Zuge einer sich zunehmend den Tendenzen von Dispersion und Diffusion ausgeliefert sehenden Gesellschaft geradezu notwendig. Mögliche Formen der Verantwortungswahrnehmung setzen eine Bewusstseinsschulung voraus, die sich über Aufklärung und Wissenserwerb vollzieht. Erst die Kenntnis von Realitätsbezügen, von Sachlagen und Zusammenhängen sowohl konkreter wie auch theoretischer oder abstrakter Art macht es möglich, Strategien zur Bewältigung von Problemen und Krisen zu generieren. Auf der Basis von Wissen und situationsgerechter Wirklichkeitseinschätzung erweisen sich Vernunft und Mäßigung im Handeln als überlebensnotwendig.

Die Fragen, ob „einmal gedachtes Wissen (,) verborgen bleiben“, zugespitzt, ob „Wissen verheimlicht werden“ kann, spezifische Fragen, die im Zusammenhang von Unterrichtsmaterialien zum vorliegenden Drama aufgeworfen werden (http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623/ Materialmappe, S. 20), sind mit eindeutigem „Nein“ zu beantworten. Es ist vielmehr zu betonen und zu fordern, dass Information und Sachkenntnis bis auf wenige Ausnahmen – so z.B. geheimdienstliches Wissen zwecks Verhinderung von Terroranschlägen - transparent und damit dem überaus wichtigen gesellschaftlichen Diskurs stets zugänglich gemacht werden. Öffentlichkeit ist der Ausbildung von Verantwortungsbewusstsein überaus dienlich, und dies nicht nur bei Politikern und Wissenschaftlern, sondern – durchaus wünsc henswert – bei allen Gesellschaftsmitgliedern. Mit Blick auf das Wissenschaftsverständnis von Fachexperten sei in diesem Kontext auf eine Textstelle in einem Artikel, genauer gesagt, in einer Festansprache von Altbundeskanzler Helmut Schmidt hingewiesen, die in Auszügen in die oben erwähnten Unterrichtsmaterialien zum vorliegenden Drama aufgenommen wurde. Das hier relevante Zitat lautet: „Viele Wissenschaftler betreiben ihre Forschung um ihrer selbst willen. Die Forschung ist mindestens das zweitwichtigste Anliegen in ihrem Leben; in vielen Fällen ist die eigene Forschung das Allerwichtigste. Dahinter bleibt das Bewusstsein ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl zurück.“
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623 /Materialmappe, S. 24)
Das vorliegende Theaterstück entlarvt seine eigene Handlung, die ins Spiel gebrachten Dramenfiguren mit ihren devianten Verhaltensweisen, Gepflogenheiten und Intentionen, letztlich die Welt, in der sich das präsentierte Geschehen abspielt, als grotesk und absurd. Es will mit der Platzierung der drei Hauptfiguren in einer Heilanstalt, d.h. mit einer spezifischen Situierung der Handlungsabläufe und der sich im vorliegenden Fall hiermit verbindenden Inanspruchnahme von Ambiente, Utensilien und Vokabular aus dem klinischen Bereich der Psychiatrie und Neurologie die Verrücktheit einer Kontinuität von Entdeckung und Erfindung, todbringenden Anwendungsmöglichkeiten und daraus resultierenden Verheimlichungsstrategien künstlerisch gestalten. Damit ließe sich der Komödie, um die es hier geht, gleichzeitig ein Imperativ abgewinnen: Es ist wohl die unausgesprochene Forderung, die mit zunehmender Verwissenschaftlichung der Welt einhergehende Spaltung der Gesellschaft in den Kreis von Experten, auch Interessierten einerseits und eine sich aus verständlichen Gründen mutmaßlich vergrößernde Schicht der auf schlichtes Alltagswissen Fixierten und damit von notwendigem, differenzierteren, auch komplexeren Weltwissen Abgekoppelten andererseits zu reduzieren, vielleicht sogar ganz zu beseitigen. Manches Postulat aus den „21 Punkten zu den Physikern“ weist darauf hin: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Und: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ (Aus: 21 Punkte zu den Physikern
(https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Physiker oder
http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623 / Materialmappe, S. 12))

Letztendlich fällt das Licht des Ausweges, der Perspektive, um es ein wenig poetisierend zu sagen, auch in diesem Werk der Weltliteratur erneut und immer wieder, wenn auch problemorientiert und latent auf Rationalität in wohlverstandenem Sinne, auf Vernunft und Aufklärung, damit implizit auf den politischen Kompromiss, wo er unumgänglich ist, schließlich auf den Wert der Humanität, kurzum: auf die einzig akzeptablen Kräfte, die das „mögliche Unmögliche“ zu verhindern imstande sind. Die in eine Frage gekleidete Überschrift zum vorliegenden Kommentar ist schließlich mit Nachdruck zu verneinen.
Burleskes, Skurriles, Groteskes und Absurdes sind tragende Elemente der hier kommentierten Komödie, sind Aspekte, die sowohl den Verlust wie auch die Notwendigkeit von Vernunft und Aufklärung – auf Letzter es wurde soeben hingewiesen - aufzeigen. Die Inszenierung lässt den Wahnsinn lebendig werden, um es kurz zu sagen, und bewegt sich hier in einem angemessenen Rahmen, durchaus bemerkenswert angesichts einer dem Publikum durch Arbeiten des Regisseurs außerhalb Hamburgs vermutlich bekannt gewordenen, nicht ganz unumstrittenen Extravaganz seiner inszenatorischen Ergebnisse. Eine vielleicht eher verborgene Subtilität von Geist und Handlung des vorliegenden Theaterstückes in Verbindung mit einer dezidiert auf Gelingen und Überzeugungskraft ausgerichteten Aufführungspraxis stellt nicht zu unterschätzende Ansprüche an die schauspielerische Kompetenz der hier in Aktion tretenden Darsteller. Sie werden alle - so ließe sich abschließend konstatieren – den Anforderungen, die sich mit ihrer Rollenwahrnehmung jeweils verbinden, in bester Weise gerecht und vom Publikum mit entsprechendem Beifall bedacht.

(Zum Profil des Autors vgl. www.MichaelPleister.de)

Hamburg, d. 02.01.2016
Leserkritik "Wodkakäfer", DT Berlin
Recherchetheater "Wodka-Käfer", DT Berlin

Mit ganz einfachen Mitteln stellte das Deutsche Theater Berlin bei seiner letzten Produktion vor Weihnachten einen interessanten Theaterabend auf die Beine: Anne Jelena Schulte klingelte an den Türen eines Altbaus im Prenzlauer Berg, unterhielt sich mit den Bewohnern und verdichtete die Quintessenz ihrer Gespräche zum Theaterstück „Wodka-Käfer“.

Auf die Idee zu dieser Klingel-Recherche-Expedition brachte Schulte der Reportageband „Berliner Mietshaus“ aus dem Jahr 1980. Vor 36 Jahren verwickelte Irina Liebmann die Bewohner desselben Mietshauses im damaligen Ost-Berliner Arbeiter- und Dissidenten-Bezirk Prenzlauer Berg in Gespräche an der Haustür oder in der Küche mitten im „Bratkartoffelgeruch des Alltags“.

Die Stärke dieses Abends ist es, dass er präzise Momentaufnahmen aus dem Prenzlauer Berg liefert, über den so viele Klischees von Latte Macchiatto-Müttern bis Bioladen-Bionade-Schwaben kursieren. Gabriele Heinz und Barbara Schnitzler, zwei große Damen des DT-Ensembles, wechseln sich mit Olivia Gräser und Jonas Vietzke ab, die Hausbewohner zu verkörpern: den alleinerziehenden Architekten Peter, der sich mit Minijobs über Wasser hält. Die in der DDR aufgewachsene Pharmaassistentin Katja, die sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangelt, es aber in der geerbten Eigentumswohnung in Lichterfelde nicht aushielt. Die gerade aus Hamburg zugezogene Startup-Kreativagentur-Beraterin Steffi, die Berlin so supercool findet, aber bisher keine sozialen Kontakte aufbauen konnte. Der Punksänger Mark, der von der Kreuzberger Hausbesetzer-Szene geprägt ist und sich mit seiner Partnerin, einer Schauspielerin, die als Sekretärin jobbt, und zwei im Hintergrund zankenden Kindern mehr schlecht als recht über Wasser hält. (...)

Erst ganz am Ende landet der Abend bei Prototypen, wie sie durch Prenzlauer Berg-Klischees geistern: bei der schwäbischen Architektin Cordula und ihrem Mann, die eine Sechs-Zimmer-Wohnung großzügig umgestaltet haben. Neben ihren repräsentativen Coffee Table Books und ihren klavierspielenden Kindern liegt ihr vor allem eine Bürgerinitiative am Herz, mit der sie sich bislang vergeblich für eine verkehrsberuhigte Straße einsetzt.

Diese Porträts aus dem Prenzlauer Berg von heute werden von Livemusik (Ingo Schröder) untermalt und in der Regie von Brit Bartkowiak mit nachgespielten Szenen aus dem Jahr 1980 gespiegelt. Auf der Video-Leinwand erleben wir beispielsweise Vietzke und Gräser, wie sie ein junges Paar Anfang 20 spielen, das voller Stolz auf die eigene Wohnung die Parolen des Arbeiter- und Bauern-Staates nachbetet, aber schon bei ersten zaghaften Nachfragen der Interviewerin rat- und sprachlos wird.

Als Faktotum geistert außerdem ein Kammerjäger über die Bühne: Michael Gerber schildert, wie sehr sich der Prenzlauer Berg in den Jahrzehnten gewandelt hat und belegt dies ganz praktisch an den unterschiedlichen Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung. Bei einem seiner letzten Auftritte lüftet er auch das Geheimnis, was es mit dem Titel auf sich hat: der „Wodka-Käfer“ ist eines seiner Lieblingsinsekten.

Nach manchen Enttäuschungen in dieser Spielzeit ist mit „Wodka-Käfer“ in der Box des Deutschen Theater ein kleiner, feiner Abend gelungen. Er unterhält mit seinen zu amüsanten Szenen verdichteten Wohnzimmer-Interviews und zeichnet ein angenehm differenziertes Bild des Bezirks, über den sich in einigen Köpfen vorschnelle Urteile verfestigt haben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/27228-wodka-kaefer-momentaufnahmen-vom-prenzlauer-berg-in-der-box-des-deutschen-theaters.html
Leserkritiken: Die Mutter, Schaubühne Berlin
Herzerfrischend die Produktion mit der Schauspielschule Ernst-Busch Berlin an der Schaubühne: "Die Mutter" von Bert Brecht nach Maxim Gorki. Die darstellerischen Mittel waren klug, lebendig, originell und besonders dem Inhalt verpflichtet, was man anderen Inszenierungen nicht häufig antrifft.
Nun wissen wir ja heute was den Kommunismus betreffend aus den Hoffnungen eines Gorki und den Handlungsanleitungen Brechts geworden ist. Trotzdem, obwohl es von der Zeit überrollt ist; das Subjekt von dem die Rede ist, existiert hier nicht mehr, aber da diese Gesellschaftsform, sprich Kapitalismus, auch nicht der letzte Schluss der Weisheit zu sein scheint, gibt es eine Sehnsucht, eine Utopie einer besseren Gesellschaft. Genau diese bringt diese Inszenierung auf die Bühne. Bravourös Ursula Werner, auch die anderen DarstellerInnen zeigen, ganz im Brechtschen Sinne, dass sie an der Arbeit an diesem Stück gelernt haben. Wir, ich spreche jetzt für meine Generation, haben die legendäre Aufführung der "Mutter" Anfang der 70iger in der Schaubühne am Halleschen Ufer in Westberlin gesehen, u.a. mit Bruno Ganz, Otto Sander, Jutta Lampe, Edith Clever und der großen Therese Giese, mit heißen Herzen, quasi als Handlungsanleitung für die herbeizuführende Revolution. Oh, waren wir naiv bis auf die Knochen. Aber es war eben eine Inszenierung, bei der an ganz anderen Stellen gelacht oder applaudiert wurde...
Leserkritiken: Die Mutter, Schaubühne Berlin
Ich stimme Guenter Schmidt zu und finde die Inszenierung gelungen.

(...)

Das Ensemble (Elvis Clausen, Daniel Klausner, Benjamin Kühni, Thimo Meitner, Celina Rongen, Rosa Thormeyer, Felix Witzlau) zaubert einen erfrischenden Abend auf die Bühne, der nah an Brechts Vorlage bleibt, ihn aber sehr amüsant und kritisch darauf abklopft, was uns dieses Agitationsdrama für eine kommunistische Weltrevolution aus der Endphase der Weimarer Republik heute noch zu sagen hat.

Der Abend beginnt und endet mit Videoeinspielern aus den Proben: die Twentysomethings lesen aus der Taschenbuchausgabe bekannte Zitate wie „Das Sichere ist nicht sicher“ oder „Was ist der Ausweg“, schauen mit großen Augen fragend in die Kamera und grübeln, was ihnen die Zeilen für ihren Alltag sagen. Diese Idee mag nicht neu sein, wurde hier aber gut umgesetzt.

Noch besser sind allerdings die etwas mehr als zwei Stunden, die dazwischen liegen: der Truppe gelingt das Kunststück, die richtige Balance zwischen ironischer Brechung und dem Ernstnehmen der Vorlage zu wahren. Einerseits spielen sie Brechts Fabel von der Proletarierin Pelagea Wlassowa, die sich Schritt für Schritt von einer unpolitischen Frau zur überzeugten Revolutionärin wandelt, in all seinen Stationen recht detailgetreu nach. Andererseits wird die Handlung durch Auftritte wie den Rap von MC V-Effekt oder ähnliche, mit Szenenapplaus bedachte Einlagen auf amüsante und intelligente Art gebrochen. Felix Witzlau rauscht als personifizierter Kapitalismus im Glitzer-Kostüm herein und feuert einige böse Bemerkungen über das wohlsituierte Theater-Publikum, das in kapitalismus- und globalisierungskritische Aufführungen strömt, und über die Flüchtlinge als Humankapital ab. Anspielungen auf die Kreuzberger Krawall-Folklore zum 1. Mai, die russischen Femen-Aktivistinnen oder die Merkel-Raute wechseln sich mit weiteren Solo-Nummern wie von Elvis Clausen ab, der sich beklagt, dass er statt Brechts Agitationsdrama viel lieber einen Klassiker von Kleist spielen würde.

Nach den ironischen Experimenten ist es meist die Aufgabe von Ursula Werner als „Mutter der Kompanie“, ihre jungen Kolleginnen und Kollegen wieder einzufangen. Nach mehreren Jahrzehnten im Gorki-Ensemble arbeitet sie nun an verschiedenen Theatern (besonders oft mit Armin Petras, der als Intendant vom Gorki nach Stuttgart wechselte) oder mit dem Regisseur Andreas Dresen fürs Kino. Das „Theater-Schlachtross“ Ursula Werner, wie sie an einer Stelle despektierlich bezeichnet wird, ist mit ihrer Erfahrung und Ausstrahlung in der Titelrolle der ruhende Pol des Abends und bietet im Zusammenspiel mit den talentierten HfS-Schülerinnen und Schülern ein Theatervergnügen.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/27406-politisches-theater-brechts-mutter-mit-ursula-werner-und-ernst-busch-nachwuchs-ursina-lardi-als-zynische-ngo-frau-in-milo-raus-polemischem-theater-essay-mitleid-und-kleiner-mann-was-nun.html
Leserkritiken: 5. Sinfoniekonzert der Staatskapelle Halle,
Mit Venzago in´s neue Konzertjahr

Wohlgestimmt und gutgelaunt präsentierte sich die Staatskapelle Halle zum Beginn der 2.Hälfte der Sinfoniekonzertsaison 2015/2016. Ihr 5. Sinfoniekonzert in der Georg-Friedrich-Händel-Halle begann das Orchester mit 2 hier kaum bekannten Auftragswerken. Das Divertimento for Orchestra, hatte des Boston Symphony Orchestra bei Leonard Bernstein bestellt. Das Concerto for Piano and Chamber Orchestra »From Noon to Starry Night” hatten Mario Venzago und das Indianapolis Symphony Orchestra bei Claude Baker in Auftrag gegeben. Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 rundete den ersten Konzertabend im neuen Jahr ab.

Am Pult stand Mario Venzago. Mario Venzago ist Chefdirigent des Berner Sinfonieorchesters. Bei vielen namhaften Orchestern war er bereits Gastdirigent. Klaviersolistin war Claire Huangci. Claire Huangci ist eine junge amerikanische Pianistin chinesischer Abstammung, die sich mit exzellenten Chopin–Interpretationen bereits einen Namen gemacht hat.
Entspannt und locker begann der Konzertabend mit dem Divertimento for Orchestra . Divertimento baut auf den Noten B für Boston und C für Centennial (Jahrhundertfeier) auf und erinnert an allerlei Einflüsse. Mit großem Spaß an der Vielfalt der Themen, dem musikalischen Kaleidoskop engagierte sich schwungvoll die Staatskapelle.

Es schloss sich das halbstündige Concerto for Piano and Chamber Orchestra an. Es beruht auf Gedichten von Walt Whitman (US-amerikanischer Dichter 1819-1892; Mitbegründer der modernen amerikanischen Dichtung). In einer amerikanischen Konzertbeschreibung heißt es: "To fully grasp the ties that bind Baker and Whitman, one must know more about the poems and their content than most concert-goers are likely to come equipped with.” Wie wahr! Von diesem Manko lenkte die zarte Pianistin Claire Huangci mit ihrem kraftvollen Spiel, ihrer glitzernden Virtuosität, Souveränität sowie exzellenter technischer Brillanz verbunden mit feinsinniger musikalischer Ausdrucksstärke ab. Das Musikstück wuchs zu einer Performance mit stilistischer Vielfalt. Claire Huangci zauberte, erspürte, was der Komponist ausdrücken wollte. Das Hallenser Publikum verstand das, reagierte mit Begeisterung. Mit 2 Zugaben zeigte die wundervolle Pianistin, wie hervorragend sie das klassische Repertoire beherrscht und mit unglaublicher Leidenschaft spielt. Ihre große Wandlungsfähigkeit und ihr ungewöhnlich breites Repertoire, welches auch immer wieder zeitgenössische Werke umfasst, beweist sie bei der Arbeit mit internationalen Orchestern.

Nach der Pause kam eines der großen Werke der Romantik, die „Rheinische“ Sinfonie von Schumann, Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97, zur Aufführung. Wer einige Jahre im Sendegebiet der Westdeutschen Rundfunks gelebt hat, dem dürfte die „Rheinische“ von Schumann sich förmlich in´s Gedächtnis gebrannt haben. Nicht zufällig wählte nämlich der WDR den Beginn der Rheinischen Sinfonie zur Titelmusik seiner bekannten Sendung "Hier und Heute", die nun seit Jahrzehnten läuft und Schumanns Dritte zu einer inoffiziellen Hymne des Rheinlandes gemacht hat.

Erhaben erklang der 1.Satz. Über etwas mehr Unbeschwertheit und Brillanz in der Darbietung hätte sich Schumann wahrscheinlich gefreut. Im 2. und 3.Satz werden volkstümliche Elemente erkennbar, allerdings auf vielfältige Weise kunstvoll eingearbeitet. Gemütlich, beschaulich geht es zu bis der 3.Satz immer ruhiger werdend in Stille ausklingt. Der 4.Satz strebt nicht unmittelbar flott dem Finale zu, sondern bekommt zunächst etwas Feierliches, Verklärtes. Aber dann dominiert mit eingängigen Melodien mitreißender Schwung. Grandios spielt das Orchester das Finale. Gefühlvoll hat Schumann hier wohl den rheinischen Charakter erfasst, das Orchester inzwischen auch. Langer Beifall belohnte die stimmungsvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit von Orchester und Dirigent.

Vollständiger Text hier:
https://meinfigaro.de/inhalte/1f40d505bca55c65
Leserkritiken: Geächtet, Kudamm Berlin
Ayad Akhtar: Geächtet, Theater am Kurfürstendamm, Berlin (Regie: Ivan Vrgoč)

Ivan Vrgočs Coup, die Berliner Aufführungsrechte den großen städtischen Bühnen weggeschnappt zu haben, hat sich längst in einen Albtraum verwandelt: Kurz vor der Premiere trennte er sich von Regisseur Arash T. Riahi und “Star” Cosma Shiva Hagen, ersetzte letztere durch Katja Sallay und ersteren durch sich selbst. Der Vorverkauf lief schleppend, selbst die Premiere war alles andere als voll. Und leider sieht man der Inszenierung das Chaos in ihrem Vorfeld durchaus an. Da wirkt vieles unfertig – dass das Spiel so hölzern sein soll, wie es ist, möchte der geneigte Kritiker nicht glauben. Das Hauptproblem des Abends ist, dass er das Stück zu ernst nimmt. Oder eben auch nicht: Davon, das dies eine Komödie sein soll, ist nichts zu spüren. Die kleinen Pointen und Spitzen, die sich mal aus der Heuchelei der den einzelnen Egos im weg stehenden Paarbeziehungen, mal aus der Religionskritik, mal aus der Naivität Emilys oder der Arroganz Isaacs ergeben, verpuffen wirkungslos. Viel zu ernsthaft, ja verbissen, werden die oft parolenhaft wirkenden Sentenzen herausgepresst, mit einer Überdeutlichkeit, die jeden Zwischenton unmöglich macht. Natürlich ist man als (vermeintlicher) Muslim benachteiligt, grassieren Rassismus und Vorurteile unter liberalen Intellektuellen und liegt die größte Gefahr in der Identätsverleugnung des Einzelnen. Fragen wie etwa die, ob Amir mit seiner “wahren” Identität weiter gekommen wäre, oder auch warum eine abgelehnte Religion eigentlich zentral für die Selbstdefinition eines Menschen sein sollte, stellt weder der Text noch die Inszenierung.

Und so wird knapp zwei Stunden lang doziert und belehrt, werden klischeetriefende Geschichten erzählt (die Figur des Neffen, der seinen muslimischen Namen ablehnt und ob der Feindseligkeit der Gesellschaft sich dem Islamismus annähert, ist in ihrer Schlichtheit schier unerträglich), darf Amir Sätze sagen wie “Wir sind die neuen Juden” und sich mit dem N-Wort bezeichnen, während die, die diese Begriffe eigentlich treffen, schablonenhaft die ablehnende Gesellschaft bilden. Dass sich der Rassismus, von dem hier gesprochen wird, auch und gerade gegen sie richtet, blendet nicht nur Amir aus, sondern auch das Stück. Und dass der “muslimische” Mann am Ende sein Klischee erfüllt und die eigene Frau schlägt, lässt sich leicht lesen als Ergebnis seiner Erziehung, seiner “Kultur”. Ayad Akhtar hat einen Holzschnitt produziert, den Vrgoč mit dem Holzhammer und vollkommen ironiefrei auf die Bretter des Theaters am Kurfürstendamm zimmert. Da bleibt eigentlich nur das schöne Bühnenbild: Ein drehbares Dreieck in unschuldigem Weiß, schräg zulaufend auf eine erhobene Spitze bildet die Spielfläche – volatil und mit der Klippe, von der Amir stürzen wird, von beginn an sichtbar. Darauf ein Glastisch und Plexiglasstühle, symbolisch für die Durchleuchtung, den Dauerverdacht, dem sich Amir ausgesetzt sieht. Vor der Schlussszene werden sie Stück für Stück weggeräumt, während Amir (Mehdi Moinzadeh) an ihnen festzuhalten versucht. Ein stiller, wirklich schmerzhafter Moment, viel stärker als das hölzerne Geschwafel des restlichen Abends.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/01/29/unter-dozenten/
Leserkritik: Evros Walk Water, Rimini Protokoll
Rimini Protokoll (Daniel Wetzel): Evros Walk Water

Am Spannendsten ist die Umkehrung der Machtverhältnisse: Plötzlich ist es nicht der zentraleuropäische Zuschauer, der seine Deutungshoheit durchsetzt, sondern die, welche wir viel zu oft zu Objekten unserer Hilfe, Solidarität und so weiter degradieren, haben die Kontrolle. Sie sagen uns, was zu tun ist, und wir tun es. Es sind ihre Gegenstände, ihr Schlauchboot, ihr orientalische Saiteninstrument, ihre Küchenutensilien, mit denen wir spielen. Sie entscheiden, worüber sie sprechen wollen, und wir haben zuzuhören. Und wenn sie minutenlang über Haargel und -lack schwadronieren und sich die eine oder andere nicht ganz politisch korrekte Beleidigung an den Kopf werfen wollen, dann haben wir das zu ertragen. Das Cage-Stück gerät dabei in den Hintergrund, es ist Mittel zum Zweck. Die Idee des Perspektivwechsels – mal ist der Zuschauer mittendrin und spielt mit, mal außen vor und sieht zu – verpufft, weil man mit dem Zuhören und dem Befolgen der Anweisungen viel zu beschäftigt ist und man das “Konzert” nur gedämpft wahrnimmt, aufgrund der Kopfhörer.

Auch die ganze Bühnensituation, der Kunstrasen, der die Kontinente andeutet, die Gerätekollektion mit Ketten und Spielzeuggewehren und Bierflaschen (!) und Keyboard und Tonbandgerät mit dem Schlauchboot im Zentrum – es geht ja schließlich um Flucht – sind kaum erheblich. Vielen von dem, was Wetzel sich erdacht hat, im Zusammenspiel von Cage und Geflüchteten und Bildungsbürgern, von Kunst und Wirklichkeit, bleibt wirkungslos und lenkt nur ab vom Wesentlichen: Wie blicken wir auf jene, die zu uns kommen? Was sehen wir in ihnen, wie höre wir ihnen zu? Geben wir ihnen eine Chance, uns auf Augenhöhe zu begegnen oder geht es doch nur um Kontrolle und Dominanz? Viel Zeit, sich diese Fragen zu stellen, bleibt nicht, zu überfüllt und hektisch sind die sechzig Minuten. Wo Situation Rooms es schaffte, gerade aus der Überforderung des Zuschauers/Teilnehmers Perspektivwechsel zu kreieren, bleibt hier wenig mehr als das mechanische Abarbeiten der Kommandos. Das rächt sich ganz am Ende: Da werden wir aufgefordert, das Stück nach unserem Gusto zu spielen und unserer Fantasie freien Lauf zu lassen. Wir scheitern kläglich. Die spielerische Offenheit, dem Leben entgegen zu treten, welche die Jugendlichen auszeichnet, fehlt uns. Eine Erkenntnis, die wir ernst nehmen sollten.
Leserkritiken: "Geächtet" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Geächtet im Deutschen Schauspielhaus Hamburg

"Disgraced" ist eines der besten – wenn nicht gar das beste Theaterstück, das ich jemals gelesen habe – im englischen Original, vor mehr als einem Jahr. Die deutsche Übersetzung ist ein Witz, angefangen mit dem Titel "Geächtet". Auch wenn das Wort tatsächlich kurz vor Ende einmal benutzt wird, rechtfertigt es aus meiner Sicht nicht, den Originaltitel zu ignorieren! Das ist einfach nur schlechtes Handwerk... "Geschändet", "Blamiert" – selbst "Schande" oder "Ungnade" wären mögliche, gute deutsche Titel gewesen. Dem deutschen Text ist durchweg anzumerken, dass die Übersetzerin die Geschichte nicht verstanden hat!

Weder die Stimmung noch das Gefühl des Originals werden in der Übersetzung noch in der Hamburger Inszenierung getroffen, vom ironisch-hochbrisanten und auch immer mal wieder witzigen Inhalt ganz zu schweigen. Dass es Regisseur Klaus Schumacher und dem Team im Schauspielhaus Hamburg trotzdem gelungen ist, soviel aus der deutschsprachigen Vorlage herauszuholen, ist beachtenswert!
Nur selten verfallen die Charaktere auf der Bühne in das in diesem Lande deutlich überstrapazierte, gedehnte Gelalle, wenn es darum geht, einen Standpunkt lautstark zu vertreten. Die Momente, in denen das passiert, sind aber unerträglich!

Erstaunlich, wie viele wichtige Punkte aus dem Originaltext erhalten geblieben – und trotz allem wiederzuerkennen sind. Beim puren Lesen der deutschen Übersetzung habe ich sie alle vermisst! Diese Momente fallen aber immer wieder aus dem restlichen Text und Rahmen heraus, da helfen auch die Eingangsprojektion, aus der das Publikum (falls es sich nicht vorab informiert hat) erfährt, dass die Inszenierung tatsächlich in New York City spielen soll und das wiederholte erwähnen, dass man sich in New York befindet nicht! New York kommt nicht rüber! Das ist aber ein wichtiger Punkt für das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen und doch speziellen Menschen in dieser Konstellation und Thematik.

Aber es reicht, um zu verstehen, wieso sich die sphärischen und vermutlich meist im Alltag nur unterdrückten Spannungen zwischen Pakistanern (bzw. Indern), Juden, Afroamerikanern und "nur ganz normal weißen" Amerikanern (und –innen) so aufheizen und immer wieder entzünden – die erwähnten Parallelen zwischen der Entstehung des Korans uns des Buches der Mormonen mit inbegriffen. Einer von vielen Höhepunkten, nicht nur im Originaltext.

Diese Inszenierung braucht ein intelligentes Großstadtpublikum, um in Deutschland angenommen – und verstanden zu werden. Das Hamburger Schauspielhaus ist also ein idealer Ort dafür. Trotzdem bezweifle ich, dass alle Zuschauer im nahezu ausverkauften Saal wirklich verstanden haben, worum es wirklich geht.

Irritierend waren die Stellen, an denen einige wenige Zuschauer im Saal unbeholfen gelacht haben – ebenso wie die ironisch-komischen Momente, an denen niemand gelacht hat (…und ich im Wissen um den Originaltext höflich leise vor mich hin geschmunzelt habe). Wo gelacht wurde, wirkte es so, als wenn einige wenige das dringende Bedürfnis dazu hatten, und nach einer passenden Gelegenheit gesucht haben.

Die Schauspieler waren gut – und doch war es nicht die Idealbesetzung für diese Rollen, da man allenfalls der ("nur ganz normal weißen") Amerikanerin und dem Juden ihre Rollen abgenommen hat. Der Pakistaner und die Afroamerikanerin waren beide zu "deutsch", vor allem von der Sprachhaltung her – aber auch von der Körpersprache und vom Verhalten her. Auch beim Neffen Hussein (Abe) hat das Kostüm alleine nicht ausgereicht, um richtig in die Rolle zu passen. Schade.

Fazit: wer die Chance hat, das Original zu sehen und sprachlich zu verstehen, sollte es um jeden Preis wahrnehmen. Für alle anderen ist die Inszenierung in Hamburg ein souveräner zweiter Platz.
Leserkritiken: Evros Walk Water von Rimini Protokoll
"Evros Walk Water", Rimini Protokoll-Gastspiel, DT Berlin/Box

Spannende Zeiten: Die ZEIT lässt ihren Theater-Fachmann Peter Kümmel die Berliner GroKo analysieren. Kanzlerin Merkel erinnert ihn an Figuren von Robert Wilson. Horst Seehofer setzt in TV-Interviews das alte Stilmittel des „Beiseitesprechens“ ein und würde damit perfekt in eine Commedia dell´Arte passen, erinnert aber auch an Frank Underwood in „House of Cards“. Und auf den Bühnen jagt derzeit ein politischer Stoff den nächsten.

Das politische Theater steht vor einer zentralen Herausforderung: Wie lassen sich die recherchierten Fakten und Querverbindungen in ein dramaturgisch schlüssiges Konzept gießen? Wie gelingt es, den Stoff für das Publikum so aufzubereiten, dass es sich nicht vom moralisch erhobenen Zeigefinger abwendet und nur die kleine Gemeinde der ohnehin Überzeugten übrig bleibt? (...)

Das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll zählt zu den Pionieren des Recherchetheaters und hat oft genug bewiesen, dass sie es verstehen, interessante Zusammenhänge überraschend aufzubereiten und unterhaltsam zu präsentieren.

Für „Evros Walk Water“ reiste Daniel Wetzel nach Athen und unterhielt sich mit 15 Jungen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien und dem Irak über ihre Flucht. Sie haben alle gemeinsam, dass sie über den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros übersetzten.

Die kurzen Interviews erzählen von der Not des Bürgerkriegs, der Flucht vor dem Teufelskreis einer Vendetta und dem Traum der Jugendlichen von einem Leben in Sicherheit, Freiheit und mit Musik. Das Publikum hört diese Schilderungen über Kopfhörer an knapp zwanzig verschiedenen Audio-Stationen, die deutsche Übersetzung sprechen junge Liechtensteiner, da der Abend dort zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Leider werden diese Refugee-Biografien fast völlig von einer an Kindergeburtstage erinnernden Rahmenhandlung überlagert: das Publikum spielt zwischen den Höreindrücken auf Anweisung der jungen Flüchtlinge das auf drei Minuten gekürzte Stück „Water Walk“ von John Cage (1960) insgesamt sechs Mal nach. Dieses Mitmachtheater mit Planschbecken, Gießkanne und Gummiboot nimmt zu viel Raum in diesem einstündigen Abend ein und drängt das zentrale Thema, die Flucht-Schicksale, so sehr an den Rand, dass das Publikum bei diesem Rimini Protokoll-Gastspiel in der Box des Deutschen Theaters kaum neue Erkenntnisse zu den hochaktuellen Problemen an der EU-Außengrenze mitnimmt.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/27562-politisches-theater-suepermaenner-sprechen-ueber-ihre-biografien-rimini-protokoll-mixt-flucht-schicklsale-mit-john-cage-hans-werner-kroesinger-auf-spurensuche-graecomania-200-years-die.html
Leserkritiken: Conversion – Nach Afghanistan, von Costa Compagnie, Berlin
„Conversion – Nach Afghanistan“ von Costa Compagnie
Gastspiel am Ballhaus Ost am 30.01.2016

Vom 28. bis 31.01. fand in Berlin die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft zum Thema „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ statt. Es wurde viel diskutiert über die Möglichkeiten von Theater in Zeiten politischer Umbrüche, mit spannenden und langweiligen Beiträge und natürlich sehr viel Netzwerkelei. Kaum zuhause angekommen, schluckte einen der Betrieb und natürlich die Diskussion um die Auswahl für das Theatertreffen...
Dabei fiel hinten runter, dass unter all den gelisteten Vorschlägen für Theaterbesuche auch eine Produktion war, die eben jener Frage nach Kunst, Politik und Handeln tiefgründig, mutig und gleichzeitig erfrischend offen am allerkonkretesten nachging, wie es vorher so noch nicht gesehen wurde: „Conversion – Nach Afghanistan“ am völlig überfüllten Ballhaus Ost von der freien Gruppe Costa Compagnie. Ein gut gehütetes Geheimnis und als Nachwuchsgruppe scheinbar noch unter dem Radar der Theaterscouts, wenn auch prominent ausgestattet über den Fonds Doppelpass.
Als Grundlage für diese multiperspektivische Kunstanalyse aus dem Kriegsgebiet mit Text, Tanz, Video, Musik und einer Luft-Installation recherchierten Mitglieder der Gruppe in Afghanistan und interviewten zahlreiche Bewohner der Städte Kabul und Masar Scharif, sowie Soldaten der Bundeswehr und der US-Army in ihren Feldlagern, der brisanten Sicherheitslage zum Trotz. Ein willkommener Vorstoß auf dem Theater, denn oft findet keine Diskussion darüber statt, dass die Deutschland jahrelang im Krieg in Afghanistan beteiligt war und nun nach dem Ende der Mission nicht nur die Soldaten zurück kommen, sondern vor allem auch diejenigen, für welche die Intervention eigentlich ein besseres Zuhause schaffen sollte. Was ist also geschehen und wie sehen das die Afghanen selbst?
Jetzt alles zu berichten, was die costa compagnie an diesem gewaltigen, facettenreichen und bewegenden Abend innerhalb der zwei Stunden leistet ist bei 4000 Zeichen unmöglich. Im Schnelldurchlauf:
Zunächst eine leere Bühne, im Video die Berge Afghanistans, vier Tänzer in energetischen Bewegungen, andere Spieler erscheinen, deutsche und englische Texten der Befragten (Berlin typisch nicht untertitelt), musikalisch alles von Musikerin Katharina Kellermann elektronisch live begleitet, Klang-Atmosphären, Beats, Stimmen, Flugzeugmotoren und Flächen. Man verbringt gebannt die erste Stunde mit Biographien, Frauenrechten, Anschlägen, Entwicklungszusammenarbeit und natürlich den Taliban. Das pointierte Arrangement der Texte schafft es, dass die Themen nebeneinander, als auch zum Streitgespräch gegenüber gestellt werden, so dass man in ein Horizont erweiterndes Meinungsbild eintauchen kann.
Repräsentation wird hier medial an das Video ausgelagert, indem zu den präsentierten Texten riesengroße, schweigend blickende Portraits der Befragten eingeblendet werden (zum Teil auch im Originalton als Teil der Bühnentextsituation). Ein subversives Narrativ einer Begegnung, wie sie nur auf dem Theater stattfinden kann, das auf die im Text gestellten, aktuell brennenden Fragen verweist: Was hat die Intervention im Land (nicht) bewirkt? In welchen Krieg erklärt sich eine westliche Gesellschaft bereit (wieder) zu ziehen? Für wen und für was? Dazwischen intensive Abschnitte im Tanz mit verdrehten und ruckartigen Körpern, ausufernden Bewegungen, Solo- und Gruppenchoreografien, aus denen sich die Tänzer mühelos lösen, um den nächste Befragten vorzustellen (Choreografie Jascha Viehstädt).
Im Video Landschaften, Gebäude, Panzer, Hubschrauber. Begriffe wie Realität, Dokumentation, Wahrheit und Moral werden in einem fortlaufenden Essay-Monolog von Hauke Heumann offen verbalisiert und in Frage gestellt (Text: künstl. Leiter Felix Meyer-Christian). Dann wachsen riesige, weiße Plastikschläuche zu einem dreidimensionalem Chaos, das bis über die Zuschauer hinaus ragt auf der Bühne (Annika Marquardt, Lani Tran Duc) und später entfaltet sich im Hintergrund wie ein überdimensionaler Hefeteig eine große Stoffblase/Zelt der maximal wächst und der Fokus verlegt sich auf die Interviews im Militärlager. Im zweiten Teil brechen die Ebenen dann virtuos durcheinander. :Ein komisch-groteskes Interview in einer Bäckerei, Slow-Motion-Traum-Sequenz, ein zunächst unverständlicher afghanischer Witz mit latent grenzdebilem Übersetzungsverlust, Pocahontas-Sexy-Musical-Einlage, der Konflikt zwischen Besatzung und Aufbau, Kultur, Religion und „Terror“.
Am Ende entweicht die Luft und es bleibt nichts außer einem Stoffrest und einem Wimmelbild mit den sprechenden Köpfen dutzender Befragter, in dem unter anderen ein Afghane die Demokratie als solche in Frage stellt oder ein Ex-Soldat die Militärintervention zunächst schärfstens kritisiert („Können die da oben wirklich gut schlafen?“), um dann im nächsten Augenblick zu sagen, dass sich diese dennoch nicht in Frage stellen lässt, woraufhin er trefflich mit dem Wort „Ambivalenz“ lachend endet.
Die Gruppe selbst bleibt dabei nicht neutral und verweist nach einer klaren Benennung der Problematiken im Land und der Widersprüche des Westens in ihrem Abschlusstext auf die Ungültigkeit einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung im Kriegsgebiet und fordert ganz utopisch „polyphone Prinzipien“ und eine Neuausrichtung des Denkens innerhalb der eigenen Bewertung, um parallel sehr real-politisch ein Ende der Gewalt einzufordern – „mit welchen Mitteln auch immer“. Wer etwas dringliches von der Welt erfahren will und mehr auf Art“ statt auf „Artivism“ setzt, muss diesen Abend gesehen haben.
Leserkritiken: Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, Staatstheater Nürnberg
Seit 2012 verfasst die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek "Textflächen" zu dem aktuellen Thema "Flüchtlinge". Nach der Uraufführung 2014 in Mannheim versucht sich nun das Nürnberger Staatstheater an einer mittlerweile fortgeschriebenen Fassung (diese ist nachzulesen auf Elfriede Jelineks Homepage - siehe Link unten). Das bedeutet viel Arbeit für Dramaturgie (Horst Busch) und Regie (Bettina Bruinier). Die beiden haben das umfängliche Textgerüst luftig perforiert, auf die gut verträgliche Dauer von 100 Minuten gekürzt und zu seinem intensiven szenischen Arrangement für sieben SchauspielerInnen komponiert. Dabei bleibt Jelineks Grundanliegen unverstellt: sie will mit ihren sprachlichen Jelineckereien die vieltönende Kackophonie der öffentlichen Stimmen zu diesem Thema provokant persiflieren und gleichsam als semidramatischen Po-Etry-Schlamm vor dem Publikum auswälzen. Durch das assoziationsreiche Sprachgewitter schimmern drei Haltungen der Autorin durch: Empathie für die Flüchtlinge, Zorn über die Regierenden und Meinungsmachenden sowie Ratlosigkeit angesichts eines existenziellen Jahrhundert-Phänomens. Wenn sich die wortspielreichen Satzkaskaden im Zuschauerraum niederschlagen, erlebt man eine Mischung aus dem fränkischen Comedy-Drechsler Oliver Tissot (NATO oder Nahtod-Erfahrung?), dem frühen Publikumsbeschimpfer Peter Handke und einem aufgehübschten Dada-Manifest zur 100-Jahre-Feier. Das verlangt viel Konzentration, bietet aber auch gehobene Aha-Effekte. Das versierte und textsichere Nürnberger Kollektiv (Bettina Langehein, Julia Bartolome, Mareile Blendl, Philipp Weigand, Daniel Scholz, Thomas Nummer, Frank Damerius) kämpft sich mit großer Verve durch die Wortwindungen, kann sowohl solistisch als auch choristisch überzeugen. Politische Provokation (das beliebte Ösi- und Ungarn-Bashing), satirisches Querdenken (eine atemlose Helene-Fischer-Parodie oder ein Gedankenspiel zur Zivilisation durch das Dixi-Klo) und Einbeziehung des Publikums sorgen für stete Abwechslung. Durch Musik und Video-Installationen, durch präzise Bildsprache (Rettungswesten, Wasserkanister) entsteht ein fesselndes Gesamtkunstwerk für Augen, Ohren und Verstand. Wenn sich nur die Menschen genauso bewegen ließen wie die Hebebühnen des Nürnberger Theaters!

PS: Das ist doch wieder einmal eine kesse Anmeldung aus der Provinz für das nächste Berliner Theatertreffen 2017!?

Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, Regie: Bettina Bruinier, Premiere: 20.2.2016 Staatstheater Nürnberg Schauspielhaus
Leserkritiken: Wanja und Sonja und Mascha und Spike, Parktheater Iserlohn
Wanja und Sonja und Mascha und Spike
im Parktheater Iserlohn am 4.3.2016

Als dieses Stück es aus der Provinz nach New York und dort dann auch noch an den Broadway geschafft hatte, blieb viel Lob hängen. Der erfolgreiche Theaterautor Christopher Durang hatte sich mit Tschechow auseinandergesetzt und wollte, dass die mit ihm befreundete und vor allem sehr bekannte Schauspielerin Sigourney Weaver eine der Hauptrollen spielt. Diese konnte oder wollte nicht 'nein' sagen. Was blieb der Kritik also anderes übrig, als zu jubeln?!

Der Text ist subtil und der Inhalt streift das Werk Tschechows oft und ausreichend. Die Rahmenhandlung ist irrelevant, aber für alle, die sich schon immer mal amüsant mit dem Werk Tschechows auseinandersetzen - und/oder Sigourney Weaver auf einer Theaterbühne sehen wollten: Ein Muss!

In der deutschen Übersetzung geht auch hier leider einmal mehr sehr viel verloren. Was bleibt wurde bereits vor einiger Zeit im Theater Baden-Baden auf die Bühne gebracht. Ein Erfolg wie in New York blieb aus. Nun hat es die Konzertdirektion Landgraf von Kay Neumann für eine Tournee inszenieren lassen. Premiere war im Parktheater Iserlohn und mehr als 30 andere deutsche Städte folgen - und Neumann gelingt es, mit einer Mischung aus bekannten Namen und überraschenden Schauspielerinnen und Schauspielern (Claudia Wenzel, Rüdiger Joswig, Alexandra Maria Timmel, Patrick G. Boll, Juliane Köhler und Annabelle Mandeng) dem Original gleich in mehrfacher Hinsicht mehr als gerecht zu werden: Trotz schlechter Übersetzung gibt es viele Tschechow-Augenblicke, die Zuschauer erleben Tschechow komprimiert und damit irgendwie umso intensiver, als würde man alle seine Werke nacheinander lesen - das sensationell auf den Punkt treffende Bühnenbild (Florian Angerer) zeigt, dass hier alle an der Inszenierung Beteiligten zusammen an einer Idee gearbeitet haben - und insgesamt gibt es ebenso viele Momente, in denen einem die triste Verweiflung im Halse stecken bleibt, wie solche, in denen man aus dem Lachen nicht wieder heraus kommt.

Diese Inszenierung ist eine Mischung aus Tschechow für Anfänger ebenso wie für Liebhaber – mit einem Hauch Trash und einem Touch Boulevard.

Am Ende bleibt ein Art "Happy End", und es ist egal, warum man sich diese Inszenierung anschauen will - weil man einen oder mehrere der SchauspielerInnen verehrt, weil man sich nichts entgehen lassen will, was mit Tschechow zu tun hat, weil man mal wieder ins Theater gehen will - oder weil man die Inszenierungen von Kay Neuman mag: Alle kommen auf ihre Kosten - und alle Anderen übrigens auch!
Leserkritiken: Das Feuerschiff, Deutsches Theater Berlin
Kaum Funkenflug auf dem „Feuerschiff“nach Siegfried Lenz im Deutschen Theater Berlin

An einigen Stellen blitzt das Potenzial der vier Schauspieler auf dem „Feuerschiff“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters auf.

Als sich Owen Peter Read (in der Doppelrolle als Eugen/Edgar) ganz in unschuldigem Weiß im Schlepptau von Hans Löw (Dr. Caspary) breitmacht, liegt eine Atmosphäre wie in „Funny Games“ in der Luft. Für kurze Momente treten die Eindringlinge so schnöselig auf wie bei Haneke, als sie ihre Opfer in die Enge treiben. Aber John von Düffels „skelettierte“ Fassung der Erzählung von Siegfried Lenz ist Thesentheater statt Psychothriller.

Auch bei der Konfrontation zwischen Fred (Timo Weisschnur) und seinem Vater, dem Kapitän Freytag (Ulrich Matthes), könnten die Funken fliegen. Die Textvorlage lässt ihnen aber zu wenig Raum zur Entfaltung. Ulrich Matthes muss die „Ordnung“ so oft beschwören, bis seine Figur zur Verkörperung eines Prinzips wird, aber nicht mehr wie ein Mensch aus Fleisch und Blut wirkt. Eine Energie, die diesem Abend gut tun würde, ist auch unter der Oberfläche spürbar, als Fred von den Gangstern provoziert wird. Sie darf sich aber nicht entladen.

Nach nur knapp einer Stunde endet der Abend ziemlich abrupt. Das Publikum bleibt mit dem Gefühl zurück, dass der Vater-Sohn-Konflikt über die Frage, ob zurückhaltendes Abwarten oder Gegengewalt die richtige Antwort auf einen Übergriff ist, nicht auserzählt ist. Auch zwischen Freytag (Matthes), dem bedingungslosen Verfechter von Ordnung und Status quo, und dem Desperado Dr. Caspary (Löw), der zwischen Raucherpausen seine von Sartres Existentialismus inspirierte Thesen vorträgt, entwickelte sich nicht das erhoffte packende Duell, in dem um Prinzipien gerungen wird.

Der Premierenabend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters endete zwar mit freundlichem Applaus für Regisseur Josua Rösing und seine Schauspieler, der Funke wollte aber nicht überspringen
Leserkritiken: Die Glasmenagerie, Komödie am Kurfürstendamm Berlin
Tennessee Williams: Die Glasmenagerie, Komödie am Kurfürstendamm, Berlin (Regie: Katharina Thalbach)

Leonard Scheichers Erzähler stellt diese Realitätsverweigerung in den Kontext: In Spanien ertrinkt gerade ein Land im Blut des Bürgerkriegs und bald schon wird die Jugend, die sich gerade noch gedankenverloren vergnügt, in den zerstörerischsten aller Kriege ziehen. Emanuel Hauptmann steuert treibende Jazzrhythmen bei, die das Geschehen akzentuieren und illustrieren und die Scheicher am Schluss abwürgt. Schluss mit der Illusion, Schluss mit der Verneinung der Realität, Schluss mit der Behauptung einer Welt, die längst weiß, dass sie in den Abgrund, an dem sie noch tanzt, stürzen wird. Diese Glasmenagerie schaut auf eine Welt, die sich umso störrischer selbst behauptet, je mehr sie um ihren Untergang weiß, die diesen noch beschleunigt, indem sie ihn mit infantilem Trotz ignoriert. Das ist St. Louis , es könnte aber auch Berlin sein, und vielleicht schreiben wir gar das Jahr 2016, in dem so mancher die Augen schließt vor dem, was vor seiner eigenen Tür vor sich geht. In Deutschland wie in Amerika. Wer will, kann sich auf dem Fluss der Zeit treiben lassen, bis ins Hier und Jetzt, kann in Amanda Wingfield nicht die verblühte Südstaaten-Belle sehen, sondern jemanden, der uns begegnen könnte, wenn wir aus dem Theater heraustreten.

Der Abend erlaubt es, Assoziationen zur Gegenwart herzustellen, aber er ermöglicht es dem Zuschauer genauso, sich in erster Linie unterhalten zu lassen. Und das tut er zur Genüge. Ohne Zweifel: Die Figurenzeichnung gerät zuweilen sehr holzschnittartig. Vor allem Nellie Thalbach als Tochter Laura ist in ihrer graumäusigen Piepsigkeit arg plakativ und auch Mutter Anna als Amanda kippt ein wenig zu oft ins Albern-Lächerliche. Doch natürlich ist sie auch in der Lage, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ihrer Figur fühlbar zu machen. Das gelingt ihr weniger in den Ausbrüchen, in denen sie zetert und brüllt und keift, was ernst gemeint ist und doch oft farcenhaft platt wirkt. Besser wirkt Komik: In den Szenen, in denen sie am Telefon versucht, Zeitschriftenabonnements zu verkaufen, schwingt in all den lustigen Grimassen eine stille Verzweiflung mit, die eindringlicher ist als alles Schimpfen und Beleidigen. Da wird die herrische Amanda zur gepeinigten und verlorenen Seele, die Anna Thalbachs wiederholter Blick ins Leere als Kern dieser Figur bestätigt. Zwischen den Zeilen.

Das wirkliche Ereignis des Abends ist jedoch der 23-jährige Leonard Scheicher, der kurz vor seinem Abschluss an der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” steht. Er nagelt die Rastlosigkeit und Zerrissenheit seiner Figur mit einer Unnachgiebigkeit, einer so kompromisslosen Energie auf die Bühne, dass er ganz allein in der Lage ist, die Paralyse einer Welt, die dicht weiß, wo sie hin will, zu verkörpern. Er ist der treibende Schlagzeugrhythmus und die Gespensterhaftigkeit der Zeitkapsel in weißen Vorhängen, er ist das Nicht-mehr und das Vielleicht, das sich dem Hier und Jetzt verweigert. Die Glasmenagerie in der Regie Katharina Thalbachs zeichnet in fast musikalischem Rhythmus und im zwischen den Zeiten und Wirklichkeiten wandernden Zwielicht das Bild einer Welt, die sich auflöst, die sich selbst verliert, weil sie sich ihrer selbst nicht zu stellen vermag. Der Abend ist exzellente Unterhaltung, auch wenn – oder weil? – er bisweilen überzieht und chargiert und nicht immer seinen Ton hält. Aber er ist, wie gutes Theater, egal ob am “Boulevard” oder anderswo, eben auch mehr: ein Fenster (tatsächlich ein zentrales Element in der zweiten Stückhälfte) in eine Welt, in der wir, so wir denn wollen, so manches Bekannte wiederfinden können. Nein, irrelevant ist dieses Theater nicht.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/07/der-blick-aus-dem-fenster/
Leserkritik: Borgen an der Berliner Schaubühne
LeserKritik: Borgen - Schaubühne Berlin, Regie Nicolas Stemann

Diese kabarettistische Herangehensweise an „Borgen“ läuft Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten .

(...)

Die Serie malt nicht nur Schwarz-Weiß, sondern verhandelt in Grautönen das Aushandeln politischer Kompromisse bei Regierungsbildungen und im Tagesgeschäft. „Borgen“ lotet die Handlungsspielräume von Minderheitsregierungen aus, beleuchtet das schwierige Verhältnis gegenseitiger Instrumentalisierung von Politik und Boulevard-Medien und die Auswüchse von Spin-Doktoren und Lobbyismus. All das kommt an diesem langen Abend deutlich zu kurz. Stemann macht es sich mit seiner pauschalen Ablehnung der Serie zu einfach.

Mich hat an diesem Theaterprojekt vor allem ein Aspekt interessiert, den Stemann nur anreißt: wie im Rückspiegel erkennen wir in den Dialogen der 1. Staffel, die in Dänemark schon vor sechs Jahren ausgestrahlt wurde, ein erstaunliches Abbild unserer gegenwärtigen politischen Diskussion. Auf der einen Seite das Erstarken einer rechtspopulistischen Partei, die mit ihren Parolen die politische Mitte vor sich hertreibt . Sie fordern die Schließung der Grenzen, mehr Abschreckung und die Verschärfung des Asylrechts. Auf der anderen Seite eine Regierungschefin, die für Willkommenskultur eintritt. Stemann greift diese, wie er im Interview mit dem Freitag selbst sagte, „frappierenden“ Parallelen zwar auf, belässt es aber bei einigen eingestreuten „Wir schaffen das!“-Zitaten und einem Räsonieren über das ökonomische Kalkül hinter einer liberalen Einwanderungspolitik.

(...)

Es wäre interessant gewesen, diese Zusammenhänge noch stärker zu beleuchten, anstatt sich in einer kabarettistischen Nacherzählung des Serienstoffs zu verzetteln. Außer einer entzauberten Birgitte Nyborg bleibt wenig von diesem Schaubühnen-Abend.

Wenn die heilige Birgitte von Christiansborg mal wieder nervt, gibt es aber noch zwei andere bewährte Gegenmittel: Entweder man legt ein paar Folgen „House of Cards“ mit Kevin Spacey als diabolischem Strippenzieher ein. Diese Serie wird in einem kurzen Exkurs etwa zur Hälfte von Stemanns Inszenierung, als es um Guantánamo-Häftlinge und einen US-Staatsbesuch geht, auch kurz zitiert. Oder man sieht sich die Birgitte-Darstellerin Sidse Babett Knudsen in „Duke of Burgundy“ an, wo sie von Peter Strickland ganz entgegen den mit ihrer „Borgen“-Rolle verknüpften Erwartungen besetzt wurde.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28122-die-entzauberung-der-birgitta-nyborg-nicolas-stemann-nimmt-die-polit-serie-borgen-auseinander.html
Leserkritiken: "Werther" von Stemann als Gastspiel im BE
Zeitreise in die 90er: „Werther!“-Solo von Philipp Hochmair

Die Schulklassen, die gestern scharenweise zum „Werther!“-Gastspiel ins Berliner Ensemble geschleppt wurden, sind bedauernswert. Welchen Eindruck nehmen sie vom Theater nach Hause?

Ein manieriert gesprochener Monolog mit dem Reclam-Heftchen, das sie schon aus dem Unterricht kennen, als Bühnen-Hintergrund; der zweite Teil verliert sich in postdramatischen Mätzchen der einfallslosesten Art.

Als Regisseur Nicolas Stemann den Abend mit dem Schauspieler Philipp Hochmair im Jahr 1997 erarbeitete, mögen die Live-Video-Experimente, die hier recht tapsig eingesetzt werden, gerade eine spannende Innovation gewesen sein. Aber die Altherren-Humor-Zoten wirkten bestimmt auch damals nur peinlich. Die vorderen Reihen mit Salatblättern zu bewerfen, ist kein besonders aufregender oder auch nur ansatzweise gelungener Einfall. Außerdem ist der Sitznachbarin zuzustimmen, die sich über den sehr stark in den Saal wabernden Gestank beschwerte, als Hochmair und Stemann vermutlich keine anderen Gags mehr einfielen und der Schauspieler eine ausführliche Zigarettenpause einlegte.

Der Abend ist zu keinem Zeitpunkt packend, die missglückte Zeitreise in die 90er ist zum Gruseln. Die flauen Witzchen über die Herren Beil, Brandauer und Peymann, denen Hochmair im Mittelteil für die Einladung nach Berlin dankt, gehören angesichts der Tiefpunkte des Abends schon zu den erträglicheren Momenten.

Das einzig Lohnenswerte an diesem Ausflug in die 90er ist, dass mal wieder „Perfect Day“ von Lou Reed aus „Trainspotting“ zu hören war.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28157-zeitreise-in-die-90er-werther-solo-von-philipp-hochmair.html
Leserkritik "König Ödipus", München: Mad Men lässt grüßen
König Ödipus im Residenztheater München, 3. März 2016, Regie: Mateja Koležnik

Mad Men lässt grüßen. Aber eben auch nur das. Mal abgesehen davon, dass König Ödipus und seine Kompagnons keine Men of Madison Avenue waren, mad ist zumindest er geworden.
Auf einem sehr begrenzten Bühnenraum, auf dem das Schwarz nur einen schmalen, hellen Streifen ausspart, passiert es – die griechische Tragödie. Die Zuschauer sehen eine Fensterfront eines Büro- oder Regierungsgebäudes, allerdings nur eine Etage und nur einen kurzen Ausschnitt eines Ganges. Hinter dem Glas liegt ein grauer Teppich, der in eine graue Wand überläuft, die nur von zwei braunen Klapptüren unterbrochen wird. Das Holz der beiden und der silberne Stehascher mitten im Gang erzeugen schon den sechziger Jahre Charme. Über den Gang und durch die Türen laufen mehr oder wenig geschäftig Anzugträger in schnittigen Stoffteilen, manchmal auch ein uniformierter Servicemensch. Der säubert den Ascher, um den sich hin und wieder die Anzüge scharren. Das Fensterglas war zunächst gar nicht zu erkennen aus dem Rang, weshalb ich es direkt schade fand, dass Mikrofone benutzt wurden. Erst als Teiresias Ödipus sein Wissen verkündet und der Albtraum des Vatermordes und des Inzests ihn an die Scheibe wanken lässt, werden die Mikros erklärlich. Bis Ödipus und Iokaste Erkenntnis über ihr Tun erlangen, vergeht gar nicht mehr so viel Zeit.
Wie ein liberaler Fischschwarm bewegen sich in den Denkpausen der beiden die Anzüge, der Chor, über den Flur und in den Sitzungssaal hinein, in dem die Herrschenden in hallendem Klang an das Volk appellieren. Mal kommt einer noch schnell hinterher gehechtet, mal beratschlagen sie sich ruhend im Kreis um den Ascher. Als dunkle Ahnung und Ankündigung des Untergangs schreiten einige der Anzüge windschief und fallend an Ödipus vorbei und lassen verbrannte Fetzen zurück. Die Anzüge sitzen auf jeden Fall gut.
Iokaste tritt ganz Präsidentengattinnen like in züchtig biederem Kleid und Friseur auf. Sie hat die Situation im Griff, alles wird sich aufklären. Teiresias kann gar nicht recht haben, denn die Prophezeiung des Orakels konnte nicht eintreten, ihr Sohn wurde schließlich ausgesetzt und Laios von Räubern erschlagen. Ne, eben nicht.
Großartig das Ereignis, mit dem der Untergang der illegitimen Familie verkündet wird. Einer der Servicemenschen trägt eine Tüte mit Klorollen über den Gang; unerwarteter Weise zieht er Kreon die Tüte über den Hintern. Iokaste ist tot, hat sich erhängt. Ein Paukenschlag, der die Anzüge blass aussehen lässt. Der ganze Aufzug wird ins Lächerliche gezogen. Die Ruhe verlässt einige der Anzüge aber nicht, wenn der aus den Augen blutende Ödipus erscheint; er löst kein Mitgefühl aus. Der gerufene Kaffee für die Herren kommt auch schon. Sie lauschen, sie schauen zu und sind das Abbild des Publikums. Als Ödipus das Gebäude verlässt, schauen sie stellvertretend für das Publikum, das ihn nicht sehen kann, dem Gepeinigten hinterher. Voyeurismus ist es. Wir schauen den Voyeuren zu, wie sie dem Elend zuschauen. Das ist wie Fernsehen, wie das Nachmittagsprogramm. Das Glas zwischen denen und uns schützt uns vor der Erkenntnis, oder eben auch nicht.
Aufgebrochen wird diese vierte Glaswand nur am Ende, wenn die Schauspieler in ordentlich choreografierter Ordnung auf dem schmalsten Ende der Bühne den Applaus der Voyeure empfangen. So nah sind sie plötzlich, die Mad Men.
Leserkritiken: Die disparate Stadt, Hamburg
Leise tastend ganz laut. Ein Disparatum zur disparaten Stadt.

Impressionen zur Aufführung "Die disparate Stadt" im Malersaal Hamburg vom 5.3.2016

Schreiben oder Nicht-Schreiben und wenn ja, dann wie? Schreiben mit unsichtbarer Tinte, die sich nur vom Herzen dechiffrieren lässt. Ich bin als Kritikerin hier, Rezensentin wäre das glimpflichere Wort, ich mag es ehrlich, ich fühle mich unwohl. Ich fühle mich wohl, wenn ich schreibe, dass ich mich unwohl fühle als jemand, der sein Urteil in die eilig-gefräßige Mühle der Presse füttern wird. Erwartet von den Himmelhochjauchzenden und Zutodebetrübten in diesem mörderischen Karrussell des Wer-ist-zum-Theatertreffen-eingeladen. Wer greift am Härtesten durchs Gestrüpp der Texte in tödlich-flüchtigen Zeiten? Wer ist am lautesten? Doch um wen oder was geht es eigentlich?
Ich warte auf den Einlass mit den Menschen um mich herum, deren Blicke und Schritte ins Stolpern geraten, ein Sandkorn im Auge und auf dem Boden zwischen Tür und Angel. Wir sind verunsichert, könnten uns wehren, doch nicht eindeutig ist es, sie wollen es anders, selbst bestimmter Einlass in eine sich selbst bestimmen wollende Welt. Noch und weiter und trotzdem und gegen den Widerstand der Zeiten im Aufbrechen festgelegter Orte. Leise Stimmen zur Kinderleier. Es gehe los, er wisse nicht, ob es gelinge, das, was hier geschehen könne, sagt der Spielleiter in fast bittend-tastender Weise. Nicht der freche Entertainer, nicht der laute Schorsch Kamerun. Er wirkt unsicher, will verunsichert sein, will verunsichern. Die Unsicherheit, das Nichtwissen, wie es geht, teilen mit denen, die meinen es zu wissen, wir alle meinen es zu wissen. Und doch ist vielleicht das Nichtmehrwissenwieesgeht der Weg, den wir links liegen gelassen hatten im Angesicht der lockenden Macht. Links glimmen Wörter auf, werden angeschwärzt, verheißen nichts Gutes. Gänge, Treppen, Stimmen, eine Kamera läuft mit, ist wackelig auf den Beinen, sucht nach Halt, wo gibt es den noch. Eine Er mit uraltem Gesicht tanzt durchgehend Ballett zur Groteske. Rollschuhmädchen. Maskenläufer, nein sie tanzen nicht, winken Lavinia Schulz ins Grab. Dada hat die Nase voll, Expressionismus hat Ausdauer. Alle packen an, auch die von oben, knallhart, kein Unterschlupf übrig. Der Bulle ist wirklich verzweifelt, der Demagoge überzeugt schmierig – und sie reißt sich das Herz aus dem Leibe. Schließlich die Trutzburg mit Palmenexplosion in pudeligen Zeiten, obwohl wir doch alle heimatlos werden. Einsam. Ganz fröstelig. Wagner. Die Königin der Nacht leuchtet durch die erloschene Stadt. Rache blinkt. Offizium der Reklame. Dann geht es draußen weiter. Der unsichere Teil beginnt, da ist sich Schorsch sicher. Schon die Else schrieb Briefe an Den Malik.
Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Muss ich das wissen, will ich das wissen? Wer fängt womit was und was genau an und wozu überhaupt? Was fangen wir an? Ich möchte nur noch Herzen füttern. Ich weiß nicht, wie das geht. Nur ein kleines bisschen: Den Zeichen nachgehen, wo es leise wird und zart. Und unsicher.
Leserkritiken: Kommentar zu >Die disparate Stadt
Vorausgesetzt, Herzen könnten gefräßig sein und würden ohne Worte nicht auskommen können, wäre dieser Text von Jorinde Reznikoff geeignet, ihren Hunger zu stillen. Für einen Moment. Vielleicht.
Leserkritik: Borgen an der Schaubühne Berlin
Schöne einfache Welt
Borgen, nach der TV-Serie von Adam Price, entwickelt mit Jeppe Gjervig Gram und Tobias Lindholm, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Nicolas Stemann)

Alles ist gespielt, Kameras begleiten die Figuren ohne Unterlass über eine typische Stemann-Probenimitationsbühne, dominiert von einem Leseprobentisch, Teleprompter schreiben jeden Text vor. Jede Zeile, so sagt uns das, ist geskriptet, selbst das vermeintlich Private – beispielhaft die Intimitätsinszenierung mit dem Noch-Ehemann, der sofort der Scheidungswunsch folgt – ist bloßes Spiel. Wird es intim, spielt Musik, soll etwas vernebelt werden, wabert der, ja, Nebel. Alles korrupt hier, kein Idealismus nirgends. Pegida-ähnliche Wutbürger erscheinen und brüllen ihre Parolen, angestachelt vom Boulevard-Chefredakteur Laugesen. Die Medien als Populismus-Katalysator und Manipulatoren der “Volksseele”. Kein neues Vorurteil.. Politiker und Spin Doctors spinnen ihre Intrigen, Lobbyisten sowieso, Whistleblower enden im Selbstmord und das Private geht unter. Politikverdrossenheit und “Lügenpresse”: Es ist erschreckend, mit welcher Eindeutigkeit Stemann AfD- und Pegida-Vorurteile aufnimmt und unwidersprochen als Wahrheiten deklariert. Denn einen Gegenentwurf gibt es nicht, auch nicht im Privaten. Der zunehmend entfremdete Gatte (Rudolph) ist wenig mehr als ein weinerlicher Schlappschwanz, die altklugen Kinder (Zimmermann und Strauß) bestenfalls komische Einsprengsel. Ansonsten besteht der Abend aus einer These, die er dem Zuschauer fast vier Stunden lang einhämmert.

Dabei bedient sich Nicolas Stemann eines breiten Ausdrucksspektrums: von Probensituation bis Agitprop, von Brecht-Weillscher Liedinterventionen bis Lecture Performance, von Soap und Melodram bis chorischem Sprechen. V-Effekte allerortens, ständig wir die Gemachtheit des Geschehens betont und zur simplen Metapher für die Konstruiertheit des politischen wie medialen Scheins vereinfacht. Das postdramatische Handwerkszeug wird ausgepackt und erscheint zuweilen als bloße Routine. Das erwartet man halt von Stemann, also liefert er. Erkenntnisse sind Mangelware (die Erläuterung der ökonomuischen Aspekte von Flüchtlingszustrom und offenen Grenzen bildet eine Ausnahme), es gibt nichts hervorzuholen und aufzudecken, wozu man Stemanns Illusionsdurchbrechnungsinstrumentarium bräuchte. Alles liegt offen, von Beginn an. Dieser Versuch, eine Fernsehserie auf die Bühne zu bringen, scheitert auf ganzer Linie. Das liegt nicht am Ausgangsmaterial, sondern einzig und allein an Stemanns denkfauler Verweigerung einer Auseinandersetzung. An diesem Abend reicht ihm eine These, die er den Rest des Abends möglichst unterhaltsam variiert. Welch eine Material- und Zeitverschwendung.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/10/schone-einfache-welt/
Leserkritik: Die Gerechten/Das fahle Pferd am bat Berlin
Terror in Russland: „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ von Albert Camus/ Boris Sawinkow im bat-Studiotheater

Wenn die zehn Theatertreffen-Inszenierungen wie Stadionrock-Stars auf Tour eine Vorgruppe hätten, wäre klar, welches Stück vor Daniela Löffners russischer Turgenjew-Elegie „Väter und Söhne“ aufgeführt werden müsste.

Marcel Kohler spielt bei diesem Überraschungserfolg in den Kammerspielen des Deutschen Theaters eine der Hauptrollen als Arkadij Nikolajitsch Kirsanow. Kurz danach studierte er mit fünf Studenten aus dem 3. Studienjahr der HfS Ernst Busch (Lukas Gabriel, Roman Schomburg, Joshua Jaco Seelenbinder, Samuel Simon, Alexander Wanat) und ihrer Kommilitonin Luise Pöls den Abend „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ von Albert Camus/ Boris Sawinkow im bat-Studiotheater ein.

Die Stoffe sind nicht nur thematisch ähnlich, hier geht es ebenfalls um die politischen Umwälzungen im Zarenreich und anarchistische Ideen. Auch ästhetisch schwelgen beide Abende in einer elegischen Grundstimmung mit langen Kunstpausen. Wie am DT sitzt das Publikum in einem Rechteck um die Schauspieler auf der Bühne.

Auch wenn die bat-Studiotheater-Inszenierung vor allem in der ersten Hälfte von „Väter und Söhne“ inspiriert ist, handelt es sich natürlich nicht um ein Plagiat. Nach der Pause wird der Abend dynamischer. Nach den recht zähen Planungen des Attentats auf den Großfürsten und einer ausgiebigen Kunstschneeballschlacht während der Pause findet sich das Ensemble im Gefängnis wieder.

Die übrigen Häftlinge sind als Menschenknäuel zusammengeballt und stellen dem Attentäter neugierige Fragen zu seinen Motiven. Neben der Musikalität (Chorgesang christlicher und russischer Melodien, begleitet von Klarinette und Gitarre) hat der Abend nun auch komische Momente. Die Begriffsstutzigkeit der Gefangenen wird zum running gag. Das leitmotivisch wiederholte „Russland wird heilen. Russland wird wieder schön sein“ hallt als hoffnungsvoller Appell für eine bessere Zukunft nach Putins autoritärer Herrschaft beim Verlassen des Theaters nach.

Wer „Väter und Söhne“ liebt, wird auch „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ mögen.
Leserkritik: ≈ [ungefähr gleich] an der Schaubühne Berlin
Strampeln im Hamsterrad: ≈ [ungefähr gleich] im Schaubühnen-Studio

Unter Hamster-Masken schwitzen die vier Schauspielerinnen und Schauspieler dieses Abends (Iris Becher, Bernardo Arias Porras, Renato Schuch, Alina Stiegler). Die SZ erinnerte es an eine Textilfabrik in Bangladesch, wie sie im Akkord schuften und Gold-Papier in kleine Schnipsel schneiden. In den folgenden 90 Minuten teilen sie sich mehr als zwanzig Rollen auf, die alle eines gemeinsam haben: sie träumen von Glück und Wohlstand, strampeln und strampeln, scheitern aber doch.

Wir erleben den Fachmann für Wirtschaftsgeschichte, der in langen Monologen von seinem Fachgebiet schwärmt, aber keine Chance auf einen Lehrstuhl hat. Die Angestellte im Tabakladen muss Rubbellose verkaufen, würde aber lieber als Selbstversorgerin auf einem Öko-Bauernhof aussteigen. Der Nächste reiht Abendkurse an Fortbildungen, wird aber doch in allen Bewerbungsverfahren abgewiesen und muss sich von der frustriert-gelangweilten Jobcenter-Mitarbeiterin (Iris Becher in einer der gelungensten Miniaturen des Abends) schikanieren lassen. Freja schreckt nicht mal davor zurück, ihre Rivalin um den Arbeitsplatz vor ein Auto zu schubsen. Nur der Schauspieler Peter (Bernardo Arias Porras) zeigt dem Kapitalismus den Stinkefinger, er schnorrt sich als angeblicher Obdachloser durch. Er hat sein Geschäftsmodell optimiert und verfügt über ein großes Repertoire an Sprüchen und Geschichten, die er je nach Situation auspackt.

Das Problem des Abends ist, dass der schwedische Autor Jonas Hassen Kherimi die kurzen Szenen so überkonstruiert miteinander verknüpft hat, dass am Ende alle Figuren irgendwie miteinander zusammenhängen. Bis dahin hetzt das Stück von einer Episode zur nächsten. Kurze Schlaglichter statt Geschichten mit Tiefenschärfe. Mina Salehpour, die zum fünften Mal ein Kherimi-Stück auf die Bühne bringt und deren Arbeiten bisher vor allem in Hannover, Braunschweig oder am Grips Theater zu sehen waren, bringt diese Sketche aus dem kapitalistischen Hamsterrad souverän auf die Bühne.

Bleibt noch die Frage nach dem Unterhaltungswert: der oben erwähnte Wirtschaftshistoriker erklärt zu Beginn ausführlich eine mathematische Formel, mit der man diesen Wert angeblich ganz genau berechnen könnte. Bei dieser ≈ [ungefähr gleich]-Inszenierung im Studio der Schaubühne liegt er im soliden Mittelfeld. Der Abend bietet wenig Neues. Zu oft haben sich junge Dramatiker schon mit ähnlichen Ideen und Thesen an der Arbeitswelt abgearbeitet.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28256-strampeln-im-hamsterrad-ungefaehr-gleich-im-schaubuehnen-studio.html
Leserkritik: Camille Claudel, München
#185
LESERKRITIK: CAMILLE CLAUDE, ATELIER MUSICAL, PATHOS-THEATER MÜNCHEN

Die Fabelhafte Welt der Camille Claudel

Schon im Eingang des Theaters betritt man die Welt der Camillie Claudel (1864-1943), französische Bildhauerin und Geliebte von Auguste Rodin:
Fotos ihrer Skulpturen hängen an den Wänden, weiße Tücher über Gegenständen, von Seilen Schürzen, Zylinder, Glühbirnen. Auf der Bühne kündigen Cello, Klavier und …klavier an, was dann in einem Flötenspiel beginnt: Camilles Geschichte wird von der Kölner Truppe Coop 05 mit Musik, mit Ton, Klang und Gesang erzählt, ihr Leben wird auf der Bühne zum Hören gebracht.
Es geht um das Aufwachsen als nicht-gewollte Tochter, um die Arbeit des Bildhauens, die Liebe zu Rodin und die Eifersucht, um finanzielle Probleme, um Geburt, Verlust und Wahnsinn. Um Camilles beständigen Kampf um Selbstbehauptung als Frau: wegen ihres Geschlechts wird sie von der Mutter nicht geliebt, wegen ihres Geschlechts wird sie als Bildhauerin nicht gewürdigt, wie der große Rodin, der gerade auch aufgrund ihrer Mitarbeit erfolgreich wird. Den Platz an dessen Seite muss sie sich ebenso erkämpfen wie ihre finanzielle Existenz.
»Wem gehören Sie?« fragt ein fiktiver Rodin die Bildhauerin.
»Mir«, antwortet Camille, und gibt die Frage an den Mann zurück: »Sind Sie abhängig oder frei?« Mehr als alle anderen ist Camille die sich selbst Gehörende, die durch und in ihrem Schaffen eine Eigenständigkeit durchsetzt, die nach Befreiung strebt: liberté.
Das ist eindrucksvoll dargestellt durch eine Intensivität des Ausdrucks, durch die klangliche und musikalische Darstellung und durch Licht- und Videoinstallation. Im Hintergrund laufen in schwarz-weiß Nahaufnahmen von Camille Claudels Skulpturen ab, die in der Nähe der Großaufnahme an Totenmasken erinnern. Es gibt Elemente aus Tanz und Statuentheater, Erzählpassagen, poetische Reflexionen über Leben, Kunst und Wirklichkeit. Das Bildhauern wird zum Musizieren wird zur Choreographie, wenn in der Skulpturenwerkstatt ein Cello bildhauerisch-klanglich bearbeitet wird, Steine aneinandergerieben werden, Geräusche in einem Topf erzeugt werden. Vom feinsten Kratzen bis zum Knall, von Gesang bis zum Schreien werden die Geräusche performativ erzeugt und verdichten sich in Abstimmung mit Licht, Bild, Sprache zu einer magisch-aufwühlenden Atmosphäre.
Camille bleibe unvergessen, schrieb ihr Bruder, der Schriftsteller Paul Claudel, denn mit ihr haben wir die Welt des Scheins verlassen und die Welt der Gedanken betreten. Und wie Licht, Schmerz und Schalentiere gelten Camille die Gedanken als Wirklichkeit, und damit als Grund der Kunst, dieser Nachahmung der ewigen Wirklichkeit.
In diesem Stück aber gibt es keine Nachahmung, sondern den Versuch, das Vergangen in eine neue, sinnliche Gegenwärtigkeit zu überführen. Es genüge hinzusehen auf das, was da ist, sagte Camille Claudel einmal, und es ist alles ein Wunder. Hinzuhören bringt uns am tiefsten in ein gegenwärtiges Erleben. Mit ihrem Klangstück führen uns Susanne Kubelka, Neven Nöthig und Claudia Günster auf wundervolle Weise in die Welt einer beeindruckenden Frau und machen ein Leben aus dem 19. Jahrhundert gegenwärtig.

NÄCHSTE AUFFÜHRUNG AM SONNTAG, 13.3.2016, 20.30 UHR IM PATHOS-MÜNCHEN
Leserkritik: Feinde am Gorki Theater, Berlin
Leserkritik: Feinde, Yael Ronen inszeniert Isaac Bashevis Singer am Gorki Theater in Berlin

Das Publikum glaubte zu wissen, was man Yael Ronen bekommt: temporeiche Stückentwicklungen, die aus den Biographien aller Mitspieler schöpfen. Abende mit Zuspitzungen, streitbar, überschäumend, mal übers Ziel hinausschießend, aber nie langweilend.

Im "Freitag" kündigte Ronen zwar an, dass ihre neue Inszenierung eine "werkgetreue" Romanadaption von Isaac Bashevis Singers "Feinde – Die Geschichte einer Liebe" werde. Das Ergebnis ist dennoch ein überraschender Bruch mit den Erwartungen. Was sie bewog, diesen Stoff, der in Deutschland weitgehend unbekannt, aber in Israel Schullektüre ist, auf die Bühne zu bringen, deutet sie im "Freitag" nur an: "Es war sogar Teil meiner Abschlussprüfungen. Ich kenne und liebe das Buch also schon sehr lange. Ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, ein Theaterstück daraus zu machen. Eine der Schauspielerinnen hat Feinde auf Deutsch gelesen und zu mir gesagt: Die Geschichte ist auch heute noch relevant."

So hölzern und mit so vielen Längen war Ronen am Gorki noch nicht zu erleben. In 50er Jahre-Kostümen turnt Herman Broder (Aleksandar Radenković) über das Baugerüst auf der Bühne, hin- und hergerissen zwischen drei Frauen: seiner polnischen Haushaltshilfe Yadwiga (Orit Nahmias), die ihn vor den Nazis versteckte, seiner Affäre Masha (Lea Draeger) und seiner tot geglaubten, aber plötzlich wiederauftauchenden Frau Tamara (Çiğdem Teke). Der Hauptdarsteller ist deshalb über weite Strecken damit beschäftigt, sich Notlügen einfallen zu lassen, zwischen den Frauen hin- und herzuhetzen und sich aus-, an- oder umzuziehen.

Die knapp zwei Stunden wirken zäh und uninspiriert. Zum Rettungsanker des Abends wird der Musiker Daniel Kahn. Auf seinem Akkordeon und mit seinen beiden Mitstreitern Christian Dawid und Hampus Melin liefert er viel mehr als folkloristische Klezmer-Hintergrund-Musik als Pausenfüller, für die man seine Auftritte zwischen den Szenen zunächst halten könnte.

In einem Sprach-Mix aus Jiddisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch und mit bissig-intelligenten Texten fasst er die Spielhandlung zusammen. Und noch viel mehr als das: er thematisiert den Schmerz der Vertreibung der Juden aus Europa und das Trauma des Holocausts, die den Hintergrund dieser Geschichte aus Brooklyn in den 50er Jahren bilden, aber in den holprigen Spielszenen viel zu kurz kommen. Mit seinem traurigen "No One Survives" beschließt er das Stück und erntet den stärksten Applaus. Es hätte völlig genügt, die ganze Geschichte nur von ihm und seiner Band als Liederabend erzählen zu lassen.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28275-no-one-survives-ein-holocaust-ueberlebender-zwischen-drei-frauen-am-gorki.html
Leserkritik: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, ...
Nach Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Anja Behrens)

Nein, für den Titel “Vater des Jahres” kommt Theodor eher nicht in Frage. Er ist Arzt und Gelegenheitskrimineller, nimmt seine Kinder schon mal ein paar Wochen aus der Schule, um in Berlin irgend einen Deal mit rund um ein Wettbüro abzuwickeln (der natürlich schief geht), hat kein Problem mit Drogenkonsum und -handel seiner drei Kinder und kümmert sich, wenn überhaupt, nur um sich. Selbst das Sorgenmachen, sagt Tochter Romy einmal, müssten sie selbst übernehmen. Dabei ist dieser Vater das Narrativ, das alles irgendwie zusammenhält. Also erschaffen sie ihn sich selbst, das zerstörte Auge angedeutet durch ein Stück grünes Klebeband. Bei Benjamin Lillie ist er ein charmanter Tunichtgut, bei Thorsten Hierse ein kalter Despot. Ansonsten müssen die Kinder sich selbst aufziehen, wie er immer behauptete, es selbst getan zu haben. Antonia Baums Roman ist eine Coming-of-Age-Geschichte, bei der sich Emanzipation und die Sehnsucht, sich an etwas festzuhalten, selbst wenn es eine Lüge ist, die Waage halten, erzählt im Rhythmus des Hip-Hop, eine der großen Lieben der Autorin.

Anja Behrens’ Bühnenadaption hat ihre besten Momente, wenn sie diesen Rhythmus aufnimmt, seine Dynamik in Sprache, Bewegung, Klang fühlbar macht, der Dynamik des Erwachsenwerdens, des Sackgassen nicht vermeidenden Vorwärtsstürmens, Gestalt verleiht. Das tut er jedoch nur selten. Vor allem Lillie beherrscht den Sprach- und Bewegungsfluss mit traumwandlerischer Sicherheit, zumal er auch die nötige Mischung aus Neugier, Arroganz und Leichtsinn mitbringt, doch bleiben solche Momente nur Episode. Zu eingezwängt ist der Abend in ein Korsett cleverer Regieeinfälle, die ihm viel zu oft die Luft einschnüren. Da ist der grüne Schrotthaufen an der Decke (Bühne Jessica Rockstroh), die grünen Fußsohlen, das grüne Blut. Hoffnung oder Gift? Zweifellos beides. Unzählige Male ergeht man sich in kollektiven Fall-Choreografien und steht natürlich immer wieder auf. Jede Figur – der Abend dreht sich um die drei Kinder – ist dreifach besetzt, jeweils mit einem Erwachsenen und zwei Kindern oder Jugendlichen. Da lässt es sich schon chorisch sprechen, ansonsten erschöpft sich die Figurenaufspaltung darauf, dass man sich ablöst, ohne dass das irgend einen Erkenntnisgewinn brächte.

Das hat mit dem Etikettenschwindel zu tun, der dieser Abend eben auch ist. “Junges DT” steht drüber, eine Marke, die Theater von uns mit Jugendlichen meint. Ja, auch hier sind sechs junge Darsteller*innen dabei, doch sind sie zumeist Staffage. Die Erwachsenen, neben den DT-Ensemblemitgliedern Hierse und Lillie die Schauspielstudentin Linn Reusse, geben den Ton an, die Einbindung der Jugendliche wirkt von Beginn an eher bemüht und oft unmotiviert. Die Eigenständigkeit, die ihre Figuren antreibt, ist den jungen Darsteller*innen verwehrt. Und so kommt der Abend, der zwei Zeitebenen – die Erinnerung an eine schwierige Kindheit und die nächtliche Suche nach dem verschwundenen Vater – so virtuos wie austauschbar verschränkt, nicht von der Stelle. Er ist über aus unterhaltsam, aufwendig gestaltet und inszeniert und doch wenig mehr als solides Kunsthandwerk, fehlerfreie Routine. Er ist ein bisschen schmuddelig (grau und leicht verwahrlost die Kleidung), aber er tut nie weh, er bleibt an der Oberfläche. Ein kurzweiliger, zumindest von den Profis (die Jungen und Mädchen haben dazu keine Chance) durchaus lustvoll und variabel gespielter Abend. Aber eben auch ein zutiefst harmloser.

https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/16/jugend-schweigt/#more-5264
Leserkritiken: Das Bildnis des Dorian Gray, Berlin
"Das Bildnis des Dorian Gray", Kleines Theater am Südwestkorso, Berlin

Der Mörder ist immer der Florian: „Tatort“-Aficionados haben nachgezählt, dass kein Schauspieler so oft am Sonntag Abend mordete wie Florian Bartholomäi. Dabei wirkt der Endzwanziger auf den ersten Blick ganz und gar nicht gefährlich, sondern wie der nette Junge von nebenan aus dem Friedrichshain.

Bei seinem Theater-Debüt bleibt er sich treu: einen Mehrfach-Täter spielt Bartholomäi auch im Kleinen Theater in Friedenau, einer gutbürgerlichen Gegend im alten West-Teil der Stadt, in der es wesentlich beschaulicher zugeht als im hippen Fhain, die aber mit der Ring-Bahn von dort schnell zu erreichen ist. Er spielt die Hauptfigur in John von Düffels Bühnen-Fassung von „Das Bildnis des Dorian Gray“, bei der sich der Dramaturg des Deutschen Theaters nah an Oscar Wildes Roman-Vorlage (1891) hielt.

Recht konventionell bringt Regisseur Boris von Poser die bekannte Geschichte auf die Bühne. Neben Bartholomäi sind noch weitere bekannte Namen in dem weniger als 100 Zuschauer fassenden Kleinen Theater zu Gast: Matthias Freihof bekommt als Lord Henry die berühmten Aphorismen und Bonmots in den Mund gelegt, deren Wiedererkennungswert so hoch ist, dass jedes Mal ein Raunen durchs Publikum geht. Stella Maria Adorf ist als Lady Wotton zu sehen.

Bei seiner ersten Theater-Rolle erreicht Bartholomäi leider nicht die Präsenz, mit der er 2006 in „Reine Geschmackssache“ an der Seite der erfahrenen Kollegen Edgar Selge und Roman Knižka überzeugte. Seine zweite Film-Rolle (nach „Kombat Sechzehn“) war damals ein Kino-Überraschungs-Hit, sein Theater-Debüt „Das Bildnis des Dorian Gray“ ist eine grundsolide Roman-Adaption.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28414-theater-debuet-florian-bartolomaei-als-dorian-gray.html
Leserkritiken: Reisende auf einem Bein, Hamburg
Michael Pleister
„Reisende auf einem Bein“ von Herta Müller in einer Fassung von Katie Mitchell und Rita Thiele am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg
Reflexionen zum Werk und zu seiner Inszenierung (gekürzte Fassung)
Uraufführung am 18/09/2015 (SchauSpielHaus/ Hamburg)
Irene verlässt ihre osteuropäische Heimat, die von einem Diktator regiert wird, als politisch Verfolgte und kommt 1987 mit einem einzigen Koffer nach West-Berlin. Sie hofft Sicherheit und Zuversicht zu finden, doch die Verletzungen der Vergangenheit schmerzen auch hier. Noch herrscht Kalter Krieg: Aus dem „Ostblock“ kommend muss sie sich Verhören durch den Bundesnachrichtendienst unterziehen. Und vor ihrer Einbürgerung steht das umständliche und langwierige Aufnahmeverfahren der Flüchtlingsbehörden. […] Nähe sucht sie bei Franz, einem deutschen Studenten, den sie als Urlauber am Schwarzen Meer kennengelernt hat. Doch letztendlich bleibt er ihr fremd, ebenso wie die Stadt und das neue Land, in dem sie eigentlich glückliche Ankunft sucht.
»Reisende auf einem Bein« ist der erste Prosaband Herta Müllers nach ihrer Übersiedlung aus Rumänien 1987 nach West-Berlin: eine bewegende Geschichte von Ferne und Nähe, Abreise und Ankunft und innerer Zerrissenheit, in brillanten Sprachbildern geschildert. Katie Mitchell wird diese Erzählung mit filmischen und theatralischen Mitteln inszenieren. […]
(SchauSpielHaus/ Webseite/ Reisende auf einem Bein)

Die Flucht aus Diktatur und Unterdrückung – aktuell wäre hinzuzufügen: aus Bürgerkrieg, Waffengewalt und Zerstörung – ist für den sog. Normalbürger, der das Geschehen, der Bedrängnis, Leid und Not der Menschen mit Bedauern und Entsetzen zumeist über das Fernsehen registriert, dann aber normalerweise schnell zur Tagesordnung übergeht, letztlich nur schwer vorstellbar.
Zwangsregime, deren Menschenfeindlichkeit und Brutalität viele Ausdrucksformen finden, hinterlassen bei ihren Opfern nachwirkende Spuren: Traumata, Obsessionen und Depressionen, von z.T. schweren körperlichen Schädigungen und Verletzungen ganz zu schweigen. Auf Diktatur und Machtausübung zurückzuführende Gewalttätigkeiten mit ihren Folgeerscheinungen haben sich ins Gefühlsleben all derjenigen Menschen, die sich Disziplinierung und Zwangsherrschaft in ihrem Leben nicht fügen wollten, die subversiver Tätigkeiten verdächtigt wurden, gar zum politischen Widerstand gehörten, häufig tief „eingebrannt“. Der zuweilen gelungene Ausbruch aus einem System von Verfolgung und Unterdrückung liefert in der Konsequenz schrecklicher Erlebnisse und Erfahrungen Denkvermögen und Gefühlswelt der Systemopfer z.T. erheblichen Irritationen aus, die es dem in einer Welt relativer Freiheit Zuflucht Suchenden nicht erlauben, die zunächst unbekannten Eindrücke und Begegnungen zu ordnen, zu verarbeiten und schließlich in die eigene Persönlichkeit zu integrieren. Die Vorprägungen durch das Gewaltregime mit seinem Repressionsapparat lassen eine Wahrnehmung und Verarbeitung des Neuen, Unbekannten, die Verinnerlichung einer Welt mit ihren Freiheitsverheißungen ohne Verunsicherung häufig nicht zu. Irene, die Protagonistin im hier kommentierten Theaterstück, fühlt sich nach ihrer Ausreise als politisch Verfolgte aus dem kommunistischen Rumänien in der neuen Umgebung, im Westen also, fremd:

Eine Frau lebt in Angst und Überwachung. Sie lebt "in dem anderen Land". Als ihr Ausreiseantrag endlich bewilligt wird, reist sie nach Deutschland. Doch dort, "im neuen Land" findet sie keine Ruhe, keine Heimat. Dort wird sie immer wieder eingeholt von den Blicken des Diktators. "Er schaute Irene an." (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt, 18.09.2015/ nachtkritik.de)
[…]
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 2)
"Reisende auf einem Bein", Teil 2

Die Theaterszenerie, in der sich die Handlung vollzieht, findet ihre Widerspiegelung in einer Videoprojektion, beide Darstellungsformen präsentieren sich in geschickt arrangierter Parallelität:

Als komplexes Live-Film-Set inszeniert Mitchell den Abend und hat sich dafür von Alex Eales ein Klein - Babelsberg entwerfen lassen. Seine verschachtelt angeordneten Kleinsträume werden aus verschiedenen Kameraperspektiven so geschickt eingefangen, dass sie auf der Leinwand eine (Film-)Realität herstellen. (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt, 18.09.2015/ nachtkritik.de)

Die Szenen, die auf der Bühne in Normalgröße erscheinen, sind auf der Videobildfläche simultan im Großformat zu verfolgen; es geht hier um die Einbeziehung eines Mediums, das sich in der Permanenz seiner Anwesenheit sowie in seiner Wahrnehmungsfokussierung durch das Publikum, überhaupt im Rahmen der hier präsentierten Konstellation aller Darstellungselemente im Interieur eines Theaters zumindest unkonventionell ausnimmt.
[…]
Die Kombination beider Darstellungskomponenten – kurz gesagt, von Theater und Film – entbehrt nicht, so ließe sich spekulieren, einer gewissen Notwendigkeit, um den Handlungsverlauf, die Kommunikation der Akteure, um die mit der Körpersprache zum Ausdruck gebrachten Gefühle, Ängste und Empfindungen vor allem des Misstrauens anschaulich werden zu lassen. Die z.T. detailliert gestalteten Inszenierungen einzelner Situationen auf der Bühne werden vom Zuschauer vermutlich lediglich als Komplement zu den entsprechenden Filmszenen oberhalb des Bühnengeschehens wahrgenommen und dürften in dieser Hinsicht wohl nicht immer die aufmerksamkeitsbezogene Zuwendung des Rezipienten erfahren, wie sie sie vielleicht angesichts ihrer teilweise „minutiös“ geformten Aufmachung verdient hätten: Die filmische Komponente, die mit der stets laufenden Videopräsentation ins Spiel gebracht wird, behauptet eine gewisse Dominanz. Somit ist die Gefahr, wie sie sich im vorliegenden Fall aufdrängt, nämlich die mit Sorgfalt gestaltete Bühnenszenerie über die Inanspruchnahme einer elektronischen Darbietungsmöglichkeit auf das Niveau bloßer Staffage fallen zu lassen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Vom Publikum beobachtet und weiterverfolgt wird wohl eher das, was sich in der Projektion auf der Leinwand an Handlung zuträgt.
Gleichwohl: Die elektronische Visualisierung all der Vorgänge, die auch – offensichtlich weniger spektakulär – über die Bühnenrekonstruktion vom Zuschauer wahrzunehmen sind, letztlich auch die ständige Präsenz von Kameraleuten mit gelegentlich demonstrativem Aufspür- und Beobachtungsgestus auf der Bühne, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, leisten einer Interpretation Vorschub, die im diesbezüglichen Arrangement von Sprache, Handlungsgeschehen und Inszenierungsspezifik selbst eine Symbolik für das Überwachungs- und Misstrauensklima zu erkennen meint („das wovon die Inszenierung erzählt, ist sie selbst“/ Frauke Hartmann/ nachtkritik.de), eine bedeutungsschwangere Symbolik also, die dem Theaterbesucher nahezubringen im Interesse des Stückes mit seiner impliziten, auf Totalitarismus zielenden Abschreckungsstrategie liegen dürfte und der Wachsamkeit zu zollen sich im Zuge politischer Bewusstseinssensibilisierung als durchaus lohnend darstellt.
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 3)
"Reisende auf einem Bein", Teil 3

Dies sei festgehalten in der Gegenwart von 2016, d.h. in einer Zeit, die mit manchen politischen Strömungen, vor allem Rechtsradikalismus - und dies bekanntlich nicht nur in Deutschland -, Meinungsbildungsprozessen und Konstellationen - man denke an Abgrenzungsstrategien gegen Willkommenskultur, an Fremdenfeindlichkeit und Entsolidarisierung –, die auch mit einer spezifischen sozialen Entwicklung, nämlich der Verschärfung im Wesentlichen ökonomisch bedingter gesellschaftlicher Divergenzen, der Demokratie mit ihrer Machtdezentralisierung, ihren Freiheitsrechten und ihrer Liberalität keinesfalls, um es vorsichtig auszudrücken, immer so gewogen ist, wie es von der Warte eines erreichten hohen Entwicklungsstandes demokratischer Gepflogenheiten aus wünschenswert wäre. Wenngleich dem Duktus des vorliegenden Theaterstückes eine gewisse Eindimensionalität innewohnt – in einer Rezension wird darauf hingewiesen und zudem von einem Thriller gesprochen (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt/nachtkritik.de) –, so ändert dies nichts an der Darstellungs- und Aussagequalität, als Warnung nämlich vor den Anmaßungen, Verfahrens- und Wirkungsweisen totalitärer Herrschaftssysteme, aber auch vor pedantischer Bürokratie und ausufernden Kontrollstrukturen demokratischer Gemeinwesen - beides wird mit Theaterszene und elektronischer Visualisierung vermittelt - zu fungieren, all dies im Horizont weltpolitischer Konstellationen, durch die, wie oben angedeutet, Demokratie und Rechtsstaat möglicherweise größeren Gefahren ausgesetzt sind, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist.
Der dem Stück abzugewinnende eher latente Aktualitätsbezug, was Flucht und Vertreibung anbelangt, wird in den Kommentaren zur Inszenierung vereinzelt angesprochen. So heißt es auf der Theater-Webseite unter der Rubrik „Pressestimmen“ zum Beispiel:
„[…]Ein kompaktes Stück dokumentarischer Erinnerungsarbeit – das abseits der gekonnten Rekonstruktion eines historischen Moments viel darüber erzählen mag, wie sich syrische und irakische Flüchtlinge heute trotz des Entkommens aus ihrem Terrorregime in Deutschland fühlen.“ (Süddeutsche Zeitung, siehe http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/reisende_auf_einem_bein.1052768)
[…]
Eine allgemeine Bezugnahme auf gegenwärtige Verhältnisse ist jedoch – denkt man über diesen Aspekt näher nach – nur mit Umsicht und Bedacht vorzunehmen. Das verständliche Bestreben vieler Menschen, Diktatur und Unterdrückung nach Möglichkeit zu entgehen, wird es immer geben; als Fluchtursachen kommen derzeit bekanntlich Bürgerkrieg mit Zerstörung, Todesopfern, Not und Verzweiflung der Überlebenden sowie in Zukunft Klimawandel mit Armut und Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen letztlich auch als Konsequenz jahrzehntelang global vernachlässigter Umweltpolitik hinzu. Die Flüchtlingsproblematik der Gegenwart ist in ihren Ursachen, Erscheinungsformen, in ihrer ganzen Tragik vielschichtig, mehrdimensional …
[…]
Und was bleibt?
Struktur und Charakter des dem Theaterstück zugrunde liegenden Ausgangsmaterials – es handelt sich, wie bereits erwähnt, um Textpassagen erzählender Literatur - lassen die Intention von Regie und Dramaturgie, dem Handlungsverlauf über eine dramatisierte Fassung Lebendigkeit zu verleihen, naturgemäß zu einer durchaus anspruchsvollen Aufgabe avancieren. Insofern bietet die Simultaneität von Szene und Videoprojektion trotz der zu erwägenden Einwände gegen diese Art der Präsentation immerhin eine Möglichkeit, das Geschehen für den Theaterbesucher anschaulich und damit ebenso geistig wie emotional nachvollziehbar zu machen.
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 4)
"Reisende auf einem Bein", Teil 4

Zugleich findet die mit der Inszenierung verbundene Absicht, über die Fokussierung sensibler Details wie Gestik, Mimik und Diktion der handelnden Personen deren Gefühle, deren psychische Disposition, um es etwas fachspezifischer auszudrücken, für den Betrachter spürbar werden zu lassen, eine reelle Chance der Verwirklichung. Gerade in der Gefühlswelt, die unter anderem mit den Fremdheitserfahrungen, wie sie die Protagonistin in der neuen Umgebung macht, besonders angesprochen wird, leben die Hinterlassenschaften von Polizeistaat und Geheimdienst fort, - Hinterlassenschaften, deren Hauptmerkmal naturgemäß darin besteht, auch dann noch wirksam zu sein, wenn die politischen Opfer dem Einflussbereich von Diktatur und Totalitarismus längst entronnen sind. Dass Misstrauen und Angst der Hauptakteurin auch nach ihrer Flucht letztlich nicht ganz unbegründet sind, zeigt das Verhalten, besser gesagt, zeigen die Machenschaften ihrer Freundin, die sich gewissermaßen als verlängerter Arm des alten Systems der Securitate erweist und Irene damit zum Opfer eines tiefgreifenden Betrugs auf zwischenmenschlicher Ebene degradiert: eine Enttäuschung für sie, wie sie schmerzlicher wohl kaum vorstellbar ist. Auch eine gewisse Distanz der Protagonistin zu ihrem Freund, den sie als Urlauber in Rumänien kennengelernt hat, geht vermutlich ebenfalls auf Fremdheits- und Misstrauenserfahrungen in der Folge jahrelanger Schikanen und Einschüchterungen durch ein totalitäres System zurück.
Die Ausdrucksformen und Nachwirkungen, Perfidie und Infamie von Diktatur und Totalitarismus, hier erfahrbar gemacht mit den kunstästhetischen Mitteln von Theater und Film, das heißt auf eine sublime Art und Weise, prägen sich dem Bewusstsein des Rezipienten, insbesondere des politisch interessierten Zuschauers ein. Ansprechbarkeit und Aufgeschlossenheit für die im vorliegenden Stück angedeutete Gesamtthematik dürften sich für Gegenwart und Zukunft als notwendiger denn je erweisen, lassen doch die Zeichen der Zeit erkennen, wie im Horizont des Weltgeschehens verstärkt Entwicklungen in Form von politischem Radikalismus, gar Extremismus zum Tragen kommen, - Entwicklungen, die letztlich – und hierauf sei mit Nachdruck hingewiesen - Demokratie und Rechtsstaat mit ihren Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Diskussionskultur und Interessenausgleich, die ein Gemeinwesen mit den Prinzipien von Mitbestimmung und Emanzipation, ein gesellschaftliches System der Freiheit in seiner Fragilität und seinem Bedarf an Zustimmung, Unterstützung und Schutz durch die Bevölkerung gerade in Krisenzeiten schnell in Bedrängnis zu bringen imstande sind.

Norderstedt, d. 13. März 2016
(Ungekürzte Fassung des Kommentars mit vollständigen Textverweisen unter www.michaelpleister.de)
Leserkritiken: Die Glasmenagerie – Katharina Thalbach, Berlin
"Die Glasmenagerie", Komödie am Kurfürstendamm

Katharina Thalbachs letzte Regie-Arbeiten lösten genervtes Augenrollen bei den Kritikern aus. Ihre “Amphitryon”-Inszenierung am Berliner Ensemble wurde als “Schenkelklopfer-Posse” verrissen. Auch ihr “Roter Hahn im Biberpelz” (2014) im Theater am Kurfürstendamm wurde als “grobmotorisch” und “krachledern” kritisiert.

Dass sie auch ganz andere, leise Töne anschlagen kann, beweist Katharina Thalbach mit ihrem aktuellen Gastspiel im traditionsreichen Haus am Kudamm. Sie nimmt den Tennessee Williams-Klassiker “Die Glasmenagerie” und die Figuren ernst. Es wäre leicht, die Träume der Wingfields als naiv zu denunzieren und sich über die armen Tröpfe lustig zu machen. Aber Thalbach gibt ihrem Ensemble den nötigen Raum: die fein gezeichneten Figuren laden das Publikum ein, das Familiendrama mitzuempfinden.

Ein Glücksgriff ist die Besetzung dieses Abends: das Oberhaupt des Thalbach-Clans besetzte ihre Tochter Anna Thalbach (als Amanda Wingfield) und ihre noch nicht so bekannte Enkelin Nellie Thalbach (als Laura Wingfield). Dazu engagierte sie zwei begabte Studenten der HfS Ernst Busch: Leonard Scheicher spielt Tom Wingfield, sein Kommilitone Florian Donath den Heiratskandidaten Jim O´Connor.

Es ist eine Freude, dem Quartett zweieinhalb Stunden zuzusehen.

Fortsetzung: http://daskulturblog.com/2016/03/23/geplatzte-illusionen/
Leserkritik: Einer flog über das Kuckucksnest, Berlin
Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Michael Bogdanov)

Vielleicht ist es ein wenig zu harmlos, wie Bogdanov die Konflikte einführt – es braucht tatsächlich lange, bis sich die Bedrohung, die hier aufgebaut wird, und die existenzieller Natur ist, aufbaut. aber es ist eben auch gerade diese kaum merkliche Steigerung der Anspannung, die für den zweiten Teil die nötige Fallhöhe erzeugt. Zumal die freundliche Atmosphäre die wahre Natur dieses Schauplatzes nur aktzentuiert: eine Entsorgungsanstalt des Individuellen, Unangepassten, eine Fabrik der Vernichtung (die im Zweilicht vorgetragenen, die Szenen verbindenden Paranoia-Monologe von Häuptling Bromden erscheinen mit fortlaufender Dauer immer weniger absurd).

Die größte Stärke des Abends liegt darin, dass er eben nicht besonders boulevardesk daherkommt. Er scheut die Übertreibungen, findet einen angenehm zurückgenommenen Ton, skizziert die dem Karikaturesken nicht abgeneigten Figuren, mit feinem Strichen bis diesseits psychologischer Glaubwürdigkeit. In seinen besten Momenten stehen hier Menschen auf der Bühne, keine Stereotypen. Bogdanov vermeidet das Spektakuläre, er setzt auf Figurenzeichnung und sein zweifellos exzellentes Handwerk. Die Balance von Komik und Tragik hält er bis zum Schluss, sein Gespür für Timing und Rhythmus ist makellos, dramaturgisch ist kein Gramm Fett an diesem Abend, jede Szene sitzt und erfüllt ihre Funktion im Gesamtzusammenhang. Handwerklich ist der Abend nahe an der Perfektion.

Zumal Schüttauf eine perfekte Gegenspielerin hat: Franziska Troegners Oberschwester rRtched ist nicht plakativ böse. Sie ist bestimmt, jovial, gar nicht unfreundlich, sachlich und hochprofessionell, kein Abziehbild-Bösewicht, sondern eine rationale Vertreterin totalitärer Bürokratie. Hier wäre sie, die Gelegenheit, das Stück weiterzudenken, den Mikrokosmos Psychiatrie, die ja auch bei Kesey nicht im luftleeren Raum steht, zu verlassen. Doch vielleicht ist das Schlosspark Theater nicht der passende Ort dafür. Also bleiben wir im Tagesraum, der zur Todeskammer wird und müssen uns unser Teil dazu denken. Der Schluss ist sachlich bis zur Unerträglichkeit, kein falsches Pathos, kein anklagender Ton. Der Tod ist wie die Vernichtung des Individuums Teil des Geschäfts und professionell zu erledigen. Der Mensch als Nützlichkeitsmasse, der wenn unnütz geworden zu entsorgen ist, wie es im Totalitarismus üblich war und ist. Ein kaltes Ende, das es dem Zuschauer nicht leicht macht, weil es ihn aus der Komfortzone heraustreibt. Nur ein kleines bisschen, aber das kann schon genug sein, um etwas zu tun, was man mit dem Boulevardtheater nicht verbindet, wenn auch oft zu Unrecht: nachdenken.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/03/im-mikrokosmos-der-vernichtung/
Leserkritike: Caligula, München
“Caligula” am Münchner Volkstheater – ein Theater-Ereignis

“Nichts”: Vergeblich suchen die vornehmen Patrizier nach dem Kaiser Caligula. Nach dem Verlust seiner Geliebten Drusilla hat er sich irgendwo vergraben.

Hinter einem Vorhang taucht er dann doch endlich auf. Nackt, mit Lehm beschmiert und in einen Kokon existentialistischer Gedanken eingesponnen tigert Max Wagner als “Caligula” durch das Spiegel-Kabinett auf der Bühne. Untermalt von zarten Geigenklängen (Sophia Pfisterer) beklagt der Kaiser sein Schicksal und träumt davon, sich den Mond vom Himmel zu holen: “Diese Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen. Darum brauche ich den Mond oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, was unsinnig sein mag, was aber nicht von dieser Welt ist”, lässt ihn Albert Camus sagen.

Kompletter Text: http://daskulturblog.com/2016/04/05/caligula-am-muenchner-volkstheater-ein-theater-ereignis/
Leserkritiken: 2 Uhr 14, Berlin
David Paquet: 2 Uhr 14, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Kristo Šagor)

Die Gummiwand ist das Zentrum des Abends. Jeder geht mit ihr anders um: Linus, atemberaubend intensiv und körperlich gespielt vom umwerfenden Jungdarsteller Maximilian Paier, reißt sie weit auf und nutzt sie als Turn- und Spielfläche, probiert sie und sich aus und zeigt panische Angst, wenn er sie dieses eine Mal, für Sekunden nur, loslässt. Der verlässliche Rahmen, er gibt Sicherheit. Und er zwängt ein: die schlankheitsuchende Josi, die Celia Bähr als Nervenbündel am Rande der Hysterie gibt, verheddert sich in elaborierten, selbstgewählten, Einsperrmustern. Der scheue Norbert (wunderbar unschuldig und schlitzohrig zugleich: Franz Jährling), traut sich nur zögernd an die zitternde, unsicher erscheinende Wand heran, während Katrina (starke Mischung aus rebellischer Härte und Verletzlichkeit: Katharina Anchalie Schulz) sich ihr eher aggressiv pragmatisch nähert. Sie alle können sie öffnen, hindurchschauen, aber kommen nicht von ihr los. Auch nicht die Erwachsenen: Lehrer Denis (Jens Schäfer als bemitleidenswertes sich selbst klein machendes Würstchen) verstrickt sich in ihr so sehr wie seine Schüler. Außen steht nur Nicole (Judith Hofmann): Sie gehört nicht dazu, ist jenseits der Kämpfe, welche die anderen durchleben und wird doch gleich zu beginn von ihnen eingesaugt.

Sie erzählen von ihren Ängsten, Wünschen, inneren und äußeren Kämpfen, geben, wenn der Andere dran ist, die bedrohlichen anderen oder die eigenen Dämonen. Die Sicht ist eine konsequent innerliche: Die Außenwelt manifestiert sich nur im eigenen Erleben. Bis zur lächerlich unmöglichen Annäherung von Katrina und Norbert: Zwei Inseln, die aufeinander zudriften und damit klarkommen müssen, dass da jemand ist, der so real und zerrissen ist wie man selbst. Irgendwann muss man raus aus sich selbst und hinein in die Welt. Doch wo ist sie und wie komme ich dahin? Und will ich das überhaupt? Die Wand ist eine metaphorische: Sie steht für Innen- und Außenwelt, Dabeisein und Außenstehen, Kindheit und Erwachsensein. Doch wo ist die richtige Seite, wo die wahre Realität?

Sie trennt auch die Zeiten: Erst gegen Ende erfahren wir, dass Nicole die einzig Lebende ist, die anderen sind längst tot, die regungslosen Körper hinter der Wand am Anfang die Realität. Erschossen von Karl, dem Abwesenden, vorhanden nur als verzerrtes Störgeräusch aus dem Äther und in der kalt sachlichen Hörspielfassung seiner Tat. Nicole, von Hofmann gespielt mit dem versteinerten Ausdruck einer längst Erstorbenen. Die Leben, die wir gerade dabei beobachteten, sich selbst zu suchen, es gibt sie gar nicht mehr. Es ist die Tote Nicole, die Mutter des Todes, die sie aufweckt. Das Ende bildet ein Line Dance: Von links nach rechts und zurück, rhythmisch in die Hände geklatscht, alles wohlgeordnet, keine Komplexität, keine Verwirrung, keine offenen Fragen. Klarheit. Nicole tanzt vor dem Vorhang, die Toten im Gleichklang dahinter. Sie tanzt mit ihnen, den Verlorenen, erzählt ihre Geschichten, jene, die wir gerade sahen, erzählt sie wortlos und findet gar ein scheues Lächeln. Das Leben, die träume, die Hoffnungen und Ängste: So leicht lassen sie sich nicht besiegen. Ein stilles, erschütterndes und berührend schönes Ende eines der stärksten Abende dieser Spielzeit. Sie gehen viel zu schnell vorbei, diese 75 Minuten. Auch das natürlich eine – eindringliche – Metapher.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/06/verheddert-im-leben/
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: Gummiwand geklaut
das Bühnenbild - "die Gummiwand" - haben sie 1:1 beim English Theatre geklaut, bei deren Produktion über Einstein und Kafka neulich: http://www.etberlin.de/production/transcendence-2/
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: begeistert
2 Uhr 14: der Kritik von Sascha Krieger kann ich mich nur anschließen, ich war begeistert. Von der Konstruktion des Stücks, von den Schauspielern, von der Bühne (geklaut? soso... dagewesen gestern? Oder einfach Schlaubibär?), von der pointiert eingesetzten Musik. Sehr berührt hat mich der Schluß, ehrlich gesagt tut er's noch.
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: wirkt
@199 Ja, der wirkt noch.
Leserkritiken: "Die Männerspielerin", Berlin
PortFolio Inc.: Die Männerspielerin. Motive einer Selbstverewigung, Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Marc Lippuner und Michael F. Stoerzer)

PortFolio Inc. stoßen den Zuschauer hinein in die Widersprüchlichkeiten (post)moderner Selbstinszenierung. Und sie stellen uns die Urahnin der Generation Instagram vor: Anaïs Nin, Autorin, Künstlerin, Tagebuchschreiberin. Wir sehen sie in wunderbar karikaturesken Gesprächen mit dem Psychoanalytiker Otto Rank, den sie aufsuchte, um aus all den Rollen herauszukommen, die sie zu spielen hatte, sie zu transformieren in ein Ich, das performativ sehr viel stärker sein sollte als die vielen Einzelrollen Muse, Geliebte, Tochter. Zwischen ihnen entspinnt sich ein grotesker Tanz, der sie beide transformiert: Sie macht er zur Künstlerin, ihm eröffnet er ganz neue Räume der Ich- und Welterfahrung. Transformiert werden auch ihre Tagebücher: Statt Instrumente privater Selbstvergewisserung sind sie nun die Bühne, auf der sich Nin der Welt zeigt, wo sie ihre künstlerische Welt erschafft und mit ihr sich selbst. Mit der Selbstinszenierung tritt sie den Anderen gegenüber, kommuniziert sie mit der Welt. Zurück kommt Anerkennung, Ruhm, das Wahrgenommenwerden durch die Welt.

Wie bei PortFolio Inc. üblich haben Marc Lippuner und Michael F. Stoerzer Dokumente gewälzt und O-Töne gesammelt und verrühren sie nun zu einer Mischung, die Kunst und Internet, damals und heute, das ästhetisch Erhöhte und das alltäglich Banale verknüpft. Denn gegen das Nichtwahrgenommenwerden, die mediale Nichtexistenz kämpfen sie alle an: die Künstlerin, die YouTuberin, der Facebook-Süchtige. Lippuner und Stoerzer verschränken die Zeit- und Spielebenen: Man wir farcenhaft chargiert, dann trocken vorgetragen, alles ist performativ, Inszenierung, Imitation – wie etwa die initialen Posenbilder Nins auf dem Videoquadrat, unter die sich die eine oder andere Kopie durch Darsteller*innen und Regisseure eingeschlichen haben. Überhaupt die Videowand (Bühne: Uri Oppenheim): Sie ist Kulisse, Kommentator, Illustrator – und Metapher. Denn sie visualisiert die fragmentierte Wirklichkeit, in der die Figuren versuchen aufzufallen. eines der 16 Teilquadrate wird zum Bücherregal, zwei weitere entpuppen sich aus herausnehmbare Würfel, die sich als Hocker oder Posdeste nutzen lassen, am Ende teilt sich die Wand ganz. Die einheitliche Mastererzählung bleibt Illusion.

Nicht für Nin: Sie, die einer anderen Zeit entstammt, hat die selbstinszenierung zur Kunst gemacht und sie ist auch hier, in der Darstellung Judica Albrechts reine Pose. Doch gleiches gilt für Thomas Georgis Rank. Wer ist wessen Muse, wer inszeniert wen? Für die heutigen Rollenspieler ist die Frage gar nicht mehr zu beantworten. Sie bringt der Inszenierungsrausch auf die – hier virtuelle – Psychiatercouch oder wird zur allesverschlingenden Obsession. Die Männerspielerin ist ein spielerischer, augenzwinkernder und doch analytisch tiefbohrender Abend, der sich der Frage widmet, warum die Sehnucht nach authentizität zwangsläufig zu totaler Künstlichkeit und Lbens- wie Ich-Inszenierung führt. Damals wie heute, in Anaïs Nins Tagebüchern wie bei Instagram und Facebook. Vielleicht ist die einzige Antwort die, welche uns die australische YouTuberin entgegenschleudert: Wenn ihr Kontakt wollt, geht hinaus in die reale Welt, sprecht mit Leuten, lernt andere Ich-Konstrukte, auch bekannt als Menschen, kennen. Geht dahin, wo andere Menschen sind. Fahrt Bus!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/10/fahrt-bus/
Leserkritiken: Don Giovanni, Berlin
Herbert Fritschs "Don Giovanni" an der Komischen Oper wiederaufgenommen

Für die Verhältnisse von Herbert Fritsch ist sein “Don Giovanni” schon ziemlich konventionell, fast handzahm, die Vorlage von Mozart/del Ponte bleibt stets erkennbar: weit weniger groteske Körper-Verrenkungen als in seiner “Physiker”-Inszenierung in Zürich und auch keine selbstverliebt-dadaistischen Sprachspielereien wie bei “der die mann” oder “Murmel Murmel” an der Volksbühne.

Der Unterhaltungswert kommt aber auch bei seiner Mozart-Inszenierung, die am 30. November 2014 an der Komischen Oper Berlin Premiere hatte und dort am 15. April 2016 wiederaufgenommen wurde, nicht zu kurz.

Fritsch legt seine Inszenierung als muntere Verfolgungsjagd an. Im Zentrum des Abends steht Günter Papendell als wild grimassierender Clown. Ihm macht dieser Ausflug ins komische Fach sichtlich Spaß. Bei ihm ist die Titelfigur Don Giovanni kein galanter Verführer, sondern ein spitzbübischer Dauergrinser, der von den Harlekinen der Commedia dell´Arte inspiriert ist, aber auch der “Joker” aus “Batman” schimmert durch.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/04/16/herbert-fritsch-und-sein-don-giovanni-clown-an-der-komischen-oper-berlin/
Leserkritiken: "Reigen" in Stuttgart
In der Stuttgarter Oper: Reigen von Philippe Boesmans (Premiere 25.4.)

Da man nun in Stuttgart, und nicht nur hier, aber hier besonders, aus allen möglichen Texten, z.B. Romanen, Theaterstücke „formt“, unabhängig davon, ob diese sich eignen oder der ästhetischen Eigenart der jeweiligen Kunstform entsprechen, warum nicht also auch aus einem bekannten Theaterstück eine Oper machen?
Die Frage stellt sich nun leider nicht mehr, ob etwa dieses Theaterstück zeitgemäß ist oder seine Beziehung zu einer möglichen Musik? Überall muss Geld verdient werden und so lockt man eben mit einem hoffnungslos veralteten Skandalstück und moderner Musik, die nun auch so klingt als wäre sie aus der Weimarer Republik. Modern ist freilich relativ, und einem konservativen Opernpublikum dürfte alles nach Gustav Maler modern vorkommen.
Die Bühnen ist karg, es bewegen sich dort vor allem die hin und her fahrenden Wände, ein sicher erheblicher technischer Aufwand. Besonders mutig war nun, dass an die Stelle von Schnitzlers Punkten, also zwischen dem Davor und Danach des intendierten Geschlechtsverkehrs, auf eine große Video-Leinwand ein Paar projiziert wurde, das sich an der vom vielen Waschen etwas grau gewordenen Wäsche zog. Kam mir vor wie eine Werbung für Bio-Unterwäsche. Dazu etwas griechisch anmutend, natürlich der Mann mit Bartansatz; zum Glück kein Hipster-Bartträger.
Die Musik, der Gesang, war schnell erkannt, eine innermusikalische Entwicklung war nicht zu erkennen, auch wenn um ein wiederkehrendes Motiv bemüht, das mir nach Mahler klang. Aber warum sollte es auch in der Musik eine Entwicklung geben, wenn es die in den 10 Begegnungen auch nicht gibt? Es war die Wiederkehr des Immergleichen, hier zur bemühten Routine abgestumpft.
Manchmal war es auch ein bisschen lustig, leider aber nur kurz.
Es gab viel Beifall. Warum? Ich konnte weder ein inhaltliches noch wirklich formell-ästhetisches Wagnis entdecken, das diesen verdient hätte. Was sind das für Leute, die "Bravo" rufen?
Es gibt bei zwei Begegnungen das „Problem“, dass Männer morgens keine Lust haben, z.B. der Graf und die Dirne. Da hörte ich hinter mir einen Mann: Das könne er nicht verstehen! Die Frau, des Mannes, der neben mir saß, und sich die drei Stunden (minus Pause) nicht bewegte, wurde aber im Laufe der Aufführung immer munterer und rutschte auf ihrem Stuhle hin und her. (Ich kämpfte hart mit meiner Müdigkeit.) Das alles verstehe, wer will!
Es waren wichtige Leute in der Premiere, z.B. der Chefredakteure der Lokalzeitung, die das Event, wie die Politik hier, auch wieder gut finden wird. Seit Kultur Standortfaktor ist, sind auch dort die Spielräume auf die Kreditlinien der Banken reduziert. Und diese gibt es bekanntlich nicht für kühne Projekte.
In der Stadtbibliothek saß heute ein junges Paar in der Modeabteilung und knutschte. Ich fand das nett, eine Bekannte fand das schlimm. Ich meinte, wohin sollen sie sonst gehen? Und welche Abteilung wäre besser dafür geeignet? Sie aber wollte sie fort haben. Und was will die Regisseurin in der Stuttgarter Zeitung: „Das Gebrochene, Abgründige, Widerwärtige wie ein Messer von hinten durch die Augen der Figuren blitzen lassen“.
Was wollten wir nach dem Reigen: Nach Hause, aber es regnete auch noch.
Leserkritik: Hundeherz, Berlin
Nach Michail Bulgakow: Hundeherz, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Lilja Rupprecht)

Genügend Anknüpfungspunkte gibt es für Lilja Rupprecht, die Bulgakows Erzählung jetzt auf die Bühne der Box, der kleinsten Spielstätte des Deutschen Theaters, bringt. Doch nein, um Vergegenwärtigung geht es ihr nicht, genauso wenig wie um eine Einbettung in den historischen Kontext der Vorlage. Stattdessen macht sich Rupprecht daran, die Geschichte mit soviel theatralem Aufwand wie möglich nachzuerzählen. Natali Seelig spielt den Hund Bello, der zum Menschen Bellow wird, mit ebenso rustikalem wie routiniertem Enthusiasmus. Ihr gehört der erste Teil, der auch bei Bulgakow aus der Sicht des Hundes erzählt ist. Dazu spricht sie grimassierend in ein Mikrophon, während die Begegnung mit dem Professor (ein reichlich unterforderter Helmut Moshammer) aus Hundesicht auf die Rückwand der hölzernen Wohnungs- und Untersuchungszimmerandeutung (Bühne: Anne Ehrlich) projiziert wird.

Es wird viel mit Live-Video gespielt (Moritz Grewenig), die Szenen zwischen Bühne und Video aufgesplittet, was die Differenz zwischen existenzieller Wahrheit (das Schicksal des Hundes) und menschlicher Hybris (das sich per Video verewigende Forscher-Team) vorführt. Doch auch das verpufft schnell, scheint es doch wichtiger, den nächsten Regiekniff auszuprobieren, als eine stringente Haltung zum verwendeten Stoff zu entwickeln. Das zeigt sich auch in der Operations- und Transformationssequenz: Da findet sich ein dreifacher Bello zuckend und vom Moloch der verderbten Moderne fabulierend vor einer Art Sog-Projektion, wird später die Bühne bis zur Erschöpfung gedreht, während aus dem operierten Hund ein unangenehmer Mensch wird, ein perverser Kreislauf anstelle des intendierten Fortschritts. Nur fehlt diesen durchaus aufwendigen Illustrationen und schlüssigen Bildern eben das Fundament, spielt die Geschichte im luftleeren Raum, auch wenn die stalinistische Hausgemeinschaft Druck auf den freigeistigen Arzt auszuüben beginnt. Das scheint auch die Regisseurin zu merken und hastet gegen Ende zunehmend dem ende entgegen. Die Geschichte wird hektisch heruntergespult, erschöpft sitzen die selbsternannten Menschheitserneuerer vor der nun projektionsfreien Holzwand, bar jeder Visionen und Illusionen – auch das ein Bild, das wirken könnte, hätte es einen ideellen Bezugspunkt.

Was bleibt, ist eine zunächst virtuos, wenn auch in seinen viel zu frühen Perspektivwechseln und der verkrampften Effekthascherei inkonsequent erzählte und überhastet zu Ende gebrachte Geschichte, die uns nichts zu sagen vermag. Da ist der generöse Griff in die Regietrickkiste mit Live- und sonstigem Videoeinsatz, illustrierender Musikbegleitung und cleverer metatheatraler Szenenaufspaltung wenig mehr als Selbstzweck. Anknüpfungspunkte an die Gegenwart werden ignoriert, der ideologische Ballast der Entstehungszeit abgeworfen. Nur bleibt dann eben nichts als bedeutungsentleertes Vakuum. Lilja Rupprechts Hundeherz ist solides und äußerst aufwendiges Kunsthandwerk, das sich bestenfalls um sich selbst dreht. Eine vertane Chance und nicht die erste in dieser Spielzeit am Deutschen Theater.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/26/hund-ohne-boden/
Leserkritiken: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, DT Berlin
"Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren", Junges DT

Die Produktion in der Box des Deutschen Theaters ist vor allem für ein junges Zielpublikum sehr gut geeignet: mit lakonischem Humor erzählt der Abend von sozialer Verwahrlosung, selbstbewussten Jugendlichen und Katastrophen-Eltern.

Zu den komischen Momenten gehört vor allem der Auftritt von Benjamin Lillie als Frau Sellerie vom Jugendamt, die an die Prusseliese aus "Pippi Langstrumpf" erinnert. Dass Antonia Baum, die Autorin der Romanvorlage, vom Rap geprägt ist, schimmert auch in einigen Szenen durch, z.B. als sich Lillie und Oskar von Schönfels auf dem Schulhof gegen Mobbing wehren: "Wir diskutieren zu Hause die blaue Phase von Picasso, während eure Scheißeltern überhaupt nicht wissen, wer Scheißpicasso war!"

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/02/theater-kritik-junges-dt-ich-wuchs-auf-einem-schrottplatz-auf/
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg
„Unterwerfung“ von Michel Houellebecq
Ein Monolog mit Edgar Selge
Anmerkungen zum Werk in der Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Regie: Karin Beier/ Uraufführung am 06.02.2016
(Kommentar in gekürzter Fassung)

[…]
Paris im Jahre 2022: Straßenschlachten zwischen Extremisten heizen das politische Klima auf. Der Front National hat gewaltigen Zulauf. Um zu verhindern, dass er als stärkste Partei den Präsidenten stellt, koalieren die liberalen bürgerlichen Parteien mit einer gemäßigt islamischen Partei. Der Plan geht auf: In den Élysée-Palast zieht Frankreichs erster muslimischer Präsident ein. Was diese durchaus realistische Zukunftsprognose Houellebecqs erst zum Skandalon macht, ist, wie sich binnen weniger Monate das öffentliche Leben ohne jeden Widerstand wandelt. Die islamische Bruderschaft, die Frankreich wie eine bankrottgegangene Firma übernimmt, errichtet kein totalitäres Regime wie bei Huxley oder Orwell. Machtübernahme und Wandel vollziehen sich vollkommen unspektakulär, demokratisch und legal. […] Und die Bevölkerung nimmt die islamischen Gebote und Verbote genauso hin, wie sie bisher Quotenregelungen, Steuererhöhungen, Mülltrennungsgebote oder die Privatisierung öffentlicher Dienste akzeptiert hat.
[…]
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016) 1)

Die Aufführung des oben genannten Bühnenstückes, das auf einen Roman von Michel Houellebecq zurückgeht, wird augenblicklich mit viel Interesse von Theaterbesuchern, Kommentatoren und Rezensenten verfolgt. Die Vorstellungen am Schauspielhaus in Hamburg sind gut besucht und nicht nur das, nach Bekanntgabe der Aufführungstermine sogar ziemlich schnell restlos ausverkauft. Zurückzuführen ist dies höchstwahrscheinlich auf die Vermutung seitens des Publikums, hier ginge es um Zusammenhänge oder auch nur Aspekte mit aktuellem Zeitbezug, um Parallelen und Analogien zu Vorgängen, die sich in der Lebensrealität derzeit zutragen oder in vermeintlich realistischer Einschätzung ereignen könnten, hier drehe es sich um Handlungsmomente, denen ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeitsnähe durchaus abzugewinnen sei. Ein prominentes Bühnenstück wie das vorliegende findet natürlich viel Resonanz im Schrifttum, insbesondere im Journalismus, genauer gesagt im Bereich professioneller Theaterkritik, wie sie dem Feuilleton der Medien zu entnehmen ist.
[…]
Der Titel des in außergewöhnlicher Hinsicht als Monolog von gewaltiger Dimension präsentierten Bühnenwerkes weist auf etwas hin, was im Laufe der Handlung deutlich wird, nämlich die Bereitschaft der französischen Bevölkerung, offensichtlich auch der Intellektuellen, sich einem politischen Regime von anfänglich noch nicht genau einzuschätzendem, dann aber zunehmend sich als autoritär entpuppendem Habitus zu beugen, einer Herrschaftsform, die gleichwohl durch das Votum der Bürger, sodann über eine bis dato unübliche Parteienkoalition, nämlich ein Bündnis der liberalen bürgerlichen Gruppierungen mit einer gemäßigt islamischen Partei – wie im Textvorspann bereits erwähnt -, an die Macht gekommen ist.
Die neue Regierung geriert sich kaum aufsehenerregend, sie wird von den Menschen wahrgenommen, als sei sie selbst, als sei auch das mit ihr verbundene Geschehen „das Normalste von der Welt“. Die Politik, die jetzt betrieben wird, setzt Maßnahmen wie Muslimisierung von Schulen und Hochschulen, Verdrängung von Frauen aus den Bereichen öffentlicher Arbeit, setzt Bekleidungsvorschriften und Polygamie durch, ohne dass sich hör- oder sichtbarer Protest gegen die Zunahme von Restriktion und Fremdbestimmung regt.
(vgl. http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016)
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 2
"Unterwerfung" (Teil 2)
Politik und Herrschaftsanspruch kommen eher sanft, sozusagen auf leisen Sohlen daher, eine besonders raffinierte Form, sich das Gemeinwesen willfährig zu machen, Abbau demokratischer Rechte voranzutreiben, Einschränkung von Freiheit und damit Disziplinierung und Reglementierung durchzusetzen. Im „Gehorsam“ der Bevölkerung dürfte sich Angst widerspiegeln. Alle politischen Maßnahmen, die hier im Zeichen des Islam stehen und natürlich nicht ohne Weiteres vergleichbar sind mit Quotenregelungen, Steuererhöhungen und Mülltrennungsgeboten, wie es im einführenden Text auf der Webseite des Stückes heißt, werden - wie gesagt - hingenommen, bedingt durch Furcht vor bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen oder aus Angst, einer Herrschaft des Rechtsextremismus auf längere Sicht ausgeliefert zu sein. Die Bereitwilligkeit der Bevölkerung, gesellschaftspolitische Restriktionen, intoleranten Herrschaftsanspruch, Anpassungsbereitschaft einfordernde Reglementierungen, die auch im persönlichen Bereich wirksam werden, zuzulassen, zeigt auch, welch üblem, z.T. außengesteuerten, z.T. selbstverantworteten (Rechtsradikalismus durch Wählervotum!) Verfallsprozess, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, zwei Qualitätsmerkmale des Menschen, nämlich Bewusstsein und Mentalität, anheimzufallen im Begriffe stehen.
[…]
Aber ist dies nun Realität, vor der vielleicht – hier mit den Mitteln des Theaters – zu warnen wäre?
Um es vorweg deutlich auszusprechen: Die Bevölkerung eines Landes, in dem die durch Namen wie Montesquieu, Rousseau und Voltaire repräsentierte Aufklärung entscheidenden Einfluss auf eine Revolution von weittragender Bedeutung ausgeübt hat, d.h. auf die Französische Revolution von 1789 und damit auf einen politischen wie gesellschaftlichen Umbruch, dem das Attribut „wegweisend“ im gesamteuropäischen Kontext abzusprechen sich wohl verbieten dürfte, und dies trotz einer an den Namen Robespierre und seine Herrschaft geknüpften Horrorvorstellung hinsichtlich damaligen staatsterroristischen Handelns (la terreur) der Jahre 1793/94 – die Bevölkerung Frankreichs also, die letztlich – ausgehend von Paris – die Schreckensherrschaft Robespierres abzuschütteln imstande war, um es zugegebenermaßen ein wenig grob zusammenzufassen, die sich zudem ihrer politisch-gesellschaftlichen Identität über die Losungsworte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ immer wieder zu versichern versteht, dürfte aufgrund gerade der in Aufklärung und Französischer Revolution wurzelnden Traditionen fest zu den Werten von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat stehen, sodass eine Kapitulation, wie sie das vorliegende Bühnenstück insinuiert, wohl als eher unwahrscheinlich zurückgewiesen werden muss.
[…]
Gleichwohl: Wenn die möglicherweise gar nicht so einfach zu ermittelnde eigentliche Aussage, d.h. die Kernbotschaft des wie gewöhnlich im Konkreten verhafteten Stückes, ins Allgemeine, mit entsprechender Umsicht ins Verallgemeinerbare gehoben wird, wenn also - einfach gesagt - vom speziellen Fall abstrahiert wird, zeigt das von der Intendantin in einem Zeitungsinterview (Welt am Sonntag Nr. 5, 31.01.2016, Hamburg S. 1) mit dem Ausdruck „Gedankenexperiment“ apostrophierte Theaterstück, wie klein der Schritt von einem liberalen Gemeinwesen zu einer Gesellschaft im Korsett einer „gelenkten Demokratie“, um diesen derzeit gelegentlich verwendeten Begriff mit seinem Bezug auf zumindest halbwegs autoritär regierte Staaten zu verwenden, wie klein der Schritt, wenn der entsprechende Gedanke weitergeführt wird, möglicherweise auch zu politisch Radikalerem, nämlich Autokratie, Diktatur und Totalitarismus, letztlich sein kann, zumindest theoretisch.
[…]
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 3
"Unterwerfung" (Teil 3)
[…]
Gerade die jüngsten Ereignisse in Europa haben gezeigt, dass sich Solidarität schnell verflüchtigen kann, überdies inhumanes Denken an Boden zu gewinnen imstande ist; Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, die sich partiell bemerkbar machen, auch die Errichtung von Grenzzäunen gegen Flüchtlinge, dies alles spricht, was eine „Tendenz zum Negativen“ anbelangt, durchaus für sich. Zudem ist auch für Europa kaum auszuschließen, dass über demokratische Wahlen verstärkt Parteien und Politiker an die Macht gelangen, die letztlich durch Nichtbeachtung, gar durch Außerkraftsetzung demokratischer sowie rechtsstaatlicher Prinzipien – man denke an aktuelle Vorkommnisse in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa, nämlich in der Türkei – ihren Herrschaftsanspruch auszubauen und zu verfestigen die Absicht haben.
[…]
Auch wenn das Bühnenstück, um das es hier geht, als Gedankenexperiment zu deuten ist, wie es die Intendantin im bereits erwähnten Interview mit der „Welt am Sonntag“ (s.o.) – wie gesagt - für richtig hält, und es in diesem Sinne nicht als Ausdruck ungebrochener Realität verstanden werden kann, so sollte es - und verallgemeinernd könnte man sagen: so sollte ein Werk wie das vorliegende,
das einerseits einen an spekulativen Wägbarkeiten orientierten Handlungsablauf präsentiert, andererseits unter den Bedingungen spezifischer weltpolitischer
Konstellationen Zeit- und Wirklichkeitsnähe suggeriert, sich dann gleichwohl auch
den qualitätssichernden Erfordernissen, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, den empirischen Tatbeständen gewissermaßen, dem Maßstab von „wahrscheinlich“ und „abwegig“ stellen. Ob die westliche Gesellschaft „leicht und schnell und desinteressiert“ (Welt am Sonntag, s.o.) ihre Grundwerte „anheimstellt“, was nach den Worten der Regisseurin im angeführten Zeitungsinterview zu erwarten ist („Ich finde auch, dass Houellebecq, […], immer einen Schritt voraus ist. Die Geschichte holt ihn und seine Romane […] ein […].“), bleibt in der oben zitierten Formulierung des Gedankens eher fraglich.

Das vorliegende Bühnenstück verharrt insgesamt in einer Art Schwebezustand, gibt jedoch, wenn man so will, eine gewisse Grundtendenz zu erkennen, die sich mit den knappen Ausführungen, wie sie der entsprechenden Webseite des Theaters zu entnehmen sind, erläutern lässt:

Houellebecqs boshafter Polit-Thriller richtet sich nicht gegen den Islam, sondern beschreibt den Kollaps der Kultur des Westens. Dieser Zusammenbruch ist das Ergebnis des schleichenden Verfalls sämtlicher kollektiver Bindungen, angeleitet von einem Bild der Welt, das von der Idee des Ichs beherrscht wird und so direkt ins ökonomische, soziale und moralische Desaster führt.
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016)
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 4
"Unterwerfung" (Teil 4)
Damit wäre eine Grundaussage, sofern man sie sucht, zu fixieren. Trotzdem eignet dem Werk eine merkwürdige Offenheit im Sinne von Unverbindlichkeit, denn es ist mit seinen politischen Komponenten dem lebensweltlichen Diesseits verhaftet, rekrutiert seinen Inhalt aus Teilaspekten dessen, was sich in der Welt vor allem politisch derzeit anbahnt (Rechtsradikalismus!), ereignet oder was lediglich diskutiert wird, hat in manchen Zügen und Ausdrucksformen realistischen Zuschnitt und wird insofern auch auf seinen Wahrscheinlichkeitsgehalt hin rezipiert. Andererseits greift es im Verlauf der erzählten Handlung stark ins Spekulative aus und mündet in eine eher pessimistische, dabei phantasievoll ausgestaltete Zukunftsvision des Autors. Ein spektakulärer, gelegentlich sogar reißerischer Zug wirkt sich auf Gehalt und Struktur des gesamten Werkes keinesfalls qualitätssteigernd aus. Die hier angesprochene relative Unverbindlichkeit von Wirkung und Aussagekraft des Stückes wird auch in der Theaterkritik durchaus gesehen, teilweise mit ironischem Unterton kommentiert:

[…]

Es wäre wünschenswert, wenn das Theaterstück gerade aufgrund seiner relativen, wie auch immer zu bewertenden Interpretationsoffenheit nicht zuletzt auch in politischer Hinsicht noch länger auf dem Spielplan bliebe - so z.B. in der kommenden Saison nach der Sommerpause - und es insofern die Gelegenheit bekäme, die weitere Entwicklung der hier angedeuteten sowie der sich anschließenden Fragen und Probleme aus seiner spezifischen Perspektive zu begleiten, überhaupt als Instanz zu fungieren, die zu manchen sachbezogenen Reflexionen weiterhin Anlass bietet. Das vorliegende Bühnenstück trägt – dies sei noch einmal betont, mag bei entsprechender Kenntnis aber auch nicht verwundern - durch Inhalt und Anlage in besonderem Maße zu kontroversen Diskussionen bei. Es liefert durch die in dieser Hinsicht vorauszusetzenden Anregungen zur gesellschaftsrelevanten Gesprächsbereitschaft generell, sodann insbesondere durch seine zumindest latent „mitschwingende“ Mahnung zur Einsicht in die Notwendigkeit argumentativen Streitens in einem sanktionsfreien Raum gerade bei Themen provokanten Charakters - eine solche Notwendigkeit wird keineswegs allerorten als selbstverständlich angesehen - selbst einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur „Diskurswelt“ eines demokratisch-liberalen Gemeinwesens.


1) Anmerkung zu den Hyperlinks: Auf nähere Angaben, was Autor, Quelle und Zeit anbelangt, wird weitgehend verzichtet; diesbezügliche Informationen sind den Originalquellen selbst nach Betätigung der entsprechenden Hyperlinks zu entnehmen!

Der vollständige Kommentar ist auf der Homepage des Verfassers einzusehen: www.MichaelPleister.de


Dr. Michael Pleister 05.05.2016
Leserkritiken: Holy Shit
Sweet Baby Jesus!
Leserkritiken: Film "Die Prüfung"
Leserkritik: "Die Prüfung"

Till Harms dokumentiert in seinem Film die Aufnahmeprüfung zum Studiengang Schauspiel in Hannover.

Der Film lief auf der Berlinale und startete gestern in einigen Kinos.

Zur Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/19/die-pruefungblick-hinter-die-kulissen-auswahlverfahren-von-schauspielschulen/
Leserkritiken Effi Briest: Meister Übertrumpfung
"Effi Briest - allerdings mit anderem Text und auch mit anderer Melodie" beim Theatertreffen

Der „Effi Briest“-Abend, der am 19. September 2015 im Malersaal des Schauspielhauses Hamburg Premiere hatte, ist ein Abend mit skurrilen Einfällen, der vor allem für zwei Zielgruppen geeignet ist:

Für jene, die sich durch die Ehebruchstragödie „Effi Briest“ zu Schulzeiten hindurchquälten und mitten in ihren eigenen Puberträtssorgen von den Duell-Ritualen und Ehrvorstellungen des preußischen 19. Jahrhunderts genervt waren.

Und für jene, die sich nostalgisch an die 70er Jahre und die damalige Flokati-Zottel-Mode erinnern.

Für alle anderen ist es ein netter, recht kurzweiliger Abend, der nach mehreren Jury-Fehlgriffen und einem schwachen Theatertreffen-Jahrgang 2016 am Ende noch etwas gute Laune verbreitet.

Den beiden Marthaler-Schülern Sienknecht und Bürk ist außerdem zu Gute zu halten, dass sie ihren Meister übertrumpfen: ihre Effi Briest-Radishow ist wesentlich gelungener als Marthalers fader Country-Freizeitpark-Ausflug, den er uns zuletzt an der Volksbühne zumutete.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/21/effi-briest-radio-show-aus-hamburg-beim-theatertreffen/
Leserkritiken: gute Laune
Es war sehr unterhaltsam - ob der Marthaler-Abklatsch mit Ausnahme der Schauspielleistungen dem Stoff gerecht wird, wag ich zu bezweifeln - Zumal der Anlehnung an "The Last Radio Show" von Robert Altmann - Also was bleibt - Gute Laune und Erinnerung an gute Stücke und Filme :-)
Leserkritik: interessant
Ihr Hinweis auf den Robert Altman-Film ist interessant.

Trotz einiger Parallelen sehe ich einen entscheidenden Unterschied: Die Hamburger "Effi Briest" hat wesentlich mehr ironische Leichtigkeit als das melancholischere Alterswerk "The Last Radio Show".
Leserkritik: "Je suis Fassbinder", inszeniert von Falk Richter und Stanislas Nordey in Paris
Falk Richter und Stanislas Nordey inszenieren Je suis Fassbinder in Paris

Von Tobias Marian Wollenhaupt

„Ich mache kein politisches Theater, Politik machen die Leute draußen auf der Straße“, sagt Stanislas Nordey am Ende des Publikumsgesprächs, der zusammen mit Falk Richter das Stück Je suis Fassbinder am Théâtre National de la Colline inszeniert hat.

Das Stück beginnt in einer hitzigen Debatte mit Alkohol und Zigaretten. Diskutiert wird über die Silvesternacht in Köln und über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Das Thema ist politisch, Merkel habe sich mit ihrer Willkommenspolitik getäuscht, denn die Flüchtlinge seien viel zu viele, sie seien nicht registriert und vergewaltigen die deutschen Frauen. Wir würden jetzt wiederfinden, was den deutschen Frauen nach dem zweiten Weltkrieg durch russische Soldaten wiederfahren ist. Angelehnt ist die Szene an ein Gespräch von Fassbinder mit seiner Mutter, die, verkörpert von Laurent Sauvage, ihrem durch Angst gesteuerten Unmut freien lauf gibt. Dementgegen argumentiert Stanislas Nordey, der mal Stan ist und mal Rainer, mit steigender Fassungslosigkeit gegen diesen sozialen und politischen Rechtsruck, der sich im heutigen Europa vollzieht.

Das Stück wirkt wie Fassbinders Werk Deutschland im Herbst, in dem teils dokumentarisch, teils szenisch über die von Angst und Unsicherheit geplagte Gesellschaft der RAF-Jahre in Deutschland erzählt wird. Schon im Titel des Stücks wird eine parallele zwischen den 70er Jahren und der heutigen Zeit geschaffen. Je suis Charlie war nach den Anschlägen auf die Satire-Zeitung Charlie Hebdo der Leitspruch einer Bewegung von Solidarisierung mit den Werten der Demokratie, der den Terroristen und den Gegnern dieser Werte entgegenstanden. So wird die Relevanz von Fassbinders Werken in die heutige Zeit gehoben. In einer zehnminütigen Szene wird wieder und wieder Je suis, je suis mit beängstigender Musikunterlegung fast vorwurfsvoll vorgebetet. Ich bin Europa. Der Traum der Wirklichkeit wird. Alles was Sie wünschen und alles um meinen Reichtum zu beschützen. Eine Armbanduhr von Montblanc. Ich lasse kleine Kinder für mich in China arbeiten. Der 40er Holländische Populist, der sagt, dass die Moslems die größte Bedrohung der europäischen Gesellschaft seien sind. Marine le Pen. Ein System, das die Armen ärmer werden lässt und die Reichen reicher, Je suis Charlie! und wenn Araber an dem Restaurant vorbei laufen, in dem ich sitze, habe ich Angst und ekel mich. Ich will keine Angst haben, aber manchmal habe ich Angst. Abrupt beendet wird die Szene durch Gelächter, denn ich bin auch „das lächerlichste Lied beim Eurovision Song Contest“. Es macht den Anschein, als wenn das Publikum sich von einer immer mehr bedrückend-aufgezeigten Wahrheit der Orientierungslosigkeit durch diese scheinbare Harmlosigkeit losgelassen fühlt.

Das Bühnenbild besteht aus Podesten auf unterschiedlichen Höhen, mit weißen Flokati-Teppichen, die an Fassbinders Dekor aus Die bitteren Tränen der Petra von Kant erinnern. Die Podeste wirken wie Inseln, auf deinen die Fragmente des Stücks spielen, die wie in einem Patchwork zusammen ein Ganzes ergeben. Bilder von Fassbinder und den Charakteren seiner Filme liegen frei auf der Bühne. Videoprojektionen von Fassbinders Originalwerken, dokumentarische Einblendungen von Fassbinders Werdegang erklären dem französischen Zuschauer, wer Fassbinder war und woher er kommt. Auch Szenen aus dem kriegsgebeutelten Syrien werden gezeigt.

Was das Stück nicht schafft, ist, dem Publikum die andere Perspektive zu zeigen. Die, eines Flüchtlings, oder einer am Rande der Gesellschaft lebenden Person, die offensichtlich von dieser angstgetriebenen Verwirrung diskriminiert wird, wie es Fassbinder in seinen Werken oft erzählt hat. Der Zuschauer hat nicht die Möglichkeit das sozialpolitische Geflecht aus der außerhalb Europa stehenden Position zu betrachten. Es geht einzig um die Perspektive derjenigen, die schon „drin“ sind.

Nicht, dass die Theaterwelt politisches Theater noch nicht gesehen hat. Spätestens seit Shermin Langhoff und Jens Hillje die Direktion im Maxim Gorki Theater übernommen haben, ist politisches Theater allgegenwärtig und trifft den Nerv auch dieser, die es nur selten ins Theater schaffen. In Frankreich ist das anders. Das Theatersystem En Suite zwingt die Theatermacher zur Planung der Saison rund 18 Monate zuvor. Politisch aktuelle Themen so in die Stücke zu integrieren ist somit nicht nur schwer, sondern erfordert im besten Fall sehr gute Antizipation des Zeitgeists. Niemand konnte die schrecklichen Ereignisse der letzten zwei Jahre vorhersehen. Umso besser, dass dem eher strengen französischen Publikum nun ermöglicht wurde die aktuellen Ereignisse auf künstlerischer und nicht aus journalistischer Perspektive zu betrachten. Und es gefällt ihnen. An fast jedem Abend gab bis jetzt standing Ovations, was sonst eher die Seltenheit ist. Dieses Stück ist sehr wohl politisch. Von politischem Theater hat Frankreich offenbar nicht genug.
Leserkritik: Effi Briest, Hamburg / TT 16
Theatertreffen 2016 – Clemens Sienknecht und Barbara Bürk nach Theodor Fontane: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg (Regie: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk)

Herrlich, wenn die Spieler*innen versuchen, den Szenenanweisungen der Westphal-Aufnahme zu folgen und dabei zunehmend irritiert reagieren. Oder wenn Effi (Ute Hannig in einer Frisur, die an die frühe Angela Merkel erinnert) sich den musizierenden Herren hinzugesellt und dafür ein aggressives “This is a man’s world” entgegengeschleudert bekommt. Prägnanter lässt sich die Wand der Moralheuchelei, gegen die Effi läuft, nicht charakterisieren. Doch nein, Effis Briest wird hier nicht neu aufbereitet. Vielmehr wird der Stoff zur Spielwiese, macht man eine schöne, unterhaltsame Radioshow daraus. Alles ist bekanntlich Entertainment, warum nicht die sensationelle Fremdgeh-Story auch? Der fontanesche Ernst trifft auf das Liebespathos der Popmusik und gebiert schreiend komische Kinder. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, irgendjemanden lächerlich zu machen, auch wenn der eine oder andere Lacher auf Kosten einer Figur gehen mag.

Bürk und Sienknecht reißen Fontanes Roman einfach von seinem verrosteten Sockel herunter, lesen quer, picken sich Details heraus, die sie remixen, auß ihren Zusammenhängen reißen und sie in neue – oder gar keine – stellen. Das Ergebnis ist ein hochkomischer, ironischer, spielfreudiger Abend, der nichts anderes will, als Fontanes texte freizusetzen, in die freie Wildbahn oder die moderne (nun ja, nicht mehr ganz so moderne, wir sind hier schließlich in der Schrankwand-Welt des Marthaler-Universums) zu entlassen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich darin verirren, ratlos herumrennen und orientierungslos irgendeine Richtung suchen. Um Relevanz geht es Bürk und Sienknecht nicht, vielmehr darum, den Blick freizugeben, Effi Briest dem Klassenzimmermuff zu entreißen. Und wenn der einzig mögliche Ort eine niveaufreie Radioshow ist, warum nicht. Das radio ist für die “Digital Natives” ja schon fast so vergangen wie der wilhelminische Salon. Und gleich präsent, denn das Internetzeitalter ist ja auch eines der Gleichzeitigkeit. Doch genug des Interpretierens. Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie ist wenig mehr und bestimmt nicht weniger als ein Heidenspaß, ein kurzweiliges Zwerchfelltraining, das Fontanes Buch entstaubt und herumwirft, ohne seine Essenz – den verzweifelnden Kampf eines Individuums ums eigene leben – zu diskreditieren. Es ist nur vielleicht nicht immer ganz so ernst. Und selbst wenn, ein bisschen spaß muss sein. Deutschlehrern – und Claus Peymann, wie man hört – wird das nicht gefallen, vielen anderen schon. Und vielleicht ist es nicht einmal eine schlechte Idee, Schulklassen ins “Radio Briest” einzuladen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/23/eine-weite-spielwiese/
Leserkritiken: Bremer Freiheit, Berlin
"Bremer Freiheit" von Rainer Werner Fassbinder (Berliner Ensemble/Pavillon)

Fassbinder erforschte in seinem Drama, das nur ein Jahr später auch als Fernsehfilm ausgestrahlt wurde, die Motive der Frau. Ganz auf der Höhe des Zeitgeistes der frühen 70er Jahre sieht er seine Hauptfigur Gesche als eine Frau, der von gefühlskalten Männern, patriarchalen Strukturen und religiösen Zwängen die Luft zum Atmen abgeschnürt wird. Aus Notwehr greift sie zum Arsen, das sie in den Kaffee träufelt.

Catharina May bringt diesen selten gespielten Stoff in ihrer ersten eigenen Regiearbeit auf die Bühne des Pavillons im Hof des Berliner Ensembles. Erste Erfahrungen sammelte sie als Assistentin von Claus Peymann bei seiner jüngsten Handke-Inszenierung und von Robert Wilson bei seinem Faust-Musical.

In kurzen, präzise komponierten Szenen trifft die Hauptdarstellerin Krista Birkner als Gesche Gottfried auf ihre Kontrahenten, die sie in scharfem Ton mit ultimativen Forderungen bedrängen: Mal ist es der erste Ehemann (Georgios Tsivanoglou), der breitbeinig rumsitzt und sie barsch herumkommandiert. Mal ist es der Vater (Joachim Nimtz), der sie gegen ihren Willen mit einem Vetter verheiraten will. Mal ist es die verhärmte Mutter (Ursula Höpfner-Tabori), die verlangt, dass sie die Affäre mit einem Mann beendet, da sie damit Schande über die Familie bringt und gegen religiöse Gebote verstößt. Ihr Bruder (Stephan Schäfer) verlangt, dass sie ihm die Leitung des Familienbetriebs übergibt.

Komplette Kritik:
https://daskulturblog.com/2016/05/26/vergiftet-fassbinders-bremer-freiheit-am-bremer-freiheit/
Die Gerechten, Berlin: Leserkritik
Albert Camus / Boris Sawinkow: Die Gerechten / Das fahle Pferd, bat-Studiotheater, Berlin (Regie: Marcel Kohler)

Samuel Simon als Stepan und Joshua Jaco Seelenbinder stehen sich im Streit gegenüber, die anderen suchen dazwischen ihre Position. Simons unerbittlicher Fanatiker und Seelenbinders nüchtern vergrübelter, von stillen Zweifeln heimgesuchter Iwan bilden die Pole – hier die Revolution als Selbstzweck, dort als rein dienendes Mittel zu einem höheren Ziel. Ruhig und intensiv ist die Auseinandersetzung, ein stiller Kampf der Argumente. Kohler setzt auf realistisches Spiel und auf Pausen, in denen die Worte, die Ideen, das Ungeheuerliche dessen, was hier verhandelt wird – ist es in Ordnung, auch Kinder zu töten oder sollte man sich auf den Vertreter der Macht beschränken. Je weiter sich die Figuren hinein wagen ins Dickicht der Abgründe sich absolut setzender Ideologien, desto unerträglicher, angespannter wird die Atmosphäre. Das liegt vor allem am Ensemble, in dem Seelenbinder, der für die rolle mit dem diesjährigen O. E. Hasse Preis ausgezeichnet wird, kaum herausragt. Einen starken Eindruck hinterlassen auch Luise Pöls, die als Dora erst und leidenschaftlich für die Liebe als Grundprinzip plädiert oder Lukas Gabriel, dessen dünner Körper das Ringen Alexejs mit dem Zweifel auf ungemein physische Weise ausficht. Auch Alexander Wanats entschlossener und zugleich unsicherer Pragmatiker Boris und Roman Schomburg, der im zweiten Teil den Polizisten Skuratow als sanften Praktiker der Macht gibt, sind zu nennen.

Am Ende steht ein Kompromiss: politischer Mord ja, aber keine Kinder als “Kollateralschäden”. Keine Antwort, sondern nur eine Ausflucht. Und so gefriert Seelenbinders Attentäter im zweiten Teil zum kalten mechanischen Propagandisten ideologischer Phrasen, gräbt er sich ein in einem Glaubensbekenntnis, das längst Schutzpanzer ist, sucht er die Hinrichtung, um sich nicht dem eigenen Tun stellen zu müssen. Das intensive Kammerspiel wird zum multiperspektivischen Geistertanz. Der Mitgefangene, dem sich Iwan als Retter präsentiert, ist ein tumbes Körperknäuel, das mit den hochtrabenden Ausflüchten des Mörders wenig anfangen kann. Die Großfürstin, Witwe des Opfers, erscheint als verhüllte Mahnung seiner Schuld – wie auch der Mithäftling, der sich als Henker entpuppt, im angeketteten Geist des Täters multipliziert. Auch die Mitverschwörer*innen sind nurmehr sich windende Untote, die wie tot dahin gestreckt sind und nur noch die alten Phrasen ausspucken. Am Ende bleibt ein Berg sich selbst entmenschlicht habender Körper.

Der Tod hat gesiegt, aber nicht auf ganzer Linie. Da können Sawinkows Hass-Predigten noch so sehr mit der archaischen Wucht eines antiken Chors daherkommen – auch der Hass-Prophet kann sich dem menschlichen nicht ganz entziehen. Und so beginnt sich Zweifel einzuschleichen (Sawinkos selbst wurde später zu einem ausgesprochenen Kritiker der Sowjetmacht und von dieser ermordet), wie sich überall der Kuntsschnee festsetzt, der in der Pause, die keine ist, vom Himmel fällt. Da tollen die sechs Revolutionäre wie Kinder über die Bühne, albern herum, bekämpfen sich in Schneeballschlachten. Da dringt das Leben ein in den selbstgewählten Kerker und sind alle hehren Motive, aller Ernst vergessen und nichts mehr wert. Der Schnee bleibt, auch wenn die Parolen wiederkehren – jetzt jedoch als Gespenster, fahle Schatten ihrer selbst. Christliche Choräle erklingen, falsche Hoffnungsversprechen und doch nisten auch sie sich ein – in den Figuren, im Publikum. Sie ist nicht tot zu kriegen, diese Hoffnung, die am Leben als etwas Bewahrenswertem festhält. Etwas das jetzt ist und nicht erst morgen. Wie albern. Wie wahr.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/29/der-schnee-von-heute/
Leserkritik: "Die lustigen Weiber von Windsor", Monbijou-Theater Berlin
Shakespeare's housewives: merry, not desperate
"Die lustigen Weiber von Windsor" eröffnen die Sommersaison des Monbijou-Theaters in Berlin

Überfälle, Ehebruch, Eifersucht in Windsor. Und dann noch zwei identische Liebesbriefe. Falstaff, ein sinnenfroher Lebemann und skurpelloser Betrüger, macht in völliger Überschätzung seines Sex-Appeals gleich zwei Damen Avancen in der erklärten Absicht, seinen chronisch unterversorgten Geldbeutel aufzufüllen. Doch er hat seine Rechnung ohne die Wirtin der Taverne zum Strumpfband und die listigen Frauen von Windsor gemacht: sie verbünden sich und nutzen die Gelegenheit, dem übergriffigen Machogehabe Falstaffs endgültig den Garaus zu machen.
Allein im ersten Akt dieser Komödie von Shakespeare sei "mehr Leben und Wirklichkeit, als in der gesamten deutschen Literatur", meinte Friedrich Engels 1873 in einem Brief an Karl Marx. Die Literaturkritk ist da von jeher anderer Meinung. Sie bemängelt die zerfranste Dramaturgie der von Shakespeare in nur vierzehn Tagen zusammensgeschusterten Episodenfolge. Doch beim Publikum gehörte der Stoff lange zu den populärsten, vor allem dank der trinkfesten und übergewichtigen Figur des Lebemannes Falstaff.
Maurici Farres geschickt verdichtete Fassung der Komödie für das Monbijou-Theater hat den Titel beim Wort genommen. Er lässt Falstaff buchstäblich den Kürzeren ziehen und konzentriert sich klugerweise auf die weiblichen Hauptfiguren als Sympathieträgerinnen: Frau Quickly (Franziska Hoyner), die als umtriebige Spielmacherin auch den Part des Wirts übernimmt, daneben die gar nicht verzweifelten Hausfrauen Ford (Claudia Rippe) und Page (Olivia Marei). Sie setzen dem sich maßlos selbst überschätzenden Schürzenjäger (Thorsten Loeb) derart einfallsreich zu, dass er, am Ende buchstäblich bis aufs Unterhemd bloßgestellt, das Zeitliche segnet und in einem triumphierenden Totentanz zu Grabe getragen wird. In einem Epilog darf der Falsataff-Darsteller aber noch der Figur des genussfreudigen Lebemanns, der nach wie vor als Markenname für Feinschmeckerartikel herhalten muss, mit dem berühmtem 91. Sonett Shakespeares poetisches Credo entgegensetzen:
"Liebe schafft mir Seligkeit
Mehr als Geburt, als Geld und Kleiderzier."
Diese "lustigen Weiber" sind die dritte Sommer-Produktion im Monbijou, seit der katalanische Regisseur und Dramaturg Maurici Farré als künstlerischer Leiter dem erfolgreichen Open-Airtheaters an der Museumsinsel eine personelle Frischzellenkur verordnet und die Arbeit spürbar professionalisiert hat. Sein Konzept eines künstlerisch ambitionierten, "klugen Volkstheaters", das effektvolles Theaterhandwerk mit schauspielerischer Artistik und literarischem Profil zu verbinden sucht, hat sich bewährt und wird vom Publikum mit einer um 30 % gestiegenen Auslastung honoriert.
Mit Darijan Mihajlovic aus Belgrad steht ihm ein Regisseur zur Seite, der alle Register des Theaterzauberers beherrscht, effektsicher szenische Pointen setzt und ein ausgeprägtes Faible für eine komödiantische Körpersprache zeigt. Das von Isa Mehnert Mehnert farbenfroh kostümierte und von Nina Dell wunderbar schräg und schrill geschminkte Ensemble (auch Tobias Schulze, Joachim Villegas und Ole Xylander) bespielt alle Nischen und Winkel des zur Taverne verwandelten Amphitheaters (David Regehr) mit circensischer Präzision und so vehement, dass man ums eigene und das leibliche Wohl der Truppe fürchten muss.
Mit einem chorischen "Sorry Shakespeare" verbeugt sich das Ensemble vor dem großen Theaterdichter. Very british, das Understatement. Dabei hätte der Autor bestimmt seinen Spaß an diesen listigen Vorstadtweibern. Das Premierenpublikum jedenfalls ließ sich begeistern.
Leserkritiken: "Nirgends in Friede. Antigone" bei den Autorentheatertagen Berlin
Autorentheatertage 2016 – Darja Stocker nach Sophokles: Nirgends in Friede. Antigone. Theater Basel (Regie: Felicitas Brucker)

Die Diskrepanz von Außen und Innen steht im Mittelpunkt des Stücks. Kreon ist der Mauerbauer, er braucht diese Differenz, um sein System aufrechtzuerhalten. Antigone dagegen steht auf beiden Seiten, sie ist, wie sie mehrfach sagt, Antigone und ist zugleich nicht Antigone. Sie ist die Mauerneinreißerin, ja, sie erkennt den Unterschied zwischen dem Drinnen und dem Draßen nicht an, lehnt die Mär vom Unterschied derer “hier” und jener “dort” ab. Kreon steht für das Europa, das wegschaut, den Status Quo zu schützen meint, aber auch für jene, die wir euphemisierend “Rechtspopulisten” nennen, die Feindbilder aufbauen, Ängste schaffen und ausnutzen, Behaupten, diese oder jene gehörten nicht zu “uns”, die spalten wollen und Hass säen. Er, so sagt das Stück, ist wenige, am Ende hat er nicht nur den Sohn, sondern auch den Wächter, seinen hartnäckigsten Schergen, an die “andere Seite” verloren. Während Kreon und eine der Antigones in ihrem Blut liegen, stehen die anderen – auch und gerade die bei Sophokles so angepasste Schwester Ismene, solidarisch zusammen. Stocker hat viel Zeit in Ägypten verbracht, die Nachwehen des “arabischen” Frühlings erlebt, sie engagiert sich für die Rettung schiffsbrüchiger Flüchtender. Ihre Antigone-Bearbeitung ist eine Anklage. eine, die uns, die sich angesichts des Elends – wie ihr Vater – selbst blenden.

Es ist ein wütendes Stück geworden, das vor allem bemüht ist, nicht wütend zu wirken. Also versucht es sich sprachlich so eng an Sophokles zu halten, wie es geht, kann es sich nicht recht entscheiden zwischen archaisierender Abstraktion und konkreter Gegenwärtigkeit, wie es zwischen Gesellschaftporträt und Familiengeschichte mäandert, vor seiner eigenen Courage angst zu haben scheint und sich zunehmend im Ungefähren verliebt. Keine ganz dankbare Aufgabe für Uraufführungsregisseurin Felicitas Brucker. Der sie sich mit solidem Kunsthandwerk zu entziehen sucht. Die Bühne (Viva Schudt) weist schräg in die Zuschauer hinein und sagt: Hier ist etwas aus dem Lot geraten. Dominiert wird sie von einer gerüstartigen Wand, durchsichtig, aber nicht durchlässig. Kalte Neonröhren symbolieren, nun ja, die Kälte einer sich erleuchtet fühlenden Gescellschaft, Drinnen und Draußen sind klar abgetrennt. Kreon und Co. stehen davor, die Antigones erobern sich zunehmend die Trennwand als Verbindungsglied. Ansonsten wird viel von der Rampe gesprochen, man positioniert sich klar im Raum und vergisst dabei zu spielen.

Die Zwiegesichtigkeit des Stücks zwischen Plakativität und Unentschiedenheit übernimmt die Inszenierung, die abspult, ein bisschen bebildert (etwa mit halbherzigen Bewegungschoreographien) und ansonsten bemüht ist klarzustellen, wie sie steht. Dass sie Steffen Höld seinen Kreons als nach und nach die Maske fallen lassenden kaltblütigen Bürokraten der Macht, der am Ende wie ein Rumpelstilzchen tobt, mit der Subtilität einer Seifenopernfigur spielen lässt, schadet der Intention des Stücks eher. Und so passiert etwas Seltsames: Der Abend lässt den Zuschauer kalt. Je mehr das Stück mit sich ringt, sich fragt, ob es sich dem Zuschauer nähern oder ihn auf Distanz halten soll, je mehr die Inszenierung versucht, dem Stück zu folgen, ohne eine eigene Haltung zu entwickeln, geschweige denn zu verstehen, wo es hin will, desto mehr Zwischenwände zieht der Abend ein, desto weiter sind wir entfernt von dem, was da verhandelt wird, desto leichter macht er es, nicht hinzuschauen, nicht nachzudenken über unsere eigenen Rollen – als Individuen, als Gesellschaft. Das Erschreckendste an diesem Abend ist womöglich seine Blutleere.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/06/12/je-suis-antigone-oder-nicht/
Leserkritiken: "Nirgends in Friede. Antigone" bei den Autorentheatertagen Berlin
Autorentheatertage 2016 - "Nirgends in Friede. Antigone" (Kleine Bühne im Theater Basel) zu Gast am Deutschen Theater Berlin

Das Problem an Darja Stockers Antigone-Überschreibung „Nirgends in Friede“ ist, dass sie die klassische Tragödie von Sophokles entkernt und stattdessen mit aktuellen Problemen überfrachtet.

Es war eine sehr unglückliche Entscheidung der Autorin, vor allem auf lange Erzählpassagen und Zeugenberichte zu setzen. Statt der dramatisch zugespitzten Konfrontationen zwischen Antigone und Kreon oder Antigone und Ismene, um nur zwei besonders herausragende Szenen des griechischen Originals zu nennen, bietet dieser Abend in der Regie von Felicitas Brucker nur müdes Stehtheater, das noch dazu wahllos zwischen poetischer Kunstsprache und „fast schon salopper Alltagssprache“ wechselt (zutreffender O-Ton aus Programmheft-Interview).

Auch Stockers Einfall, die Antigone auf drei Schauspielerinnen (Lisa Stiegler, Nicola Kirsch, Cathrin Störmer) führt zu nichts.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/12/nirgends-friede-basler-antigone-ueberschreibung-eroeffnet-dt-autorentheatertage/
Leserkritiken: "Ramstein Airbase" bei den Autorentheatertagen
Autorentheatertage 2016 - "Ramstein Airbase - Game of Drones"" (Staatstheater Mainz/U17) zu Gast am Deutschen Theater Berlin

Dieser Ort ruft sofort drei Assoziationen hervor: die Bilder des Unglücks bei einer Flug-Leistungsschau im Jahr 1988; die martialischen Klänge der Band „Rammstein“, die sich danach benannt hat; und in jüngster Zeit vor allem die Presseberichte und Vorwürfe, dass Ramstein eine Schlüsselrolle bei den US-Drohnenkriegen gegen Terrorverdächtige im Nahen und Mittleren Osten von Jemen bis Waziristan spiele.

Der weniger als 90 Minuten kurze Abend versucht, sich spielerisch an seine komplexen Themen heranzuarbeiten. Gockel zitiert munter die US-Popkultur: von Tom Cruise in „Eine Frage der Ehre“ über die Bill Cosby-Show bis zu „Game of Thrones“ werden bekannte Motive in die Dialoge auf der Bühne eingeflochten oder auch gerne im Hintergrund per Video eingespielt. Monika Dortschy kommt sogar im Marilyn Monroe-Kostüm auf die Bühne.

(...)

Vom Dokumentartheater im Stil von Hans-Werner Kroesinger ist dieser Abend weit entfernt: der Ansatz ist sowohl spielerischer als auch oberflächlicher. Aber Gockel gelingt ein Theaterabend, der gut unterhält und es im besten Fall schafft, ein jüngeres Publikum dazu zu bringen, sich noch intensiver mit den Drohnenkriegen im allgemeinen und der Verstrickung der Bundesrepublik Deutschland im besonderen zu befassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/19/ramstein-airbase-game-of-drones-mainzer-theaterabend-zwischen-popkultur-und-waziristan/
Leserkritiken: nochmal zu "Ramstein Airbase"
Ich bin jung und möchte mich bitte mit Drohnenkriegen und deutscher Mitverantwortung nicht spielerisch unterhalten lassen. Danke. Das Gespräch mit dem Anwalt dazu war aber sehr interessant, es wäre auch ohne das Stück möglich gewesen.
Leserkritiken: "Schatten (Eurydike sagt)", Autorentheatertage
Bislang keine nachtkritik von Schatten (Eurydike sagt) aus Karlsruhe, gestern bei den Autorentheatertagen am DT zu sehen? Kein Wunder: miserables Theater! Fast empörend schlecht, Text, Bühne, Schauspiel.
Leserkritiken: Widerspruch zu "Eurydike", ATT
@dabeigewesen #224: Dann waren Sie vermutlich der, der in der Reihe hinter mir als einziger rausgegangen ist. Die anderen Zuschauer fanden's toll, inklusive mir, riesiger Applaus, selten so erlebt bei den Autorentheatertagen. Zu Recht: Tolles Frauenensemble – und ich hab noch nie eine so erzählerische, unterhaltsame, berührende und ironische Jelinek-Inszenierung gesehen, wo es mal richtige Figuren gibt, wo man mal was vom Text versteht und nicht alles rhythmisch runtergerattert wird. Wusste gar nicht, dass Jelinek überhaupt Figuren hergibt. Vielleicht haben Sie (#224) die Ironie mancher Szenen nicht verstanden?
"Schatten (Eurydike sagt)", ATT Berlin
"Schatten (Eurydike sagt)", Badisches Staatstheater Karlsruhe zu Gast bei den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin

Die ersten Szenen sind von demonstrativer Langsamkeit geprägt. In scharfer Abgrenzung zum Jelinek-Staccato greift er zunächst zwei Motive aus der stark gekürzten Textfläche heraus, die er eingehend beleuchtet: zunächst die große Lust am Shoppen und das Interesse für Mode, die einige Jelinek-Texte prägen. Hier steht Lisa Schlegel im Mittelpunkt.

Später folgt ein langer, etwas zu zäh geratener Monolog der einsamen Eurydike im Schlafzimmer (Ute Baggeröhr) über Depression und Melancholie. Diese Passage erschließt sich erst richtig, wenn man die Gedanken von Jelinek über Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“ kennt.

Die Langsamkeit der ersten Hälfte ist vor allem dann unerwartet, wenn man die Wiener Uraufführungs-Inszenierung von Matthias Hartmann kennt, die vor drei Jahren zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater eingeladen war. Dieser Abend badete in seinen kabarettistischen Pointen, eine Jelinek-Puppe sorgte für Lacher, auf der Showtreppe erschien auch ein leibhaftiger Orpheus, der bei Gloger ganz abwesend bleibt.

Als man es schon gar nicht mehr erwartet, legt Gloger den Schalter doch noch um: Annette Büschelberger tritt an die Rampe und rechnet in einer galligen Suada mit den Groupies, Tussis und Casting-Shows von DSDS bis GNTM ab, von der sich auch Gernot Hassknecht noch eine Scheibe abschneiden könnte, wie Wolfgang Behrens meinte.

Der Abend gewinnt an Farbe und Substanz. In einer sehr guten Schatten-Choreographie (Video: Christoph Otto) suchen die fünf Spielerinnen nach ihrer Identität, treten einen Schritt zurück und kommentieren sich selbst und ihre Schattenprojektionen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/22/schlangenbisse-jelineks-schatten-euydike-sagt-aus-karlsruhe-zu-gast-in-berlin/
Leserkritiken: Erinnerung an den David-Cameron-Abend am DT Berlin 2013
David's Formidable Speech on Europe, Autorentheatertage 2013...
Aus gegebenem Anlass möchte ich noch mal an das großartige Event vor 3 Jahren erinnnern: zahlreiche europäische Theater zeigten am DT Berlin Szenen zur Rede von David Cameron, in der er das Referendum über die EU-Mitgliedschaft ankündigte. Das war nicht nur ein ausgesprochen unterhaltsamer Theaterabend, sondern auch hochpolitisch. Und von heute aus gesehen nahezu prophetisch. Leider habe ich dazu außer diesen links (http://mitos21.com/davids-formidable-speech-on-europe/ http://arnodeclair.net/davidsspeech/index.html) nichts gefunden. Vielleicht hat es ja der ein oder andere auch noch in guter Erinnerung...
Leserkritiken: Link zum David-Cameron-Abend am DT Berlin
@ 227/dabeigewesen

Ich habe damals darüber geschrieben: https://daskulturblog.com/2013/06/15/autorentheatertage-2013-jelinek-in-der-unterwelt-cameron-in-12-varianten/

Ich erinnere mich, dass die Nachgespräche bei Tomatensuppe sehr schleppend waren.

Positiv aufgefallen sind mir vor allem die Kurzdramen mit Stefanie Reinsperger und Mario Fuchs.
Leserkritiken, Der entfesselte Wotan, Berliner Ensemble
"Der entfesselte Wotan": Berliner Ensemble/Pavillon mit HfS Ernst Busch

Aus dem literarischen Werk von Ernst Toller kennt man heutzutage am ehesten noch seine Revue „Hoppla, wir leben!“ (1927). Außerdem hat er seinen Platz in den Geschichtsbüchern als sozialistischer Anführer der Münchner Räterepublik: sie wurde nach wenigen Monaten im Juni 1919 niedergeschlagen und endete für Toller mit mehrjähriger Festungshaft.

Während dieser Zeit schrieb er das Drama „Der entfesselte Wotan“: eine expressionistische, stark ins Groteske ausufernde Komödie über einen Friseur, der sich zum Anführer einer Schar von Auswanderern aufschwingt und krachend scheitert.

Als das Stück 1923 erschien, war es eine hellsichtige, aber fruchtlose Warnung vor dem Erstarken rechtsextremer Rattenfänger. Manche Textpassagen über ein orientierungs- und kraftloses Europa könnten aber auch aus einem tagesaktuellen Leitartikel stammen. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass Hauptdarsteller Tobias Lutze (als Friseur Wilhelm Dietrich Wotan) an die Auftritte der einschlägig bekannten Herren Donald Trump, Geert Wilders und Boris Johnson erinnert.

Der Stoff ist also eine interessante Wahl, hat aber den Nachteil, dass die Figuren – je länger der anderthalbstündige Abend dauert, umso deutlicher wird dies – nur Karikaturen und Knallchargen sind. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler gibt es deshalb zu wenig Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen und Nuancen herauszuarbeiten.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/06/30/der-entfesselte-wotan-ernst-busch-schauspielschueler-spielen-tollers-expressionstisches-drama-am-berliner-ensemble/
Leserkritik: Die Puritaner, Stuttgart
Oper Stuttgart (8.7.16)

Vincenzo Bellini: Die Puritaner. Meldodramma Serio in drei Akten.

Man braucht keine großartige Geschichte, um ordentlich Musik machen zu können. Die hat, nicht nur laut Wikipedia, diese Bellini Oper auch nicht. Dem historischen Hintergrund wird das eher schlichte Bühnenbild durchaus gerecht, ermöglicht es doch auch umgekehrt die Konzentration auf das Wesentliche: die Musik. Im zweiten Teil war das wohl den Regisseuren, möglicherweise durch das in der Nähe gelegene Schauspielhaus angeregt, doch etwas zu wenig und stellten deshalb eine Art Miniaturausgabe eines Schlösschens auf die Bühne, das aber auch etwas von jenem Hexenhäuschen hatte, in das Hänsel und Gretel gesteckt wurden. Dieser Wechsel ins Surreale geschah etwas unmotiviert, und war für mich auch nicht nachvollziehbar, beschränkten sich doch die Aktionen auf der Bühne z.B. im zeitlosen Gebaren religiöser Männer: Während sie in einem Buch lesen und im Stuhlkreis sitzen, gelegentlich die Stühle hin und her tragen, putzen die Frauen den Boden usw. Das war und ist oft noch immer so, wird vielleicht wieder mehr, und versteht jeder.
Was dann nun aber völlig aus dem Rahmen fiel, waren die im zweiten Akt auf die Bühne flutenden Verfolger des „Helden“, die etwas von einem Zombie-Marsch an sich hatten. Vor mir saß eine große dicke Frau, und so sah ich nicht sogleich, dass diese kein Blut an Händen und Kleidung und Mündern hatten, aber sich so puppenhaft verzerrt bewegten.
Das bürgerliche Feuilleton entdeckt hier sofort die Chance seiner Interpretationsaufgabe und sah Traumhaftes, dann folgt immer Freud in Klammer: (Freud), und den Rezensenten ergriff eine „schwindelerregende Klarheit“. Schade dass diese nicht auch den Politikprofessor ergriff, der auf der gleichen Seite der Stuttgarter Zeitung die Motivation der einfachen Leute für den Brexit „erklären“ durfte.
Die Stuttgarter Oper ist dringend renovierungsbedürftig, darin herrschte eine Hitze, die kaum auszuhalten war. Auch die Toilettensituation ist zu beklagen. (...) Schöner Gesang ohne irgendwelche Ambitionen ist ein Genuss, und war es an diesem Abend auch. Beim Sprechtheater ist das schwieriger, da die Menschen (manche) die etwas altmodische Begier haben, einen Sinn und einen Bezug zu ihrem Leben herzustellen. Wo dieser absichtsvoll verdunkelt wird wie im Stuttgarter Schauspielhaus, bleibt als mögliche Reaktion das bedauerliche Fernbleiben, wenn man nicht zum Masochismus neigt. Man kann das mit der Zeitungslandschaft in Stuttgart vergleichen; wenn diese Stuttgarter Zeitung/Nachrichten von immer weniger Menschen gelesen werden, kann das am abnehmenden Bildungsniveau der Menschen liegen, die die (a-) social media bevorzugen. Man sollte aber auch gut dialektisch das Gegenteil nicht ausschließen. Wer sich von der Theaterkritik in der Stuttgarter Zeitung Erhellung verspricht, dem sei mit Folgendem gedroht: „führt aus der Religion der Weg über die Kunst ins Leben? Und was ist Ersatz für was?“
Die Oper lohnt trotzdem einen Besuch.
Leserkritik: Refuse The Hour, Berlin
Foreign Affairs 2016 – William Kentridge: Refuse The Hour

Ein Denkprozess ist dies, wie der Titel andeutet. Vielschichtig, von vielen Richtungen her ansetzend, vielstimmig auch, ein polyphones Tönen unterschiedlichster Ausdrucksformen – vom Individuellen ist Tanz und Gesang, zum Wiedergegebenen in Kentridges Lesungen bis hin zum Mechanischen, in seinen Skulpturen und dem von der Decke hängenden Schlagzeugapparat. Die zeit läuft vorwärts und zurück, der Raum ist drei- wie zweidimensional, Spigelungen, Dopplungen, Schatten bevölkern Bühne und Leinwand, das Reale findet sich im Repräsentierenden wieder und umgekehrt. Dekonstruktion und Zusammensetzung ist eines, die Zeit kein lineares Fortschreiten, sondern ein Kreislauf, vielleicht auch ein ansetzen und abbrechen, stets jedoch nie nur eines. Kentridge fragmentiert und kombiniert immer wieder neu, er löst auf und baut zusammen, er lässt den Zufall regieren, etwa ist den Figuren und Worten, die verbrannte Schnipsel auf der Leinwand bilden und verschwinden lassen. Die Unsicherheit, das Dazwischen findet sich überall: in der Musik Philip Millers, die mal minimalistisch verwirrt, mal afrikanische Rhythmen zitierend, mitreißt; in den Worten Kentridges, die Geschichten erzählen, Wissenschaft wiedergeben oder pures Sprachmaterial sind; in den Bewegungen, Tänzen, im Bewegtwerden von Dada Masilo; in den sich überlagernden visuellen Ebenen von Kentridges Zeichnungen, Schattenspielen und Installationen.

Nichts ist nur eines, alles ist auch sein Gegenteil. Das klingt ungeheuer verkopft und sperrig – und wirkt doch so leicht, so natürlich, so unterhaltsam gar. Denn eines macht William Kentridges Kunst eben auch aus: das ständige Infragestellen auch seiner selbst, die Ironie auch dem eigenen Schaffen gegenüber, der spöttische, aber immer auch warme Blick auf Welt, Kunst und Ich. Refuse The Hour ist ein spielerisches Experiment, von Neugier durchpulst wie vom Spieldrang, ein chaotisches, zuweilen fast dadaistisches Durcheinander disparat erscheinender Kunstformen, die einander befeuern, aufheben, überlagern, die sich verstärken, visuell, akustisch, rhythmisch oder Konfusion stiften, die aufbauen und erschaffen oder stören und einreißen. Die Ordnung der Zeit, die Übersichtlichkeit des Raums werden sabotiert mit dem Trotz eines Kindes, dem die Logik der Vernünftigen zu langweilig ist. Doch dieses “Kind” entdeckt, dass diese Vernunft eben nur eine Möglichkeit von vielen ist, dass im “unsaying”, im “unremembering”, im Umkehren der Zeit, im Widerstand gegen ihre Ordnung Freiheit liegt – der Kunst, des Menschen, des Lebens. Freiheit ist Unsicherheit. Und Schönheit. “Truth is beauty, beauty truth”, lautet ein mantrahaft wiederholtes Credo. So ist es. Und natürlich ist es nicht so.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/12/truth-is-beauty-oder-nicht/
Leserkritiken: Ubu and the Truth Commision
Foreign Affairs 2016 – Handspring Puppet Company / William Kentridge / Jane Taylor: Ubu and the Truth Commision (Regie: William Kentridge)

Der Geier ist schon da. Auf der linken Bühnenseite wartet er auf Beute. Aber nein, weder die geschäftige Hausfrau noch der abgehalfterte Mann im Unterhemd denken auch nur daran, sich zum Aasfresser-Futter machen zu lassen. William Kentridge verfrachtet Alfred Jarrys moderne – und um einiges blutigere – Wiedergänger des Ehepaars Macbeth ins Südafrika der jüngsten Vergangenheit. Er (David Minnaar) ist ein Scherge des Apartheid-Systems, der unzähliche Menschen auf dem Gewissen hat, was ihn aber nur insofern stört, als man ihn womöglich dafür zur Verantwortung ziehen könnte. Sie – in einer spannenden Volte von der schwarzen Schauspielerin Busi Zukufa in traditionell anmutender Kleidung gespielt – verdächtigt ihn des Fremdgehens und nutzt die Wahrheit, als sie diese entdeckt, für ihre Zwecke aus. Am Ende segeln sie in eine glänzende Zukunft, nachdem er vor der Wahrheitskommission ausgesagt hat und ungeschoren davon gekommen ist. Der Geier geht leer aus, die Leichen sind schon längst entsorgt.

Es ist kein hoffnungsfrophes Bild, das Kentridge von dieser Institution zeichnet, die Nelson Mandela einst ins Leben rief, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und zugleich das gespaltene Land zusammenzubringen. Kentridges Verdikt ist kein positives: Ja, die Stimmen der Opfer werden gehört, aber die Täter kommen davon. Das klingt ein wenig vereinfacht und das ist es leider auch. Die Zeugen werden von Puppenspielern gegeben – sie sind wenig mehr als Objekte, als Fälle in den Augen der Öffentlichkeit. Sie wurden benutzt und sie werden es auch heute. Die Distanzierung hat einen eindeutigen Effekt: So schrecklich die Geschichten sind, so wenig gehen sie nahe. Das mag Absicht sein, zumal der Fokus auf dem Täter und seinem Umgang mit der Vergangenheit liegt. Nur führt das eben dazu, dass die Opfer eben Mittel zum Zweck bleiben, Anlässe für den Mörder sich in Albträumen zu wälzen, die er so schnell abschüttelt wie sie kamen. Die Objektifizietung der Opfer gehört zu den Problemen dieses abends ebenso wie das doch eher, sagen wir, traditionelle Frauenbild. Mama Ubu ist eine cholerische, eifersüchtige und gerissene Matrone ohne auch nur einen Hauch von Tiefe, die ihrem Mann zumindest zugestanden wird. Sie zetert und keift und lässt sich nicht ernst nehmen. Ihr Mann dagegen ist etwas komplexer angelegt, auch wenn die Figur zwischen trotziger Selbstbehauptung und plakativem Heimgesuchtwerden keine Mitte findet.

Da kann Kentridge noch so viele durchaus eindrucksvolle Bilder für das Verdrängte und Vertuschte finden – die Folterszenen mit Schattenfiguren aber ohne Folterer gehören sicher zu den eindringlichsten – der Abend bleibt an der Oberfläche und erfreut sich an seinen Einfällen: den Zwitterwesen aus Raubtier und Bürokratenkoffen, der lebensgroßen schwarzen Ubu-Figur, die als Anwalt des Pragmatischen auftritt, den sich vor Scham wegdrehenden Mikrofonen bei der Rechtfertigungsrede des Schlächsters.- Am Schluss bleibt die Ironie: Das Gerede von der “hellen Zukunft” erweist sich als Farce, den Tätern geht es besser denn je. Ubu and the Truth Commission ist ein Abend, der vor Ideen sprüht, der multimedial und auf mehreren Ebenen daherkommt, bildende Kunst, Schauspiel, Video und Puppenspiel verzahnt und die Kunst als großen Lügenzertrümmerer feiert. Doch leider ist er auch eher unterkomplex geraten, arbeitet sich an seiner Grundthese – die Wahrheitskommission als Feigenblatt der Täter – während er sich für die Vielschichtigkeit der Institution und auch ihrer durchaus verdienstvollen Rolle nicht weiter interessiert. Für Kentridge-Fans bietet er sicher genug für den kleinen Kunst-Hunger zwischen durch. Ob er sättigt, ist eine andere Frage.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/15/der-geier-muss-warten/
Leserkritiken "Bessere Zeiten", Berlin
Alexander Vaassen: Bessere Zeiten, Theater O-Tonart, Berlin (Regie: Alexander Vaassen)

Von Sascha Krieger

Was machen Schauspielstudent*innen in den Sommerferien? Klar: Sie spielen Theater. Zumindest gilt das für vier von ihnen, die gerade ihr zweites Jahr an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” hinter sich haben. Alexander Vaassen gehört zu diesem Jahrgang, er hat Bessere Zeiten geschrieben und inszeniert, drei seiner Kommiliton*innen als Darsteller*innen gewonnen, dazu kommt eine Studentin des Fachbereichs Puppenspiel, die bereits eine Schauspielausbildung hinter sich hat. Ein kleines Sommerprojekt, bei dem man sich ausprobieren und, was man im Fußball Spielpraxis nennen würde, sammeln kann? Nein, das wäre viel zu einfach. Stattdessen überrrascht Vaassen im Programmheft mit einem Appell für ein neues Theater, ein Theater der Verständlichkeit, das die gesellschaftlichen Zusammenhänge aufdeckt, die kapitalistische Konsummaschinerie, die längst auch die Kunst in ihrem Würgegriff habe, entlarvt und aufdeckt, an welchen Schnüren wir alle zappeln. Das ist nahe an Bernd Stegemanns Realismusbegriff, der denn auch im Programmheft nicht fehlen darf. Mehr Ambition geht kaum.

Doch dann blickt man auf das Stück und treibt sich verwundert die Augen: Ein Konversationsdrama haben wir vor uns, zwei Paare, eines erfolgreicher gehobener Mittelstand, das andere prekäre Künstler-Ehe. Man trifft sich jede Woche und hat sich doch schon längst nichts mehr zu sagen. Schnell brechen Konflikte auf, versagen die Verdrängungsstrategien, bröckelt die Fassade, bis sie einstürzt. Es ist ja schon fast langweilig, diesen Vergleich anzustellen, aber hier schreit alles: Yasmina Reza! Das dürfte auch Vaassen aufgefallen sein, also dreht er die Plot-Schraube noch ein bisschen weiter. Natürlich hat man sich schon gegenseitig betrogen, einer der Freunde hat den anderen einst aus der gemeinsamen Firma gedrängt und bietet ihm jetzt Geld für Sex mit der Frau. Am Ende nimmt er Rezas Der Gott des Gemetzels wörtlich und veranstaltet ein solchen. Nicht aber, bevor das gemeine westliche Mittelstandsleben mit einer Hybrid-Schallplatte verglichen wurde: zwei Plattenhälften aufeinandergeklebt. Disparates ohne Mitte. Wir Wohlstandsnachjager und -verweigerer leben, als würden die südamerikanischen Ureinwohner ihre spanischen Schlächter selbst zu sich einladen. Starker Tobak.

(...)

Was den Abend dann doch immer wieder zumindest kurzzeitig rettet, ist das Ensemble, das sich lustvoll in jede Wendung wirft und auch das Abgründige stets mitdenkt. Am stärksten bleibt mit Vincent Redetzki einer in Erinnerung, der umfangreiche Film- und Theatererfahrung (als teenager spielte er mehrfach bei Falk Richter) mitbringt. Seine fiebrige Nervosität, die wiederholt kippt – in Resignation, kindischen Trotz, groteske Verzweiflung – erzählt mehr von der Fragilität postmoderner Lebensentwürfe, von denen man halb spürt, dass sie auf Sand gebaut sind, und die man doch nicht loslassen kann, weil man keine Alternative weiß. Busch-Rektor Wolfgang Engler schreibt im Programmheft: “Man kann nicht sehen, was man nicht sieht. Nicht sehen zu wollen, was man nicht sehen kann ist das Drama des mittleren Bürgers”. Es ist in Redetzkis Spiel wie auch in denen Tabitha Frehners und Laura Waltz’, ja sogar in Augenblicken des Stinkstiefels Levin, dargestellt von Daniel Séjourné, dass diese Bodenlosigkeit zwischen Plattenstapeln und Ledersofa fühlbar wird. Da wird dann auch die Wurst, welche die Gastgeber reichen – Wurst, nicht mehr, eigentlich auch ein nettes Bild – zur Metapher für das Durchwursteln, die Wurstigkeit, die dünne zivilsatorische Fassade des hier Verhandelten. “Ich hoffe, die Wurst schwitzt nicht”, heißt es am Anfang. Vielleicht wäre es besser, sie täte es.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/30/ich-hoffe-die-wurst-schwitzt-nicht/
Leserkritik: Der Ignorant und der Wahnsinnige, Salzburger Festspiele 2016
In 24 Stunden war alles vorbei!

Bernhards "Der Ignorant und der Wahnsinnige" bei den Festspielen in Salzburg

Nur dafür von Aachen nach Salzburg? Hatte zu Hause Peymanns (* 7. Juni 1937) Inszenierung aus dem Jahr 1972 auf DVD mit Angela Schmid (Königin der Nacht), mit Ulrich Wildgruber (Vater), mit dem jungen Bruno Ganz (* 22. März 1941) als Doktor, Maria Singer (Frau Vargo), Otto Sander (Kellner Winter) immer wieder angesehen. Peymann ließ wohl Bruno Ganz einen intellektuell arroganten manchmal aber fast auch sakralen Sprachausdruck wählen, arm an Gesten, die Sprache aber wie ein Seziermesser führend.
Gerd Heinz, gerade einmal drei Jahre jünger als Peymann, in einem anderen Jahrhundert und zuletzt von der Opern-Regie kommend, spricht vom „Ausdruck der Schizophrenie einer Kultur, die sich von aller Natur losgesagt hat. Und wir erleben ein artifizielles Sprachspiel, eine Oper für Schauspieler, die nicht nur lustvoll die Zauberflöte dekonstruiert und parodiert, sondern die es schafft, den trockenen Inhalt eines Pathologiebuches in Arien zu verwandeln und das gesamte Sprachmaterial des Stückes mit Mitteln der musikalischen Rhetorik strukturiert und so der Molltonart der Dunkelheit die Durtonart der gelungenen Dichtung, des heiteren Musizierens an die Seite stellt.“ Dafür wurde in Sven-Eric Bechtolf (*1957 und fast doppelt so alt wie 1972 Bruno Ganz)) in der Rolle des Doktors der passende Darsteller gefunden. Opulent die Sprache, gestenreich sein Spiel, das ihn manchmal in einen Rausch geraten lässt.
Die Frankfurter Rundschau vom 15. August hält Sven-Eric Bechtolf vor, er entwerfe „einen Doktor, der illustrativ bis in die allerletzte Geste selbst die zynischen Weltbeschreibungen auf Gartenzwerggröße herunterbricht.“
Etwas versöhnlicher in der Nachtkritik vom 14.08.20016: „ … nach der Pause quasi eine 180-Grad-Drehung, wenn plötzlich das Gallige, das Angriffige durchschlägt. Kinder und Narren, auch Wahnsinnige sagen die Bernhard'sche Wahrheit ... An seinen Lippen hängt Christian Grashof als Vater der Sängerin. Mit Fingern und Händen zeichnet er nach, was er vor dem blinden Auge zu sehen meint, mit den Lippen formt er die Rede des selbsternannten Anatomie-Kunstmenschen nach. Wie aufgestaut platzen die einzelnen Wörter und Sätze aus ihm heraus. Das muss einer auf Langstrecke so konsequent und dicht durchkriegen!“
Die Neue Züricher Zeitung vom 16.08.2016: „Letztlich war es aber auch egal, wie der Regisseur dieses Spiel um künstliche Kunst und menschliche Vergänglichkeit deutet, denn im Mittel- und Vordergrund stand ohnehin nur einer: Sven-Eric Bechtolf als Doktor – und mithin als der «Wahnsinnige» [Anmerkung vom Leserbriefschreiber: Der Ignorant] – hat sich in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter der Festspiele nochmals einen Herzenswunsch erfüllt und ist als Schauspieler zurückgekehrt ins Theater. Wer ihn dort vermisst hat, bekommt hier die geballte Ladung seines Könnens serviert, das vor allen Dingen darin besteht, an selige Bühnenzeiten zu gemahnen, da die Rampensau noch eine höchst angesehene kulturelle Persönlichkeit war.“ Eine Rampensau, die beim Schlussapplaus von meiner Nachbarin, einer Salzburgerin in der ersten Reihe, ein dreifaches „Hurra“ zugerufen bekam. Man hoffe, ihn weiter auch als Schauspieler sehen zu dürfen.
Die Frankfurter Allgemeine (15.08.2016): „Dafür, dass Gerd Heinz in den vergangenen drei Jahrzehnten hauptsächlich Musiktheater in Szene gesetzt hat, sieht man an diesem Abend erstaunlich wenig von der Zauberflöte.“ Und weiter, so „hat er [der Arzt] leichtes Spiel, einerseits etwa den verdatterten Fastblinden auf einen freien Tisch im Gastronomietempel zu knallen und eine Vivisektion an ihm vorzutäuschen oder andererseits mit der Koloraturmaschine einige gewagte Tangoschritte anzudeuten, um sich sodann in die Faust zu beißen, als es ihm nicht gelingt, mit dem Objekt seiner Altherrenbegierde nach Paris zu reisen. Alles viel zu brav, viel zu vorhersehbar.“Ich weiß nicht, was einige Kritiker gesehen haben wollen, was sie über Bernhard und Bechtolf denken, so wie es Gerd Heinz inszeniert, sollte man dieses Stück, das erstaunlicherweise nach seiner Entstehung Endes des Zwanzigsten Jahrhunderts, auch noch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert seine Aussagekraft behalten hat.
„Das Licht ist ein Unglück“, lässt Bernhard den Doktor sagen und wenn er seinen Titelhelden „Bruscon“ im „Theatermacher“ sprechen lässt: „Wie gesagt, in meiner Komödie hat es am Ende vollkommen finster zu sein, auch das Notlicht muss gelöscht sein, vollkommen finster, absolut finster. Ist es am Ende meiner Komödie nicht absolut finster, ist mein Rad der Geschichte vernichtet …“ Bernhard selbst schrieb nach der Uraufführung von "Der Ignorant und der Wahnsinnige": „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus.“
Dass es ausgerechnet der Intendant der Salzburger Festspiele war, der in der Neuinszenierung von Gerd Heinz die zentrale Rolle des “Doktors” übernahm, ist ein doppelter Glücksgriff. Zum einen hat die Versöhnung mit dem bissigen Stück des “Alpen-Beckett” (Zitat: Martin Walser) damit mehr Gewicht. Zum anderen ist Bechtolf nach wie vor ein großartiger Bühnenschauspieler. Mag sein, dass er durch seine Regiearbeiten und Verpflichtungen als Intendant wenig Zeit hatte, seine Sprache zu pflegen, Sprechübungen zu praktizieren und konkrete Bühnenluft zu atmen. Aber mit jeder Zeile Bernhard’scher Wutkaskade kam Bechtolf besser ins Spiel, wurde eins mit Körper und Geste und transportierte diese außergewöhnliche Sprach-Musik punktgenau ins Publikum.
Als das gleissende Licht, vor dem die Bühne mit den Schauspielern wie ein schwarzer Scherenschnitt wirkte, plötzlich erlosch, war ich in der 1. Reihe wie blind. Aber vielleicht wirkte das bei einigen Kritikern in der Loge ganz anders.
Großes Theater!
Leserkritiken: "Othello" im Theaterdiscounter
Othello, Theaterdiscounter

Fabian Gerhardt straffte den Eifersuchts-Klassiker „Othello“ auf 90 Minuten und verteilte alle Rollen auf vier Schauspieler.

Im Mittelpunkt stehen Othello, den Jochen Weichenthal als tapsiges, gutmütiges Riesenbaby anlegt, und seine Desdemona, die von der Mexikanerin Elena Manzö in einem Sprachen-Mix aus Deutsch und Spanisch und im fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium gespielt wird.

Fabian Raabe versprüht als Jago sein intrigantes Gift, schlüpft aber im nächsten Moment in die Rolle der Kurtisane Bianca, die sich im Abendkleid auf Männerfang begibt. Die meisten Rollenwechsel legt Anton Weil aufs Parkett: er glänzt als schnippisch-stolze Emilia, die sich von ihrem Mann Jago vernachlässigt fühlt. Außerdem spielt er den naiven Rodrigo, der in jede Falle tappt, und den alkoholisierten Cassio.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/01/othello-im-theaterdiscounter-mit-udk-absolventen/
Leserkritiken: Until our hearts stop / A song to, Tanz im August, Berlin
"Tanz im August": "Until our hearts stop" (Volksbühne) und "A song to" (HAU)

Die Szenenfolge „zwischen Yoga, Zauberei und Ritual“ hat keinen klaren roten Faden: das Menschen-Knäuel auf der Bühne schlägt sich und verträgt sich wieder, kommt zum Small-Talk ins Publikum, bietet Zigaretten, Wasser und Geburtstagskuchen an und rettet sich in die nächste, oft recht alberne Varieté-Nummer.

Einen besonderen Moment gibt es beim Gastspiel von "Until our hearts stop" an der Volksbühne doch noch: Kurz vor Ende kommt der Schauspieler Kristof van Boven im klassischen Smoking als Conférencier auf die Bühne. Er war seit 2011 in der Ära von Johan Simons im Ensemble der Münchner Kammerspiele, wo das Stück „Until our hearts stop“ im Juni 2015 uraufgeführt wurde, bevor sich Simons zur Ruhrtriennale verabschiedete.

Wie es der Zufall will, stammt van Boven aus Lier, einer Kleinstadt bei Antwerpen mit etwa 35.000 Einwohnern. Der prominenteste Sohn dieses Ortes ist: Chris Dercon, Rotes Tuch für die eingeschworene Volksbühnen-Gemeinde und Adressat mehrerer offene Briefe, seitdem ihn Kulturstaatssekretär Tim Renner als Nachfolger am Rosa-Luxemburg-Platz ausgerufen hat.

Die letzte Spielzeit der Ära Castorf beginnt also mit Sticheleien gegen Kuratoren, Eventbuden und Publikums-Erwartungen, die der belgische Gast von Boven mit Unschuldsmiene und lässig ans Klavier seiner Begleitband gelehnt vorträgt. Der große Jubel am Ende galt wohl vor allem auch diesen süffisant-frechen Bemerkungen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/05/tanz-im-august-endet-mit-a-song-to-und-our-hearts-stop/
Leserkritiken: Furcht und Ekel in der BRD, Marburg
Hessisches Landestheater Marburg - Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute
Ich habe ein Wochenende in Marburg verbracht und noch eine Karte für die Premiere von „Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute“ ergattert. In der Black Box im Marburger Theater war das Publikum ganz nah bei den Schauspielern und damit auch ganz nah bei der Handlung und bei den Emotionen. Es gab Szenen, in denen wir gemeinsam Spaß hatten und laut gelacht haben. Aber es gab noch viel mehr ernste Szenen. Und es gab Szenen, die erschreckt haben. Da ich das Stück von Dirk Laucke vorab gelesen hatte, wusste ich aber in etwa, was mich erwartet. Die gut zwei Stunden dauernde Vorstellung (ohne Pause) verging unheimlich schnell. Es gelang der Regisseurin Fanny Brunner und vor allem auch den Schauspielern, mich zu fesseln, von Anfang an. Die Schauspieler spielten mit einem Engagement und einer Inbrunst, wie ich es selten gesehen habe. Und das trifft auf alle Schauspieler zu, ausnahmslos.
Ganz besonders hervorheben möchte ich die Musik. Dem jungen Musiker Jan Preißler, selbst während des ganzen Stückes auf der Bühne dabei als roter Teufel oder als Narr – das kann man sehen, wie man will – ist es gelungen, das Spiel der Schauspieler durch seine teils wilde, teils aber auch ruhige melodiöse Musik noch zu unterstreichen. Dabei stammen auch die Texte der Lieder aus seiner Feder. Durch die Musik war das Stück für mich rund.
Das war die Premiere. Das Theater war so voll, dass ein Teil der Zuschauer auf den Stufen neben den Stühlen Platz nehmen musste. Dieses Stück ist es wert, dass es auch zu den weiteren Vorführungen gut besucht ist.
Ich kann es nur empfehlen.
Buch. Berlin (5 ingredientes de la vida), Berlin
"BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida)´", Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele

An den Schauspielerinnen und Schauspielern liegt es nicht an: Wiebke Mollenhauer brüllt sich mit spitzen Schreien die Seele aus dem Leib. Benjamin Lillie singt auf Schwedisch. Und auch seine drei Kollegen aus dem DT-Ensemble (Linn Reusse, Jörg Pose und die schon erwähnte Wiebke Mollenhauer) haben tolle Gesangs- und Gitarrensoli.

Einem gelungenen Theaterabend würde nichts im Wege stehen, wenn die Schauspieler einen besseren Text sprechen dürften als diese fünf Bruchstücke von "Fritz Kater" alias Armin Petras.

Ausführlichere Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/25/buch-berlin-tilmann-koehler-inszeniert-am-deutschen-theater-den-text-von-fritz-kater-alias-armin-petras/
Leserkritiken: der thermale widerstand, DT Berlin
Ferdinand Schmalz: der thermale widerstand, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Matthias Rippert)

der thermale widerstand ist ein schwieriger Zwitter: Natürlich birgt das Stück allein sprachlich reichlich komödiantisches Potenzial, lässt es sich natürlich als Satire auf den Selbstoptimierungswahn und den damit verbundenen Zwang, alles müsse einen Zweck haben, auch und gerade der menschliche Körper und seine Pflege, lesen, Aber natürlich ist seiner Grundthese auch ernst gemeint, eine doch recht schlichte Kritik am Turbokapitalismus und seiner Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche. Wo auch immer man den Schwerpunkt setzen möchte: Die Untergründigkeit, der gähnende Abgrund unter den Wortspielen, die Doppelbödigkeit jenseits der rein sprachlichen Ebene, die Schmalz’ frühere arbeiten zumindest zum Teil auszeichneten – hier sucht man sie vergeblich. Matthias Rippert, Regisseur der deutschen Erstaufführung, behauptet sie trotzdem.

Selina Trauns Bühne ist zunächst eine Art Schaufensterfront klaustrophobischer Rückzugsorte, die längst zum Gefängnis sich verbarrikadiert habender Besitzstandswahrer geworden sind. Das biedere Verwaltungsbürochen, die sinnentleerte Schwimmbadandeutung, die leere Sauna – sie sind Schauplatz eines düsteren Psychothrillers mit unheilvoll grollendem Soundtrack, der sogleich zu seiner eigenen Parodie gerinnt. Angespannt und hypernervös schwitzen die grotesken Figuren vor sich hin, eingeschränkt in ihrem Bewegungsrepertoire, mechanisch gesteuerte Puppen ihrer gleichermaßen engstirnigen Weltanschauungen. Spätestens wenn sich Roswitha und Hannes eindrucksvolle anbrüllen, wird klar: In ihrer selbstgefälligen wie selbstsüchtigen Verbohrtheit nehmen sich beide Seiten nichts. Auf die moralische Parteinahme, die sich aus Schmalz’ Text noch herauslesen lässt, verzichtet Rippert in seiner düsteren Farce, die seinen Figuren viel Raum zum Karikieren lässt. Harald Baumgartners sinister schnoddriger Masseur Leon, Michael Goldbergs trauriges Alt-Bademeisterwürstchen Walther, Anne Kulbatzkis immer am Rande der Panik entlangschrammende Roswitha oder Daniel Hoevels fanatisierter Bademeister-Rebell Hannes schaut man gern und mit wachsender Faszination zu. Dass die von Linda Pöppel gespielte Konzernvertreterin in ihrer bizarren Verzerrung und den Logo-Tattoos ein wenig arg abziehbildhaft daherkommt, verzeiht man ebenso schnell wie die Tatsache, dass der Hydrogeologe Dr. Folz, dargestellt von einem arg hibbeligen Thorsten Hierse, hier irgendwie keinen Platz finden will.

Rippert tut gut daran, sich grundsätzlich skeptisch zu zeigen: dem von Schmalz ironisierten Kulturkampf gegenüber ebenso wie der moralischen Ernsthaftigkeit, die immer wieder durch den Text durchscheint. Wenn Hannes Kreidekreis-haft fordert: “Die Bäder denen, die baden gehen!”, lässt Rippert den Satz mit der leeren Phrasenhaftigkeit stehen, die ihm angemessen ist. Der Abend dekonstruiert alle Seiten und stellt eine Horror-Farce auf die Bühne, die Lächerlichkeit und Gefährlichkeit ideologischer Fanatisierung – am Ende gibt es als einzig wirkliches Bad ein Blutbad – gleichermaßen aufzeigt, aber immer auch ein Augenzwinkern bereithält. Am Ende will der thermale widerstand vor allem eines: unterhalten. Und das tut er reichlich in diesen kurzen 60 Minuten. Dass der Erkenntnisgewinn eingeschränkt und die Dekonstruktion des Textes wenig Substanz übrig lassen, ist einkalkuliert und schmälert den Spaß des Zuschauers nicht. Vielleicht muss das Theater auch nicht immer die großen Menschheitsprobleme lösen und reicht manchmal eine streckenweise mitreißende Genreparodie. Vielleicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/01/blutbad-in-phantomscheise/
Leserkritiken: La dictadura de lo cool - Die Diktatur der Coolness, HAU Berlin
"La dictadura de lo cool - Die Diktatur der Coolness" von "La Re-sentida" beim Festival "Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss 100" im HAU 2

Wenn „La-Resentida“ mit seinem Turbo-Brachialtheater auf die Tube drückt, verblassen daneben Castorfs Volksbühnen-Exzesse zu einer zen-buddhistischen Meditation.

In ihrem neuen Abend am HAU lassen sie es über weite Strecken etwas ruhiger angehen, aber ihr Thema ist geblieben: ihre Wut über eine kraftlose linke Boheme, die es sich auf Partys und mit Kunst-Installationen bequem macht, anstatt gegen die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich zu kämpfen.

In Berlin freute man sich besonders über die Darstellung eines neuen Kulturministers, der zugleich ein ambitionierter Kurator ist. Er ist fleißig damit beschäftigt, die Leitung der kulturellen Einrichtungen in neue, am liebsten fachfremde Hände zu legen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/01/aesthetik-des-widerstands-das-hau-erinnert-mit-zwei-auftragsarbeiten-umstrittener-kuenstler-an-den-hundertsten-geburtstag-von-peter-weisss/
Leserkritiken: der thermale widerstand, DT Berlin
"der thermale widerstand", Deutsche Erstaufführung, Box des Deutschen Theaters Berlin

Der 1985 geborene Österreicher, der unter dem Pseudonym Ferdinand Schmalz schreibt, bleibt auch in „der thermale widerstand“ seinem Rezept aus dem „herzerlfresser“ (Premiere in der Box des Deutschen Theaters im November 2015) treu. Er mixt eine saftige Sprache mit grotesken Figuren und mehr als einer Prise Kritik an Auswüchsen des Turbo-Kapitalismus.

Dem neuen Bademeister Hannes (Daniel Hoevels) sind die auf Profit-Maximierung getrimmten Wellness-Center, in denen moderne Großstädter und andere „überlastete Selbstausbeuter_innen“ (Dramaturg Joshua Wicke im Programmheft) den Glücksversprechen hinterherjagen, ein Dorn im Auge. Er möchte, dass im friedlichen Kulturbad alles beim Alten bleibt.

Damit kommt er zwei Frauen in die Quere, die dort den Ton angeben: der Unternehmensberaterin (Anne Kulbatzki, die mit Regisseur Matthias Rippert bereits am Wiener Max Reinhardt-Seminar zusammengearbeitet hat) und der Geschäftsführerin Roswitha (Linda Pöppel mit ihrem Debüt als DT-Ensemble-Mitglied). Hannes ist mit seinen strammen Bademeister-Waden für sie ein unberechenbarer Querbetreiber und kein Schluffi wie die anderen drei Männer, die sie fest im Griff haben: die beiden altgedienten Masseure Leon und Walther (Harald Baumgartner und Michael Goldberg, die auf die komisch-kauzigen Rollen am Deutschen Theater Berlin abonniert sind) und ein Geologe (Thorsten Hierse).

In einer Parodie auf Thalheimers „Medea“-Inszenierung rückt die Wand mit den Waben, in denen die Schauspieler sitzen, stehen oder herumlungern, vor allem aber schwitzen, immer dichter an das Publikum in der ersten Reihe heran. Dazu wummern die Bässe bedrohlich. Klar, dass es für Hannes kein gutes Ende nehmen kann und das Blut nur so spritzt, bis die Übriggebliebenen endlich ihren Traum von einem Tropical Island-Spaßbad umsetzen können.

Die offensichtlich von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ inspirierte Vorlage von Ferdinand Schmalz ist kein großer Wurf, bietet aber dem Ensemble genug Stoff für amüsante Szenen. Kurzweilige Unterhaltung. Die Aufführung dauert nur eine Stunde und ist ein launiger Auftakt für den Start ins Wochenende am Freitag Abend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/01/der-thermale-widerstand-deutsche-erstauffuehrung-am-deutschen-theater-berlin-im-schwitzkasten/
Hedda Gabler, Berlin: Leserkritik
"Hedda Gabler", Schaubühne am Lehniner Platz

Mit „Hedda Gabler“ wurde die Schaubühne am Lehniner Platz zum bisher letzten Mal zum Theatertreffen eingeladen. Elf Jahre liegt die Premiere (25. Oktober 2005) mittlerweile zurück.

An diesem verlängerten Wochenende wurde die Inszenierung wiederaufgenommen und wirkt keineswegs angestaubt. Es ist vor allem der Abend von Katharina Schüttler: ihre Hedda ist ein schnippisches, narzisstisches Ekel. Kühl berechnend hat sie sich Tesman, einen drögen Geisteswissenschaftler im Wollpulli (Lars Eidinger), geangelt. Attraktiv findet sie an ihm nur, dass er eine gut dotierte Professur in Aussicht hat und im Vertrauen darauf schon mal ein luxuriöses Eigenheim mit langen Glasfronten finanzierte.

(...)

Das bekannte, nur leicht aktualisierte Ibsen-Drama nimmt seinen Lauf: bei Ostermeier hat Eilert Løvborg (Kay Bartholomäus Schulze) sein neues Buch auf dem Laptop, den Hedda mit dem Hammer zertrümmert und dann auf dem Grill röstet.

Im starken Schlussbild liegt Katharina Schüttler blutverschmiert im Séparée. Im Salon gehen Brack, Tesman und Thea Elvstedt (Annedore Bauer) achselzuckend zur Tagesordnung über. Tesman und Elvstedt rutschen auf Knien über den Fußboden und versuchen in das Zettelchaos, das Løvborg hinterlassen hat, Ordnung zu bringen. Brack fühlt sich in seiner Lieblingsposition pudelwohl – fläzend auf dem Sofa.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/04/hedda-gabler-mit-lars-eidinger-und-katharina-schuettler-wiederaufgenommen/
Leserkritik: Selbstbeschwichtigung, Berlin
Selbstbeschwichtigung, Turbo Pascal:
Die Gruppe Turbo Pascal, von der ich zuletzt die wunderbaren 'Algorithmen' gesehen habe, hat dieses Jahr über eine Website Schuldgeständnisse und Selbstbezichtigungen gesammelt und ihre Beute jetzt in den Sophiensaelen auf die Bühne gebracht.
Es ist ein runder, kleiner Abend geworden: die über 500 kleinen Beichten sind auf identisch große Kartons ausgedruckt und als begehbarer Zengarten über den Raum verteilt, nach Kategorien geordnet. Die drei Performer durchschreiten diese Beete, pflücken einzelne Aussagen und setzen sich gemessen und ritualisiert damit auseinander. Das ist mal berührend, mal komisch, nie hämisch. Schon nach 60 Minuten endet der performative Teil, das Publikum begibt sich selber auf den Weg der kontemplativen Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen.
Leider ist es so, daß einem viele der Geständnisse bekannt vorkommen, oder sie letztlich banal sind. Ganz sicher die Folge davon, daß die Beträge dann doch aus einer homogenen Gruppe von Mitte-Berlinern kommen, deren erste Welt-Probleme einfach die dramatische Fallhöhe vermissen lassen. Schön aber, daß natürlich das Publikum genau aus diesen Menschen besteht, die etwas verlegen in den Spiegel blicken dürfen. Mir hats gefallen.
Leserkritiken: 2 Uhr 14, Deutsches Theater Berlin
2 Uhr 14, Box des Deutschen Theaters Berlin/Junges DT

Das Stück „2 Uhr 14“ vibriert 70 Minuten lang in der Box des Deutschen Theaters Berlin vor Energie. Sinnbildlich stehen dafür die weißen Lamellen, die fast ständig in Bewegung sind und dem Publikum vor den Augen flirren, bis sie Kopfschmerzen verursachen.

Durch diese Lamellen zwängen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne: sie erzählen von ihren Pubertätsnöten.

Die Bühne gehört diesem Nachwuchs. Die beiden erwachsenen Profischauspieler sind nur die Side-Kicks. Jens Schäfer spielt den Lehrer Denis. Sein Burn-out sitzt ihm in jeder Pore und ist in jeder Szene zu merken. Judith Hofmann, die einzige Schauspielerin aus dem DT-Ensemble, sitzt als bleicher Schatten meist am Rand – mal links, mal rechts, immer von der Trauer um den Verlust ihres Sohnes nach einem Amoklauf gramgebeugt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/09/2-uhr-14-das-junge-dt-ueber-pubertaetsnoete-und-einen-amoklauf/
Leserkritik: Die Brüder Brasch, Berlin
"Die Brüder Brasch", Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin

Nur zwei kleine Tische für vier Personen: So minimalistisch ist das Bühnenbild für die Collage „Die Brüder Brasch“, die am Wochenende wieder in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu sehen war.

Eigentlich sollten dort vier Schauspielerinnen und Schauspieler Platz nehmen. Da aber Simone von Zglincki krankheitsbedingt ausfiel, las neben Daniel Hoevels, Ole Lagerpusch und Katrin Wichmann diesmal Marion Brasch selbst.

Die Radio Eins-Journalistin erzählte in ihrem 2012 erschienen Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ vom Drama ihrer Familie und gestaltete diesen anderthalbstündigen Abend „Die Brüder Brasch“.

(...)

Marion und Lena Brasch bastelten aus Videoeinspielern und Textausschnitten der drei Brüder eine sehens- und hörenswerte Collage, die von der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot musikalisch begleitet wird. Anfangs findet man sich noch schwer zurecht, da der Abend recht unvermittelt mit zwei Figuren aus Brasch-Texten beginnt, die sich gegenseitig anzicken. Erst dann wird das Panorama der drei Brüder klarer und vor allem auch für jene interessant, die sich bisher noch gar nicht oder nicht intensiv mit der Künstler-Familie aus der DDR auseinandergesetzt haben.

Dieser Stoff wäre ideal für ein gemeinsames Projekt des Regie-Duos Jürgen Kuttner/Tom Kühnel, die sich einmal pro Spielzeit am Deutschen Theater in einer Revue mit politisch aufgeladenen Zeitreisen befassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/10/die-brueder-brasch-collafge-in-den-kammerspielen-des-deutschen-theaters-ueber-eine-kuenstlerfamilie/
Leserkritik: Exit Ayahuasca, Ballhaus Ost
Przemek Zybowski: Exit Ayahuasca, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Tobias Yves Zintel)

Gut, beginnen wir mit dem Titel: “Exit” ist der Name einer Schweizer Sterbehilfeorganisation, die auch Deutsche, in deren Land Sterbehilfe jeder Art nach wie vor verboten ist, beim selbst gewählten Freitod begleitet. “Ayahuasca” ist eine der Bezeichnungen für einen stark halluzinogenen Pflanzensud, der von einigen indigenen Stämmen Südamerikas für Heilungs- und und Reinigungsrituale eingesetzt wird. Beide Begriffe bilden die Pole der Rahmenhandlung des abends, wenn man das narrative Fragment um den deutschen Rentner Kurt Widmer so nennen will. Dieser hat mindestens einen Herzinfarkt hinter sich, möchte aus dem Leben scheiden und hat dazu eine Exit-Mitgliedschaft erworben. Die Sterbehilfe wird ihm jedoch verweigert, weil ihm Psychiater nicht bescheinigen wollen, geistig gesund zu sein. Eine von ihnen nimmt ihn dann mit nach Südamerika, wo sie Ayahuasca-Rituale durchlaufen, er eine Todeserfahrung macht und ihr Leben sich grundlegend verändert. Ein Plausibilitätspreis lässt sich mit dieser Geschichte sicher nicht gewinnen, das wird Autor Przemek Zybowski aber kaum stören, schließlich sind ihm Handlung und Figuren weitgehend egal. Er braucht sie nur, um irgendeinen narrativen Aufhänger zu haben, der das Publikum animiert, sich knapp eineinhalb Stunden mit schamanischer (Pseudo-)Medizin zu befassen.

Die eigentliche Hauptfigur ist denn auch nicht Widmer (seltsam aufgekratzt: Johannes Suhm) oder die hyperstoische Ärztin Dr. X (Tamara Saphir), sondern der finnische (!) Schamane, mit vollem Körpereinsatz und meist blanker Brust gespielt von Rasmus Slätis. Er gibt den Conférencier, lädt das Publikum zu Atemübungen ein, um dann das Programm der folgenden “Sitzung” vorzustellen. Die Idee, diese als Rahmen zu setzen und das Publikum damit quasi zu Beteiligten zu machen, vergisst der Abend ziemlich schnell, wie er ohnehin ein wenig sprunghaft und – der Seitenhieb sei erlaubt – kurzatmig daherkommt. Unmotiviert die Übergänge zwischen szenischem Spiel und Erzählebene, die mal aus dem Off, mal von einer der Darsteller*innen absolviert wird, es wird vom Bewusstsein der Pflanzen und der Kommunikation der DNS-Stränge schwadroniert, die Metamorphonse des Schmetterlings wie in einem VHS-Vortrag langatmig erläutert, bis auch der letzte begriffen hat, hey, die Verwandlung der Raupe in die geflügelte Schönheit ist eine Metapher!

Philip Wiegard hat ein hübsches Bühnenbild aus bunten Gummischläuchen gebastelt, die zu Tunneln, Raupenkörpern und gar einem Videoscreen werden. Dazu ein transparenten Schamanenzelt, in dem Steev Lemercier schön esoterisch singt. Regisseur Tobias Yves Zintel arbeitet hart an einer entsprechenden Stimmung, die an einer Stelle in Richtung von Shakespeares Zauberern weist – mit Text aus Macbeth und einer netten Tempest-Anspielung – aber auch das ist so schnell verpufft, wie es kam. Das Magische, Sinnerweiternde, Erfahrungsprengende wird versucht zu visualisieren und endet in Klischeebildern indigener Medizinmänner, zuckenden Körpern und neckischen Metamorphosen im Zusammenspiel zwischen Mensch und Gummischlauch. Die Schulmedizin ist der Feind des Abends: Sie kommt daher als engstirnig totalitäre Disziplinarkommission und als Seil, das ihr Opfer fesselt und an der Entfaltung hindert. Viele Bilder probiert der Abend und durchschreitet dabei das weite Spektrum zwischen plump und hilflos. Und wenn dann am Ende plötzlich eine Metaebene eingezogen wird, die drei Darsteller*innen das gerade gezeigte abfällig als übertrieben abtun, um am Ende durch den langen Raupengang zu entschwinden, dann entfleucht mit ihnen alle vorherige Sinn- und Substanzbehauptung dieses Abends, der in keinem Moment zu wissen scheint, was er eigentlich sagen möchte. Das ist natürlich auch eine Metamorphose.

Quelle: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/14/gib-gummi-schamane/
Leserkritik: Rechte Reden, Gorki Theater Berlin
"Rechte Reden", Studio Я/Gorki

Die Gorki-Kolumnistin Mely Kiyak und Thomas Wodianka, der Experte für Wutbürger-Reden im Gorki-Ensemble, präsentierten im Studio Я einen besonderen Abend: 75 Minuten lang bombardierten sie das Publikum in dem vollbesetzten Raum mit einer geballten Ladung „Rechte Reden“.

Genauer gesagt: Mit O-Tönen aus der AfD. Passagen von Alexander Gauland fehlte zwar, ansonsten war alles vertreten, was Rang und Namen hatte: Frauke Petry, Beatrix von Storch, Björn Höcke. Aber auch Leute aus der zweiten Reihe wurden zitiert: z.B. die Landesvorsitzenden André Poggenburg, Petr Bystron oder Armin-Paul Hampel.

Während Kiyak die Reden eher zurückhaltend vortrug, schlüpfte Wodianka als Parodist in die Rollen der AfD-Politiker. Die Publizistin Liane Bednarz, die sich sehr intensiv mit den verschiedenen Strömungen (klassische Rechtspopulisten und nationale Rechte) befasste, zollte ihm im anschließenden Nachgespräch Respekt, wie präzise er die Gestik und Mimik von Bystron getroffen habe.

Die szenische Lesung war so aufgebaut, dass Kiyak und Wodianka zunächst Statements von Pressekonferenzen oder den großen Pegida-Kundgebungen in Dresden oder vor dem Erfurter Dom zitierten. Danach folgten Ausschnitte aus Kyffhäuser-Reden, wo die AfD-Vertreter unterhalb des Radars öffentlicher Aufmerksamkeit noch ungeschützter über ihre Ziele redeten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/14/rechte-reden-performance-aus-afd-zitaten-im-gorki-studio/
Leserkritik: Kein Ort.Finsternis, Hamburg/Berlin
Frei nach Motiven von Christa Wolf: Kein Ort.Finsternis, LICHTHOF Theater, Hamburg / Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Anne Schneider)

Die Realität ist für die Leidenden verzerrt, der feste Boden des Faktischen zu einer bedrohlichen Kippfigur geworden. Wie das dreidimensional verbogene Quadrat aus Holzlatten, das den Mittelpunkt der Bühne (Ausstattung: Giulia Paolucci) bildet. Die vermeintlich so klar strukturierte Welt ist eine ins Rutschen geratene. Man kann sich vorsichtig auf ihr entlang robben, hochklettern und absteingen, vielleicht auch einmal vorsichtig balancieren – festen Halt gibt sie nicht. Zumal das Bretterkonstrukt zuweilen auch die Anmutung von Gitterstäben gewinnt. Die Welt als Gefängnis – keine ganz originelle Metapher für depressive Zustände. Kleist (bis zur Teilnahmslosigkeit sachlich: Rainer Strecker) und Günderrode (sehr dominant und überraschend optimistisch auftretend: Judith Rosmair) bewegen sich auf ihr und außerhalb, die versuchen sich in der Realität zu halten und kommen doch auch außerhalb ihrer ins Schwanken. Die restlichen vier Darsteller*innen sind mal die gesichtslose Gesellschaft, dann wieder die innere Dämonen der Gepeinigten. In sparsamen, von Victoria Hauke erarbeiteten, Choreografien suchen die Körper krampfhaft Bewegungsraum zu finden, später gar mit einander zu kommunizieren und kommen doch nicht heraus aus ihren Korsetten. Eindrucksvoll Haukes sich windendes physisches gegen sich selbst Ankämpfen auf einer Plattform mit Bodenmikrofon. Da wird der Körper und das Scheitern an der Welt und der eigenen Inkompatibilität mit dieser, die aus ihr und durch ihn spricht, zum Instrument, die Depression zu non-verbaler Sprache, das Leiden zu Klang, das Nichtakzeptierte zu greifbarer Realität.

Ein zwingend eindringliches Bild, das Episode bleibt, wie auch die körperliche ebene meist Beiwerk ist. Denn der Abend ist vor allem eines: Sprache. Das ist per se nicht schlecht, schließlich liefert Christa Wolfs vielschichtige Prosa durchaus ein komplexes, von Untiefen nur so strotzendes Spielfeld, das Schneider, Strecker und Rosmair leider viel zu oft links liegen lassen. Die Unmittelbarkeit, die Hauke erzeugt, findet sich im Rest von Kein Ort.Finsternis kaum. Auch, weil sich der ausführlich gesprochene, meist distanziert rezitierte und kaum gespielte Text, immer wieder gegen seine Interpretation stäubt. Denn die Geschichte der Unangepasstheit zweier unabhängiger Geister, ihr Zweifeln am Selbst und Ringen mit der Welt ist bei Wolf eben keine der Depression, auch wenn sich in beiden Hauptfiguren sicherlich Züge depressiver Erkrankungen erkennen lassen. Und so entweicht irgendwann der thematische Rahmen kaum merklich, emanzipieren sich Text und Sprache von ihrer Reduktion auf die eine Ebene, ohne dass sie den Raum erhalten, auch einmal um die Ecke zu schauen. Das Ergebnis ist eine gewisse Blutleere, die der thematisierten Krankheit nicht unangemessen ist, um sich selbst aber nicht so recht zu wissen scheint. Das Lachen, das am Ende durch die Finsternis klingt, ist kein Erhellenden, sondern ein aufgesetztes, ein falscher Hoffnungsschimmer, auch weil es nichts mehr hat, wogegen es anrennen kann.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/17/das-kippen-der-welt/
Stören, Berlin: Leserkritik
Sina Gürler und Ensemble: Stören, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Sina Gürler)

Die Frau als Objekt, als Betrachtetes, Bewertetes, Einzuordnendes. Darum geht es in Stören, der ersten Regiearbeit Sina Gürlers auf der “großen” Gorki-Bühne nach mehreren Arbeiten mit dem Jugendclub “Die Aktionist*innen” des Theaters. Sechs Darstell*innen wühlen, kämpfen, schlagen sich durch individuelle wie kollektive Erfahrungen: der breitbeinig im U-Bahnwagen sitzende Mann, die objektifizierenden Blicke, die sexistischen Sprüche, das Gefühl, nicht zu genügen, die Gesellschaft, die der Frau die Verantwortung zuschreibt, die angst, die aus jedem Mann ein potenzielles Monster macht, die Schwierigkeit, sexuelle Belästigung als solche zu sehen. “Warum habe ich eigentlich so lange gebraucht zu begreifen, dass das Grenzüberschreitungen sind”, fragt eine. Am Ende der leeren Bühne ist eine halbhohe Mauer aufgestellt. Diese zu erklimmen, bereitet Mühe. Immer wieder rennen die Darsteller*innen gegen sie an scheitern, versuchen es wieder, bis sie oben sind. Irgendwann sind sie oben, alle, sich ihrer selbst bewusst, ihrer Stärke, ihrer Schwächen, ihres Potenzials.

Und drehen den Spieß um: Mit einiger Wut und einem gehörigen Schuss an beißend spöttischem Humor stellen sie den Sexismus des alltags aus, sie stellen Szenen nach, probieren Rollen aus und wechseln die Perspektiven. Etwa in der unglaublich intensiven Passage, in der die einzige Trans-Darsteller*inn ihre Identitätsreise in Stenoform von den anderen Spieler*innen vortragen lässt. “Ich will halt nicht als Frau gelesen werden, sondern als Ich”, heißt es da. “Ich will eindeutig uneindeutig sein.” Ein Wunsch, nein, eine Forderung, welche die anderen durchaus teilen. Die Raus wollen aus Rollenzuschreibungen, raus aus den Schubladen und einfach nur rauf auf die gleiche Ebene, mit denen, die diese Zuschreibungen vornehmen. Jene, die die Angst erzeugen, sie denen, die sie zu Opfern machen, einimpfen und sich am Ende als Beschützer aufspielen. Die nicht nachdenken, was sie tun, und damit soviel anrichten. “Sollen jetzt die Typen anfangen zu denken oder hörst du damit auf?”, lautet die Schlüsselfrage. Sie bedarf keiner Antwort.

Stören ist eine 75-minütige Tour de Force durch die Abgründe alltäglicher Welterfahrung, der Frauen und Mädchen jeden Tag ausgesetzt sind, unbemerkt zuweilen gar von sich selbst und fast immer von denen, die sie umgeben, die ihnen einreden wollen, es läge an ihnen, etwas dagegen zu tun. Der Abend ist ein Erkenntnislabor, ein Akt des Widerstands, ein trotziges Aufbäumen widerspensitiger Selbstbehauptung. Stellvertretend erobern sich diese sechs Spieler*innen zwischen 18 und 24 diese Bühnen, die die Welt ist oder zumindest Deutschland, machen sie zu ihrem Ort, ihrem Diskurs-, Reflexions- und Spielraum, zu ihrem Erfahrungslabor und zum Spiegel, den sie uns, dem Publikum, der Gesellschaft vorhalten. Und was sehen wir darin: Eine Welt, die längst zum alltäglichen Spießrutenlauf geworden ist, derer, die das herrschende zum “schwachen” Geschlecht auserkoren hat, derer, die ringen mit den Rollen, die ihnen gegeben sind, und die aus diesen ausbrechen. “Einfach ein bisschen größer denken”, fordern sie zum Schluss, wollen sich nicht mehr klein machen lassen, sich nicht verbergen und verbiegen. Sie erklimmen die Mauer, richten sich auf und springen hinab. In die Welt, die sie zu ihrem Ort zu machen entschlossen sind. Wie? Keine Ahnung. Am besten einfach etwas größer denken.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/20/einfach-ein-bisschen-groser-denken/
Leserkritik: Imitation of Life, HAU Berlin
Kornél Mundruczó / Proton Theatre: Látszatélet / Imitation of Life, Proton Theatre, Budapest / Wiener Festwochen / Hebbel am Ufer, Berlin / Theater Oberhausen (Regie: Kornél Mundruczó)

Regisseur Kornél Mundruczó, der in seinen Arbeiten das moderne Ungarn als Psychothriller, als subtile Horrorstory erzählt, nimmt sich hier zurück. Er lässt die Augen seiner Protagonistin erzählen, ihre Stimme, geht nah heran, zu nah fast, bis aus dem klaren Blick wieder nur ein Fragment geworden ist. Wenn sich der Blick weitet, die Leinwand fällt, bleibt die enge. Eine verlebte Wohnung mit hohen Fenstern, bröckelndem Putz und den Überresten von Jahrzehnten Lebens hat Márton Ágh gebaut, zwei kleine, nicht getrennte Räume, Hort kleiner Träume, die hier wenig mehr tun können als ersticken. Wenn die Leinwand hochfährt, ist die Energie der alten Frau versiegt. Sie strauchelt, sinkt zusammen, der Mann ruft einen Notarzt und muss hören, dass "solche Fälle" keine Priorität haben. Alltagsrassismus in seiner klarsten Form. regen fällt, aus dem Nebel der Erinnerung schälen sich Bilder, der letzte Kontaktversuch der Mutter mit dem sie verleugnenden Sohl. Dann kippt die kleine Welt. Der nun leere Bühnenraum beginnt sich zu drehen, die Möbel geraten ins Rutschen, Küchenschränke geben ihren Inhalt preis, altes Spielzeug verteilt sich im Raum, Elektrogeräte hängen nur noch an ihren Kabeln. Das Leben wird zum Trümmerfeld, zur Müllhalde, auf der sich alsbald eine alleinerziehende Mutter einrichten Muss, zur Unterschrift genötigt vom gleichen Vertreter der Macht, der zuvor der Mutter zusetzte.

Ganz am Ende kehrt die Leinwand wieder. Da ist es die Handykamera eines kleinen Jungen, Sohn der neuen Bewohnerin, die ein Gesicht einfängt. Ein jüngeres und doch gezeichnetes. es ist das des verlorenen Sohnes, der zurück ist in der Wohnung der nun toten Mutter, wobei diese Rückkehr, auf Videowänden links und rechts des nun offen sichtbaren Bühnenraums projiziert, irgendwo zwischen (Alb-)Traum, Geistergeschichte und Zeitreise anzusiedeln ist. Vielleicht gehört dieses Gesicht einem Gespenst, einer Körper gewordenen Anklage, die nun stumm in die Kamera schaut. Längst ist die große Videowand wieder heruntergefahren, das Gesicht nurmehr Projektion. Auf ihm erscheinen Worte, eine Geschichte, die so im vergangenen Jahr in Budapest passiert ist. Da wurde ein junger Rom mit einem Schwert angegriffen und schwer verletzt. Der Täter, der, so mutmaßte man, aus rassistischen Motiven handelte, entpuppte sich ebenso als Rom.

Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will. Und hinhören: Das leblose Lärmen des sich über die Bühne ergießenden gelebten Lebens, des Übriggebliebenen von denen, die längst vergessen sind, vergessen werden sollen – es ist kaum zu ertragen. Die tödliche Kälte einer Macht, die Menschen gegeneinander ausspielt, die Diskriminierung als Instrument ihrer eigenen Sicherung und Vermehrung nutzt, sie ist zu fühlen. Wenn der Regen fällt, wird es kalt im Raum, greift so mancher Zuschauer zur Jacke. Sie wärmt nicht angesichts dieser Miniatur des Leidens, dieser kalten Selbstverständlichkeit der Ausgrenzung, des ineinandergestürzten, zusammengefallenen Lebens. Der Witz des Beginns ist eisiger Starre gewichen, der finale Blick des jungen Mannes leer, geschlagen, besiegt, aussortiert. Die Wut, die dieser Anblick erzeugt, verweigert der Abend. Er zwingt sie dem Zuschauer auf und lässt ihn damit allein. Das ist nicht angenehm und darf es auch nicht sein. Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer. Großen Theater kann das.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/29/ausgekipptes-lebens/
24+, Berlin: Leserkritik
Russischer Theaterfrühling: "24+" (Teatr.doc aus Moskau zu Gast im Theaterforum Kreuzberg)

Besonders gespannt durfte man auf das Stück „24+“ sein: erstens wurde es im Programmheft als das „wohl meist diskutierte Stück der russischen Theater-Saison“ angekündigt, zweitens stammt es vom Teatr.doc, das mit experimentellen, Putin-kritischen Stücken seit 2002 für Wirbel sorgt und immer wieder mit Schikanen des Staatsapparats zu kämpfen hat.

Michail Ugarow, künstlerischer Leiter und Mitbegründer des Theaters, entwickelte mit seinem sehr jungen Ensemble und Meisterschülern der Moskauer Schule für Neues Kino einen Abend über eine „ménage à trois“.

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In langen Monologen, die während des fast zweistündigen Stücks meist frontal auf Stühlen ins Publikum gesprochen werden, verhandeln die jungen Großstädter ihre Beziehungsprobleme zwischen Experimentierfreude, Wut, Eifersucht und Scheitern. Mit russischer Simultanübersetzung und recht assoziativ nimmt dies seinen Lauf.

Am Rande wird eine Bemerkung über den Kampf für die Meinungsfreiheit eingestreut, den ein befreundeter Blogger des Trios führt. Ausführlicher sprechen die drei Hauptfiguren darüber, dass sie mit dem Leistungsdruck einer Gesellschaft, die ein „Schneller, höher, weiter“ fordert, und den propagierten Rollenbildern von Männlichkeit unzufrieden sind.

„24+“ ist ein interessanter Einblick in das aktuelle Schaffen der russischen Theaterszene, für Berliner Verhältnisse – vor allem gemessen an den Ankündigungen – jedoch enttäuschend konventionell geraten.

Komplette Kritik:https://daskulturblog.com/2016/11/01/24-das-teatr-doc-aus-moskau-zu-gast-in-berlin/
Leserkritiken: Caligula in Basel
"Caligula" im Theater Basel, Schauspielhaus

Die Bühne im Schauspielhaus Basel ist auf ein kleines Dreieck zusammengeschrumpft. Auf engstem Raum und fast ohne Requisiten inszeniert der italienische Regisseur Antonio Latella den „Caligula“ von Albert Camus als Kammerspiel.

Thiemo Strutzenberger ist in der Titelrolle ein früh gealterter, schwermütiger Mann, der in den Abgrund blickt und alle um sich herum mit in die Tiefe reißt. An diesem Abend ist deutlich zu spüren, in welchem historischem Kontext Camus dieses Drama schrieb: eine erste Fassung erarbeitete zu Beginn des 2. Weltkriegs bis 1941, die Endfassung wurde noch düsterer und 1945 in Paris uraufgeführt.

Strutzenbergers „Caligula“ ist ganz anders als der Springteufel Max Wagner in der Inszenierung des Münchner Volkstheaters von 2o14. Fast schon apathisch steht er in dert Szenerie und befiehlt ganz beiläufig die Enteignung der Patrizier und die Ermordung seiner Freunde und Gegner.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/12/caligula-von-albert-camus-als-melancholisch-philosophisches-kammerspiel-in-basel/
Leserkritik: Cabaret, Magdeburg
Cabaret / Premiere am Theater Magdeburg
Kurze Rückmeldung nach der Premiere am 12.11. in Magdeburg: Ich habe dieses Musical noch nie so düster, Brecht-like und politisch gesehen. Eine herausragende Inszenierung auch für Musical-"Hasser". Und eigentlich ein Muß für alle Populisten und deren Anhängern derzeit....
Leserkritiken: "Unter Eis" in der Schaubühne Berlin
"Unter Eis" von Falk Richter, Schaubühne am Lehniner Platz

Nach längerer Zeit ist im Saal C der Schaubühne wieder Falk Richters Frühwerk „Unter Eis“ zu sehen. Das Stück stammt aus dem Jahr 2004: Gerhard Schröder setzte damals gegen Proteste aus der eigenen Partei und die Montagsdemos seine „Agenda 2010“ mit Hartz IV durch, bevor er ein Jahr später abtreten musste. Fast in jeder Talkrunde von Sabine Christiansen wurde darüber debattiert, wie man die „Deutschland-AG“ für den Weltmarkt fit machen könne. Die öffentliche Debatte wurde von den Sprechblasen der Unternehmensberater dominiert.

Falk Richter und sein Dramaturg Jens Hillje ließen ihre drei Schauspieler Thomas Thieme, Mark Waschke und André Szymanski an einem langen Konferenztisch mit Hochglanz-Glasfläche Platz nehmen. Das Publikum wird mit den Worthülsen des McKinsey-Sprechs bombardiert, dazwischen liest Thomas Thieme längere Monologe der Hauptfigur Paul Niemand: mit Mitte 40 spürt er den Atem der ehrgeizigen Schnösel in seinem Nacken und blickt zurück auf sein bisheriges Berufsleben: sein Hetzen von Gate zu Gate, von Termin zu Termin. Jetzt hat er den Abstieg vor Augen: statt London, Paris, New Yorkl nur noch Bremen, Kiel, Oldenburg, Fürstenfeldbruck. Er bleibt einfach sitzen, als sein Name am Flughafen ausgerufen wird.

Falk Richter gelang es in diesem Stück am Beginn seiner Karriere noch nicht so gut, seine Stoffe zu einer so packenden Gesellschaftsanalyse wie in „Never Forever“ oder „Fear“ zu verdichten. In der ersten Stunde wird zu frontal und mit zu wenig Reibung der Manager-Sprech heruntergebetet. Im letzten Drittel wird Jan Pappelbaums Bühne von Video-Einspielern glatter Wolkenkratzer-Fronten überschattet, André Szymanski übt sich in einer längeren Szene als Robbe und quält sich über die Eiswürfel auf der Tischfläche.

Die titelgebende Metapher „einer Katze, die aus einem hohen Gebäude geschleudert einer zufrierenden Wasserfläche entgegenfällt, bevor sie in ewiger Erstarrung fossilisiert“ fand der Deutschlandfunk-Kritiker schon nach der Premiere zurecht etwas angestrengt.

Im Programmheft wird Marc Bauder gedankt: Er ist ein sehr genauer Beobachter der Parallelwelt hinter den Glasfassaden. Vor kurzem war in der ARD sein Film „Dead Man Working“ zu sehen, vor allem lohnt sich sein Dokumentarfilm „Master of the Universe“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/19/unter-eis-falk-richters-unternehmensberater-portraet-an-der-schaubuehne/
Leserkritik: Körper, Berlin
"Körper" von Sasha Waltz & Guests im Haus der Berliner Festspiele

Diesem Stück eilt ein Ruf voraus: „Körper“ von Sasha Waltz & Guests ist die erfolgreichste Inszenierung der Choreographin und gastierte in vielen Städten weltweit. Dieses Stück war im Januar 2000 eine der beiden Eröffnungspremieren der neuen Leitung der Schaubühne am Lehniner Platz war, die Sasha Waltz damals gemeinsam mit Thomas Ostermeier und Jens Hillje übernahm.

„Körper“ wurde damals gleich zum renommierten Theatertreffen eingeladen und sorgte wohl vor allem deshalb für Furore, da es einen starken Bruch mit der Schaubühnen-Tradition von Peter Stein und Andrea Breth markiert.

Wie wirkt das Stück heute? 16 Jahre nach der Premiere an der Schaubühne und 6 Jahre nach der letzten dortigen Aufführung ist diese Arbeit wieder in Berlin zu erleben – allerdings nach einem Zerwürfnis zwischen Thomas Ostermeier und Sasha Waltz nicht am Ort der Uraufführung, sondern im Haus der Berliner Festspiele.

Das Stück hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Sicher gelingen den 13 Tänzerinnen und Tänzern einige starke Momente.Insgesamt fehlt der Arbeit der rote Faden. Assoziativ kreist „Körper“ um sein Thema und reißt einige Facetten an. Es geht um den Marktwert von Körpern in der Werbung, springt weiter zum Organhandel und kehrt immer wieder zur Orientierungslosigkeit des Individuums in einer unübersichtlicher gewordenen Welt zurück, wie sie schon oft in Choreographien und Performances beschrieben wurde.

Sasha Waltz verzichtete im Gegensatz zu anderen Arbeiten bewusst auf eine stringente Erzählung, bietet stattdessen kurze Szenen und Splitter, die für vielfältige Interpretationen offen sind. Zwangsläufig läuft der knapp 80minütige Abend Gefahr, zu sehr zu zerfasern.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/25/koerper-die-beruehmte-choreographie-von-sasha-waltz-ist-zurueck-in-berlin/
Leserkritiken: Affe, Neuköllner Oper
Nur ganz kurz: gestern abend 'Affe' in der Neuköllner Oper gesehen. Herrlich! Gut arrangiert, gesungen, getanzt und gespielt, mit viel Energie und alles live. Die Rahmenhandlung ist ausgesprochen clever und daher nicht einfach nur eine beliebige inhaltliche Verknüpfung von Erfolgsliedern, sondern in sich überzeugend. Ich war also aufs angenehmste überrascht und wurde (wie auch meine Teenager-Kinder) gut unterhalten.
Leserkritiken "König Ubu", DT Berlin
König Ubu, Deutsches Theater Berlin.
Lange nicht mehr so befreiend gelacht, die Groteske 'König Ubu' wird von András Dömötör und seinem Team auf angemessene Weise inszeniert: immer voll in die Fresse. Das Tempo ist hoch, die Spielfreude zu greifen, unglaubliche Mengen an Ideen aus Populär- und Gamingkultur, und dabei dennoch immer ein glückliches Händchen, die Motive und Zwischentöne auszuarbeiten. Es ist teilweise ungeheuer plakativ und vulgär, aber die Schauspieler schaffen es immer, sauber umzuschalten, die Facetten zu zeigen. Für mich große Kunst.
Und außerdem: keine Angst vor niemand! Wenn man schon die Bühne hat, kann man es auch raushauen und nicht nur das eigene Spielzeitmotto, sondern auch das deutsche Theater, das Deutsche Theater, sich selber, das Ensemble und Ulrich Matthes ('Man stirbt nicht auf der Hinterbühne!') ordentlich durch den Kakao ziehen. Bevor dann die ganze Riege aktueller Rechtspopulisten als Pappkameraden ihr verdientes Schicksal erleiden ("Skandal!", Zeitungsname einsetzen). Kluges und witziges Theater, mehr davon!
Leserkritik: Dantons Tod, Berlin
Georg Büchner: Dantons Tod, Schaubühne am Lehniner Platz (Studio), Berlin (Regie: Peter Kleinert)

Von Sascha Krieger

Die Revolution ist ein Rocksong. Punkrock, um genau zu sein, oder doch besser eine schöne Bluesnummer? Wie wäre es mit etwas Elektropop? Ach ja, ein Klavier ist auch da. Sprechen wir doch einfach durch die Musik. Was, die Angebetete versteht “Ich liebe dich wie mein Grab” nicht als Kompliment? Moment, schnell die Gitarre hervorgeholt, einen Song geschrieben und schon sagt sich alles viel besser. Und selbst wenn die Angesprochene noch immer schmollt – dann haben wir immerhin einen coolen Song gehört. Und schreit “French Revolution 1989” nicht gerade nach einem Rap oder einem schmissigen Gitarren-Riff? Neun Studierende der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” versuchen sich an Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod und machen es zum Rockkonzert. Mit zuweilen mehr Enthusiasmus als Talent – das Gitarrenspiel Jonas Dasslers oder die Klavierkünste Esra Schreiers mal ausgenommen – schrammelt man sich durch Gesellschaftliches und Persönliches. Die Idee, den zaudernden Danton jedesmal zur Gitarre greifen zu lassen, wenn er eigentlich handeln sollte, ist nett, Musik als eskapistische Verweigerung einer Entscheidung, einer Handlung, einer Parteinahme. Das ist hübsch gedacht und wäre um einiges wirksamer, wenn der Abend diese Bewegung nicht selbst nachvollzöge.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/12/06/terror-glutenfrei/
Leserkritik: Dantons Tod, Schaubühne Berlin
Dantons Tod, Schaubühne/Studio

Das Rededuell zwischen Danton und Robespierre darf auch in dieser Büchner-Inszenierung, die ansonsten oft sehr frei mit der Vorlage umgeht. Der Abend ist als Rockkonzert mit Schlagzeug, Keyboard und E-Gitarre angelegt und unterhält sein Publikum mit einem Stil-Mix aus Blues, Rap, Punk und Pop.

Manches wirkt noch etwas ungeschliffen und fahrig, nicht jeder Übergang zwischen Musikstück und Schauspiel-Text sitzt. Vieles scheint im spielerischen Proben-Rausch spontan erfunden und zu einer Revue zusammengepuzzelt. So dürfen Monika Freinberger und Lola Fuchs als Glamour-Girls durch den Abend zicken. Ihre Revolutionärs-Gattinnen Lucie und Camile erinnern eher an Spielerfrauen von Fußball-Promis als an Büchners Charaktere.

„Dantons Tod“ fehlt auch die Stringenz von Peter Kleinerts letzter Arbeit „Die Mutter“ an der Schaubühne, für die vor allem Ursula Werner als ruhender Pol und strenge Mutter der Kompanie sorgte. Auch wenn noch nicht alles perfekt ist – und wie könnte es das auch im 3. Studienjahr bereits sein – hat der Abend den Charme des Unfertigen mit einer coolen Truppe, der man gerne zusieht. „Dantons Tod“ ist ein Spaß für alle Beteiligten: für das Publikum wie für die Spieler auf der Bühne.

Als Hausherr Thomas Ostermeier 2001 kurz nach dem Start seiner Intendanz an der Schaubühne „Dantons Tod“ inszenierte, rümpfte Andreas Schäfer in der Berliner Zeitung die Nase, dass er „hauptsächlich abgestandenes Mineralwasser“ angeboten bekam. Mineralwasser ist diese neue Inszenierung auf der Studiobühne sicher nicht, eher ein kleiner Aperitif, der Lust auf mehr macht.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/12/07/dantons-tod-rockkonzert-frei-nach-georg-buechner-von-studenten-der-hfs-ernst-busch/
Leserkritik: Affe, Berlin
"Affe", Neuköllner Oper

„Berlin, Du kannst so häßlich sein“: Wie wahr diese Klage von Peter Fox aus seinem berühmten Song „Schwarz zu blau“ ist, kann jeder hautnah erleben, der sich mit der U-Bahn vom Alexanderplatz über das Kottbusser Tor und den Hermannplatz zur Karl-Marx-Straße in Neukölln aufmacht.

Regisseur Fabian Gerhardt und Dramaturg John von Düffel ließen sich vom 2008 erschienen Album „Stadtaffe“ zu einem Horrortrip-Musical durch die Berliner Nacht inspirieren. Sie verbinden die Songs von Pierre Baigorry alias Peter Fox mit einer schlüssigen theatralischen Handlung um die Hauptfigur „F.“: Anton Weil, der mit seinem körperbetont-energiegeladenen Spiel schon in Fabian Gerhardts „Othello“-Inszenierung im Theaterdiscounter auffiel, zuckt und zittert sich 90 Minuten lang durch eine grauenvolle Nacht.

(...)

Der Spannungsbogen ließ sich nicht ganz über die 90 Minuten aufrecht halten, dafür ähneln sich die in den Songs transportierten Stimmungen und die hinzuerfundenen Spielszenen manchmal zu sehr. Aber nach diesen kleinen Durchhängern sind doch immer wieder kraftvolle Momente zu erleben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/12/10/affe-horrortrip-nach-peter-fox-durch-die-berliner-nacht-an-der-neukoellner-oper/
Leserkritiken: "Stören"/Maxim Gorki Theater Berlin
"Stören", Gorki

Sechs wütende junge Frauen am Gorki: das Setting erinnert an die wütend aufstampfenden Twentysomethings in Sibylle Bergs „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, einem Highlight im Repertoire des Hauses.

Tatsächlich hat eine der Schauspielerinnen des Berg/Nübling-Abends bei der Stückentwicklung „Stören“ Regie geführt: Suna Gürler erarbeitete den knapp 80minütigen Abend mit taffen, nicht-professionellen Frauen zwischen 18 und 24.

Ausgangspunkt sind die Alltagserfahrungen von Sexismus und sexuellen Übergriffen. Jede der Spielerinnen kann von schmierig-zotigen Anmachen oder der Angst davor, nachts alleine von der Party nach Hause zu gehen, berichten. Die Stichworte „Köln“ und „Silvester-Nacht“ schweben im Raum, werden aber – im Gegensatz zum Einführungstext auf der Webseite – im Stück nur ganz kurz explizit angesprochen. Dieses Eisen scheint immer noch zu heiß, um es an einem Theaterabend bearbeiten zu können.

Mit schwungvollen Choreographien und plastischen Schilderungen ihrer Erlebnisse umkreisen die Spielerinnen ihr Thema. Der Abend ist mit viel Leidenschaft einstudiert, hat aber auch einige Mängel. Das Sextett richtet es sich etwas zu gemütlich in einer „Gut-Böse“-Dichotomie ein, die sich vom Publikum unterhaltsam konsumieren und zu einfach „abnicken“ lässt, wie auch Georg Kasch in der Berliner Morgenpost und Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung kritisierten.

Das „Feindbild Mann“ wird lustvoll und sehr unterkomplex gepflegt. Die feministischen Schwarz-Weiß-Bilder durchbricht nur Transgender Chantal Süss. Ihre Pubertätserfahrungen, dass sie in keines der beiden Geschlechter-Rollenmuster passt, lässt sie von ihren Mitspielerinnen vorlesen: einer der nachdenklichen, ruhigeren Momente an diesem Abend.

Gegen Ende wiederholen die Spielerinnen mehrfach den Appell, dass sie „größer denken“ müssen. Sie tasten sich an grundlegende Probleme struktureller Gewalt heran und reflektieren darüber, was man konkret tun sollte.

Der Abend endet mit einer Reihe offener Fragen genau an der Stelle, wo es erst richtig spannend wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/12/13/stoeren-sechs-junge-frauen-setzen-sich-mit-sexismus-im-alltag-auseinander/
Leserkritik: BUCH. Berlin, Berlin
Fritz Kater: BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida), Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Tilmann Köhler)

Seine Berliner Inszenierung – der zweiten nach Petras’ Stuttgarter Uraufführung – eröffnet Tilmann Köhler mit einer sanft nostalgischen Shownummer. Die Utopien der versammelten Wissenschaftselite kommen vom Band, heraufbeschworen von Jörg Pose, einem stillen Illusionisten, der zu Siebziger-Jahre-Showmusik einen schrullig belächelten Reigen von Zukunftsszenaren vorführt, der in einem Gruppenbild mit Aliens endet. Der Glaube an den Fortschritt der Menschheit wird zum bestaunendswerten Jahrmarkts-Exponat, ein wenig lächerlich, aber gut gewollt. Ein stiller, sacht poetischer Auftakt, dem mehr als zwei Stunden Prosa folgt. Köhler stellt die einzelnen Teile nebeneinander, verweigert die Klammer. Die transparenten Szenenumbauten sind Programm, jeder Teil ist ein erneuter, zu scheiternder Versuch der Sinnnfindung. So bleibt der Abend im Anekdotischen: Die Sorgen der Kinder um das Verschwinden ihrer Sicherheit in einer Welt, in welcher der Vater sich zu Tode trinkt und die Mutter vielleicht schon im Westen ist, verkleinert er zu einer niedlichen Studie in kindlichem Sprechen, den Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn, der eigentlich ein Nebeneinander persönlicher und dem anderen nicht kommunizierbarer Sinnsuchen ist, macht er zum Rockkonzert. Die Distanz wird sicht- und hörbar, doch die Selbstzermarterung, die pubertäre wie die resignierte des gelebten Lebens, geht zu oft unter in natürlich stets passender musikalischer Entäußerung von Joy Division bis Bruce Springsteen. Dabei bleibt es oft beim Illustrativen. Ganz am Ende, da übernimmt der Vater-Darsteller Jörg Pose die Rolle des Sohnes von Benjamin Lillie, erinnert er sich an ein Leben in Erstarrung, wird es noch einmal essenziell. Doch der spannende Gesichtertausch verpufft, Pose ergeht sich in pseudo-verzweifeltem Gebrüll. Keine Wahrhaftigkeit nirgends.

Ähnlich kalt lassen die letzten zwei Teile. Für die Parabel von den Elefanten, denen der Mensch die Welt nimmt, findet Köhler weder Ton noch Bilder, Christoph Franken stampft, Linn Reusse rezitiert, die Metapher fällt in sich zusammen. Und auch das Kammerspieldrama der leidenden Eltern, die doch nicht zueinander kommen, weil jeder zu sehr in der eigenen Welt verhaftet ist – die Mutter in ihrem Schmerz, der längst in Selbstmitleid gekippt ist und nur der eigenen Sinngebung dient, der Vater in seiner Kunst, die Petras als puren Eskapismus und Verweigerung, sich seinem Selbst zu stellen, denunziert – wirkt seltsam blutleer. Wiebke Mollenhauer gibt die Mutter im weißen Ballerina-Kleidchen als sarkastische Anklägerin, die für den Mann nur noch Verachtung empfindet, Matthias Reichwald den Vater als hilfloses Weichei, bei dem die zitierten Worte hohl klingen, wie auswändig gelernt. Wenn Frankes Arzt als Clown daherkommt, wirkt das schon fast bemitleidenswert hilflos. Aufziehpuppen und Abziehbilder, die zweidimensional zu nennen, schon eine Übertreibung ist.

Tilmann Köhler inszeniert Katers Stück ohne Schnörkel. Direkt, kammerspielartig, reduziert. Er vertraut auf Katers Wort und findet dadurch nie zum Spiel. Und weil der Text eben ein narrativer ist, episch statt dramatisch konzipiert, bleibt er über weite Strecken leblos. Köhler verweigert ihm jegliche Lebendigmachung, sodass der gefühlt überlange Abend oft wenig mehr ist als eine szenische Lesung. Die Betrachtungen und Reflexionen zur Vergeblichkeit menschlichen Strebens verlieren sich irgendwo zwischen den – knapp drei Monate nach der Premiere – sehr leeren Sitzreihen. Bedeutung bleibt hier eine nie auch nur im Ansatz greifbare Illusion, ein Nichts, das vielleicht nur imaginiert ist. Damit ist die Inszenierung durchaus nah am Text – und doch in seinem ratlosen Nihilismus unendlich weit von ihm entfernt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/12/20/das-leben-ein-nichts/
Leserkritiken: Film "Sag mir nichts"
Minima Moralia - "Sag mir nichts"
Andreas Kleinerts Fernsehfilm „Sag mir nichts“ beginnt mit einem Schlag in die Magengrube. D. J. Frederiksson sprach in der Frankfurter Rundschau angesichts der „komplett wortlosen siebenminütigen Eröffnungssequenz“ „irgendwo zwischen Verfolgung und Verführung“ von einem „inszenatorischen Fanal“. „Kleinert inszeniert die ganze Sequenz wie einen Mord“. Wenn nicht so schlimm, so ist bei uns Korrekten sofort die Kölner Silvesternacht präsent: Das geht alles gar nicht! Und dann treffen sich eine Frau und ein Mann in ihrer Lust, die – so Adorno – „das schrankenlose Wegwerfen“ zur Voraussetzung hat. Dessen seien die Frauen „um ihrer archaischen Angst willen“ nicht mächtig. Diese archaische Angst wirft „weibliche Hingebung“ stets wieder auf die Situation des Opfers - als Objekt der Gewalt - zurück. Zur Emanzipation in unserer Gesellschaft gehört es, eine undurchdringliche Kälte um sich zu verbreiten, in deren Schutz wir gedeihen können.
Folgerichtig diagnostizierte D. J. Frederiksson im Umkehrschluss, dass in dem „inszenatorischen Fanal“ „keine Liebe stattgefunden hat, sondern eine Infektion“. „Die Lust, der sie sich so spontan hingeben, wirkt wie ein Virus, der beide überwältigt.“ Ja, wir glauben nicht mehr daran, wie vielleicht noch Adorno, dass „schrankenloses Wegwerfen“ möglich ist als „subjektive Fähigkeit zum Glück“ im Reich der Freiheit und der Liebe: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“. Wo du dich schrankenlos wegwerfen kannst, ohne in mißbrauchender Gewalt zu enden. Unser Unglaube macht uns kalt und untot, was wir uns nicht eingestehen dürfen. Wie perfekt uns dies gelingt, demonstrierte auch D. J. Frederiksson, die solche Reflexionen frontal abwehrt und auf das – schauspielerisch perfekt agierende – Paar Lena (Ursina Lardi) und Martin (Ronal Zehrfeld) zurück projiziert: „Wie Untote wühlen sie im Fleisch des anderen auf der vergeblichen Suche nach einem letzten Rest Leben“.
Im Verlauf von Andreas Kleinerts Film werden Lena und Martin bemerkenswert schonend behandelt, sie landen nicht als Kranke auf der Isolierstation oder als Verrückte in der geschlossenen Psychiatrie. Vielleicht wollte Kleinert uns eine weitere Adorno-Lektion erteilen: „Nur der liebt, wer die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten. … Es ist die Probe aufs Gefühl, ob es übers Gefühl hinausgeht durch Dauer, wäre es auch selbst als Obsession“. Im Film hat Lena offenbar die Kraft zum Lieben, nicht jedoch Martin. Die „Gewährende“ ist wieder – wie „seit Urzeiten“ – die „Betrogene“. Und wir, die wir nie die Kontrolle verlieren dürfen, die wir nie den Keim (Virus !) des „schrankenlosen Wegwerfens“ in uns trugen, oder die ihn längst ausgemerzt haben, wir dürfen und wieder bestätigt fühlen.
Adorno hat seinen Aphorismus zum „schrankenlosen Wegwerfen“ mit „Darf ich’s wagen“ überschrieben, Faust und Margarete dienten ihm offenbar als Inspiration. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“? Von wegen! Für uns heute ist Margarete auch nur eine vom Virus überwältigte Untote, deren Naivität wir verachten.
Leserkritike: König Ubu, Berlin
König Ubu, Deutsches Theater Berlin/Box

„Bitte, darf ich den König spielen“, kräht eine Uli Matthes-Maske dazwischen. Er hat doch bekanntlich schon den König Ödipus und den Macbeth auf der großen Bühne des Deutschen Theaters gespielt. Deshalb wäre es doch eine Majestätsbeleidigung, wenn er nicht den König in der Box des Deutschen Theaters sein Können zeigen dürfte.

Die drei Spielerinnen und Spieler des Abends (Elias Arens, Božidar Kocevski und Linda Pöppel) winken genervt ab und weisen die quengelnden Interventionen von Ulrich Matthes mehrfach ab („Nein, Uli, das geht nicht“), bis sie ihm doch nachgeben und ihn auf seinen geliebten Platz „Rampe Mitte“ zur Schlachtbank des Königsmords führen.

Nach dem Star des Hauses ziehen die unerschrockenen Drei die versammelte Internationale der Rechtspopulisten durch den Kakao: Marine Le Pen, Geert Wilders, Donald Trump und Victor Orbán, der Premier aus der Heimat des ungarischen Regisseurs András Dömötör, dürfen sich über die Parolen von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ lustig machen und ein paar Sprüche klopfen. Der Kurzauftritt der Polit-Prominenz bleibt aber wesentlich handzahmer als erwartet.

Die bluttriefende, Shakaespeare-parodierende Handlung, die derbe Sprache, die schnelle Schnitte bieten dem spielfreudigen jungen Ensemble die Gelegenheit, sich nach Lust und Laune auszutoben. Der Regisseur und sein Ensemble haben sich einige amüsante Gags einfallen lassen, wie sie die berühmte „König Ubu“-Groteske von Alfred Jarry dem heutigen Publikum schmackhaft machen können.

Ein Skandal ist „König Ubu“ heute längst nicht mehr. 1896 war das Publikum so schockiert, dass das Stück sofort verboten werden musste. Am Deutschen Theater wird daraus ein lustiger Abend für die Nebenspielstätte auf der Hinterbühne: mit einigen Running-Gags zum Schmunzeln, mit einer starken ersten Stunde. Das letzte Drittel fällt dann allerdings ab: der Inszenierungsansatz ist ausgereizt, die Handlung schon fast auserzählt, das Trio hängt noch einige Publikums-Mitmachaktionen dran und beendet den Abend alberner, als er es verdient hätte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/04/koenig-ubu-in-der-box-des-deutschen-theaters-werden-uli-matthes-und-rechtspopulisten-durch-den-kakao/
Leserkritiken: "Krankheit der Jugend" / BE Berlin
"Krankheit der Jugend", Berliner Ensemble/Pavillon

Bürgerlich zu werden oder Selbstmord zu begehen – zwischen diesen Alternativen schwanken die Figuren in „Krankheit der Jugend“.

Bürgertum oder Suizid – diese beiden Scheinalternativen muten aus heutiger Sicht sehr befremdlich an. Die Generation der Digital Natives ist davon geprägt, dass ihr so viele Optionen und Lebensmodelle offen stehen wie kaum einer ihrer Vorgänger.

Theodor Tagger, damals Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, traf jedoch einen Nerv seiner Zeit, als er unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner im Jahr 1926 von den Gefühls-Verwirrungen der Jugend zwischen den beiden Weltkriegen erzählte.

Am zeitgenössischsten wirkt die Figur des Freder: ein Langzeitstudent, der seine Mitmenschen um den Finger wickelt. Er wechselt ständig seine Sexpartnerinnen und manipuliert das etwas naive Zimmermädchen Lucy (eindrucksvoll-verträumt: Karla Sengteller), bis sie für ihn auf den Strich geht.

Es ist ein Höhepunkt dieser Inszenierung, wie sich Sven Scheeles Freder breitbeinig auf dem Sofa fläzt, sich den Raum nimmt und die weniger selbstbewussten Figuren, die noch nach ihrem Platz im Leben suchen, vorführt. Claus Peymann bewies mit dieser Neuverpflichtung für das Berliner Ensemble, dass er einen wachen Blick für vielversprechende Talente hat.

Ein zweites Kraftzentrum von Catharina Mays „Krankheit der Jugend“-Inszenierung im Pavillon des Berliner Ensembles ist Celina Rongen als Medizinstudentin Marie. Ihr Leben gerät völlig aus der Bahn: erst spannt ihr die Kommilitonin Irene (Marina Senckel) den Mann aus und angelt sich den zappelig-linkischen Möchtegern-Dichter Herrn „Bubi“ Petrell (Felix Strobel), dann scheitert auch noch ihre lesbische, die damaligen Zeitgenossen schockierende Affäre mit ihrer Mitbewohnerin Desiree (Larissa Fuchs).

Catharina May inszeniert ihre zweite Regie-Arbeit am Berliner Ensemble mit genau gezeichneten Figuren und lässt sich für das Ende eine dritte Variante statt der beiden von Bruckner alias Tagger überlieferten Fassungen einfallen. Das Publikum ist diesmal nicht so hautnah am Geschehen wie bei Mays Debüt, als sie Fassbinders Giftmord-Serie „Bremer Freiheit“ auf einem engen Steg mitten im Publikum platzierte. Hinzu kommt, dass der Stoff, den sie sich desmal aussuchte, aus heutiger Sicht etwas angestaubt und fremd wirkt. Deshalb hinterlässt „Krankheit der Jugend“ keinen so starken Eindruck wie ihr Erstlingswerk „Bremer Freiheit“ vom Mai 2016.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/07/krankheit-der-jugend-catharina-may-inszeniert-im-pavillon-des-berliner-ensembles/
Leserkritiken: Wuppertaler Tanztheater
Das Wuppertaler Tanztheater pflegt seine Tradition und erfindet sich gleichzeitig neu

Auch acht Jahre nach dem Tod von Pina Bausch reißt das Wuppertaler Tanztheater sein Publikum immer noch zu Beifallsstürmen hin. So wie jetzt wieder bei den restlos ausverkauften Aufführungen der Stücke „Palermo,Palermo“ und „Viktor“ im Wuppertaler Opernhaus. Beide Stücke entwickelten ihre Stoffe aus Recherchereisen nach Italien in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts: „Viktor“ wurde durch Rom beeinflusst, „Palermo, Palermo“, wie schon der Name sagt, von der sizilianischen Hauptstadt. Die beiden über dreistündigen Meisterwerke haben auch nach dreißig Jahren nichts von ihrer Opulenz und Wucht verloren, im Gegenteil, die historische Distanz offenbart einmal mehr, wie inhaltlich und ästhetisch zeitlos die Schöpfungen Pina Bauschs sind.

Die Qualität der Wiederaufnahmen zeigt, dass das Wuppertaler Tanztheater nach dem überraschenden Tod seiner Erfinderin und Leiterin im Jahr 2009 energiegeladen aus der Findungsphase für eine Neuausrichtung hervorgeht. Wer befürchtete, das Werk der Jahrhundert-Choreografin könne eines Tages im Musealen erstarren, wird jetzt eines besseren belehrt. Wie frisch und aktuell das Werk ist, zeigt sich auch daran, dass inzwischen rund ein Drittel des Ensembles aus jungen Tänzerinnen und Tänzern besteht, die nicht mehr mit Pina Bausch gearbeitet haben. Sie haben ihre Rollen mit Hilfe der älteren Ensemblemitglieder einstudiert, deren wichtigste Mission es zurzeit ist, den Geist der Stücke und die Rollen weiterzutragen. Das gelingt auf beglückende, niemals epigonale Weise und es beweist die Tragfähigkeit der Rollen, die auch in den neuen Besetzungen authentisch wirken. Die NachwuchstänzerInnen setzen zwar einige Akzente neu, aber sie zeigen auch, wie gut die Stücke gebaut sind, wie originär, vielschichtig und gültig die Charaktere angelegt sind. Die Perfektion, der Charme, der Humor und das präzise Timing der Inszenierungen bleiben erhalten.

Parallel zur Pflege der mehr als vierzig Stücke von Pina Bausch probiert das Tanztheater neue Formate aus: Einzelne TänzerInnen laden zu Tanzkursen ein, in der Reihe „Underground“ bespielen sie besondere Orte wie das Elefantenhaus im Wuppertaler Zoo, eine Fabrikhalle oder das marode Schauspielhaus mit eigenen Improvisationen.

Die designierte neue künstlerische Leiterin des Tanztheaters Adolphe Binder, die im Mai ihren Dienst antritt, will den eingeschlagenen Weg weitergehen. Auch sollen – wie schon im vergangenen Jahr – wieder zeitgenössische Choreografen eingeladen werden, die mit dem Ensemble neue Stücke und Formate entwickeln. Die ersten Gastchoreografien (von Theo Clinkhard, Cecilia Bengolea, Francois Chaignaud, Tim Etchells) im vergangenen Jahr überzeugten zwar nicht auf ganzer Linie, dennoch sollte der Weg weiter beschritten werden.

Parallel ist die Bausch-Foundation unter der Leitung von Salomon Bausch, dem Sohn Pina Bauschs, mit einem beachtlichen Stamm von MitarbeiterInnen höchst aktiv. Ein umfangreiches, modernes Archiv ist im Entstehen, in dem auch - als „oral history“ – die Erlebnisse von Wuppertalern mit Pina Bausch und dem Tanztheater hinterlegt sind. Die Foundation coproduzierte das Bausch-Stück „Die Kinder von gestern, heute und morgen“, das – fast ein Novum in der Geschichte des Tanztheaters- vom Bayrischen Staatsballett einstudiert wurde, natürlich mit Unterstützung aus Wuppertal. Ein Beispiel für die Originalität der Projekte ist das Oral-History Projekt 7x7x7 zur Neueinstudierung des Stückes „Two cigarettes in the dark“, bei dem sieben Zuschauer sieben Tänzer sieben Minuten lang zur Entstehung des Stückes befragten. Die ersten vier Stipendiaten der „Pina Bausch Fellowship for Dance und Choreography“ haben jetzt ihre halbjährigen Hospitationen in internationalen Kompanien absolviert und die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt, die nächsten Stipendiaten stehen in den Startlöchern.

Eine Heimat sollen das Tanztheater und die Foundation im Wuppertaler Schauspielhaus finden, das mit Zuschüssen des Bundes zu einem Tanzzentrum mit überregionaler Strahlkraft hergerichtet werden soll, und es ist zu hoffen, dass die Beschlüsse umgesetzt werden. Zum 50sten Geburtstag des zur Zeit wegen Baufälligkeit geschlossene Schauspielhauses wurden die Wuppertaler angeleitet, auf dem Vorplatz die berühmte „Nelken-Linie“ aus dem Stück „Nelken“ zu tanzen, und sie taten es mit Begeisterung. Das Tanzangebot war auch Teil der großen Ausstellung über Pina Bausch in der Bundeskunsthalle in Bonn, die in enger Zusammenarbeit mit der Bausch-Foundation konzipiert wurde und bis zum 9.Januar auch im Berliner Gropius-Bau zu sehen war.

Für Tanzbegeisterte heißt es also weiterhin: Auf nach Wuppertal, und von da aus in alle Welt -so wie Pina Bausch es in ihrem mehr als 40jährigen Wirken in der Schwebebahnstadt vorgemacht hat.
Leserkritiken: E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen, Stuttgart
Ein Puzzle und jedes Teil sitzt bei ’E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen’. Es geht um Töchter und Söhne Stuttgarts, die heute weitgehend vergessen sind, zu ihrer Zeit jedoch Berühmtheiten waren. Ungefähr zwei Dutzend Biografien waren angekündigt und da stellt sich schon die Frage, wie man diese Einzelteile dramaturgisch und schauspielerisch zu einem Ganzen zusammenbringt. Dass diese Aufgabe ganz hervorragend gelungen ist, sei schon vorab gesagt.

Von Anfang an erkennt sich auch der Zuschauer als zukünftig sterblicher Unsterblicher, denn die gesamte Breite der Bühne nehmen verspiegelte Glasscheiben ein. Ein schräger Spiegel auch an der Decke. Wir Zuschauer sehen uns selbst im gegenwärtigen Jetzt, während hinter dem durchsichtigen Glas Personen in historischen Kostümen wie Schemen aus dem Jetzt der Vergangenheit auftauchen, während gleichzeitig eine Rahmengeschichte von einer Schauspielerin vorgetragen wird, die gemäß dieser Intention aus dem Publikum auf die Bühne schreitet. Was nun folgt ist ein Feuerwerk der allerbesten Art, das alles enthält was Theater im besten Sinn ausmacht. Dramatisches, Skurriles, Trauriges, Komisches, Witziges, Romantisches, Politisches, Philosophisches tempo- und abwechslungsreich vorgetragen von erstklassigen Schauspielerinnen und Schauspielern. So viele gute, gelungene Szenen in teils phantastischen Kostümen in ausgeklügelter Choreographie zwischen beweglichen Wänden und zum Teil mit ihnen in Szene gesetzt. Zum Beispiel wird ein Waschbecken zum Händewaschen benutzt, just zu dem Zeitpunkt, wo es an einer beweglichen Wand hängend von Requisiteuren vorbeigeschoben wird und nach einigen Schritten taucht im richtigen Augenblick eine andere Wand auf, an der der passende Spender für die Papierhandtücher montiert ist. Und auch wenn es ungerecht ist etwas herauszuheben, denn alle Akteure haben alles gegeben und sind außerordentlich zu loben, muss ich doch meine absolute Lieblingsszene erwähnen, in der Manuel Harder, als fliegender Schuster Salomon Idler, seiner Frau schildert, was er ’gedenkt hat’. Diese Schilderung ist derart leicht und luftig und dennoch so eindringlich, dass man das Gefühl hat, jetzt wird er sich gleich erheben und tatsächlich davonfliegen, und dem kleinen Vogel zuzwinkern, der ihn durch die Luft begleitet. Ganz ganz großes Theater.

Uraufführung im Kammertheater Stuttgart am 20. Januar 2017
Stückentwickling von Jan Neumann
Leserkritiken "Lesbos" DT Berlin: Schrecken
Lesbos – Blackbox Europa. Ein Projekt von Gernot Grünewald und Ensemble, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Gernot Grünewald)

Am eindringlichsten ist vielleicht der Bericht vom Besuch auf einem versteckten Flüchtlingsfriedhof. Da wendet sich der Blick der Darsteller*innen plötzlich auf sich selbst, auf die eigene Komplizenschaft mit dem weißen Mehrheitseuropa, den leeren Trauerritualen, der Betroffenheitskultur, bei der es in erster Linie um den diese zelebrierenden selbst geht, nicht um die namen- und gesichtslosen Opfer. Wie sehr, sind wir, die beobachten, aber stumm dabeisitzen, die erschüttert sind, aber nichts tun, die nicht auf die Straße gehen und ihre Macht als Souverän einfordern, Mittäter, mitschuldig? Eine Frage, die im Raum steht und doch leider meist an den Rand gedrängt wird. Denn über weite Strecken ist das, was hier passiert, eben doch Betroffenheitstheater, Zeigefinger-reiche Anklage der bösen Machtpolitiker “da oben”, die Europa um jeden Preis abschotten und sich ihrer Menschlichkeit erledigen. Dass diese von uns gewählt sind, dass wir diejenigen sind, die das zulassen, erscheint als Erkenntnis zu brutal, um sie zulassen zu können. Und so plätschert der Abend über weite Strecken erschreckend harmlos dahin, nimmt das Publikum die Schreckensgeschichten teilnahmslos hin, verhallen die Hilferufe der um Unterstützung flehenden.

Das ist alles ganz furchtbar, aber nicht zu ändern, weil “der Staat”, “die Macht” das so wollen. Klar sitzen wir mittendrin und doch sind das “Sie” und das “Wir” klar definiert. Wir stehen/sitzen auf der guten Seite. Das schlechte Gefühl geht auch bei den Spieler*innen schnell wieder weg, denn die Schuldigen sind ganz andere. Da bekommt denn auch der “echte Geflüchtete” seine Rolle. Er darf hin und wieder Fragmente seiner Geschichte erzählen, freundlich, lächelnd, unterhaltsam. Die großen Themen gehören den “Deutschen”, Regisseur wie Spieler*innen, dieAußensicht dominiert, Augenhöhe ist nicht gewollt. Natürlich kann die Fluchterfahrung nicht nachempfunden werden, aber eine so weitgehende Reduktion der stimmen derer, um die es gehen sollte, hinterlässt denn doch einen fahlen Beigeschmack. Viel wichtiger ist die Grundbotschaft vom kalten, unterdrückenden, egoistischen Europa. Da dürfen Geschichten wie die vom bayerischen Polizisten, der den Geflüchteten willkommen heißt, nicht mehr sein als eine schnell vergessene Anekdote. So multiperspektivisch die Anlage des Abends erscheint, so monoperspektivisch gerät er dann doch, weil er dazu dienen soll, seine Grundaussage zu belegen. Am ehrlichsten ist denn auch der Schluss. Da öffnet sich die Blackbox, wechseln die Zuschauer*innen auf die Tribüne und werden zu den distanzierten Beobachtern, die sie zuvor schon waren. Wir blicken auf die verlassene Spielfläche, schauen den friedlichen Wellen zu und beginnen den Abgrund zu spüren, der sich in dieser stillen, harmonischen Leere auftut. Und plötzlich geht uns das etwas an, nicht als wütend hilflose Beobachter, sondern als Mitverantwortliche, Mittäter. Am lautesten schreit der Abend, wenn er nichts sagt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/27/das-wuten-der-stille/
Leserkritiken: Lesbos/Blackbox Europa im DT Berlin
Lesbos - Blackbox Europa. Deutsches Theater Berlin/Box

Monatelang beherrschten die Hunderttausende Flüchtlinge, die sich über die Balkanroute auf den Weg in ein besseres Leben machten, die Medienschlagzeilen und die politische Agenda. Einer von ihnen ist Thalfakar Ali, der aus dem Irak geflohen ist, in einer Bar arbeitet und am Deutschen Theater Berlin im Projekt „Wechselstube“ mitwirkt. Von seinem Schicksal erzählt das Recherchetheater-Stück „Lesbos – Blackbox Europa, das Regisseur Gernot Grünewald mit seinem Ensemble für die Box des Deutschen Theaters Berlin entwickelte.

Im Februar/März 2016 änderte sich die Lage: die Balkanroute wurde dicht gemacht. Die EU handelte mit dem türkischen Autokraten Erdogan einen höchst umstrittenen Deal aus. Das Ergebnis: die Zahl der Flüchtlinge, die es bis zur deutsch-österreichischen Grenze nach Passau oder gar bis zum Berliner LaGeSo schafften, ging drastisch zurück. Die Medien und die politische Debatte wandten sich anderen, scheinbar dringlicheren Themen zu. Aus den Augen, aus dem Sinn, aber längst nicht alles gut: die griechische Insel Lesbos entwickelte sich zu einem Auffanglager für gestrandete Flüchtlinge, die in überfüllten Provosorien wie Moria festsitzen.

Gernot Grünewald reiste mit seinem Regie-Team und den beiden Schauspielern Katharina Schenk und Božidar Kocevski im Sommer 2016 auf die bei deutschen Urlaubern beliebte Insel, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Sie führten zahlreiche Interviews mit Flüchtlingen, Helfern, staatlichen Institutionen und drehten Videomaterial, das an diesem 90minütigen Abend eingespielt wird. Sehr schlaglichtartig und leider auch oft zu sprunghaft montierten Grünewald und sein Team die einzelnen Bausteine. Am Ende ergibt sich aber doch ein deutliches Bild einer prekären Situation:

Die Schauspieler fühlten sich immer rat- und hilfloser, je länger sie sich hautnah vor Ort mit der Situation befassten. Katharina Schenk macht dies in zwei exemplarischen Situationen deutlich: als sie auf einem Friedhof, wo die Leichen der aus dem Meer gefischten Flüchtlinge verscharrt wurden, eine Schweigeminute vorschlägt, ist sie sich selbst klar darüber, dass dies nur eine hilflose, wohlfeile Geste ist. Sie weiß aber – genauso wenig wie wir im Publikum – keine angemessenere, bessere Reaktion. Später erzählt sie, wie sie einem Bustransport in das jetzt schon völlig überfüllte Lager Moria hinterherwinkt. Auch hier spürt sie, dass diese Reaktion wohl nicht so glücklich ist, aber immer noch besser, als völlig tatenlos zuzusehen.

Der Abend endet mit rhetorischen Fragen des Ensembles, die in den Wunden der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik bohren, und langen Einstellungen der Ägäis vor Lesbos, wo die Touristen mittlerweile fernbleiben.

Die schwierigste Frage wird offen angesprochen, bleibt aber ungelöst: Was passiert, wenn Erdogan den Bogen derart weit überspannt, dass die EU Konsequenzen ziehen muss? Der heute schon vielen als schmutzig kritisierte Deal mit der Türkei würde dann platzen. Einen Plan B gibt es bisher nicht.

Als „Bonusmaterial“ gibt es im Programmheft einen klugen Text des vor kurzem verstorbenen polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der das ganze Dilemma gut auf den Punkt bringt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/28/lesbos-blackbox-europa-engagiertes-recherchetheater-projekt-zum-umstrittenen-eu-tuerkei-deal-in-der-box-des-deutschen-theaters-berlin/
Leserkritiken: Minna von Barnhelm, Schlosspark Theater, Berlin
Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Thomas Schendel)

Zunächst lässt sich durchaus übersehen, dass Schendel und sein Ensemble Störgeräusche eingebaut haben, dass das Unterhaltungsuhrwerk immer wieder ins Stocken gerät. Der deutlichste Indikator ist Just, Diener des unehrenvoll aus der preußischen Armee entlassenen Major von Tellheim. Anton Spieker hat seinen ersten Auftritt in einer Art Prolog, wo er, ein Kartenspiel begleitend, eine traurige Weise spielt, die andeutet, dass die zivilisatorische Fassade eine recht dünne sein könnte. Schließlich kommt man gerade aus dem Siebenjährigen Krieg, den Preußen unter riesigen Verlusten gewonnen hatte. An der Oberfläche bleibt der Krieg fern, doch in den Figuren wütet er, hat er Verwüstungen hinterlassen. Das gilt zunächst vor allem für Just: Spieker gibt ihn an unbeherrscht aggressives Pulverfass, das bei jeder Kleinigkeit aus der Haut fährt. Seine Toleranzschwelle, seine Geduld sind auf ein Minimum reduziert. Die Ruhe des Friedens bekommt ihm nicht, der harmonische Schein erscheint ihm falsch. So versehrt sein Herr physisch ist, so sehr ist es der Diener mental.

Ersterer dagegen hält sich zurück. Und doch ist auch bei ihm von Beginn an zu spüren, dass die galante Oberfläche bestenfalls gespielt ist. Die Anspannung, die Anstrengung, die es erfordert, den soldatischen und adligen Verhaltenskodex aufrechtzuerhalten, sind bei Tatort-Star Oliver Mommsen in jedem Moment zu spüren. Sein verqueres Verständnis von Ehre, das dazu führt, der geliebten Minna, die nach Berlin gereist ist, um ihn zu finden, zu entsagen, hat von Anfang an Brüche. Vor der Pause lassen sich diese noch mühsam übertünchen, bleibt der Ton lebhaft und vergleichsweise leicht. Dieser erste Teil gehört dem wieder erwachenden Leben, vor allem in der Person von Moinnas Zofe Franziska, die bei Maria Steurich zum Star des Abends wird: burschikos, frech, schlau und bei aller Schärfe warmherzig. Sie hat die meisten Lacher des Abends, ist sein Kraftzentrum, hält ihn zusammen, so lange es geht. Und mit ihrer ebenso sanft wie humorvoll erblühenden Liebe zum Wachtmeister Paul Werner (Oliver Nitsche) gehört ihr auch die Hoffnung, der Optimismus, der Glaube an bessere Zeiten. Es ist Schendels Verdienst, dass der Humor nie grob wirkt oder auf billige Lacher ausgerichtet ist. Vielmehr speist sich das Lachen aus der Sehnsucht.

Eine Sehnsucht, die sich Tellheim verbietet. Nach der Pause gerät er bei Mommsen aus dem Gleichgewicht. Die fatale Mischung aus Kriegstrauma und den Illusionen von Stolz und Ehre, die er für den letzten Rest seiner Identität hält, brechen sich Bahn. Er tobt und schreit und droht, bricht in wahnsinniges Lachen aus, steigert sich hinein in groteske Eifersüchteleien, baut einen Panzer aus Selbstmitleid auf und flüchtet sich in Selbstgerechtigkeit. Von “Lustspiel” ist hier nichts mehr zu spüren, stattdessen reißen Schendel und sein Hauptdarsteller die sorgsam erhaltenen Fassaden ein. Was zum Vorschein kommt, ist eine verwundete Seele, die im Widerstreit von Kriegsgräueln und einem repressiven, Schwäche nicht zulassenden Ehrbegriff schier zerreißt. Da stürzt das ganze Harmoniegebäude ein und ist doch nicht alles verloren. Auch wegen Katharina Schlothauers Minna: Sie spielt die Titelfigur als wissende, selbstbewusste Frau, die sich nicht einschüchtern und nicht abschrecken lässt, die an ihrem Geliebten festhält, auch wenn sie um seine Verletzungen weiß. Eine unaufgeregte praktische Feministin, die die Zügel in die Hand nimmt und doch nie zu fest anzieht. Wenn sie ganz am Ende Mommsen mühsam die Stiefel auszieht, glimmt da ein winziger Funken Hoffnung. Mommsens Züge entspannen sich kaum merklich. Daneben sitzt Spiekers Just und blickt mit einer Prise Traurigkeit ins Weite. Nein, vergessen und überwunden ist hier nichts.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/29/traum-und-trauma/
Leserkritik: Wunschkinder im Renaissance Theater Berlin
Lutz Hübner und Sarah Nemitz: Wunschkinder, Renaissance Theater, Berlin (Regie: Torsten Fischer)

Das Stück erzählt die Geschichte des 19-jährigen Marc, der als spross einer wohlhabenden Familie nach (gerade so) bestandenem Abitur ziellos in den Tag hinein lebt, umgeben von der übergriffig fürsorglichen Mutter und dem Vater, der darauf besteht, dass der Filius endlich in die Gänge komme. Marc verliebt sich in die aus prekären Verhältnissen stammende, natürlich taffe und ihr Leben im Griff habende Selma. Dann wird letztere schwanger, Marc haut ab und seine Eltern versuchen die Sache zu “regeln”. Generationen- und Klassenkonflikt werden verzahnt, schöne ironische Punchlines gibt es zuhauf, allzu komplex ist die Weltsicht des Stückes auch nicht – also der perfekte Stoff für den gehobenen Boulevard. In seiner Bochumer Uraufführung hat Anselm Weber versucht, der Tendenz des Stücks zur Plakativität mit Realismus zu begegnen, seine Leerstellen nicht zu überkleistern, Raum für Zwischentöne zu lassen, die existenzielle Verunsicherung einer zunehmend überforderten und kaum noch in irgendwelche Schubladen passenden Gesellschaft zumindest punktuell spürbar zu machen.

Nichts davon ist bei Torsten Fischer zu sehen.Er schwingt den breiten Pinsel, treibt seine Darsteller*innen zu boulevardesker Überdeutlichkeit an – am unterhaltsamsten sicherlich Klaus Christian Schreiber als dauersarkastischer Vater – hetzt von Pointe zu Pointe. Insbesondere vor der Pause geht es nur darum, möglichst viele Lacher in möglichst kurzer Zeit zu erzeugen. Da stören gebrochene oder gar komplexe Charakterisierungen nur. So beginnt der Abend schön programmatisch: mit Radioheads Effizienzverweigererhymne “Creep” und einem artistisch aber nutzlos an den in den angedeutet schäbigen Raum samt depressiver Fototapete (Ausstattung: Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulos) gehängten ringen turnenden Marc. Ein Schlaffi, wie er im Buche steht. Arne Gottschling spielt ihn denn auch mit reichlich hölzener ausgestellt pubertärer Tumbheit, was leider nur zu gut zur völlig überzogenen Toughness von Emma Lotta Wegners Selma passt.

Nein, mit dieser Jugend ist nicht viel Staat zu machen. Und so bekommt Vater Gerd nicht nur bei seiner wohlfeil anti-inttellektuellen Rede zur Verteidigung des Smalltalks gegen ernsthafte politische Debatten vereinzelten, aber begeisterten Szenenapplaus, sondern auch reichlich Zustimmung beim Umgang mit dem hier tatsächlich durchgängig nutzlosen Sohn. Der Preis: Das Konfliktpotenzial des Stücks verpufft, weil eine Seite fast gänzlich verschwindet. Ein Generationenkonflikt findet nicht statt, denn natürlich lässt sich über die Helikoptereltern die Nase rümpfen, aber irgendwie haben sie ja auch recht.

Bleibt die soziale Ebene. Der ergeht es ein wenig besser, was vor allem an Judith Rosmair liegt, die Selmas labile Mutter spielt. leicht wird es ihr nicht gemacht mit den wilden Haaren und der lächerlichen Hysterie, zu der Text und Regisseur sie anspornen. Und doch gelingt es ihr immer wieder, kleine Momente der Wahrhaftigkeit zu finden, Schlüssellochblicke auf die existenzielle Verzweiflung, die so manche um die Zukunft der eigenen Kinder besorgte Mutter umtreibt. Die Verunsicherung in einer Welt der vermeintlichen Chancenüberfülle und des medialen Overkills – in Rosmair wird sie zumindest punktuell spürbar. Doch fehlt auch ihr der Gegenspieler: Schreibers Vater spielt auf einer ganz anderen, eher klamottigen Ebene und Simone Thomalla, Star des Abends, bleibt weitgehend farblos. Ihre Mutter Bettine gerät ebenso beliebig haltungslos wie die “vernünftige” Schwester, gespielt von einer gelangweilt sympathischen Angelika Milster. Was am Ende bleibt: harmlose Unterhaltung mit vielen Lachern und einem schalen Gefühl im Hals.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/01/generation-schlaffi/
Leserkritik: Lear, Berlin
Nach William Shakespeare: Lear, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Silvia Rieger)

(...)

Da ist es denn auch logisch, dass Lear als diktatorischer Choleriker erscheint, zunächst weitgehend allein auf der Bühne, eingekapselt in seinem Machtkokon, dass das Gegenprinzip, die ehrliche Tochter Cordelia abwesend bleibt (sie huscht nur kurz stumm im lächerlichen Show-Tänzerinnenkostüm über die Bühne), dass die meisten Figuren schizophren oder gar bipolar angelegt sind, mit sich selbst debattieren, zu Gollum-haften Monstern gewaltinduzierter Ich-Aufspaltung werden (dass die beiden “bösen” Töchter in Personalunion gespielt werden, ist da kein Zufall), dass der Mob wütet (“Cordelia muss weg!”), dass Rieger das Königsdrama, das sie ohne Rücksicht auf Figuren und Handlungszusammenhänge bestenfalls skizziert, verschränkt mit Heiner Müllers Kriegsirrsinn der Wolokolamsker Chaussee, dass sie die Ränkespiele von Othello zitiert und die naive Menschheitsvision von Der Sturm persifliert. Der Mensch ist des Menschen Wolf, in den Schlössern Englands wie den russischen Wäldern. wohin das führt? Nirgends. Nur in den Tod. Sterben ist sinnlos. Für Lear wie die Soldaten bei Heiner Müller, für Desdemona und Othello, für die Menschheit.

So weit so gut. Doch Silvia Rieger will nicht verstanden werden oder zumindest will sie es dem Publikum so schwer wie möglich machen. es wird, das gehört zum guten Ton, im Theater Castorfs, gebrüllt, was das Zeug hält. Rollen lösen sich auf, Texte werden zu mechanischem Selbstzweck – man beachte den schönen Beginn, in dem Rieger Lears Rede nacheinander aus den Bestandteilen Schreien, Schimpfen und Text zusammensetzt – Körper zu unkontrollierten gestischen Verkrampfungsmaschinen (den neben Rieger agierenden Studierenden der HfS “Ernst Busch” kann man zumindest keinen mangelnden Einsatz vorwerfen, auch eine schöne Martin-Otting-Imitation ist dabei). Inmitten der Ränkespiele wird über Kaffeetassen gestritten, Konfrontationen enden in grotesker Sinnlosigkeit, sechs Rotkäppchen stellen sich einem imaginierten Wolf. Immer, wenn sich so etwas wie Verstehen einzuschleichen droht, setzt Rieger Störfeuer, durchbricht die Narration mit wahnwitzigem Nicht-Material oder bringt sie zum Stillstand, etwa wenn tausende Briefe die Bühne fluten.

Lose Enden, Nichtzusammenpassendes, wiederholte Sprünge zwischen den nicht ineinander greifen wollenden und sollenden Textebenen, Durchbrechungen des Theatralen, unerträglich lange Wiederholungsschleifen, die Gewalt des gewollt Sinnlosen (Beispiel: der vielleicht seltsamste Bauchladen der Theatergeschichte): all das ist nicht Regiemittel – eas ist der Kern dieses Theaters des Auseinanderbrechens, der Dekonstruktion. Nur ist eben was bleibt herzlich wenig: Zweistündiges monotones Brüllen, zunehmend willkürliche Sinnaufhebungen und eine Überforderung, die nur ermüdet und den Blick nicht schärft. Es ist, als würde Silvia Rieger einfach nur noch mal die Mittel des Castorfschen Theaters vorführen – ob das irgendwohin führt, ist ihr egal. Wenn es das nicht tut – umso besser. Nur weiß eben jeder Castorf-Kenner auch: Wenn seine Stilmittel zum Selbstzweck werden, wenn sie nicht mehr dazu dienen, Geschichten zu erzählen, zu hinterfragen und sich an ihnen zu reiben, dann bleibt, was diese Bühne in Bert Neumanns ikonischem Raum wie den ganzen Abend auszeichnet. Leere und Erschöpfung. Und den Wunsch zu vergessen. Ganz schnell.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/02/cordelia-muss-weg/
Leserkritik: Katzelmacher, Berlin
"Katzelmacher", Junges DT, Berlin

Die neue Produktion des Jungen DT in den Kammerspielen des Deutschen Theaters überrascht damit, dass die Jugendlichen auf der Bühne ganz unter sich bleiben. Jessica Glause erarbeitete ihre Fassbinder-Adaption „Katzelmacher“ mit elf Schülerinnen und Schülern. Anders als in „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf…“ oder „2 Uhr 14“ stehen ihnen diesmal keine erfahrenen Profis zur Seite.

Die zweite Setzung des Abends ist, dass die zentrale Rolle des Jorgos eine Leerstelle bleibt. Der griechische „Gast- oder Fremdarbeiter“ – so nannte man die Zuwanderer bekanntlich Ende der 60er Jahre, als Rainer Werner Fassbinder mit 24 Jahren dieses Stück schrieb – ist eine Projektionsfläche. Bei den einen löst er Sehnsüchte aus. Einige junge Frauen erträumen sich eine Zukunft mit potentem, exotischem Lover, der sie aus der bisherigen Tristesse herausreißt. Die Männer reagieren eher ängstlich auf den „Eindringling“ in ihr „Revier“. Sie überspielen ihre Unsicherheit mit Aggression und Hass.

Das Leitmotiv des knapp 80minütigen Abends: Wenn die Meute oder Einzelne den Neuankömmling Jorgos ansprechen, gehen ihre Worte ins Leere. Damit sollen die im Programmheft zitierten Fragen aufgeworfen werden: „Was, wenn es für Fremdenfeindlichkeit gar keinen Fremden braucht? Was, wenn Jorgos nur in den Köpfen existiert? Wenn das abgelehnte Andere eine Projektion des Eigenen ist?“

Die Berliner Jugendlichen treffen die bayerisch eingefärbte Umgangssprache der Fassbinder-Figuren erstaunlich gut, wenn sie lamentieren: „Das hat mal sein müssen, weil der hier rumläuft, wie wenn er hergehört.“ Ihre lasziven Choreographien nimmt man ihnen in ihrem Teeanger-Alter aber noch nicht ganz ab: diese Szenen wirken noch zu gekünstelt und angelernt.

Fraglos passt das Fassbinder-Drama, mit dem der junge Regisseur 1968 am Münchner Action-Theater und ein Jahr später auch im Kino erste Erfolge hatte, gut in unsere Zeit. Die fremdenfeindlichen Töne der Figuren und die Forderung „Eine Ordnung muss wieder her“ klingen aus aktuellen Diskussionen gefährlich vertraut.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/02/07/katzelmacher-das-junge-dt-spielt-fassbinder/
Leserkritiken: Hilferuf aus Esslingen
Hilfe! Ich halte es nicht mehr aus, was an der Landesbühne Esslingen für flaches Wasser gezeigt wird. Ja klar, man muss das Publikum (Ü60, oder was?) halten, aber wo bleiben wir, die zwischen 30 und 50 Jahren. Was ist mit uns? Ich fühlte mich noch nie wie momentan beim Zuschauen intellektuell unterfordert, dass ich schreiend aus dem Theater rennen möchte. Aber da mein Theater liebe, werde ich mir weiterhin alles anschauen, in der Hoffnung auf Besserung, auf den Wandel. Aber vielleicht liege ich ja falsch, und hier entsteht ein neues modernes Volkstheater mit schwäbischer Sprache, who knows? Aber im Publikum klafft ein Loch. Wo ist die jüngere Generation? Wo sind die modernen Ästhetiken? In Esslingen scheinen alle Theatererneuerungen der letzten Jahre spurlos an den Inszenierungen vorbeigegangen zu sein. Könnte Nachtkritik die WLB Esslingen etwas mehr besprechen, in der Hoffnung von außen Impulse setzen zu können? Ah! Ich sterbe im Zuschauersaal und dennoch liebe ich die WLB. Paradox!
Leserkritik: The Making-of, Gorki Berlin
"The Making-of". Eine Produktion des Studio Я / Maxim Gorki Theaters

ie hysterische Regisseurin Gordon (Stella Hilb) möchte die prekären Arbeitsbedingungen des Stadttheaters hinter sich lassen und träumt vom großen Ruhm und großen Geld: sie plant ein deutsches Remake der Batman-Blockbuster-Reihe.

Den unbegabten Sohn des 80er Jahre-Action-Stars Dolph Lundgren besetzt sie zähneknirschend für die Titelrolle: so ist sichergestellt, dass der Papa als Produzent einsteigt und das nötige Kleingeld zuschießt, um die Produktion zu stemmen. Eva Bay spielt diesen schwäbelnden Jungen, der mit großen Augen übers Set wandert eine viel zu hohe Stimme hat.

Als klischeeblonde Männerphantasie wird eine feministische Performerin (Mareike Beykirch) verpflichtet, die nur „Das Mädchen“ genannt wird. Sie macht in Schweden politisch-engagierte, aber brotlose Kunstprojekte, verachtet das trashige Drehbuch des Blockbusters und versucht, die Produktion feministisch zu unterwandern. Im King Kong-Stil soll ein Schakal (Till Wonka) animalisch über sie herfallen.

Nora Abdel-Maksoud macht in ihrer Kunstbetriebssatire „The Making-of“ dort weiter, wo sie 2014 im Ballhaus Naunynstraße mit „Kings“ aufgehört hat: temporeiche Dialoge, stark überzeichnete Figuren und jede Menge Insider-Gags über „Gender Pay Gap“, „Method Acting“, Performance vs. klassisches Theater, Popcorn-Kino vs. cineastische Projekte sorgen für einen unterhaltsamen, wenngleich streckenweise recht selbstreferentiellen Abend.

Für den Abend im Studio Я des Gorki Theaters holte sie als Partner für ihre beiden bewährten Stamm-Spielerinnen Bay und Hilb, die u.a. auch in „Kings“ dabei waren, zwei Ensemble-Mitglieder des Gorki (Beykirch und Wonka).

„The Making-of“ hatte am 13. Januar 2017 Premiere und wurde zum „Radikal jung“-Festival des Münchner Volkstheaters eingeladen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/03/03/the-making-of-kulturbetriebsatire-mit-ueberzeichneten-figuren-im-gorki-studio/
Leserkritiken: Homo Digitalis, Berlin
Gilliéron / Koch / Wey: Homo Digitalis, Kaserne Basel / Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Zino Wey)

Steve klickt. Steve preist an. Steve verkauft. Was? Sich. Er ist ein “Homo Digitalis”, er lebt im, mit dem, durch das und vom Internet. Bekommt er fünf Sterne, geht es ihm gut, gehen die Bewertungen runter, gähnt der Abgrund. So lange er ein “Top Seller” bleibt, hat er eine Existenzberechtigung, verliert er den Status, verschwindet er. “Ich löse mich auf”, sagt er einmal. Ohne seine Netzidentität ist er nichts. Beim Basler Kollektiv Gilliéron / Koch / Wey gibt es ihn gleich vierfach: Klone eines scheinbaren Individuums, gekleidet in Jeans und Rollkragenpullover, verwechselbar, verzichtbar. Um die Lebenswirklichkeit in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft soll es in diesen 70 Minuten gehen und darum, was die Anonymität, Verfügbarkeit und Schnelligkeit der(post)modernen Arbeitswelt mit dem auf Individuum trainierten Menschen machen. Eine enge Box bevölkern die vier Steves, ein Stuhl, ein Tisch, eine Matratze – und vier Laptops. Sie leben online, arbeiten online, denken online und existieren online. Ihren Körper, ihre Hände brauchen sie nicht mehr. Sie sind Pixel und Likes und Klicks. In radebrechendem Denglish preisen sie sich an, bieten ihre Dienste feil und sich selbst, werden gepriesen und verstoßen, verlieren jegliche Kontrolle über das, was sie Leben nennen, weil ihnen ein passender Begriff dafür fehlt.

(...)

Das ist eindringlich, stringent und spannungsreich inszeniert – und greift natürlich viel zu kurz. Das Netz als Möglichkeits- und Entfaltungsraum, als Ideenlabor und Freiheitsort kommt nicht vor, seine praktische wie utopische Dimension bleiben außen vor. Stattdessen ist der “Homo Digitalis” hier ein evolutionärer Rückschritt, die digitale Gesellschaft, die Zukunft der Arbeit eine reine Dystopie, die der Abend weiterspinnt zu einer Arbeitswelt ohne Menschen, einer platt abgestandenen Vision einer Computer- und Roboterwelt, in welcher der Mensch nur noch Störfaktor wäre, ein Science-Fiction-Szenario, das eigentlich schon vor Jahrzehnten zu Grabe getragen wurde. Hier feiert es im Schlussteil alles andere als fröhliche Urständ. Wenn auf die Melodie von “Ave Maria” binäre Zahlenreihen gesungen werden, ist das ein netter Einfall, der aber keinerlei Erkenntnisanspruch hat. Und so bringt das ende auch den deutlich stärkeren – und um einiges klügeren – Beginn mit zu Fall. Natürlich ist die Analysen der Gefahren einer immer digitaleren Arbeits- und Lebenswelt von einiger Schärfe und Prägnanz, nur führt leider seine Alternativlosigkeit, das unerbittliche Schwarz-Weiß, das dieser Analyse als Schlussfolgerung folgt, zu einer Perspektive, die immer mehr einengt, selbst als die Wände der Box fallen und die Steves die babyblaue Spielfläche erobern, die Welt, in der sie erstarren, weil sie nur ihren Algorithmen zu folgen im Stande sind. Die “schöne neue Welt”, sie ist – natürlich – ein entmenschlichender Schreckensort ohne erkennbaren Ausweg jenseits seiner kompletten Ablehnung. Und so versteckt sich ein Abend, der so klug und klarsichtig begann, zunehmend in schlichtem Kulturpessimismus. Gut, dass der Besucher am Ende wieder hinaus muss, in eine Wirklichkeit, in der sich der Mensch eben (noch) nicht so leicht wegklicken lässt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/04/ins-netz-gegangen/
Leserkritik: Schwarze Jungfrauen in Trier
Jakub Gawlik inszeniert „Schwarze Jungfrauen“ am Theater Trier.
Bericht von der Premiere am 03.03.2017.
Wer ist der Islamist?
Diese Frage hat nach den Anschlägen der letzten Jahre an Zugkraft gewonnen. Es wird mehr darüber geredet und je mehr geredet wird, desto gleichförmiger werden die Antworten.
Die Schwarzen Jungfrauen befassen sich mit dieser Frage. Der Text beruht auf Interviews mit radikalisierten Muslimas. Er exponiert, er zerrt ins Rampenlicht, was sonst im Verborgenen bleibt. Dabei soll das Verworrene und Konspirative von Weltsichten zu Tage treten, die uns irgendwie fremd sind, aber auch die persönlichen Risse und Frustrationserfahrungen der Protagonistinnen. Es wird über Bomben und Sex gesprochen, Terroranschläge und Einsamkeit.
In der Inszenierung von Jakub Gawlik, der vorher am Residenztheater gearbeitet hat, ist das Stück bereits da, wenn die Zuschauer den Raum betreten. Statt von Schließerinnen werden sie von Schauspielerinnen im schwarzen Abendkleid empfangen, die freundlich lächeln. Es folgt eine sekundenschnelle Transformation: Das Stück beginnt und die freundlichen Frauen im Kleid konfrontieren das Trierer Publikum mit ihren Ansichten, dem, was sie sonst hinter einem Schleier halten. Dabei treten, teils chorisch, teils einzeln gesprochen vielseitige und verstörende Ansichten zu Tage. Es begegnen sich der Wunsch, in Demut bei Allah zu sein, mit Hasstiraden über die „Tetrapack-Fressen“, einer Verschwörung der Homosexuellen und der Bloßstellung einer Lesbe. Eine Anwältin spricht über Flöhe, die man sich einfängt und die Freude am elften September. Eine andere über ihre Flucht nach Berlin, weil Bilder von ihr im Internet kursieren. Gemeinsam ist den Stimmen etwas Jugendliches und Naives, aber auch eine unterschwellige Wut, die erst hinter Parolen versteckt, im Lauf der Inszenierung aber immer verständlicher wird. Hat die Anwältin nicht Recht, dass wir uns gerne die „Befreiungsgeschichten“ von jungen Muslimas anhören, dass wir soziales Scheitern lieber auf die Religion als auf die Person verlagern? Stimmt es nicht, dass uns die Leichen „auf deren Gesichtern dicke fette Fliegen landen“ die meiste Zeit egal sind? Die Frauen in schwarzen Abendkleidern entwickeln sich bei Gawlik zu Projektionsflächen, die an ihrem Text so viel Spaß entwickeln, dass sie gemeinsam auf dem Bühnenteppich herumtollen können und Freude verbreiten, wo hinter jedem Satz eine geistige Brandbombe lauert.
Die große Leistung der Inszenierung besteht darin, Sympathie für Figuren zu erzeugen, die seltsame Dinge sagen, aber auch darin, die Angst vor diesen Figuren abzubauen. Gawlik arbeitet die Divergenz in der Community heraus, aber auch die Orientierungslosigkeit und das Abstrakte dieses Glaubens. Das gelingt erstaunlich gut und passiert unmerklich und nebenher. So oft sich die Spielerinnen zusammenfinden, es gibt hier keine einheitliche Gruppe, die spricht. Die eine ärgert sich über die „Halbgläubigen“, die andere über „Traditionstürken“, die ihr den „Glauben kaputt stinken“. Eine Konvertitin offenbart sich als fremdenfeindlich. Nicht einmal auf den Schleier können sie sich einigen. Eigentlich gibt es nichts, was diese Menschen zusammenbringt.
Es ist eine Mischung aus Konzentration und Betroffenheit, in die sich das Publikum versetzt sieht. Anspannung und Lockerung wechseln sich stimmig ab und gerade wenn es droht zu viel der Freude am Spiel zu werden, tritt mit Gina Heller eine vierte Spielerin dazu, die einen Kontrapunkt setzt, indem sie ernst bleibt, wo vorher Trash-Referenzen aufgerufen wurden: Einhörner, Trump-Einspielungen oder dialektale Liedchen. Das alles vollzieht sich unmerklich, es kommt in den achtzig Minuten nicht zu Längen
Sicher handelt es sich um einen Theatertext, der verstört. Trotzdem wird er bei Gawlik auf eine so natürliche Weise erzählt, dass das Abgründige plötzlich nicht mehr schrecklich und fremd erscheint. Mit hohem Einfühlungsvermögen und ohne pädagogischen Impetus lässt uns Gawlik an der Weltsicht dieser Figuren teilhaben, an ihrer Rede, an ihrem Spiel. Fast könnte man vergessen, dass es sich bei dem Stück ursprünglich um eine Konzeptarbeit handelte, die in Textform doch hölzern bleibt. Das verschwindet in einer Inszenierung, die aus dem Material eine eigene Poesie entwickelt.
Damit sind die Schwarzen Jungfrauen in Trier ein Theaterabend, der nachdenklich macht, auch weil es ihm gelingt, Ängste zu nehmen und Empathie herzustellen, poetisch zu sein und Radikalität und Hass als etwas erscheinen zu lassen, was nicht unendlich weit von uns selbst entfernt ist. Gawlik holt die Schwarzen Jungfrauen zurück in unsere Welt.
Leserkritik: Bela B spielt Sartana in Braunschweig
Sartana-noch warm und schon Sand drauf
Eine außergewöhnliche Kunstform bringt Bela B auf die Bühne - ein visuell erlebbar Hörspiel, gesehen am 04. März im Staatstheater Braunschweig. Dazu hat sich Bela B von den Ärzten eine Reihe guter Künstler auf die Bühne geholt, von einer Band über eine Sängerin, einen Erzähler sowie einen Top-Geräuschemacher. Bela B selbst ist Moderator und der gefürchtete Sartana. Die Story dreht sich um diesen schiesswütigen Sartana-noch im Wilden Westen. Entsprechend auch die Musik, die jene seiner neuen CD ist.
Die Idee ist gut und zum Teil auch gut umgesetzt. Es ergeben sich auch immer wieder neue überraschende Momente, mit reichlich Lachen und Zwischenablage. Leider wiederholen sich bestimmte Szenen, vor allem Schießereien so oft, dass zunehmend Langeweile aufkommt. Die Selbstverliebtheit von Bela B ist auch etwas nervend. Hier muss Bela B schnell nacharbeiten (kürzen). Da die Truppe ja durch Deutschland zieht, werden wohl immer reichlich Ärzte-Fans in die Aufführungen gehen. An einem festen Ort würde die Nachfrage sonst schnell abnehmen. Also: tolle Idee - aber noch nicht richtig ausgefeilt. Allerdings muss man auch einen sehr speziellen Humor mögen. Die primitive Art erinnert nicht selten an Helga Schneider.
Leserkritik: nebenan, Braunschweig
"nebenan" vom Jungen Staatstheater Braunschweig

Welche Bilder kann ein Theaterabend finden um eine tief schwarze Episode der Vergangenheit nicht nur aufzudecken und sichtbar zu machen, sondern den Augenblick des erschrockenen Innenhaltens darüber hinaus zu erhalten? Nur einen Moment? Welche Szenen muss er abspielen um dem Publikum eine Vorstellung davon zu geben, was sich vor Jahrzenten wirklich ereignete? Und wo kann man den Zuschauer einer solchen Konfrontation aussetzen?
Ulrike Hatzer (Konzept/Regie) geht in ihrer Inszenierung „nebenan“ vom Jungen Schauspiel Braunschweig direkt an den Ort, der Kern und Ausgangspunkt einer kaum fassbaren Katastrophe war.
Das Geschäftsgebäude der AOK Braunschweig dient heute dem Publikumsverkehr und der Verwaltung der „Gesundheitskasse“. Der als „Krankenkassenpalast“ (Braunschweiger Rechtpresse Anfang der 1930er) streng geplante und von 1929-1932 errichtete Zweckbau liegt am Zentrumsrand der Stadt. Doch zunächst wurde er von den Nationalsozialisten als Haft- und Folterstätte umfunktioniert. Hier wurden 1933 2500 Menschen festgehalten und misshandelt, etliche ließen ihr Leben. Die Geschehnisse, die sich nach der Machtergreifung der NSDAP auf das ganze Land und die halbe Welt legen sollten nahmen unter anderem auch hier ihren Anfang. Hier wurde erprobt, durchexerziert und einstudiert, was im weiteren Verlauf millionenfach abgehalten und zum Äußersten getrieben wurde.
Das Recherchetheaterprojekt ist eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Geschichte des Gebäudes. Die Zuschauer werden in vier Gruppen durch das sechsstöckige Haus geführt. Tagsüber herrschen hier alltäglicher Publikumsverkehr und routinierte Geschäftigkeit. Der Theaterabend leitet jedoch über menschenleere endlose, verwinkelte Gänge, vorbei an Reihen immer gleicher Türen, durch kahle Steintreppentreppenhäuser. Parallel dazu bewegen sich fünf SpielerInnen (Anja Dreischmeier, Sinem Spielberg, Anton Andreew, Ravi Marcel Büttke, Ralph Kinkel) auf verborgenen Wegen durch das Haus. Sie tauchen plötzlich auf. Nah oder fern, still oder laut beleben sie einzelne Stationen in entweder sehr konkreten Spielszenen oder in teils chorisch choreografierten Bewegungs- und Spielabläufen.
Den formalisierten Theaterbildern stellt die Inszenierung das Erleben des Gebäudes gegenüber. Ohne Möglichkeiten sich zu setzen, kurz auszuruhen treibt sie die Gruppen rastlos durch die Geschäftsstelle. Sie führt in funktionsorientierte Konferenzräume, hallende Foyers und Aufgänge, lässt sie kurz innehalten und treibt sie sofort zügig weiter. Besinnung und Verwirrung liegen in diesem Ablaufplan dicht beieinander. Dem gegenüber stehen immer wieder große Teile von Leere und Lücken. Stille Räume, nackte Wände, halbdunkle Galerien. Vor allem aber liegt das bemühte Schweigen der Zuschauer selbst, die sich kaum ein Geräusch der Klage erlauben, durchdringend über allem. Jedes Rad des Inszenierungsgetriebes greift in das andere. Perfektes Timing. Kalte Analogie.

Der Arbeit Hatzers geht eine intensive Recherchephase voraus, in der sie sogar einige der noch wenigen lebenden Betroffenen befragen konnte.
Die diesbezüglich wichtigste Leistung ist die schriftliche Auflistung der Namen so vieler Betroffener wie möglich. Bisher gelang das für 450 der ca. 2500 Personen. Die Arbeit an diesem Dokument dauert an. Schon jetzt zieht es sich auf einer Papierrolle hängend durch das gesamte Treppenhaus der sechs Stockwerke.
„nebenan“ ist kein Stück in dem es darum geht neue Formen des Recherchetheaters zu finden oder die Grenzen zum Dokumentartheater auszuloten. Vielmehr geht es darum die tradierte Formsprache so einzusetzen und weiter zu entwickeln, dass sie den Betroffenen endlich eine Stimme gibt. Vor allem in Zeiten, in denen der Zweifel eine immer leichter zu kultivierende Anmerkung zu werden droht.
Insgesamt tritt die Inszenierung still und teilnahmsvoll hinter das Grauen und verschafft ihm gerade dadurch seine schreckliche Tragweite und Präsenz in unserer Gegenwart.
Gänzlich unmissverständlich wird die Inszenierung wenn sie am Ende im beeindruckenden Statement einer Spielerin auf die Gemeinsamkeiten zum Damals und die Gefahren im Hier und Jetzt hinweist. Diese Entscheidung ist das endgültige Argument, warum es wichtig ist, die Inszenierung zu sehen, über sie zu sprechen, ihre Botschaft in das eigene Leben mitzunehmen und dort weiter wirken zu lassen. Denn nebenan ist an jedem Ort.
Termine: 06.-09.03 und 14.-17.03.: 18.00-20.00 Uhr, 18.03.: 19.00-21.00 Uhr – AOK Geschäftsgebäude, Am Fallersleber Tore 3-4, 38100 Braunschweig
Leserkritik: Katzelmacher, Berlin
Junges DT – Rainer Werner Fassbinder: Katzelmacher, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Jessica Glause)

Die Inszenierung in den Kammerspielen nimmt sich den Komplex der Entstehung von Hass und Ausgrenzung vor. Es ist ein Theater der Positionen – im Wortsinn. Gruppenbildungen, Ausstoßungen, Zusammenrottungen: Der Abend ist eine sorgfältig choreografierte Abfolge von Aufstellungen, die Machtverhältnisse zeigen und Prozesse der Anziehung und Abstoßung meinen, die Ordnung herstellen im Sinne eines Gleichgewichts der Gewalt, die auf der Ebene derer im Nirgendwo bleibt und nie ion andere Sphären überschwappt. So lange sich „die da unten“ gegenseitig in Schach halten, bleibt alles, wie es ist. Da wird gepost, ziellos angerannt, Zwischenmenschliches endet stets in Unterwerfungsgesten – seiner selbst oder des Anderen – statt einander zu küssen oder zu streichen, werden Gesichter befingert, Köpfe gerieben und niedergedrückt, Menschen zu Boden geworfen. Vermeintliche Alphatiere bauen sich vor einander auf, bewegen sich artistisch auf einem Parkours der Machtgesten, suchen die eigene Größe im Kleinhalten der Anderen. Die Ausgreunzung des Prinzips Jorgos ist dabei nur der Kulminationspunkt – der Mechanismus ist längst etabliert. Hier ist auch Sex Macht oder Machtlosigkeit. Grotesk abstrahier ist er hier nie Liebesausdruck, sondern stets Währung – wie alles andere. Die Ökonomie des Begehrens ist die Schwester jener gesellschaftlicher Hierarchisierung.

Passend zur Mechanik, auf die das Zwischenmenschliche reduziert wird, ist hier auch das Spiel, das sich auf kongeniale Weise aus Fassbinders trocken kalter, selbst mechanisch anmutender, entindividualisierter Sprache ableitet. So roboterhaft die Sprache, so karikaturesk puppenähnlich sind hier die Figuren. kein Naturalismus herrscht hier, sonder die Abstraktion vorgefertigter und -bestimmter Bahnen. Ein wild grotesker Marionettentanz, bei dem Individualität von grellen Haarfarben und plakativ lächerlicher Kleidung bemäntelte Behauptung bleibt, ein Geistertanz der Ökonomisierung sämtlichen Lebens, das nur etwas wert ist, wenn es sich anderen Leben gegenüber aufwiegen und als schwerer, substanzieller bewerten lässt. Ist das nicht möglich, erfindet man einfach Skalen, die den eigenen Wert behaupten, ohne die Ordnung zu stören. Der Ausgegrenzte, der sich Sex kauft, und dessen Verkäuferin wähnen sich beide am längeren Hebel. Auf diese Weise fällt beiden nicht auf, dass sie kein Dach über dem Kopf, sondern nur eines unter den Füßen haben, eine Ordnung, die ihre eigene Perversion ist. Und so bleibt die Balance aufrecht und führt zur ultimativen Ruhe und Ordnung: der Erstarrung des Schlussbildes. Nein , echt ist hier nichts. Oder alles.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/10/6495/
Leserkritiken: "Feygele" von Tobias Herzberg
Im Studio Я des Gorki Theaters und demnächst als Gastspiel in Köln ist eine streitbare Performance von Tobias Herzberg zu erleben.

Als die Zuschauer sich noch ihre Plätze suchen, sitzt Tobias Herzberg (Dramaturg, Regisseur und Performer) ganz friedlich in der ersten Reihe. Er mischt sich unters Publikum und erzählt mit einem Badetuch um die Hüften vom Cruising in einer Basler Sauna.

Im anekdotischen Plauderton beginnt er seine Performance "Feygele": das jiddische Wort bedeutet ursprünglich "Vögelchen", ist aber auch eine abwertende Bezeichnung für Homosexuelle. Das englische Schmähwort "faggot" hat - laut Gorki-Programmzettel - darin seinen Ursprung.

Als der gebürtige Hamburger Herzberg mit Mitte 20 in das schönere, aber auch noch teurere Zürich ziehen wollte, um dort Regie zu studieren, riet ihm sein Vater, sich bei einem jüdischen Stipendienwerk zu bewerben.

Tobias Herzberg erzählt von seinem Auswahlgespräch: Er sei schwuler Jude. Bisher habe er aber nur mit seiner Homosexualität praktische Erfahrungen. Sein Vater habe ihn nicht mit in die Synagoge genommen, nicht religiös erzogen und auch nicht beschneiden lassen. Dennoch sei er auf Anhieb aufgenommen worden.

Die zweite Hälfte der Performance besteht aus sehr detaillierten Schilderungen seiner sexuellen Vorlieben für kernige Machotypen, die sich an ihm austoben, und anekdotischen Schilderungen seiner Diskussionen mit anderen Stipendiaten des Begabtenwerks in Tel Aviv.

Der Abend entwickelt sich zu einem hedonistischen Plädoyer für das Ausleben der Lust, schildert Erlebnisse am Strand in Tel Aviv und in Darkrooms von Berlin bis Jerusalem. Statt der biologischen Verwandtschaft, die Netanjahu-Bilder über dem Sofa hängen hat, feiert er die Wahlfamilie einer Community und ihrer "Hoods", in denen er sich sofort wohl fühle: am Nollendorfplatz, in St. Georg, im Marais, im Castro oder im Glockenbachviertel.

Als "kämpferische Hymne auf die Perversen und Gefährdeten dieser und aller möglichen Welten" beschreibt Herzberg seine Performance. Nach der gemütlich-unterhaltsamen ersten Hälfte wartet Herzberg mit umstrittenen Thesen auf.

Explizit greift er den offen schwulen Staatssekretär Jens Spahn (CDU) an, da er eine Minderheit (LGBTI) gegen eine andere (Muslime, die sie bedrohen) ausspielt. Während er dieses Thema nur kurz anreißt, begründet er in einem langen Plädoyer für ungeschützten "Bareback"-Verkehr, warum er Safer Sex und Kondome ablehnt.

Erstaunlich war, wie ruhig es blieb. Der Performer wurde mit freundlichem Applaus verabschiedet.

https://www.freitag.de/autoren/kulturblog/feygele
Leserkritik: Der Besuch der alten Dame, Bern
Theaterkritik zum Stück "der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt am Stadttheater Bern
Regisseur Ingo Berg
Bühne Damian Hitz
Claire Zachanassian - Nikola Weisse
Ill Peter Jecklin
Von wegen nichts Neues ! Der Fluch der alten Damen
Liebe und Leidenschaft einer Frau werden immer wieder enttäuscht. Männer schwimmen wie Fett oben auf und die Frau geht unter. Von der Gesellschaft und von ihrem Liebsten im Intimsten verraten und isoliert, ja beinahe ganz zerstört, vermag diese starke, autonome Frau den Spiess umzudrehen, zeigt, was Gerechtigkeit ist und bringt auch ihren geliebten Alfred dazu, zu sich und zu ihr zu stehen.
Die Liebe ist stärker als Rache, aber die Verletzung einer Seele ist stärker als die Liebe. Die verletzte Seele tötet sich selber zu aller erst. Nur die Liebe bleibt, aber die Menschen gibt es nicht mehr, wunderschön und ergreifend in dem Duett der Liebenden dargestellt. Er stirbt durch die Angst, die seine Seele zerfrisst. So wie ihre Seele zerstört wurde, als er sie verleugnete. Der Applaus ist verhallt. Jetzt gehört er ihr wieder ganz. Sie hat einen hohen Preis gezahlt, der Verrat hat sie eine Milliarde und ihr Leben gekostet.
Leider haben die Kritiken in Bund und BZ die Tiefe der dargestellten Gefühle nicht erkannt.
Leserkritiken: "The Great Pretender"/HAU Berlin
Zachary Oberzan: The Great Pretender, Hebbel am Ufer (HAU3), Berlin

Der Mensch und der Künstler – wie passen die eigentlich zusammen? Wahres Gesicht und Maske, Kunst und Leben, wer saugt hier wen aus, bedingt das eine das andere und wenn ja, warum? Gibt es den Menschen hinter der Maske oder nur ein Matrjoschka-artiges Ineinanderstülpen immer neuer Alter Egos? Und wo in diesem ganzen Durcheinander – falscher, wahrer? – Identitäten ist Wahrheit? Oder gibt es die nur im Spiel der Zusammenfälschungen? Zachary Oberzan, einst Gründungsmitglied des Nature Theater of Oklahoma, sucht in seinem Werk nach der Beziehung zwischen Leben und Kunst, sucht sich darin, fragt nach Natur und Möglichkeit menschlicher wie künstlerischer Identität. Mal beginnt er dabei beim (eigenen) Leben wie in Tell Me Love Is Real, in dem er einen eigenen Selbstmordversuch thematisiert, mal startet er mit der Kunst. Letzteres ist in seiner neuen Arbeit The Great Pretender der Fall, wie meist bei Oberzan ein Theater-Film-Hybrid, das diesmal sehr stark in die Film-Richtung ausschlägt.

(...)

The Great Pretender ist ein atemberaubend unterhaltsames Spiel mit und über Identitäten. Immer wenn man glaubt, das letzte Level sei erreicht, kommt ein neues hinzu. Wer filmt übrigens die Passage von der Festnahme des falschen Oberzan, mit der der filmische Teil beginnt? „Kiarostami“ ist da ja noch nicht an Bord. Oder stellt er auch das nach. Und was ist mit der gleichen Szene, nur aus dem Inneren? So fest man die Schraube anzieht, es geht immer noch weiter, Identität lässt sich nicht befestigen, ist durchlässig, flüssig, nicht fassbar. So spielerisch der Abend ist, so virtuos kreist er um sein Thema, ohne es zu fassen zu kriegen. Und je länger es entflieht, desto mehr scheint klar zu werden: Es geht nicht um das Ergebnis, es geht um den Weg, um das Hinterfragen, das Suchen und Ausprobieren, es geht um das Spiel. Und vielleicht lässt sich in diesem Spiel irgendwie, irgendwo, irgendwann so etwas wie Identität finden oder zumindest konstruieren. Beim Künstler und beim Rezipienten. Und womöglich ist genau dies Kunst. Oder Leben. Oder irgendetwas anderes.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/19/ich-ist-kein-anderer/
Leserkritiken: "Das hier ist kein Tagebuch" /Hamburg
Das hier ist kein Tagebuch - JungesSchauspielhaus Hamburg, Regie: Alexander Riemenschneider

Alexander Riemenschneider bringt das Buch der Niederländerin Erna Sassen auf die Bühne. Es erzählt die Geschichte des 16-jährigen Bou, der nach dem Selbstmord seiner depressiven Mutter nun selbst mit Depressionen zu kämpfen hat. Bou sind auf der Bühne gleich drei Darsteller (Thorsten Hierse, Gabriel Kähler, Phillipp Kronenberg), die nicht nur brilliant den Tonfall und die inneren Konflikte des Ich-Erzählers treffen, sondern auch glaubwürdig die anderen Personen verkörpern.
Die Bühne findet das wunderbare Bild einer transparenten, widerständigen und sich ständig verändernden Blase, die Schutzraum und Gefängnis zugleich ist. Als Jugendstück konzipiert ist der Abend Theater für alle im besten Sinne: intelligent, unterhaltsam, packend und überraschend.
Leserkritiken: Acceso, FIND-Festival Berlin
"Acceso" beim FIND-Festival der Schaubühne

Sichtlich mitgenommen, schwer atmend und schwitzend schleppt sich Roberto Farías als Sandokán aus dem Dunkel auf die Bühne. Im für Verkaufssender typischen Singsang preist er allerlei Ramsch an: Alles muss raus! Nur 2.000 Pesos!

Die Verkaufsshow wird durch plötzliche Erinnerungs-Flashbacks mehrfach unterbrochen: in diesen stärksten Passagen seines Monologs erzählt der Performer von den Misshandlungen durch katholische Priester aus seiner Zeit als Ministrant. In allen beklemmenden Details schildert er, wie er von den Tätern zum Sex genötigt und auch weiteren Stützen der vornehmen chilenischen Gesellschaft als Lustobjekt zur Verfügung gestellt wurde.

Als er im letzten Flashback erzählt, dass er schließlich auch seine Schwester mitgebracht habe, verschiebt sich das Bild: aus den Missbrauchs-Tätern werden „Onkels“, wie er sie nun zärtlich nennt, die ihn immer liebevoll behandelt hätten.

Der auf den wichtigsten internationalen Filmfestivals von Venedig bis Cannes gefeierte Regisseur Pablo Larraín, der den Monolog „Acceso“ gemeinsam mit dem Darsteller Roberto Farías entwickelt hat, erzählt in seinem Theater-Debüt eine alternatives Ende zu seinem bei der Berlinale 2015 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Kinofilm „El Club". Damals tauchte Farías in der Rolle des Missbrauchsopfers plötzlich in einer abgeschotteten Residenz in einem entlegeneren Winkel auf, an dem die katholische Kirche pädophile Priester versteckt hat. Er macht seinem Peiniger Vorwürfe und zwingt die Priester, sich mit ihren Verbrechen auseinanderzusetzen.

Anders in diesem weniger als eine Stunde kurzen Theater-Monolog: Er verteidigt die Täter und projiziert seine Wut zunächst auf die staatlichen Behörden, die ihn in Heime gesteckt und mit Psychopharmaka ruhiggestellt haben, und schließlich auf das Publikum, das er in einer für das FIND-Festival 2017 fast schon obligatorischen Beschimpfung als „deutsche Kartoffeln“ anpöbelt.

„Acceso“ ist eine Co-Produktion der Association Sens Interdits (Frankreich) mit Fitam (Fundación Teatro a Mil, Chile) und war am 1./2. April 2017 beim FIND-Festival an der Berliner Schaubühne zu Gast.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/04/02/acceso-wut-monolog-aus-chile-ueber-sexuellen-missbrauch/
Leserkritiken: Hamnet, Dead Centre, FIND-Festival Berlin
FIND 2017 – Dead Centre: Hamnet (Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel)

In den Arbeiten des Dubliner Theaterkollektivs Dead Centre geht es immer auch um ihr Medium, um die Mittel, die Realität, die Rolle des Theaters selbst. Das ist – bei diesem Thema ganz zwangsläufig – auch hier der Fall. Das Theater ist der Existenzraum Hamnets, der einzige, der ihm geblieben ist, und er verdankt ihm seinen Vater. So nimmt er die Werke des Vaters nicht nur als dessen Ersatz – sie werden auch zu seinem Lebensraum, seiner Existenzgrundlage. Die Welt, in der wir ihm gegenübersitzen, ist ihm unbekannt, er hatte keine Zeit, sie kennenzulernen und so versucht er sich ihr über die Texte des Vaters zu nähern. Und scheitert: Denn die Erwachsenenwelt muss ihm fremd bleiben, er kann ihr nie angehören. Doch wie ist es eigentlich andersherum: Wie nahe können wir ihm kommen, dem 11-Jährigen, der wir mal gewesen sein mögen und den wir längst vergessen haben? "Wer wird mich schreiben?", fragt er gegen Ende. Und wer kann es? Zusammen kommen die Welten nicht. Während seine Projektion auf der Wand mit dem Vater spricht, geht sein Blick auf der Bühne ins Leere. Hier zeigen sich exemplarisch die Möglichkeiten des Theaters als Ort, an dem das Vergangene, Verlorene wiederauferstehen kann, als Raum der Fantasie, des Unmöglichen, wo das Nichtvorhandene real werden kann. Aber auch seine Grenzen: Denn diese Realität ist eine temporäre, der Einbildungskraft des Zuschauers geschuldete, außerhalb des Theaterraums hat sie keinen Bestand.

Hamnet spielt dies auf virtuose Weise durch: durch die Dopplung des "realen" und des projizierten Hamnet, die gleichzeitige An- und Abwesenheit des Vaters, durch den Wechsel beider gegen Ende von der Bühne auf die Wand und zurück oder den fehlschlagenden Versuch, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, in dem ein Zuschauer den Vater in Hamlet gibt. Das geht ordentlich schief, nur die Todesszene am Schluss bekommen sie gemeinsam hin. Der Abend behandelt den existenziellen Schwerz eines Vaters, der aus dem Verlust des Sohnes, aber auch den eigenen Schuldgefühlen entsteht; die Sehnsucht des Kindes nach Größe, Bedeutung, Leben und die Verzweiflung darüber, vermeintlich nicht zu genügen; die schwierige Beziehung zwischen Vater und Sohn (man denke an den wunderbaren Square Dance zu Johnny Cashs "A Boy Named Sue"); die Unmöglichkeit, den anderen zu verstehen, zu fassen, vor allem über die Generationen hinweg; den Tod als am wenigsten fassbare und doch gewisseste aller menschlichen Realitäten; und das Theater als Raum des Träumens, des Möglichmachens, des Lebens nicht gelebter Leben, des Zusammenkommens derer, die das eigentlich nicht kommen – aber eben auch als illusionärer Ort, der das Leben zur Projektion vereinfacht, den Menschen zum von einem anderen imaginierten, als einer, an dem Realität vorgespielt, aber nicht erzeugt wird. Am Ende sind nicht nur Bühne und Wand leer, sondern auch der gespiegelte Zuschauerraum. Der Tod bleibt real, der selbstverständliche Wunsch zu sein ebenso. "Wer bin ich", fragt Hamnet einmal. "Du bist elf", antwortet der Vater. Ein intensiver kleiner und doch beinahe unendlicher Abend, der so manche Wand durchbricht. Auch ohne Quantentunnel.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/06/wer-wurde-sich-entscheiden-nicht-zu-sein/
Leserkritiken: Iphigenia in Splott, FIND-Festival Berlin
FIND 2017 – Gary Owen: Iphigenia in Splott, Sherman Theatre, Cardiff (Regie: Rachel O’Riordan)

Wo bleibt jetzt eigentlich die titelgebende Iphigenie? Sie kommt gegen Ende dazu und sorgt mit dafür, dass der Abend sich nicht nur wieder zurückzieht, sondern gar droht, gänzlich in sich zusammenzufallen. Die Geopferte, das ist natürlich Effie, der Opfernde die Gesellschaft, der Empfänger des Opfers der alles beherrschende Kommerz. Effie ist – natürlich – schwanger, die hat entgegen üblicher Gewohnheit bei Lee auf ein Kondom verzichtet, aus Liebe natürlich – das klingt nicht nur nach „GZSZ meets Rosamunde Pilcher“, das fühlt sich auch so an – und verliert ihr Baby aufgrund der kaltherzigen Kürzungen im Gesundheitssystem, die jene „ganz unten“ am härtesten treffen. Jetzt ist der Abend plötzlich politisches Manifest, Effie nur noch als Opfer der selbstgemachten Zustände interessant, auch wenn sie sich wehrt. Dass sie auf eine Klage verzichtet, weil diese zu noch mehr Kürzungen führen könnte, ist ein wirksam bitterer Twist, bekommt die dritte Dimension aber nicht mehr zurück auf die Bühne, die mit ihren längst aus der Fassung gefallenen Neonröhren ein Sinnbild des gewollten Verfalls sein will.

Man darf es gern noch einmal betonen: Sophie Melville ist phänomenal. Sie hält die Spannung ganz allein über 70 Minuten aufrecht, wühlt sich in jede Ecke des Textes und ihrer Figur – wenn es Momente gibt, die entsetzen, berühren, erschüttern, verunsichern gehören sie ihr. Denn der Text macht es sich ein wenig zu einfach. Die Dramaturgie ist mehr als vorherseh- und durchschaubar: Zunächst die taffe Prollbraut, die sich als empfindsame Liebessucherin entpuppt, die zurückgewisen vor Verzweiflung rast, kurz hofft und am Ende von der Welt in Stich gelassen wird – nicht ohne in ihrem eigenen Umfeld von den taffen aber natürlich eigentlich tief drinnen herzensguten Mitunterschichtlern Wärme zu empfangen – und die am Ende aufbegehrt. Das ist ebenso schlüssig wie klischeegetränkt, ohne jede Überraschung gedacht, mit einer Sprache versetzt, die in ihrer schimpfwortreichen Rohheit seltsam konstruiert wirkt, und zwängt die Figur in ein enges deterministisches Korsett, dass Melville zwar voll ausfüllt, das aber keine offenen Enden, nichts Nichtaufzulösendes hinterlässt. So sehr das Stück Authentizität schreit, so sehr bleibt Effie dezidiert Theaterfigur, abgerundet, ausinterpretiert, keine offenen Fragen zulassend. Auch die Regie scheut die harten, rauen Kanten, schleift ab, wo sich Stachel bilden könnten. Der Abend langweilt nicht, aber er bleibt in der Halbdistanz. Doch genau dort gehört er, gehört diese Frau, die natürlich keine Iphigenie ist, eben nicht hin.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/07/revolution-in-der-halbdistanz/
Leserkritiken: Pendiente de voto, FIND-Festival Berlin
"Pendiente de voto" von Roger Bernat/Barcelona beim FIND-Festival der Schaubühne

"Demokratie und Tragödie“ hat sich das FIND-Festival der Schaubühne als Motto für das Jahr 2017 gewählt. Wie schnell die Demokratie zur Farce werden kann, möchte Roger Bernat aus Barcelona mit seinem Mitmachtheater „Pendiente de voto“ demonstrieren.

Das Publikum bekommt Abstimmungsgeräte in die Hand gedrückt und soll auf die Fragen, die auf der großen Leinwand aufleuchten, mit „Ja“ oder „Nein“ antworten. Worauf das Ganze hinauslaufen soll, ist zunächst nicht klar: Scherzfragen wechseln sich mit ernsthaften Alternativen ab. Das „System“ zeigt erstmals seine Krallen, als willkürlich alle Nutzer gesperrt werden, die bei der vorherigen Frage mit „Nein“ gestimmt haben.

Nach einem Intermezzo, bei dem die Besucher zu Abstimmungspaaren gelost werden, teilt das „System“ das Publikum für die finale Runde in vier Fraktionen ein. Die Entscheidungsprozesse werden chaotisch, was nicht nur an der Größe der Gruppen, sondern vor allem auch an sprachlichen Verständigungsproblemen (die beiden Samstags-Vorstellungen waren auf Deutsch, nur am morgigen Sonntag werden die Fragen auf Englisch gestellt) und dem Zeitdruck der tickenden Uhr lag.

Im sich ausbreitenden Chaos überträgt das Abstimmungs-„System“ die Macht deshalb zunächst einem gütigen Alleinherrscher, der bei allen vorausgegangenen Abstimmungen am häufigsten die Position der Mehrheit vertrat, und übernimmt dann schließlich im Stil von HAL aus „2001 – Odyssee im Weltall“ die Alleinherrschaft.

„Pendiente de voto“ ist durchaus unterhaltsam, mit fast 2,5 Stunden bei nur kurzen Pausen aber streckenweise ziemlich redundant. Der Erkenntniswert dieses zur Farce entarteten Abstimmungs-Marathons bleibt über die Warnung vor der Unberechenbarkeit direkt-demokratischer Abstimmungen (siehe auch Brexit) hinaus recht gering.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/04/08/pendiente-de-voto-abstimmungsmarathon-beim-find-festival-demokratie-wird-zur-farce/
Leserkritiken: FIND-Festival Berlin, unangestrengt international
Sehr gute Zusammenfassung von FIND in der taz heute! Genauso ist es:
1. coole Zuschauer, die auf die sie zeichenhaft beschimpfend wollende Bühne rufen: "wir wären dann soweit"
2. mit diesem internationalen Austausch-Festival bei gleichzeitiger Ensemble-Kontinuität steht die Schaubühne in Berlin allein da.

Ist auch kein Wunder. Sie ist die einzige, die über Jahrzehnte mittlerweile - so konsequent Einladungen überallhin folgte und sich gleichzeitig im Ausland nicht nur in die schicken abschließenden, werbewirksamen Podiengelaber begab, sondern aus den Begegnungen echten Austausch gemacht hat, der auch hierher zurückkommt. Und zwar nicht um institutionalisiert eine neue Marke unter bequemer Verwendung von Erfolgs-Altbeständen zu kreieren, sondern um im Theater das Leben zu führen, wie es in einer Metropole wie u.a. Berlin eine ist, ohnehin geführt wird. Unangestrengt international.
Was aber garantiert nicht ohne große logistische Anstrengungen und Disziplin der gesamten Belegschaft ins Theater zu holen ist. Um die dieses Theater nie ein öffentliches Aufsehen macht. Weil das Ergebnis mehr zählt. -
Dafür vielen Dank. Das ist für mich eine Hoffnung. Und zwar eine (kultur)politische.
Leserkritiken: Baal/BE Berlin
"Baal", Berliner Ensemble/Probebühne

Dass auch epochale Dramatiker wie Bertolt Brecht ihre Anlaufschwierigkeiten hatten, lässt sich derzeit an mehreren Berliner Bühnen studieren. Das Gorki Theater grub im März mal wieder „Dickicht der Städte“, eine ziemlich krude Kolportage, aus. Das Berliner Ensemble zog im April nach und beauftragte Sebastian Sommer, von dem u.a. bereits „Hans im Glück“ und „Kaspar“ zu sehen waren, mit einer „Baal“-Inszenierung.

Dieses Stück, das B.B. mit gerade mal 20 Jahren schrieb, entwickelte sich zum Mythos. Sofort hat man die Bilder des jungen, berserkerhaften Rainer Werner Fassbinder aus Volker Schlöndorffs Verfilmung vor Augen (Kritik), der sich einen feuchten Dreck um die gesellschaftlichen Konventionen schert, alle Fans und Gegner manipuliert und sich animalisch-triebhaft den Weg durch sein Leben bahnt.

Wenn man den Mythos aber mal genauer ansieht, entpuppt sich das Stück, das Brecht in mehreren Fassungen immer wieder umbaute und verwarf, als eine „dramaturgische Katastrophe“, wie Steffen Sünkel, Dramaturg dieser Produktion, im Publikumsgespräch einräumte. Brechts „Baal“ hat manche Längen, schweift allzu oft assoziativ ab und ist streckenweise schlicht langweilig.

Da sich das Berliner Ensemble unter Claus Peymanns Intendanz die Werktreue auf die Fahnen geschrieben hat und die Brecht-Erben bekanntlich mit Argusaugen über das Urheberrecht wachen, schleppt sich auch dieser Abend auf der von Altmeister Karl-Ernst Herrmann eingerichteten Probebühne lange zäh dahin.


Die Handbremse wird erst gelöst, wenn Matthias Mosbach einen seiner Soloauftritte hinlegen darf. Er ist ein untypischer Baal, bei weitem keine so massig-raumfüllende Erscheinung wie Fassbinder oder Ulrich Wildgruber in der Frankfurter Inszenierung von Hans Neuenfels oder Christoph Franken vor einigen Jahren am Deutschen Theater Berlin. Mosbach wirkt auf den ersten Blick wesentlich unscheinbarer, hat aber schon in Leander Haußmanns „Räuber“-Inszenierung nebenan auf der großen Bühne Publikum und Kritik überrascht, welche Rampensau-Qualitäten in ihm stecken.

Er trägt diese „Baal“-Inszenierung und spielt die Titelfigur als animalischen Verführer, der auch mal ins Publikum geht und eine Frau auf die Bühne holen will, die sich jedoch hartnäckig weigert. Er benutzt die Menschen um sich herum und wirft sie weg, wenn er den Spaß an ihnen verloren hat. Die Bühne wird zu einer regendurchtränkten Lehmgrube.

Ansonsten werden die Durstrecken der Inszenierung noch mit einigen Insider-Gags aufgelockert: Baal ritzt sich die Stirn im Stil von Rainald Goetz damals beim Bachmann-Wettbewerb auf, spielt auf Thomas Brasch an und lässt sich in einer längeren Szene über den Wechsel an der Spitze des Hauses von Peymann zu Reese und die vieldiskutierte prekäre Vertragssituation der Schauspielerinnen und Schauspieler aus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/04/11/baal-brechts-fruehwerk-mit-martin-mosbach-am-berliner-ensemble/
Leserkritiken: Democracy in America/Schaubühne Berlin
FIND 2017 – Romeo Castellucci frei nach dem Buch von Alexis de Tocqueville: Democracy in America, deSingel International Artcampus, Antwerpen / Wiener Festwochen (Regie: Romeo Castellucci)

Sprache, Religion, Demokratie: Bei Romeo Castellucci verschwimmt das alles zu einem Gedankenbrei, der kultur- und geschichtskritisch sein will, und doch schwärzester Pessimismus ist. Die Regelsysteme, die der „zivilisierte“ Mensch seiner Welt – exemplarisch dem neu erfundenen, durch Auslöschung des Vorgefundenen geschaffenen Amerika – verpasst, sie begründen keine Herrschaft des Volkes, sondern ein ausgeklügeltes Unterdrückungssystem, das sich fortsetzt, weil es immer einen noch Schwächeren gibt, und dem das Blut nicht nur an den Händen klebt. Das ist eher eindimensional gedacht und ermüdet schnell. Auch weil der Bildmagier Castellucci sich zwischen Extremen bewegt. Die archaisch karge Klarheit der eineindeutigen Spielszenen steht der Bildverweigerug der nur noch erahnbaren Abstraktion gegenüber. Den Zwischenraum, der Ort sein könnte für Assoziationen, für Verbindungslinien, für die Kraft der Vorstellung, spart er aus. Alles ist entweder vollkommen klar und komplett unverständlich, klarste Konkretheit oder sperrigste Abstraktion. So zerfällt der Abend schnell in ödem Spiel und undurchdringlicher Einkapselung, bleibt der Diskurs über die Wurzeln des heutigen Übels verkopftes Spiel und plakatives Pamphlet. Zwischen den Polen entsteht keine Spannung, da ist nur Leere, eine Leere, die den Abend letztlich auffrisst, verschlingt in einem schwarzen Loch der Beliebigkeit, die so sinnfrei ist, wie so mache Fahnenaufschrift zu Beginn.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/11/im-schwarzen-loch-der-beliebigkeit/
Leserkritik: "Minna von Barnhelm“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach
Wer dieser Tage in NRW eine bestechend kluge Inszenierung eines Lessingklassikers sehen möchte, sollte sich Anja Panses „Minna von Barnhelm“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach nicht entgehen lassen.

Zu Beginn der Inszenierung blickt man wie durch ein Brennglas auf die Lessingsche Zeit nach dem siebenjährigen Krieg zurück. Die Geschichte um den unehrenhaft entlassenen, versehrten Kriegsheimkehrer Tellheim und seiner emanzipierten Geliebten Minna von Barnhelm entfaltet sich nun langsam auf dem Tableau der Zeit. Schrittweise nährt sich die Handlung der Gegenwart an, bis sie schließlich im Hier und Jetzt landet. Während eben noch alles historisch und fern erschien, wird urplötzlich klar wie brisant und aktuell die verhandelten Themen im Stück tatsächlich sind. Kriege in nie gekanntem Ausmaß beherrschen unsere Welt und Abertausende leiden unter mangelndem Selbstwertgefühl in unserer marktkonformen Demokratie. So erweist es sich als ein sehr schlüssiger und intelligenter Zugriff, diese Zeitreise vorzunehmen.

Hannah Hamburgers Bühne führt die Szenerie von einem beengten Wirtshaus Ende des 18. Jahrhunderts über das preußisch-wilhelminische Zeitalter hinein ins Assoziative, Bruchstückhafte der Gegenwart. Das alles ist überraschend und konsequent.

Die Schauspieler spielen lustvoll auf. Sie tauschen Kostüme und Masken und mit ihnen zugleich die Spielweisen, je nachdem in welcher Zeit sie gerade agieren. Als weißgeschminkte Mimen in Stummfilmmanier beginnend, wechseln sie in den Konversationsstil der Jahrhundertwende, um modern und heutig zu enden. Ganz als würde nebenbei auch noch die deutsche Theatergeschichte visualisiert. Das alles schnurrt leicht und unaufhaltsam ab.

Christopher Wintgens gibt einen urkomischen, aber auch gefährlich-schmierigen Wirt, der durch die Welt tänzelt und seinen opportunistischen Geist in alle Ecken verspritzt .
Esther Keil als Minna von Barnhelm ist ein Ereignis. Großartig mit welcher Bravour, sie die lessingschen Texte in den feinsten Nuancen auskostet. Ihre Lebendigkeit und ihr Spielwitz ist köstlich. Sie singt, leidet, schreit, fordert mit großer Authentizität. Auch Ronny Tomiska als Major von Tellheim beeindruckt durch seine virtuose Körperlichkeit und seine präzise Sprachbehandlung. Während Minna ihren Tellheim durch die selbstgesponnene Intrige in einen immer größer werdenden Strudel aus Verzweiflung und Emotionen stürzt, um am Ende die Wahrhaftigkeit ihrer Liebe wiederzufinden, durchleben Franziska und Paul Werner die gegenläufige Entwicklung eines Paares. Hier entlarven sich die Oberflächlichkeiten und Abgründe der menschlichen Seele. Franziska folgt, nach Glanz und gesellschaftlichen Aufstieg strebend, dem Söldner Paul Werner in den Krieg. Stechend trifft, wenn er seine letzten Worte „nach Persien“ in moderner Bundeswehruniform spricht. Dennis Matthey und Philipp Sommer zeichnen ihre Figuren mit hoher Intensität und Ausstrahlungskraft.
Am Schluss schwebt Michael Ophelders Oheim als mythologisch-heilsbringender Deus Ex Machina aus dem Bühnenhimmel ein. Die Kraft seines Gesangs steht einer großen Apotheose in der Oper in nichts nach. Überhaupt die Musik von Sebastian Herzfeld gibt dem Abend eine ganz eigene Dynamik und ziseliert die Gemütszustände der Figuren in schräger Weise heraus.

Entstaubt und schlank hat Anja Panse ihre Interpretation von Minna von Barnhelm auf die Bühne gebracht. Sie legt den Finger auf die zeitlos offenen Wunden der Menschen.
Aber es gibt Hoffnung – die Liebe. Absolut sehenswert.
Leserkritik: Mutti muss nach Lichtenberg, Berlin
Leien des Alltags: Mutti muss nach Lichtenberg – Gentrification #2, Ballhaus Ost, Berlin / Ruhrtriennale

Nein, das Bewahrte, Beständige, Konservierte ist hier auch kein Ausweg. Dann wieder lieber zurück und versucht, einen Saft zu bestellen. Das ist schwer und führt zu unendlich wirkenden Schleifen der Wiederholung und des Missverstehens. Irgendwann fliegt Mareike raus aus der Wohnung, um Platz zu machen für ein Projekt, sie sucht ihren Raum, einen „Nahraum“ jenseits all der „Distanzräume“ um sie und kehrt doch bald wieder zurück. Man macht sein Geld mit Smoothies und Matcha, gehört nie wirklich dazu und steht doch nicht recht draußen. Wenn man am Ende vom „Frühling in der Schönhauser“ singst und eine idyllische Nostalgie beschwert, ist das nicht minder lächerlich als all die Trendgetränke und zwanghaft wirkenden Aufzählungen einer nur scheinbaren Vielfalt, einer ständigen Veränderung, die – und das belegt der Abend durch sein Grundelement der variierten Wiederholung – letztlich nur ein sehr dynamisches auf der Stelle Treten ist.

Erzählt wird die Geschichte im Duktus eines Märchens. Die Darsteller*innen strahlen ins Publikum oder gern mal in die Kamera hinter einem silbrig glitzernden Vorhang – einige der „Leien“ haben ihre Wurzeln an der Volksbühne. Statt Realismus gibt es Satire und (Alb-)Traumlogik, Abstraktion, einen narrativen Blick aus der Vogelperspektive. Der Wunsch nach Veränderung als Selbstzweck landet ebenso auf dem Grill der Karikatur wie das Festhalten an vermeintlich Bewährtem, der Zwang, alles ständig erneuern zu müssen ist genauso Zielscheibe wie jener, krampfhaft am Gewohnten festzuhalten. Am Ende bleibt nur das Theater, das Spiel. Auch der Raum, in dem dies stattfindet, das heutige Off-Theater Ballhaus Ost wird thematisiert, seine früheren Inkarnationen hervorgeholt, um doch fern bleiben zu müssen. Der Mensch, der hier „Schweinepartys“ (nicht fragen) feierte, ist immer noch da, die Party darf nicht mehr rein. Auch das ist Veränderung, vielleicht sogar Gentrifizierung? Und wenn ja, ist das von vornherein schlecht?

So wie – ausgeführt in einer der besten Textpassagen des Abends – die Gesellschaft von der Mitte an den Rand drängt, nur um zurückzukehren in die Mitte, wo diese mal Paradies ist und mal Slum und jene mal Ort der „Randgruppen“ und mal begehrenswerter Vorort, wippt auch das Spiel hin und her. Fortschritt wird Rückschritt und umgekehrt. Wo ist das schwarz, wo weiß? Egal ob Veränderung oder Bewahrung: „Alles ist Verfall“, heißt es einmal. Aber irgendwie auch sein Gegenteil. Spielerisch, humorvoll, mit Märchenerzählung, fein ironischem Live-Video, viel Humor und Haken schlagenden Logikeskapaden, mit Wiederholungs- und Aufzählungsorgien jongliert der Abend ein Thema, das sich im „realen“ Leben kaum ohne Dauererregung und der Forderung, „Position zu beziehen“, debattieren lässt. Hier dagegen ist nur Weiß, kein Schwarz, tanzt und positioniert man sich durch ein Minenfeld, das plötzlich gar keines mehr ist, sondern Spielfläche, Spottraum und Experimentierfeld. Theater. „Coming soon“ steht auf den weißen Fahnen, welche die Darsteller*innen schwenken. Das ewige Versprechen der ((post)post)modernen Trendwelt. Wird es eingelöst, ist alles vorbei. Also weiter – nach vorn, zurück oder sonst wohin. So lange gespielt wird, ist nichts verloren.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/16/am-anfang-war-der-bierkasten/
Leserkritiken: Baal/BE Berlin
Bertolt Brecht: Baal, Berliner Ensemble (Probebühne), Berlin (Regie: Sebastian Sommer)

Der Abend beginnt mit Baal auf einem Hochsitz. Er beobachtet die Gesellschaft unter sich, distanziert, über ihnen stehend, sie durchschauen. Es ist ein wenig auch der Blick des abends auf seinen Stoff. Aus der ferne, mit einiger Skepsis, dann gezwungen herabzusteigen, sich hineinzudrängen in das radikale Gewusel, nur um am Ende mit letzter Kraft, erschöpft, erledigt, den Hochsitz wieder zu erklimmen. Da geht es ihm wie seinem Protagonisten. Matthias Mosbach spielt ihn, klein, drahtig, kein Gramm Fett zu viel. Eigentlich ein Anti-Baal. Da muss ihn Boris Jacoby irgendwann in einen Fatsuit stecken, der „Fettkloß Baal“ ist schließlich auch Teil dieser Ausstellung. Mosbachs Baal ist ein leidender, zerrissener, sich zerfleischender Künstler. Einer, der das Wort „Genie“ ebenso verächtlich ausspuckt wie den Begriff „Lyrik“. Der aus seinem spöttisch distanzierten Hochsitz hineinspringt in die karikaturesk verzwergte Miniatur einer Kunstbetriebssatire, die Sommer um ihn gruppiert hat, der Störer sein will, Provokateur und doch vor allem an sich und seinem Künstlertum leidet, seinem Unverstandensein – durch die Welt, die harte, kalte Mutter (Ursula Höpfner-Tabori), sich selbst – und darüber zum brutalen Allesvernichter wird, ein Radikaler, der selbst zerbricht, doch nicht, bevor er alles und alle um sich zerbrochen hat. So unbarmherzig, egoistisch und brutal Mosbach agiert, so sehr gibt er seinem Baal doch einen Grund, eine „Backstory“, eine erklärung. Und so stößt er zwar ab, zieht aber auch an, wie ein guter Baal das sollte. Und Matthias Mosbach ist ein guter Baal, vielleicht sogar ein großer. Ein Extremist des Existenziellen, ein Todes- wie Lebensverächter und -sucher.

Nur hat er leider keine Gegenwehr. Die „Welt“ um ihn besteht aus blassen Witzfiguren. Ja, Anke Engelsmann hat einen starken Auftritt als lebenshungrige, sich scheu aus ihrer Schüchternheit herausblühende Mäzenatengattin, Höpfner-Tabori ist eine konsequente, still diktatorische Mutter, aber das sind nur kleine Mosaiksteinchen in einem Universum von Abziehbildern, Projektionsflächen, die nur eine Funktion haben: Mosbach/Baal etwas zu geben, was er anspielen kann. Insbesondere Felix Strobels lächerlich jammerlappenhafter Eckart ist bestenfalls ärgerlich zu nennen. Wenn Mosbach sich nun auch noch in dem beschriebenen konzeptionellen Widerstreit von Sommers Regie wiederfindet, ist das nicht hilfreicher. Zuweilen scheint es, als strebten Regie und Hauptdarsteller in verschiedenen Richtungen, als würde erstere letzterem gezielt Sand ins Getriebe werfen. So zielstrebig und klar Mosbachs Baal ist, so sehr lässt Sommer ihn allein. Da braucht es nicht einmal ein paar halbherzige Anspielungen an den bevorstehenden Intendantenwechsel (auch das können Castorf und Co. besser), um den Abend mit angezogener Handbremse und einem Gesamteindruck in den Bahnhof tuckern zu lassen, der so schummrig unklar ist wie oft das gedimmte Licht in diesen gut eineinhalb Stunden.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/22/der-storenfried-als-exponat/
Kritiken zu Café Casablanca im Schauspiel Düsseldorf
http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2017/04/duesseldorf-casablanca.html

http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/kultur/ein-abend-in-rick-s-cafe-aid-1.6778454

Deutschlandradio:
http://www.ardmediathek.de/radio/Fazit-Kultur-vom-Tage-Deutschlandfun/Caf%C3%A9-Casablanca-am-Schauspielhaus-D%C3%BCssel/Deutschlandradio-Kultur/Audio-Podcast?bcastId=21555060&documentId=42302964
Leserkritik: Die Welt in uns, Berlin
Junges DT – Turbo Pascal: Die Welt in uns, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Turbo Pascal)

Vergrößerte Pässe liegen am Boden, jede(r) tritt auf den seinen – oder doch den, den man gern hätte? Nein, so einfach ist das mit der Identität nicht. Da ist der junge Afghane, der einen deutschen Pass will, weil er ihm vielen leichter macht und das Land bisher gut zu ihm war. Hier will er leben, hier dazugehören. Warum sollte er das auch nicht. Das ist die „Deutschrussin“, die den deutschen Pass abgeben möchte, weil ihre Identität russisch sei. Na ja, mehr oder weniger. Oder der Junge türkischer Eltern, der sich entscheiden muss, welchen Pass er behalten will. Mit welchem, so fragt er in einem imaginierten Photoshooting, sähe er denn besser aus? Und dann ist da das Mädchen mit Elternteilen unterschiedlicher Herkunft, die in Deutschland aufgewachsen ist, aber Verwandte überall auf der Welt hat. Sechs Pässe hätte sie gern, lässt sich von der freundlichen Beraterin, die eben noch gestrenge Beamtin war, auf drei herunterhandeln. Und überhaupt, fragt der blonde Biodeutsche, warum könne man Pässe nicht einfach verleihen? Er brauche seinen nur selten und andere könnten währenddessen viel damit anfangen.

Es ist dieser Teil, szenisch skizziert, spielerisch angelegt, in dem der Abend wirklich Leben eingehaucht bekommt. Weil es ums Eingemachte geht, um die persönliche Identität, die wir so gern als gegeben annehmen und für deren Kern wir das Konstrukt der Nationalstaatlichkeit halten. Wie die Jugendlichen selbiges mit viel Witz, gespielter Naivität und einer gehörigen Prise anarchischer Frechheit angehen, wie sie die Schubladen, in die sie gepresst werden sollen auseinandernehmen, bunt anmalen und neu zusammensetzen, ist so unterhaltsam wie erhellend. Es ist der Geist des Spiels, das „Was wäre wenn?“ und das „Warum eigentlich?“, die Möglichkeiten freisetzen und nie Hinterfragtes plötzlich seiner vermeintlichen Substanz berauben. Die Entledigung des Reisepasses von seiner fast mythischen Überhöhung, seine Reduktion auf ein Accessoir, ein nützliches aber eigentlich überflüssiges Stück Papier, seine Parodie als Konsumgut, das man sich danach aussieht, ob seine Farbe zum Teint passt, öffnet den Raum für Gedankenspiele. Wäre denn ein Weltbürgertum lebbar? Was wäre man bereit, dafür aufzugeben? Hat nicht jeder ein Recht auf Freizügigkeit. Und selbst wenn: Was schert mich die Einschränkung der anderen. Am Ende steht da eine Wand aus Pässen. Turbo-Pascal-Mitglied Frank Oberhäußer (er und Kollegin Eva Plischke geben die mal feindlichen, mal gleichgültigen Autoritäten) steht als Passkontrolleur dahinter. Drei Spieler*innen scheitern mit dem Versuch, per Weltbürgerpass Einlass zu erhalten. Dann tragen sie einfach die Mauer ab. Am ende steht Oberhäußer einsam da auf seinem Stuhl. Die Grenze, die er bewachte ist verschwunden. Ein lächerlicher Anblick. Eine schöne Utopie.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/05/15/der-pass-der-nicht-passt/
Leserkritik: Abraumhalde, Bonn
"Wenn das Salz an Kraft verliert: Wer salzt das Salz?"
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Grandiose Inszenierung.
Hätte David Lynch einen für ihn typischen surrealen Plot über Fritzls Haus und seine Geister erdacht, so wäre Jelineks sozial- und kapitalismuskritischer gottessehnsüchtiger Parforcegleitflug durch die Geschichte #Abraumhalde dabei herausgekommen. Hört sich verrückt an? Tja...
5***** für alle Beteiligten; insbesondere für die Spieler.
Leserkritik: Die Ratten, Kassel
Intensität.
Wäre man gezwungen die Premiere der „Ratten“ unter der Regie von Maik Priebe in einem Wort zusammen zu fassen – Intensität. Die Eindrücklichkeit mit der Hauptmanns „Berliner Tragikomödie“ am Samstagbend auf die Bühne des Staatstheaters in Kassel gebracht wurde, wirkt lange nach.
Mit einem Schlag sind die Zuschauer ins Bühnenbild gesetzt. Was Susanne Maier-Staufens Räume bieten, ist die Reduktion auf das Wesentliche verbunden mit viel Möglichkeit für durchdachtes Spiel. Die vielfältigen Optionen für Auftritte, Durch- und Abgänge bilden mit Flexibilität und geschickt eingesetzter Bühnentechnik die Grundlage der Aufführung: 1 ¾ Stunden ohne Pause. (Intendant Bockelmann nennt das auf der Premierenfeier „zusammengedamft“ - „verdichtet“ ist wohl angemessener. Denn anders als Michael Thalheimer gelingen dem Kasseler Ensemble durchweg vielschichtige Figurenportraits.)
Zugegeben, im allerersten Moment wirkt die Sprache, 'det Berlinarische' befremdlich, fast ein wenig hölzern ausformuliert. Ein Eindruck, der sich aber im ersten Dialog schon verflüchtigt. Er macht Platz für die ganze Tragik der Frau John, die vom äußerst differenzierten Spiel Caroline Dietrichs durch den ganzen Abend getragen wird.
Ihr zur Seite steht ein durchweg überzeugendes, viel Spielfreude verströmendes Ensemble. Man darf sagen: so gut war das Kasseler Ensemble selten. Besonders hervorzuheben Judith Florence Ehrhardt in der Rolle der Selma. Wunderbar gelingt ihr der schmale Grat zwischen komödiantischer Überzeichnung und verzweifelter Tragik. Immer wieder bleibt dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken.
Die wenigen wirklich herzhaften Lacher gehören Uwe Steinbruch (Hassenreuter) und Konstantin Marsch (Spitta) und ihrer herrlichen Darstellung des Schauspielunterrichts. Viele Facetten gibt Bernd Hölscher der Rolle des Maurerpoliers John. Mal wuchtig, mal unbeholfen, aber immer lässt er schon die Unausweichlichkeit mitschwingen.
Erst als gegen Ende im letzten Bild die Lautstärke ebenso unausweichlich wie das Schicksal sich darstellt, wird der Zuschauer gewahr, dass er die ganze Zeit auch Zuhörer war: Die musikalische Begleitung von Ole Schmidt hat das ganze Stück über getragen.
Eine durch und durch gelungene Premiere!
Leserkritik: Hymne an die Liebe, Berlin
Hymne an die Liebe, Marta Górnicka, Gorki Theater

Ausgerechnet „Hymne an die Liebe“ nennt Marta Górnicka die assoziative chorische Collage, die sie dem Berliner Publikum von ihrem bunt gemischten Wutbürgerchor entgegenbrüllen lässt. Die Anspielungen dieser Koproduktion des Teatr Polski W Poznianu mit dem Gorki-Theater werden sich wohl nur Kennern der polnischen Sprache, Kultur und Geschichte völlig erschließen. Aber auch auf Zuschauer, die jenseits der Oder aufgewachsen sind, dürfte die geifernde Wucht dieser stampfenden Fanatiker, die vorgeben, das europäische Abendland gegen alles Fremde zu verteidigen, ihre Wirkung nicht verfehlen.

Górnicka, die das Libretto für ihren Chor schrieb und die Performance live aus dem Publikum dirigiert, bezeichnet ihre „Hymne an die Liebe“ auf dem Programmzettel, der ähnlich sprunghaft-assoziativ wie der gesamte, 50 Minuten kurze Abend gehalten ist, als monströses „Völkisches Liederbuch“ aus unterschiedlichen Versionen der Nationalhymne, von Märschen, patriotischen, völkischen und nationalistischen Liedern. Als Einsprengsel werden auch O-Töne des norwegischen rechtsextremistischen Terroristen Anders Breivik verwendet.

Diese „Hymne an die Liebe“ ist nicht sonderlich subtil, aber das Dauer-Staccato der Performerinnen und Performer ist stilistisch bemerkenswert und brennt sich nachdrücklich in die Gehörgänge ein.

https://daskulturblog.com/2017/06/11/hymne-an-die-liebe-marta-gornickas-polnischer-wutbuergerchor-am-gorki-theater/
Leserkritik: La damnation de Faust
La damnation de Faust – ein verdammter Deutscher
Frank Castorf zeigt mit dem Faust Goethes in der Volksbühne auf den französischen Kolonialismus, um sich – worauf Wolfgang Behrens hinweist - mit Frantz Fanon über dieses Europa zu wundern, „das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt."
An anderer Stelle, im Schiller-Theater, wurde mit der Übernahme des Londoner Opernregiedebüts von Terry Gilliam aus dem Jahre 2011 „La damnation de Faust“ ganz intensiv darauf hingewiesen, dass wir Deutschen für alle Zeit genügend Grund haben, um uns über uns selbst zu wundern und zu erschrecken. Darüber hinaus verstärkte die Ankündigung von Katharina Winkler im Jahresprogramm der Staatsoper die Schwierigkeit, sich „die vielschichtige Rasanz der Partitur mit ihren ausgeweiteten Orchester-Interludien“, den Balladen und Solinummern von Berlioz „als ein in sich schlüssiges, lebendiges Bühnenwerk vorzustellen“. Aus meiner Sicht ist es – natürlich nicht gänzlich zwangfrei harmonisch – gelungen, den Weg Fausts von romantischer Hingabe zum verhängnisvollen Pakt mit dem Teufel nachzuzeichnen.
Wir Deutschen sollten heute klug genug zu sein, um dem romantischen Taumel nicht zu erliegen. Hitler verehrte Wagners romantische Oper Lohengrin distanzlos, obwohl man darin eine Verkehrung erkennen kann: die bedingungslose, die Zweifel-lose Hingabe ist ein Attribut der Liebe und ein Privileg, das Elsa gut zu Gesicht gestanden hätte, es sei denn, auch Lohengrin wäre nur ein Gespenst wie Der fliegende Holländer. Ganz und gar nicht taugt die fraglose und ungeprüfte Unterwerfung in den politischen Dimensionen der sächsischen und sonstigen Edlen: „Wir stehn zu dir, es soll uns nie gereuen, / daß wir der Helden Preis in dir erkannt! / Reich uns die Hand! Wir glauben dir in Treuen, / daß hehr dein Nam', wenn er auch nicht genannt!“ In der Politik muss die erhabene Geste („Für deutsches Land das deutsche Schwert! / So sei des Reiches Kraft bewährt!“) nüchtern-rational auf den hinter der Fassade versteckten nackten Willen zur Macht geprüft werden.
Für mich überraschend ist Terry Gilliam im Schlussbild eine ergreifende Apotheose der Opfer gelungen. So viel wäre gewonnen, wenn wir unser geschichtliches Handeln konsequent so gestalteten, dass Berge wehrloser und unschuldiger Opfer ausbleiben.
Leserkritik: der englische blick
#300

gut das es diese blicke von allen seiten (auf deutschland) gibt ... ganz besonders heute ... und ich hoffe, sie schauen ganz genau ... in die gesamte geschichte von europa ... wenn es schon wieder stimmen gibt, dass "in europa deutsch gesprochen werden muß" ... das sind natürlich deutsche stimmen ... sehr gruselig in den ohren der nachbarn ...

sie könnten ja auch auf die idee kommen, dass sie die niemals wieder hören wollen
Leserkritik: Furcht und Ekel, Köln
"Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute" (Schauspiel Köln) zu Gast bei den DT-Autorentheatertagen

Als Auftragswerk fürs Schauspiel Stuttgart schrieb Dirk Laucke vor vier Jahren eine Collage aus 22 Szenen, die auf Augenzeugenberichten und Zeitungsausschnitte basieren. Darin zeichnete er ein düsteres Bild von einem Deutschland voller Alltagsrassismus und rechtem Denken. In Anspielung auf Bertolt Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches" und auf "Furcht und Elend der BRD" von Franz Xaver Kroetz nannte er seinen Text "Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute".

Ein Jahr später inszenierte Pinar Karabulut diesen Stoff am Schauspiel Köln und wurde mit dem "Nachspielpreis" des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet, der traditionell mit einer Einladung zu den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin verbunden ist.

Das Kölner Gastspiel setzt ganz auf schnelle Schnitte. Die Schauspieler und Schauspieler geben nur Karikaturen zwischen Gartenzwergen und Deutschlandfahnen. Nichts wird richtig ausgespielt, hektisch und mit schnellen Schnitten geht es schon zur nächsten grotesken Episode. Der Preis dafür ist, dass keine Szene richtig wirken kann, wie Cornelia Fiedler in ihrer Nachtkritik vom Stückemarkt schrieb. Stattdessen versinken die 90 Minuten in einem Brei aus Gewalt, Ketchup-Blutspritzern und Kraftausdrücken.

Ein enttäuschender, grobschlächtiger Abend, über den Nachtkritik 2016 in Heidelberg treffend "Nazikindergeburtstagsalbtraum" titelte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/06/15/furcht-und-ekel-das-privatleben-gluecklicher-leute-grobschlaechtiges-gastspiel-aus-koeln-bei-den-autorentheatertagen/
Leserkritik: Autorentheatertage
Autorentheatertage 2017 – Yade Yasemin Önder: Kartonage, Burgtheater, Wien / Deutsches Theater, Berlin (Regie: Franz-Xaver Mayr)

Uraufführungen sind ja immer so eine Sache: Will man den Text ins rechte Licht rücken, bleibt oft der Regiezugriff auf der Strecke, nutzt der Regisseur die Gunst der Stunde, sich zu profilieren, leidet gern einmal der Text. Kartonage gehört in keine der beiden Kategorien, sondern ist eine der glücklichen Fälle, in denen Text und Inszenierung eine faszinieren Symbiose bilden. Önders verknappten, wiederholungsschwangeren, formstrengen Text, der auf Eintönigkeit und Fragemntarisierung setzt, der Leerstellen als Kitt und Symbol für die Leere findet, von der er spricht, passt perfekt in das groteske Horrorszenario, in das Regisseur Franz-Xaver Mayr seine Spießer-Untoten steckt. Petra Morzé brilliert als blondierte dauergrinsende Mörder-Hausfrau, Bernd Birkhahn als verbittert tattriger Gatten-Zombie und auch Irina Sulaver als Tochter zwischen Widerstand und Aufgabe passt sich in ein höchst präzise zwischen Karikatur und Grauen, zwischen Gelächter und Entsetzen agierende Albtraum-Familie.

Der brüchige Text und die opak-stringente Abgeschlossenheit des inszenatorischen Ansatzes bauen eine Spannung auf, die Auflösung von Sinnzusammenhang und Individualitätskonstrukt sowie restriktives Einmauern als Reaktion auf den Verlust Ich-erhaltender Gewissheit in einer mörderischen Albtraumwelt verknüpft, welche die Marillenmarmelade so unerbittlich zusammenhält, dass es kein Entrinnen zu geben scheint. Wenn das klinisch grelle Licht ausgeht, bleibt als letzter Strohhalm nur die Erinnerung an das Lachen, das einem gerade noch eingefroren ist. Vielleicht ist die Lächerlichkeit die einzig wirksame Waffe gegen die Killer-Aprikosen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/06/24/in-der-marillen-holle/
Leserkritiken: @Sascha Krieger
@303: Das freut einen zu hören, dass solch eine Symbiose auch einmal gelingt. Hoffen und wünschen wir, dass die Arbeit des sympathischen Regisseurs, der offenbar ein gutes Händchen für starke Texte von Frauen hat, auch an der Burg nachhaltig zu begeistern weiß.
Leserkritik: Ewig jung, Berlin
"Ewig jung", Renaissance-Theater Berlin

Dieses Stück wird ein Renner werden, prophezeite Patrick Wildermann im Tagesspiegel nach der Premiere von Erik Gereons "Ewig jung" am Renaissance-Theater. Er behielt recht: Klaus Wowereit, der nach der Premierenvorstellung am 4. Oktober 2009 begeistert aus dem Sitz sprang, ist längst nicht mehr im Amt. Aber die Senioren-Truppe rockt nach wie vor das Haus.

Die Handlung lässt sich sehr knapp zusammenfassen: betagte Schauspielerinnen und Schauspieler weigern sich, in einem Seniorenheim unter der strengen Aufsicht von Oberschwester Angelika (Angelika Milster) bei Kinderliedern und Klatsch-Spielchen vor sich hin zu dämmern. Sie lassen lieber noch mal die Rampensau raus, wann immer ihnen Schwester Angelika den Rücken zudreht: "I love Rock´n´Roll" röhren sie programmatisch los, Dieter Landuris gibt mit seinem Krückstock rhythmisch den Takt vor.

"Ewig jung" ist hervorragendes Unterhaltungstheater, an dem sowohl die illustre Runde der singenden Schauspieler aks auch das Publikum seine Freude hat: Katharine Mehrlling, die ihre großen Auftritte ansonsten vor allem an der Komischen Oper oder in der Bar jeder Vernunft hat, mimt hier eine keifende Giftspritze mit Tourette-artigen Beschimpfungen aller Mitspieler. Guntbert Warns und Anika Mauer geben ein verblühtes Schauspieler-Paar, die von "Romeo und Julia" träumen. Timo Dierkes ist als gealterter Hippie mit von der Partie, seine "Quiz it!"-Abende, die immer für volles Haus an der Bar des Deutschen Theaters und später im Admiralspalast sorgten, werden schmerzlich vermisst. Eine Schande, dass bisher keines der Berliner Theater zugriff und diese erfolgreiche Rate-Show wiederbelebte!

Als nach mehr als zwei Stunden die beiden finalen Songs "I will survive" und "We shall overcome" (mit Publikumsbeteiligung) geht ein kurzweiliger Abend zuende, den sich Theaterfreunde nicht entgehen lassen sollten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/06/24/ewig-jung-rentner-gang-rockt-seit-jahren-das-renaissance-theater/
Leserkritik: Die Perlenfischer, Staatsoper Berlin
Die Perlenfischer – Weichgezeichnete Wutbürger zwischen Palmen und Meer

Maria Ossowski hat in Terry Gilliams Inszenierung von „La damnation de Faust“ häufiger die Augen geschlossen, um der Musik zu folgen. „Augen zu und durch“, verhinderten jedoch nicht ein dezidiertes Urteil: gründlich misslungen.
Es überrascht nicht, dass sie mit Wim Wenders soft-ästhetischer Inszenierung der „Perlenfischer“ rundum zufrieden ist: „Keine Dekonstruktion der Handlung, keine erzwungene Modernität“, „ein absolutes Muss für jeden Operfan“.
Immerhin ist selbst in meinem Opernführer des Henschelverlags von 1958 („Die Kunst wird Besitz des ganzen Volkes“, die Oper zählt zu den „volkstümlichsten Kunstgattungen“ in der „Epoche des Übergangs der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus“.) bei den Perlenfischern hellsichtig die Rede von „der rasenden Menge“.
Wim Wenders charakterisiert die angeblich perlentauchenden „Wutbürger“ (Managerkurs-Besucher aufgepasst!) als rot-blau gemischte Persönlichkeitstypen, denen Nadir und später Leila gegenüberstehen. Als leicht zu übersehende Chiffre (kann dies überhaupt als aktueller Bezug gemeint sein?), zeigt Leila einmal die umgekehrte Raute.
Das muss man nicht wahrnehmen: bloß keine erzwungene Modernität, Aktualität.
Warum eigentlich nicht ? Der Plot der Perlenfischer ist ein Beziehungsmodell, bei dem sich aktuelle Bezüge geradezu aufdrängen. Die „Perlenfischer“ haben viel mit der heutigen Öffentlichkeit gemein: ängstlich-aggressiv, unruhig-verunsichert, selbst inkonsequent, aber von anderen fordernd, ein Spiegel des Meeres: gerade noch friedlich und ruhig, im nächsten Moment turmhoch aufgewühlt.
Und alles rational mit Regeln untermauert: Leila stimmt zu, mit ihrem Gesang die schwarzen Geister der Finsternis zu vertreiben“, - „Doch wenn du uns verrätst,“ so der Anführer Zurga „wenn deine Seele den Fallstricken der Liebe anheimfällt, dann wehe dir!“ – „Dann bist du des Todes!“ – Nur Nadir widerspricht: „Oh, grausames Schicksal!“, während Leila zu Ihrem Schwur steht, den verbergenden Schleier nicht zu heben, um als „reine, makellose Frau“ für die „Perlenfischer“ unbefristet verfügbar zu sein.
Zurga, das ist der - auch nur dezent angedeutete – Hoffnungsträger der Inszenierung, ein Mann, der seine aus der unerwiderten Liebe zu Leila emporschießende leidenschaftliche Eifersucht zähmt und ihr mit Nadir die Flucht ermöglicht. Leider nicht ohne die Ambivalenz, dass er als „Ultima Ratio“ sein Heim, sein Dorf, seine eigene und offenbar einzige Heimat anzündet, und der, sich davor schon als wankelmütiger Führer disqualifiziert zu haben.
Das Dreieckspaar Leila, Nadir und Zurga verstößt auch gegen unsere Werte und Regeln und verdient Strafe! Wim Wenders und Daniel Barenboim waren extrem darauf bedacht, dem Publikum eine solche provozierende Erkenntnis und sich einen Skandal-Erfolg zu ersparen. Ich habe dafür Verständnis. In der Oper sollte die ausgleichende Musik dominieren, was – bis auf die anfängliche Unsicherheit der jungen Männer, vor allem des Francesco Demuro als Nadir – sehr gelungen ist.
Andre Sokolowski erinnert auf Kultur extra, dass Wim Wenders sein Debüt als Opernregisseur bereits vor Jahren mit dem Ring des Nibelungen in Bayreuth geben wollte, aber von dem Projekt zurücktrat, das Frank Castorf (!) übernahm. Wir erinnern uns, wie nach dem Ende der Götterdämmerung die reichlich anwesenden, offenbar unerlöst unter dem Bann des Nibelungenfluches stehenden Knechte des Ringes minutenlang im „Weiheort“ tobten und diesen damit quasi zum Viehstall machten. Nochmals mein tiefes Verständnis dafür, dass insbesondere Daniel Barenboim seiner staatstragenden – und im Gegenzug auch vom Staat mit üppigen Mitteln getragenen – Oper solche Erinnerungsanlässe ersparen will. Allerdings wäre es schön, wenn an anderen Kulturorten der Hauptstadt mehr Konfliktbereitschaft erhalten bliebe.
zur Leserkritik: Die Perlenfischer / Staatsoper Berlin
Vom Staat mit üppigen Mitteln getragen werden auch Musikhochschulen, die den Studiengang Opernregie anbieten. Es ist deshalb nicht zuletzt ein volkswirtschaftlicher Skandal, dass deren hochspezialisierte Absolventen sich in der Provinz als Assistenten durchschlagen, während die riesigen Produktionsbudgets ambitionierten Laien anvertraut werden, die dafür durch nichts als ihre Prominenz qualifiziert sind. Wenn im Winter bei Flimms die Heizung kaputt geht, würde Jürgen doch auch nicht Thomas Gottschalk anrufen, weil der schließlich in der Lage ist, gute Laune in Millionen Wohnzimmer zu bringen und es deshalb ja wohl auch schaffen wird, die Stube des Intendanten wieder warm zu kriegen. Und wenn Barenboims Fernsehempfang gestört ist, lässt er auch nicht Prof. Boerne aus Münster kommen, sondern einen qualifizierten Fachmann. Nur bei der Regie glauben immer alle, das könne ja irgendwie jeder. Jemand wie Flimm handelt da geradezu verantwortlungslos dem eigenen Berufsstand gegenüber, wenn er Barenboim solche Eskapaden immer wieder durchgehen lässt. Und dann holen sie auch noch ausgerechnet den Wenders, der von vornherein erklärt, Inszenierungen meist als störend zu empfinden und seine Funktion eher darin zu sehen, die Musik vor der Regie zu beschützen. Zumindest das ist ihm gelungen. Weshalb man eigentlich sein Regie-Honorar zurückfordern müsste wegen nicht erbrachter Leistung mit Ansage. Stattdessen wird er von (gebührenfinanzierten) Auftrags-Jublern wie Frau Ossowski noch als Retter der Oper gefeiert. Also bei allem ehrlichen Respekt vor Ihrem tiefen Verständnis, Herr Günther: Mich macht das einfach nur unheimlich wütend.
Leserkritiken: Hymne an die Liebe / Gorki Theater Berlin
Marta Górnicka: Hymne an die Liebe, Teatr Polski w Poznaniu, Poznan / Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Marta Górnicka)

Immer und immer wieder geht Hymne an die Liebe diesen Weg: Aus Einzelstimmen wird Vielstimmigkeit, die sich zusammenballt zu einer Gemeinschaft, die sich abschottet in aggressiver Selbstverteidigung gegen alles, was nicht sie ist. Was Górnicka vorführt, ist nicht weniger, als die Entstehung von Gemeinschaft im Schnelldurchlauf und die Gefahr ihres Kippens in den Totalitarismus. Die Mechanik des Entstehung und Verfestigung einer kollektiven Meinung, die, je mehr sie angenommen wird, desto aggressiver alles andere wegbeißt, lässt sich an diesem kurzen, intensiven Abend exemplarisch beobachten. Dabei gelingt Górnika allein durch das Ensemble ein besonderer Kniff: In diesem spielen professionelle Schauspieler*innen und Laien, Senioren und Kindern, Menschen mit Down-Syndrom und solche mit so genanntem Migrationshintergrund. Ein diverses Polen spricht die Propaganda eines homogenen Landes, das die Diversivität, die hier auf der Bühne steht, zunehmend als Bedrohung begreift. Eine Homgenität, die Ergebnis ist einer immer wieder abgewürgten nationalen Entwicklung, aber auch Widerstand gegen eine komplexe, zunehmend weniger verstandene Welt, Ausdruck existenzieller Ängste und des Wunsches nach Übersichtlichkeit, einfachen Antworten, Geborgenheit ist.

Sie speist sich aus zwei Quellen: dem Nationalismus und dem Katholizismus. Bleides klar umgrenzte, eindeutig definierte Wertesysteme, in denen man sich zurechtfindet, nicht verläuft, eine Heimat hat. Patriotische Lieder und der monotone, beruhigende Klang katholischer Gottesdienstgesänge bilden denn auch die Grundlage des Abends. Immer wieder schweben die Worte vermeintlich überirdisch im Raum, bevor der alles dominierende Marschrhythmus jeglichen Versuch von Mehrstimmigkeit beendet. Meist stehen die Spieler*innen frontal dem Publikum gegenüber, eine meist locker wirkende Gemeinschaft, die sich nur sporadisch zusammenballt oder zu einer pfeilförmigen Angriffsformation aufstellt, und doch immer antagonistisch wirkt, mit ihren aggressiven Marschpuls, dem herausfordernden aggressiven Lächeln, der Unbedingtheit ihrer Selbstdefinition.

Marta Górnicka hat das chorische Sprechen zu einer eigenen Theaterform werden lassen, die gesellschaftliche Prozesse, kollektive Dynamiken, die das Formen und Auseinanderdriften von Gemeinschaft in einer Unmittelbarkeit auszudrücken vermögen, die im europäischen Theater ihresgleichen sucht. Und die doch immer wieder den Blick zurücklenkt auf den Einzelnen. Er/sie ist an diesem Abend nicht nur die Quelle der Vergemeinschaftung, sondern auch die des Widerstands. Wie aus einzelner Wut kollektiver Hass wird, zeigt er ebenso ausdrücklich, wie die Tatsache, dass viele Einzelne, sich zusammenfindend, in der Lage sind, die Dynamik umzuleiten, die Gemeinschaft mit alternativen Ideen zu gewinnen – eine Wechselbewegung, die dieser Abend wiederholt eindrucksvoll vorführt. Denn die Gemeinschaft, die hier so bedrohlich, einschüchtern, ausgrenzend erscheint, lässt sich auch positiv umformend, als Kollektiv der Hoffnung – ein Phänomen, das im Land der Solidarność nicht unbekannt ist. So verdrängt am Ende nicht nur ein zunächst dünnes einzelnes Stimmchen mit dem Ruf „Wir müssen das stoppen!“ den kollektiven Ruf nach einer Wahrheit, die ausschließlich die eigene, ideologisch passende sein darf, es wird auch noch ein ganz anderer Gesang angestimmt: Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“. Bach, Matthäus-Passion. Die Andeutung der Möglichkeit kollektiver Katharsis. Im Anfang war der Marsch, sagt die nationalistische Gospel an diesem Abend. Das heißt nicht, dass sie auch am Ende stehen muss.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/06/26/im-anfang-war-der-marsch/
Leserkritik: Der gute Mensch von Sezuan, Wuppertal
Die Bühne des Wuppertaler Opernhauses ist wenige Schritte von Friedrich Engels Geburtshaus entfernt und stets unter dem strengen Blick einer monumentalen Marx Statue. Die finanzielle Situation der Wuppertaler Bühnen ist bekanntermaßen seit Jahren prekär. Einen derart hochgradig politischen Text, der in diesem Theater und dieser leidenden Stadt die fundamentalen Fragen nach Menschlichkeit in menschenunwürdigen Zuständen, nach Güte im Schrecken, nach dem Richtigen im Falschen stellt überhaupt auf die Bühne zu bringen, beweist schon Mut und Größe der scheidenden Intendantin.

Maik Priebe ist es jedoch darüber hinaus gelungen einen poetischen Umgang mit dem Text zu finden, der niemals moralinsaure Kapitalismuskritik ist. Auf dem leeren schwarzen Raum einer monumentalen Schräge von Susanne Maier-Staufen erzählt er gemeinsam mit dem neunköpfigen Ensemble und dem zehnköpfigen Bewegungschor phantasievolle Bilder. Die Kulissen entstehen aus den Tänzern selbst, in denen Stefan Walz (Wang) durch einen sich bewegenden Fluss laufen kann, ein großartiger Lukas Mundas (Sun) seine Figur im Stadtpark, umgeben von zwitschernden Bäumen schweben lässt zwischen Brutalität und Zärtlichkeit, Liebe und Berechnung und die Tabakfabrik des harten Shui Ta (Lena Vogt) ebenso wie der kleine Tabakladen der mädchenhaften, naiven Shen Te von Silvia Zygouris choreographiert sind. Die Götter (Judith van der Werff, Julia Reznik und Alexander Peiler) wirken überzeugenderweise abgebrüht und unnahbar nunmehr als entleertes Über-Ich denn als moralisches Gewissen. Die vielen kleinen Rollen sind phantasievoll und mit Liebe zum Detail besetzt und vom Ensemble gespielt. Lena Vogt gelingt es berührend, die Notwendigkeit ihrer beiden Rollen angesichts der Umstände aufzuzeigen und die Konsequenz der absoluten Hilflosigkeit, in der die Götter Sezuan und damit die Menschheit am Ende allein lassen.

Die zunächst sperrigen Lieder Paul Dessaus sind von Stefan Leibold humorvoll und ironisch mit selbst erfundenen und präparierten Instrumenten sowie elektronischen Elementen aufgearbeitet, ohne sie dabei weniger ernst zu nehmen.

Am Ende wartet eine Überraschung: der berühmte Schluss gelangt in gedruckter Form als Flugblatt ins Publikum, fühle es sich doch dadurch in die Pflicht genommen.

Priebe ist es gelungen, einen ebenso ästhetischen, zarten, wie modernen, schnellen und angesichts der Lage hochbrisanten Abend auf die Bühne zu stellen.
Leserkritik: "Windows" – Solo von Clemens Schick, Sophiensaele Berlin
"Windows. Oder: Müssen wir uns Bill Gates als glücklichen Menschen vorstellen?", Solo von Clemens Schick, Sophiensaele

Clemens Schick konzentriert sich seit einigen Jahren vor allem auf Kinofilme. In den Berliner Sophiensaelen ist er zum Spielzeit-Finale an fünf Abenden in Folge mit seiner Solo-Performance „Windows – Oder: Müssen wir uns Bill Gates als glücklichen Menschen vorstellen?“

2004 hat Schick den Abend unter der Regie von Elias Perig nach einem Text von Matthias Greffrath erarbeitet, als er für einige Jahre Ensemble-Mitglied in Hannover war. Seit 2008 lief die Inszenierung immer wieder in Berlin und kehrt nun 13 Jahre nach der Premiere hierher zurück.

Die Welt hat sich grundlegend gewandelt: Bill Gates, der damals mit seinem Kontrollwahn, seinem Narzissmus und seiner Erfolgsgeschichte vom Garagen-Nerd zum Multimilliardär faszinierte und polarisierte, taucht in den Medien mittlerweile fast nur noch auf, wenn es um die Entwicklungshilfe-Projekte der Stiftung geht, die er gemeinsam mit seiner Frau Melinda gründete.

Als Feindbild und Hoffnungsträger technologischer und digitaler Visionen hat er ausgedient. Diese Rollen haben heute Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder Google inne. Dementsprechend wirkt dieser Theaterabend heute aus der Zeit gefallen.

Dass dieses Solo von Clemens Schick aber nicht richtig zündet, hat noch weitere Gründe: zu monoton ist sein Schnellfeuer-Staccato, zu selten stößt er zum Kern der Figur Bill Gates, zu oft kreist er assoziativ um vieles Andere wie die Opern-Diven Caballé und Callas oder Delfine.

Nach knapp einer Stunde verlässt Clemens Schick die bis auf einen schmucklosen Tisch und Stuhl leere Bühne. Bill Gates sind wir nicht näher gekommen, er bleibt eine schwer zu fassende, mittlerweile historische Figur.

https://daskulturblog.com/2017/07/05/windows-clemens-schick-kreist-in-seiner-solo-performance-um-bill-gates/
Leserkritik: Eine linke Geschichte, Grips-Theater Berlin
"Wie im Museum“ fühlten sie sich, konstatierte eine Zuschauergruppe der Generation 60plus in der Pause. "Eine linke Geschichte“ erzählt von ihrer Jugend in den Jahren um 1968. Das Studentenpärchen Karin (Katja Rösing) und Johannes (Jens Mondalski) besuchte ganz brav und strebsam die Althochdeutsch-Seminare, respektierte die Autoritäten und trug Faltenrock bzw. Anzug. Bis sie 1966 Lutz (David Brizzi) kennenlernen, der von Revolution träumt und freie Liebe predigt.

Das Trio zieht zusammen in eine WG, besucht Kapital-Lesekurse, lehnt Weihnachten als bürgerliches Konsum-Ritual ab und nimmt an den Protesten gegen den Schah-Besuch teil, die am 2. Juni 1967 vom Mord an Benno Ohnesorg überschattet wurden. Diese Szenen werden, wie die Zeitzeugen kritisierten, tatsächlich recht bieder abgespult. Zur Auflockerung drängt sich immer wieder Patrik Cieslik als Ansager mit ein paar frechen Überleitungssprüchen dazwischen oder werden Original-Sketche des Berliner Reichskabaretts, aus dem das Grips Theater 1972 hervorging, eingeflochten.

Wesentlich stärker ist die zweite Hälfte: in präzise gearbeiteten Szenen wird der Zerfall der APO in K-Gruppen und Politsekten nachgezeichnet. Die verschiedenen Ideologien und Lebenseinstellungen von KPD/AO-Kadern, Spontis und Anarchos, die der RAF in den Untergrund folgten, kulminiert in gut nachgezeichneten WG-Konflikten. Nach einem Zeitsprung finden sich Lutz und Katrin, die mittlerweile ein Paar sind, im bleiernen Jahr 1977 wieder. Er ist Redakteur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und stößt an seine Grenzen bei dem Versuch, den Apparat von innen zu verändern. Sie ist zwischen Kinderladen und Frauenbewegung auf der Sinnsuche und auf dem Weg in die Depression angesichts der geplatzten Träume.

Mit einer schönen Gruppen-Szene, als sich alle einstigen Kampfgefährten beim Glas Sekt in Peter Steins Schaubühne am Halleschen Ufer wiedersehen und über eine Inszenierung von Botho Strauß parlieren, kommt die „Linke Geschichte“ von Volker Ludwig und Detlef Michel im Jahr 1980 an, als die Original-Version am Grips Theater uraufgeführt wurde: Die Mitbestimmungsexperimente am Theater sind gescheitert, stattdessen werden Beziehungskonflikte des gehobenen Bürgertums auf der Bühne verhandelt. Parallel haben sich auch die ehemaligen 68er-Aktivisten aus Ludwigs/Michels-Stück nach 12 Jahren in die Innerlichkeit zurückgezogen.

Zum 80. Geburtstag und zum Ende seiner Intendanz schrieb Volker Ludwig einen neuen Schluss, der am 17. Juni 2017 im Grips Theater Premiere hatte: alle kommen noch mal zu einer Familienfeier zusammen. Charlie (Patrik Cieslik) interessiert sich nach wie vor nicht für die Heldengeschichten der Altvorderen von der Schlacht am Tegeler Weg oder den Anti-Vietnam-Demos. Sie alle eint aber die Sorge um die offene Gesellschaft. Die Liberalität und Weltoffenheit, die die 68er erkämpft haben und die im gesellschaftlichen Mainstream verankert schienen, werden von Pegida, Le Pen, Trump und Co. in Frage gestellt. Mit dem Appell, diese Errungenschaften zu verteidigen, endet die Zeitreise durch „Eine linke Geschichte“ nach knapp dreieinhalb Stunden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/07/08/eine-linke-geschichte-klassiker-des-grips-theaters-mit-neuem-schluss/
Leserkritik: Der Schweinestall, München
"Der Schweinestall" im Marstall, München

Drei quicklebendige Schweine (ab der Pause) und Juliane Köhler, die leidenschaftlich „Terra Lontana“ röhrt: dies sind besonders hervorstechende Einlagen an einem ungewöhnlichen Theaterabend im Marstall, der kleinsten Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels.

Der kroatische Regisseur Ivica Buljan funktionierte die ehemalige königliche Hofreitschule zum „Schweinestall“ um. Er hielt sich recht eng an das gleichnamige Theaterstück von 1966 und verzichtete auf den Kannibalismus-Erzählstrang, den der italienische Dramatiker bei seiner „Schweinestall“-Verfilmung mit dem Nouvelle Vague-Star Jean-Pierre Léaud im Jahr 1969 aus dem Stück „Orgia“ einflocht.

Die Handlung des Stücks ist satirisch überspitzt und würde sich auch für eine wüste Kolportage eignen. Im noblen Bonner Vorort Bad Godesberg sind alte Naziseilschaften am Ruder. Unternehmer Klotz (Götz Schulte), der mit Rüstungsgeschäften reich wurde, und Herdhitze (Bijan Zamani), der in Konzentrationslagern ein berüchtigter Arzt war, wetteifern um Marktanteile für ihre Firmen. Als Herdhitze seinen Rivalen damit unter Druck setzt, dass er peinliche Enthüllungen über den Klotz-Sohn Julian verbreiten wird, einigen sich die beiden Alt-Nazis auf einen Fusions-Deal.

Im Mittelpunkt des Stücks steht Julian (Philip Dechamps), an dem von allen Seiten gezerrt wird: seine Eltern möchten, dass er in ihre Fußstapfen tritt und das Familienunternehmen, das deutlich an die Krupp-Dynastie angelehnt ist, weiterführt. Seine Freundin Ida (Genija Rykova) möchte, dass er mit ihr gemeinsam gegen die Elterngeneration rebelliert und zu den APO-Protesten nach West-Berlin zieht. Er entscheidet sich gegen beide Modelle und vergnügt sich lieber nackt mit den Schweinen.

Buljan macht aus der Vorlage eine bemerkenswerte Mischung aus klassischen Theater-Dialogen, die in der ersten Hälfte mit einigen Längen dominieren, Italo-Rock-Songeinlagen nach Pasolini-Gedichten von Nora Buzalka, Juliane Köhler und Genija Rykova, und einem philosophischen Disput zwischen Julian und Spinoza (Sibylle Canonica). Die einzelnen Teile ergeben stets unberechenbare 2,5 Stunden, an denen Pasolini vermutlich seine Freude gehabt hätte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/07/23/schweinestall-pasolinis-satirische-abrechnung-mit-der-bonner-republik-im-muenchner-marstall/
Leserkritik "Mir ist alles viel zu laut...", Theaterdiscounter Berlin
Malte Schlösser: Mir ist alles viel zu laut und alles viel zu leise, Theaterdiscounter, Berlin (Regie: Malte Schlösser)

Die drei jungen Sprachrohre Schlössers sind natürlich selbst Paradoxien. Kinder, die „Erwachsenen-Texte“ sprechen, Schüler, die psychologische und sonstige Theoreme referieren und – viel wichtiger noch – ironisieren. Wenn ein Fünft- oder Sechstklässler sagt: „Hat noch irgendjemand Lust, mit mir ’ne postdramatische Ironiekritik zu teilen?“, dann ist das selbstverständlich höchst komisch. Und reißt damit gleich Berge von Selbstbildnisversuchen und Projektionskonstruktionen mit ein. Nur weas kommt danach? Was ersetzt die Bilder (die sich in Form einer Waldidylle und einer leeren Zuschauerraumspiegelung auch auf der Bühne finden)? Woher kommt der Schmerz, der die Bedeutungsbehauptung hinweg fegen soll? Denn die Reflexionen und Projektionen, die Spiegelungen und Bilder bleiben. Das zeigt auch die tänzerische Ebene, die zuweilen kurze Verschnaufpausen inmitten der Textfluten schafft. Versuchen sich Nefertiti Elong Kum und Kora Hamm zunächst noch an individuellem Ausdruck, der sehr schnell sehr gleichformig wirkt, werden ihre Choreografien später zur solchen der Imitation und Spiegelung, zum gleichzeitigen Gegeneinander und Ineinanderfallen von Innen und Außen, in dem beide verschwinden, bis am Ende die Mechanik bleibt, man weiter tanzt auch ohne Ton.

Weiter tanzt auch dieser Abend, bis er willkürlich endet, man einen Song-Refrain („Play it on my radio“) in Endlosschleife singt. Das Ende des Diskurses ist die Wiederholung. Nein, die Bilder sind intakt, die Reflexionsmaschine gut geölt, die Bedeutung fordert weiter ihre Vorherrschaft ein. Die Krise ist ausgeblieben. Oder nicht? Ist nicht alles ein bisschen verschoben, hat sie nicht einen Sprung wie all die Videobilder, die Perspektivverschiebungen (etwa im Rosmair-Video), die Gleichzeitigkeiten von An- und Abwesenheit (der leere und der volle Zuschauerraum, die An- und abwesenden Schauspieler*innen)? Malte Schlösser schickt das Publikum auf eine Tour de Force, die von Überforderung lebt. Da kann – und soll – man nicht immer folgen, taucht das Zuschauer*innen-Hirn mal unter, mal wieder auf, bleibt manches hängen und fließt anderes vorbei. Das ist viel statischer, viel weniger spielerisch, um einiges trockener als bei Pollesch. Auch fehlt in all dem Monologisieren, im oft eher willkürlich wirkenden Aufteilen der Texte, dessen Diskurshaftigkeit, die ja vom Dialog und dessen Unmöglichkeit lebt, hat der Abend eine eher rigide, aufgesetzte Struktur, fahren gerade die Tanzeinlagen in ihrer Plakativität Komplexität und Intensität immer wieder herunter. Und doch ist dieser Versuch, der Scheitern muss, scheitern will, denn auch das ist ein Widerspruch, eine lebensnotwendige Ambivalenz, ein Anschlag auf die Nachvollziehbarkeitsdoktrin, natürlich ein Gewinn. An Bedeutung? Hoffentlich nicht!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/09/bedeutungen-interessieren-mich-nicht-mehr/
Leserkritik: Das Wasser im Meer, Potsdam
Auf Augenhöhe und mitten ins Herz

Noch ein Stück über Flüchtlinge? Endlich ein Stück über Flüchtlinge, das die Menschen in diesem Land bei sich zu Hause abholt! In der Tat könnte es diese Familie so geben – und bestimmt nicht nur einmal in Deutschland. Autor Christoph Nussbaumeder hat offenbar viel zugehört, Regisseur Stefan Otteni wusste genau, worauf er sich einlässt und Intendant Tobias Wellemeyer hat es möglich gemacht! Die Schauspieler in Bestform auf der Bühne des Hans-Otto-Theaters in Potsdam lebten so sehr in ihren Rollen, dass zweifelsohne klar war, dass alles, was das Publikum zu sehen und zu hören bekam, auch draußen auf der Straße – oder eben beim Treffen der eigenen Familie hätte genauso passieren können. Dies alles so konzentriert aufzuzeichnen und -zubereiten ist dem Team grandios gelungen; das Bühnenbild von Peer Scior hätte passender nicht sein können und auch die aus dem Alltag gegriffenen Kostüme von Sonja Albartus fielen vor allem dadurch auf, dass sie aus dem Leben der Rollen stammten – und die Aussage des Stücks nochmals unterstrichen: Das, was hier zwei kurze Stunden lang zu sehen ist, trifft uns alle dort, wo wir am empfindlichsten sind – mitten ins Herz! Nicht nur aus Berlin eine Reise nach Potsdam wert!
Leserkritik: Martin Luther & Thomas Münzer, Stuttgart
ALTES SCHAUSPIELHAUS. MARTIN LUTHER & THOMAS MÜNZER oder die Einführung der Buchhaltung. Schauspiel von Dieter Forte (15.9.17 Premiere)
Von Hans Buchhalter

Luther oder Thomas Münzer, das ist eine Frage, die man auch daraufhin untersuchen kann, was denn Reform(ation) eigentlich bedeutet? Spätestens seit Schröder (SPD) ist das Wort Reform zur Drohvokabel geworden: Eine Reform der Rentenversicherung bedeutet heute weniger Rente, eine Reform von Hartz4 mehr Horror.
Aber wir, d.h. ich nicht, feierten Reformation. Da kommt ein historisches Theaterstück in Stuttgart gerade recht, wenn auch etwas spät, das das Thema versucht: „Martin Luther & Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung.“
Um Buchhaltung geht es darin nur indirekt, aber wohl um die Entstehung der Geldwirtschaft, den Monopolkapitalismus, Feudalherrschaft und deren ideologische bzw. theologische Absicherung. Aktuelle Themen, denn Herrschaft blieb, wie oft der Reichtum, der in der Reformation vorbereitet und im Bauernkrieg angeeignet wurde. (Konnte man mal bei Bernt Engelmann nachlesen.)
Das Stück stammt aus dem Jahre 1970 ist also selber schon „historisch“. Man merkt das ein bisschen: es wird viel gesprochen, dramatisch ist auf der Bühne wenig los, wobei leider die Figuren oft karikaturistisch v.a. im ersten Teil verzerrt werden; es darf gelacht werden. Über diese aristokratischen Blutsauger und Dummköpfe darf wohl gelacht werden, i.G. zu den heutigen, obwohl die nicht zum Lachen sondern zum Fürchten waren und sind.
Im ersten Teil viel Luther, leider kaum Münzer, das wird im zweiten Teil nach der Pause deutlich besser, das Stück wird „dialektischer“, man sieht die Gegensätze, der Fürstenknecht Luther wird kenntlicher – und sein Widerpart Münzer gewinnt Kontur. Es wird über Gewalt gesprochen, auch über die Gutgläubigkeit, d.h. Blindheit und Passivität der Unteren, die diese hilflos macht, und dem grausamen Gemetzel der Herrschenden ausliefert. So darf heute kaum noch gedacht und diskutiert werden. Wir feiern nicht, ich schon, doch dieses Jahr auch die Oktoberrevolution 1917, und da stellt sich die Frage, was es gekostet hätte, wenn diese nicht stattgefunden hätte, an weiterem Krieg, an weiteren Judenpogromen, an Elend und fortdauernder „Geschichte“? (Ich bin nicht der Meinung, dass Stalin zwangsläufig auf Lenin folgte, aber das ist ein anderes Thema.) Diese Frage stellt auch, wenn auch nicht absichtlich, die Ausstellung über Kurt Eisner in München, und sie wird sich stellen, wenn wir der missglückten Revolution 1918 in Deutschland gedenken werden.
Zurück zum Stück: Es ist ein bisschen wie Schülertheater im besten Sinne: viel zum Lernen, zum Überprüfen, Nachdenken und Weiterfragen. (Auch wenn der Schluss nicht ganz geglückt ist.) Trotzdem: Hoffentlich findet das Stück sein Publikum. Und ein paar Menschen gedenken und feiern Münzer statt Luther…
Leserkritik: A Dancer’s Day / 10000 Gesten, Berlin
Boris Charmatz / Musée de la danse: A Dancer’s Day / 10000 Gesten, Volksbühne Berlin (Flughafen Tempelhof, Hangar 5) (Regie/Choreografie: Boris Charmatz)

Die Uraufführung von 10000 Gesten bildet das Zentrum von A Dancer’s Day bildet und die auch für sich allein zu stehen gewillt ist, was die auch zeitliche Ambivalenz dieser Produktion noch erhäht. 24 Tänzer*innen füllen die Fläche. Zunächst vereinzelt – eine Tänzerin eröffnet das Geschehen in der abendlichen Stille, bevor die anderen rennend den Bühnenraum erobern. Das Publikum sitzt in einer Voertelkreis-Arena-Tribüne, ein Provisorium, das aufs Erste von Francis Kerés Vision eines variablen und mobilen Bühnenraums übrig geblieben ist. Flüchtigkeit, so sagt es Charmatz im Website-Interview, steht im Mittelpunkt der Arbeit – und das Anrennen dagegen. Mozarts Requiem, an- und abschwellend, erklingt und bildet die Basis für diesen Kampf gegen die Vergänglichkeit. Jede Geste ist schon verschwunden, wenn sie soeben erst entstanden ist. Jede*r durchläuft seinen eigenen Erkundungsprozess. Fragile Gemeinschaften entstehen – mimetische (es gibt eine Geburtsszene) und abstrakte, sehnsüchtig Nähe suchende und gewalttätige.

Alltagsbewgungen stehen neben Körpererkundungen, die Einträchtigkeit sichende Formation neben verwirrenden Wimmelbildern des Disparaten. Der Raum weitet sich und schnurrt zusammen, verschiebt sich immer wieder, einzelne brechen aus Gemeinschaften aus oder fügen sich ein. Man tanzt in die Stille, geben selbige an, sucht das Vergängliche zuhalten durch wütendes Anlaufen, erstarrt in Resignation. Der Zuschauerblick wird kaum gesteuert, jede*r muss sich eigene Ankerpunkte setzen, seinen mentalen Weg finden. Das ist simpel gedacht und erzeugt selten die Intensität, die Charmatz wohl vorschwebte. auch bleibt das Publikum hier außen vor, beobachtet das Enstehen und die Unmöglichkeit von Gemeinschaft und hat doch aus eigenem vorherigen Erleben Referenzfolien, die sich dem Beobachteten überstülpen lassen. Und so wirkt 10000 Gesten eben auch, weil es Teil von A Dancer’s Day ist. Ein eklektischer Tag, dessen Gelingen stark am Zuschauer selbst liegt. Wer nur zuschaut, wird weniger mitnehmen. Auch das eine starke, durchaus provokative Setzung. Eine neue, andere Volksbühne entstehen zu lassen, ist keine Einbahnstraße, der Besucher – so das Versprechen – ein wichtiger Teil dieser gemeinschaftlichen Erkundung. Der Start ist zumindest nicht misslungen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/17/durch-raum-und-zeit/
Leserkritik: Aleppo, HdKW, Berlin
Performance "Aleppo. A Portrait of Absence" von Mohammad Al Attar, Haus der Kulturen der Welt

Mit Mohammad Al Attar ist ein interessanter syrischer Theaterautor zu entdecken: seit 2007 produzierte und gastierte er mit Omar Abusaada bereits auf mehreren internationalen Festivals. Mit Spannung wird ihre „Iphigenie“ erwartet, die am nächsten Wochenende im Tempelhofer Hangar Premiere haben wird.

Bereits an diesem Wochenende präsentiert das Haus der Kulturen der Welt seine Performance „Aleppo. A Portrait of Absence“. Leider sind nur 18 Vorstellungen an 3 Tagen (die letzten 7 am Samstag) angesetzt, die bereits ausverkauft sind.

Nach einer kurzen Einführung im Garderobenfoyer wird die kleine Gruppe (pro Vorstellung nur 10 Besucher) in den großen Saal des HKW geführt, der bei der Berlinale für die Vorstellungen und Preisvorstellungen der Generation 14+ dient. Während wir auf der dunklen Bühne stehen, berichtet eine Männerstimme vom Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Nach und nach werden die schemenhaften Umrisse von zehn großen Podesten sichtbar, die mit einigen Metern Abstand in den leeren Publikumsreihen aufgebaut sind.

Beim Einlass durfte jeder auf dem Stadtplan von Aleppo eine Karte auswählen, die ihm nun den Weg zu seinem Podest weist. Auge in Auge sitzt man einem schmucklosen Tisch bei fahler Beleuchtung einem – in den meisten Fällen – deutschen Schauspieler gegenüber, der nach einem kurzen O-Ton vom Band die Lebens- und Fluchtgeschichte eines syrischen Exilanten in Ich-Form auf Englisch erzählt: Wie erlebte er seine Kindheit? Was hat ihn geprägt? An welche Märkte oder prachtvollen Gebäude des nun komplett zerstörten Aleppo erinnert sich? Worauf hofft er?

Als Hintergrundrauschen hört man die Monologe an den Nachbartischen. Die Vorträge dauern kaum länger als 30 Minuten und theatralisch ist dieser Frontalunterricht auch nicht besonders innovativ. Dennoch ist diese politische Performance eine bemerkenswerte Aktion, die Kriegsopfern eine Stimme gibt und im Trubel zwischen Spielzeiteröffnungs-Galas und Volksbühnen-Besetzung nicht untergehen sollte.

Komplette Kritik mit Bildern: https://daskulturblog.com/2017/09/22/aleppo-a-portrait-of-absence-erinnerungen-syrischer-kriegsfluechtlinge-im-haus-der-kulturen-der-welt/
Leserkritik: Nichts von mir, BE, Berlin
"Nichts von mir" von Arne Lygre, Kleines Haus des Berliner Ensembles

„Ich liege still, bis zum Ende. Ich werde mich nicht bewegen oder aufstehen, mich nicht erbrechen oder würgen, nein, ich werde bei mir behalten, was ich geschluckt habe. Ich werde dir folgen“. Zu diesen letzten Worten lässt Corinna Kirchhoff ihre Tabletten in ein Glas Wasser kippen, bevor auf der Bühne alles Schwarz ist.

Das Kammerspiel über die zerbrochene Frau, die um ihr Kind trauert („Wir haben kein Grab, zu dem wir gehen können. Dein Körper löst sich im Mer auf und wird gefressen“) und ihre Familie verlassen hat, heißt „Nichts von mir“. Der hierzulande noch unbekannte Norweger Arne Lygre hat es mit einer sehr anstrengenden Struktur voller bewusster Uneindeutigkeiten geschrieben.

Ein namenloses „Ich“ und ein „Er“ bevölkern die Bühne, dazu ein „Mensch“ mit drei Identitäten („seine Mutter, meine Mutter und mein Sohn“) und ein „Ex“. Je drei identisch gekleidete Männer und Frauen verschiedener Generationen (die Männer ganz in Schwarz, die Frauen mit kariertem Pulli und blauem Rock) schreiten durch die spartanisch eingerichtete Wohnküche (Bühne: Raimund Orfeo Voigt). Monoton tröpfeln im Hintergrund die minimalistischen Sounds von Mitja Vrhovnik-Smekrar

Das Konzept verschwimmender Zeitebenen und Personen ist ebenso verkopft wie ermüdend. Die Schauspielerriege ist zwar erlesen, allen voran mit Corinna Kirchhoff und Judith Engel als zwei Aushängeschildern des neuen Berliner Ensembles und Anne Ratte-Polle als prominentem Gast.

Die knapp achtzig Minuten dieser deutschen Erstaufführung nach der Stockholmer Uraufführung von 2012 lassen mich jedoch sehr kalt. Die klare, auf strenge Formen setzende Handschrift der slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik, die mich bei ihrem „König Ödipus“ am Münchner Residenztheater überzeugte, ist auch bei ihrem Berlin-Debüt wiederzuerkennen. Der quälend-schwermütige Plot und die sich an ihrer eigenen Raffinesse berauschenden Ebenen-Verschiebungen machen das Zuschauen anstrengend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/09/22/nichts-von-mir-schwermuetiges-drama-mit-corinna-kirchhoff-als-zerbrechende-frau-im-kleinen-haus-des-berliner-ensembles/
Leserkritik: Nichts von mir, Berlin
Arne Lygre: Nichts von mir, Berliner Ensemble (Kleines Haus) (Regie: Mateja Koležnik)

Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik nimmt das Stück beim Wort. Sie siedelt es an in einem kahlen (post)modernen Zimmerhybrid mit Küche, Esszimmer, Wintergarten und Blick ins Bad, eine kalte Welt aus weißen Wänden und Holz (Bühne: Raimund Orfeo Voigt). Sie hat die Figuren verdreifacht und auf Spieler*innen dreier Altersgruppen verteilt – von jung (Anne Ratte-Polle und Owen Peter Read) über mittleres Alter (Judith Engel und Gerrit Jansen) bis zu den so genannten „besten Jahren“ (Corinna Kirchhoff und Martin Rentzsch). In einer choreografierten Dauerschleife bewegen sie sich durch den, aus dem, in den Raum, mal einzeln, mal alle sechs gleichzeitig. Die Bewegungsmuster sind stets die gleichen, jede Spieler*in wiederholt die Routinen der andere wie die eigenen. Wassergläser und Schuhe sind ständig bewegte Requisiten,, man geht duschen, rauchen, macht sich gehfertig. Die Texte wechseln zwischen den unterschiedlichen – identisch gekleideten – Darsteller*innen der Hauptfiguren hin und her, ein Fluss, der die Zeit aufhebt, sie zirkulär neu definiert, die Erinnerung und Realität, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Dauerschleife macht. Dazu bewegen sich alle mit der gleichen depressiven Strenge, sprechen im identischen emotional entleerten, somnambulen Tonfall. „Ich“ und „Er“ schauen sich nie an, zwischen „Mensch“ und „Ich/Er“ gibt es unidirektionale Blicke (von „Mensch“ ausgehend, lediglich „Ich“ und „Ex“, das gleiche Schicksal teilend, sehen einander in die Augen.

Der Abend ist klar strukturiert, äußerst streng gebaut (lediglich Corinna Kirchhoff weitet das enge Korsett zuweilen mit einer individuellen Bewegung oder einer subtilen Flexionsänderung). Er endet mit der Szene, mit welcher er begann (Kirchhoff, die Tabletten schluckt), Der Eingangssatz „Dies ist die Wirklichkeit“ atmet pure Künstlichkeit, der Schlusssatz – „Ich werde dir folgen.“ – wird zur Frage, zur Chiffre der existenziellen Unsicherheit des Selbst, umgedeutet. Das ist konsequent gedacht und spinnt die abstrakte Diskurshaftigkeit des Textes mit äußerster Stringenz fort. Damit macht sie ihn jedoch noch sperriger, entfernt ihn noch weiter vom Zuschauer, schließt ihn noch mehr ein in sich selbst. Und so ist der Abend eine Geduldsübung, ein opakes Ausstellungsstück menschlichen Leidens und existenzieller Einsamkeit (den Machtaspekt lässt Koležnik unterbelichtet), schön abstrakt aufgespalten, um bloß keine Identifikation zu erzeugen. Der Preis ist, dass er in keinem Moment zu berühren vermag, ja, keinerlei Beziehung zum Publikum aufzubauen versucht. Man schaut darauf, wie ein wunderbares Bild, das den Betrachter kalt lässt. Edward Hopper in mehrfach gebrochener Reproduktion. Auf die „Wirklichkeit“ blicken wir sicherlich nicht. Aber worauf dann? Stille.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/23/leben-hinter-glas/
Leserkritik: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, Berlin
Joël Pommerat: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, Berliner Ensemble / Schauspiel Frankfurt / Ruhrfestspiele (Regie: Oliver Reese)

(...)

Vieles an diesem Abend ist leichter – und schrammt doch oft nur knapp am Abgrund dabei. Etwa die geplatzte Hochzeit, die scheitert, weil herauskommt, dass der Bräutigam nicht nur mit seiner Braut etwas hatte, sondern mit all ihren Schwestern. Oder die Freundschaft, die im angedeuteten Massaker endet, weil einer unvorsichtig die Oberfläche angekratzt hat. Oder die Putzfrau, die über ihren Mann herzieht, von dem sie sich frisch getrennt hat, während er erhängt über ihr baumelt. Es gibt ungemein berührende Momente, etwa jene Episode, in der eine Frau (Corinna Kirchhoff) ohne Erinnerung ihren Mann neu kennenlernt und sich in einer Art kindlichem Staunen das Wunder der Liebe entdeckt, fragend, wie diese denn möglich sei. Oder jene, in der ein pseudorationaler, verbitterter Arzt (Marc Oliver Schulze) seiner still widerständigen behinderten Patientin (Carina Zichner) den Entschluss, ein Kind zu bekommen, auszureden versucht. Und schmerzvolle wie jene, in der ein Paar (Kirchhoff, Veit Schubert) eine Babysitterin engagiert hat, auch wenn sie keine Kinder haben. Das können sie der Welt und vor allem einander jedoch nicht eingestehen, denn ohne Kinder, so meinen sie, hätten und seien sie nichts, gäbe es keine Beziehung, gäbe es sie nicht. Wie diese Lebenslüge eine Eigendynamik entwickelt und am Ende in sich zusammensinkt, ist von einer kaum erträglichen Intensität.

Ansonsten herrscht ein launiger, leichter Humor vor, den nicht zuletzt Verena Bukal in ihren Frauenfiguren zwischen Obsession und Verwunderung verkörpert, eine irrlichternde Forscherin in der Eiswüste menschlicher Leidenschaftsbehauptungen. Überhaupt lässt Reese sein Ensemble spielen, die Absurdität wie die existenzielle Einsamkeit, die in diesen Episoden steckt, herausarbeiten – mit realistischem Spiel, das ein wenig zur Deutlichkeit neigt, die eine oder andere Übertreuibung nicht scheut und gern auch ins subtil Karikatureske kippt. Dabei umschifft er jede Schrillheit, verliert nie den Kontakt zum realistischen Grundton, egal wie absurd, grotesk, seltsam die Menschen auf der Bühne und ihre Entäußerungen von Liebessehnsucht sein mögen.

Er sucht für jede Episode den richtigen Ton und hält das große Ganze doch zusammen. Denn zwischen störrischer Sebstbehauptung und verzweifelter Selbstaufgabe (siehe Josefin Platts herzzerreißende Prostituierte aus der finalen Episode), wahnhaftem Selbstbetrug und der Unfähigkeit, den anderen (oder sich selbst) zu verstehen (die Komik des Missverstehens schlägt immer wieder durch) gibt es einen gemeinsamen Nenner: die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Nähe, nach Gemeinschaft, nach dem die eigene Unzuläglichkeit Kompensierenden. Und diesem Nenner bleibt der Abend in jedem Moment treu. Verbunden durch sehnsüchtige Chansons ist er präsent im stillen Kammerspiel wie in der grellen Posse, in der schmerzvollen Beziehungskomik wie in der intimen Tragödie, in der Trockenheit des Absurden wie im süffigen Slapstick. Am Ende bleibt das Staunen, das Corinna Kirchhoffs Gedächtnislose entdeckt und dem auch wir uns nicht entziehen können in diesem Reigen zwischen Boulevard und Bergman, zwischen Schnitzler und Loriot. Seltsame Kreaturen, diese Menschen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/28/die-liebe-reicht-nicht/
Leserkritik: Attila the Hun..., Gorki Berlin
András Dömötör, Kornél Laboda: Attila, the Hun (Solo) and the Magical (Laser) Sword, Maxim Gorki Theater (Studio Я), Berlin (Regie: András Dömötör)

(...)

Mareike Beykirch repräsentiert „den Westen“. Sie spielt eine Forscherin, die sich der Attila-Legende gewidmet hat. Zunächst erklingt diese bei leerer Bühne mit allerlei Effekten und reichlich Pathos, die Geburt eines animalischen, wilden, gewalttätigen Wesens, dessen Existenz es dem Streben nach Rache verdankt. Beykirch lädt die ehrgeizige Wissenschaftlerin mit einigen Komplexen und noch mehr Nervosität auf, die sie mit gespielter Selbstsicherheit nicht wettzumachen vermag. Denn sie hat etwas mitgebracht: In einer transparenten Zelle hockt eine Gestalt, die sie als Attila selbst identifiziert, das Mensch-Tier-Wesen, unsterblich, eingefangen in Ungarn. Gehalten wie ein Tier, dazu da, das „westliche“ Bild der Barbaren zu bestätigen und zu festigen. Das ist durchaus unterhaltsam, von milder satirischer Schärfe und ein wenig platt.

Doch das ist nur das Vorspiel. Denn Attila macht nicht mit. Oder besser dessen Darsteller. Lehel Kovacs spielt eine Version seiner selbst, einen Schauspieler, der nach Berlin gebracht wurde, um Attila darzustellen. Mit Fellmantel, Zopf und angeklebten Hundeohren (der Legende zufolge war sein Vater ein Windhund). Nun kippt er aus der Rolle, rebelliert gegen die kulturelle Aneignung seines Erbes durch den „Westen“, dessen anmaßende Deutungshoheit, seinen Anspruch, die eigene Perspektive überzustülpen. Nach einer Auseinandersetzung mit einer ihre Figur und das, was sie repräsentiert, immer weiter ins Lächerliche ziehen dürfenden Beykirch, gehört schließlich Kovacs die Bühne. Er beschimpft das Publikum, zeigt alternative Bilder Attilas, hetzt gegen den verweichlichten Westen, beklagt die Rolle Ungarns als Spielball fremder Mächte. Er bekräftigt, sein Volk stamme sehr wohl von den Hunnen ab, auch wenn „westliche“ Historiker dies bestritten (auch Beykirch hatte dies getan). Bilder zeigen ihn mit dem ungarischen Präsidenten Orban, den er ebenso aufs Schild hebt wie Putin oder Erdogan. Gegner einer Hegemonie so genannter westlicher Demokratie.

Die Stimmung wechselt. Die satirische Leichtigkeit ist weg, stattdessen füllt Unbehagen das Gorki-Studio, in dem sich da Theater vom Manipulations- zum Wahrheitsraum umzuwandeln sucht. Der natürlich auch Behauptung bleibt, Spiel ist. Denn wenn Kovacs geifert, wird es zwar ungemütlich, auch und gerade weil seine Angriffe gegen die Arroganz des Kerneuropas, seine kulturelle Deutungssucht und politische Macht nicht ganz falsch sind. Aber seine Reaktion ist denn eben auch so extrem, so klischeehaft und leitartikel-haft, dass sich der Zuschauer schnell wieder zurücklehnen kann, das Hirn ausschaltet, mancher kichert gar wohlig vor sich hin. Denn so krawallig, wie der kleine Wut-Ungar sich hier geben muss, so schnell schleicht sich das gerade entzauberte „westliche“ Überlegenheitsgefühl wieder ein. Dieses zu dekonstruieren, dafür fehlt an diesem knapp einstündigen Abend offenbar die Zeit. Und so bleibt sehr viel Lärm um noch mehr. Das hier leider serviert wird, als wäre es nichts.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/30/der-hun-desohn/
Leserkritik: Attila, the Hun, Gorki Berlin
András Dömötör, Kornél Laboda: Attila, the Hun (Solo) and the Magical (Laser) Sword, Maxim Gorki Theater (Studio Я), Berlin (Regie: András Dömötör)

„Mythen der Wirklichkeit“ nennt sich eine kleine, unregelmäßig aufgenommene Reihe im Studio Я des Gorki Theaters. In politisch engagierten, kurzen Performances ist man dort den Mythen und Heldenerzählungen auf der Spur, die rechtspopulistische Ideologen so gerne auf dem Banner vor sich hertragen.

Der aktuelle dritte Teil funktioniert nicht mehr ganz so gut. Mit dem Ungarn András Dömötör hat man zwar einen begabten Regisseur verpflichtet, der den Spagat zwischen den unterschiedlichen ästhetischen Handschriften des Gorki Theaters und des Deutschen Theaters in den vergangenen Jahren überraschend gut geschafft hat. Außerdem wählte man mit „Attila, The Hun (Solo) and the magical (Laser) Sword“ einen vielversprechenden Stoff. Auch die Besetzung mit Mareike Beykirch und dem Ungarn Lehel Kovács, der mit seinem anarchischen Humor die „Götter“-Performance zur Einweihnung der DT-Probebühne 2015 aufgemischt hat, auf der Bühne und mit Lea Draeger und Ruth Reinecke als Sprecherinnen aus dem Off kann sich sehen lassen.

Aber dem Abend fehlt diesmal der Biss. Die bekannten Zutaten des Dömötör-Stils sind wiederzuerkennen: eine diesmal besonders heftige Prise Mitmachtheater (eine Freiwillige stieg mit Schutzanzug in den Container), die übliche Ironie und turbulente Dispute zwischen den beiden Schauspielern lockern den Abend auf, der jedoch lange braucht, bis er an sein Ziel kommt.

Nach dem Vorgeplänkel (Mareike Beykirch gibt sich als Archäologin aus, die behauptet, dass sie Attila, die gefürchtete „Geißel Gottes“ gefangen hat) darf Kovács erst auf der Zielgeraden richtig loslegen und gegen Überfremdung wettern. Ungarn, das so wesentlich zum Fall des Eisernen Vorhags beigetragen hat, werde von den anderen Europäern bei der Verteidigung des Abendlands im Stich gelassen.

Wutschnaubend verlässt er die Bühne und zertrümmert den Nebenraum, nur sein Geschrei ist noch zu hören. Ähnlichkeiten mit realen Personen wie Victor
Orbán sind bewusst und unausweichlich.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/09/29/attila-the-hun-von-andras-doemoetoer-im-gorki-studio/
Leserkritik: Die Frau, die gegen Türen rannte, Berlin
Roddy Doyle: Die Frau, die gegen Türen rannte, Berliner Ensemble / Schauspiel Frankfurt (Regie: Oliver Reese)

(...)

Oliver Reese hat Doyles Text in seinem Rhythmus aufgenommen und meisterhaft für die Bühne verdichtet. Ansatzlos lässt er Hoppe von einer Zeitebene zu nächsten, von einer Erinnerung zur anderen springen. Sie spricht über die frühe Kategorisierung schon in der Kindheit, das lieblose Elternhaus, die Liebe zu Charlo und die Mechanismen einer von Misshandlungen geprägten Beziehung. Nur langsam schält sich das zentrale Trauma der ersten Gewalt des geliebten Mannes heraus. Zunächst sind es nur einzelne, nüchtern eingestreute Sätze, Andeutungen inmitten anderer Erzählungen, bevor sie zum Kern kommt, dort hängenbleibt, den Schlüsselmoment, ihren Schlüsselsatz (er solle sich doch seinen Tee selber machen) aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtend, sich ihm aus verschiedenen Richtungen annähernd. Und langsam kaum merklich verschiebt sich der Ton, wird die Stimme emotionaler, tritt eine verschämte Träne hinzu. Waren die – bei Doyle immer eine wesentliche Rolle spielenden – Musikeinsprengsel bis dahin kurze Momente der kontrollierte Ventilöffnung, werden sie nun in ihrer Befreiungsszene zur explosiven Illusion eines Auswegs. Selbstvergessen tanzt sie bis zur Erschöpfung in den grell wechselnden Farben, nur um am Ende ausgelaugt in einer grauen Welt aufzutauchen.

Die Passagen, in denen sie den Alkoholismus ihrer Figur schildert, geraten Hoppe ein wenig klischeehaft und plakativ – aber auch streckenweise durchzogen von dem bitteren Humor, der so oft erhellende Wirkung haben kann. Wenn sie sich in eine geschäftige, zwanghafte Panik hineinsteigert, in der sie zugleich versucht, die glückliche Fassade aufrecht zu erhalten, was natürlich alles noch schlimmer macht. Da schrammt sie haarscharf an der Karikatur vorbei und fängt ihre Figur doch jedes Mal wieder auf, gibt ihr die Würde zurück, die Würde einer Frau, die sich selbige nie leisten konnte, die weißt, wo sie steht, die sich wohl nie wirklich zu befreien vermag und doch in ihrer Selbsterkenntnis und trotzigen Selbstbehauptung einen Weg geht, der sie weiter führt, als ihre Welt es ihr zugestehen würde. Der sie zur Erkenntnis führt, dass sie vielleicht gar nicht (so) dumm ist“, wie ihre Umwelt es ihr eingetrichtert hat. Und der es ihr gar erlaubt, ihre Liebe zu verteidigen gegen die Erwartungshaltungen einer verdammenden Gesellschaft. Für sie tötet die Gewalt diese Liebe nie. Ein Statement, das sie den Zuschauer zwingt hinzunehmen. Roddy Doyle, der diese Figur für eine BBC-Serie erfunden hat, ließ sie lange nicht los. So lange, dass er ihr eine Fortsetzung widmete. Dort wurde im Titel aus Der Frau, die gegen Türen rannte Paula Spencer. Dieser Bewusstwerung der eigenen Identität zuzuschauen, erlauben Reese und Hoppe an diesem Abend. Es ist keine verlorene Zeit.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/04/graue-welt-voller-farben/
Leserkritik: Queerious, Gorki Berlin
"Queerious - Die Geburt des Vulkans" im Studio Я des Gorki-Theaters Berlin

In einer assoziativen Collage nähern sich acht junge Erwachsene zwischen 18 und 24 im Studio Я des Gorki-Theaters der Frage, was für sie „Queerness“ bedeutet.

Der Abend ist auf dem Programmflyer als „zeitgeschichtliche Ideensammlung zu Solidarität“ überschreiben: das ist Markenzeichen und zugleich auch die Schwäche dieser Stückentwicklung. Die Ideen sprudeln nur so, die Spielerinnen und Spieler reden teilweise wild durcheinander, mischen sich unters Publikum, das somit fast ständig damit beschäftigt ist, die Hälse zu verdrehen, um nichts zu verpassen. Alle Themen, die dem postmigrantisch, queeren Gorki Theater wichtig sind, werden hier angesprochen: der Blick von Migranten, Schwarzen, LGBTI und anderen Minderheiten auf eine weiße, heteromormative Mehrheitsgesellschaft. Kolonialismus, sexuelle Belästigung, Kritik an Roland Emmerichs geschichtsklitternder Hochglanz-Hollywood-Produktion über „Stonewall“: vieles wird angerissen, der Zettelkasten quillt förmlich aber, nur selten es bei „Queerious – Die Geburt des Vulkans“ in die Tiefe.

Es gibt sie durchaus, die stillen, gelungenen Momente an diesem knapp einstündigen Abend: Ronald Berger erzählt von seinem Coming-out in Costa Rica. Nur seine Mutter stand immer zu ihm, der Vater und die Oma hatten lange damit zu kämpfen, beteten für seine „Heilung von seiner sexuellen Verirrung“ und sind erst versöhnt, seit er mit seinem Freund eine kleine Tochter großzieht.

Chantal Süss, die ebenso wie Nathalie Seiss schon im stärkeren und wesentlich besser verdichteten Vorgängerprojekt „Stören“ vor einem Jahr dabei war, reflektiert in einem Monolog zu Overhead-Folien darüber, wie die lesbische Eurovision Song Contest-Siegerin von 2007 auf sie wirkte. Sie erinnert sich daran, welche Fragen sie sich damals stellte: Soll sie diesem Rollenmodell der maskulin wirkenden Frau mit Kurzhaarfrisur nacheifern, das bei der ersten Begegnung sofort klare Zuschreibungen im Kopf des Gegenübers auslöst? Was faszinierte sie daran? Was stieß sie ab? Diesen Denkbewegungen hätte der Abend gerne noch ausführlicher folgen können.

Leider blieb „Queerious“ jedoch in einer Stoffsammlung stecken. Vor dem zweitschönsten Glitzervorhang Berlins nach dem Kino International versammeln sich die Spielerinnen und Spieler zu einer Schlussszene. Was für sie „Queerness“ bedeutet, bleibt sehr vage: ein noch recht diffuser Traum von einer irgendwie schöneren, freieren Welt mit mehr Möglichkeiten zu einem selbstbestimmten Leben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/06/queerious-acht-junge-erwachsene-denken-im-studio-des-gorki-theaters-ueber-queerness-nach-und-berichten-von-ihren-erfahrungen/
Leserkritiken: Luther dancing with the gods/Boulezsaal Berlin
Robert Wilson: LUTHER dancing with the gods, Rundfunkchor Berlin / Pierre Boulez Saal, Berlin (Regie: Robert Wilson)

Luther spielt, spricht Jürgen Holtz, ein Lieblingsschauspieler Wilsons, mit einer schlichten Düsternis und würdevollen Schwere, die um die Vergänglichkeit alles Irdischen weiß. Er spricht über die Hoffnung, die im Kindlichen steckt, zitiert aus Luthers Verteidigung mit stiller Widerständigkeit, überlässt das spielerisch Widerspenstige seinem jungen Alter Ego, während Koniordou auf lateinisch päpstliche Anklagen auf ihn schießt. Gegen Ende taucht auch Katharina von Bora auf, bügelt und fegt – mit einem Besen, der statt Borsten eine Bibel am unteren Ende trägt. Leben, Tod, Liebe, Gewalt, die Sehnsucht nach Bedeutung, nach Erlösung, all das wirft Wilson dem Publikum vor, in sperrig assoziativen Miniaturen, die illustrieren, reproduzieren, aber nichts erklären. Bildfragmente, die auftauchen und verschwinden. Ohne eine Spur.

Dazu die Musik. Vier Motetten Bachs stehen im Mittelpunkt. Der Chor singt im Raum: Hinter den Zuschauer*innen, auf den Treppen, auf der Bühnen. Gemeinsam oder in vereinzelten Gruppen. Die Musik separiert und ballt sich. Wie in Knut Nystedt Bach-Bearbeitung, die ein Lied des Komponisten in schwebende Klangflächen aufspaltet. In Steve Reichs „Clapping Music“, in denen sich das kollektive Klatschen auffächert, kanonisch wandert, u am Ende wieder zusammenzukommen. Das Enzelne ist das Ganze, das Ganze das Einzelne. Und so füllt der Gesang den Saal, weitet den Raum oder lässt ihn ganz klein werden, universell oder persönlich. Der Rundfunkchor, geleitet von Gijs Leenaars, bringt Bach mit einer Intinmität, einem Nuancen- und Farbereichtum zum Leben, dass er eine Unmittelbarkeit entwickelt, wie man sie lange nicht mehr gehört hat. Die extreme Nähe zum Hörer lässt einzelne Stimmen hervortreten, spaltet das kollektive Hören auf in eine Vielzahl individueller Erlebnisse.

Die Bilder illustrieren dabei nie, sondern bilden Kontrapunkte wie die gesprochenen Szenen. Das Ganze bedarf des Vereinzelten. Die Szenenübergänge sind zuweilen recht lang, aber auch die Spannungsabfälle, die Bruchstückhaftigkeit des Abends haben ihre Funktion, sind Gegenspieler der innigen Mediation über Liebe, Gott und Leben, des Zwiegesprächs mit dem Universum, des Ringens ums Menschsein. Bilder und Musik klaffen oft aufeinander, wenn Mord und Gewalt einer Liebenserklärung an Jesus gegenüberstehen. Dann ist Schwarz Weiß und Weiß Schwarz, wie Leben Tod und Gewalt Liebe ist. LUTHER dancing with the gods ist ein Abend, der das Publikum auf Distanz hält. Der sich widerspricht, in dem Bilder auf Musik prallen, Worte auf Licht. Eine folge von Fragmenten, die doch ein Ganzes sind, plakative Bilder voller Ambivalenzen. Wilson baut Assoziationsketten, die nirgendwo hin führen oder zum Kern der Welt. Es ist ein Abend, der abschreckt oder fasziniert, der den Zuschauer außen vor lässt oder hineinzieht, der Ablehnung erzeugt oder stillen Jubel. Im besten Fall beides. Denn in Robert Wilsons Universum sind sie eins.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/07/schwarz-ist-weis-und-weis-ist-schwarz/
Leserkritik: Kasimir und Karoline, Staatstheater Nürnberg
Georg sagt nicht leise "Servus"

Auf den Hollywood Hills oberhalb von Los Angeles leuchtet mit weißen Großbuchstaben das berühmte Hollywood-Sign als Bild-Symbol der weltweit bekannten Traumfabrik. Über die Gemütsverfassung der dortigen Bewohner hat die Gruppe Sunrise Avenue 2011 gesungen: "This ist the end oft he rainbow, where no one can be too sad."
Für seine Nürnberger Inszenierung des Horvath-Stückes "Kasimir und Karoline" hat sich Regisseur Georg Schmiedleitner von Stefan Brandmayer ein großes Stahlgerüst auf die Bühne stellen lassen, bei dem oben der Schriftzug "TOMORROW" blinkt - wohl als Zeichen der vagen Hoffnung auf ein besseres Morgen. Darunter tummeln sich kleinbürgerliche Glückssucher, proletarische Gauner und großbürgerliche Schürzenjäger. Im Original (Uraufführung 1932) war der Schauplatz das Münchner Oktoberfest, wo nach der Meinung des eitlen Kommerzienrates Rauches trotz Weltwirtschaftskrise noch klassenlose Demokratie herrscht, wo der kleine Dienstmann neben dem Geheimrat bei der Maß Bier sitzt. Schmiedleitner hat das Geschehen aber in eine Techno-Disko des 21. Jahrhunderts gebeamt und als Rummelplatz-Zitate nur noch drei Autoscooter, eine Galerie von Dixi-Klos, ein paar Lebkuchenherzen mit der Aufschrift "Ich liebe Dich so wie Du bist" (jedoch nicht: "Und die Liebe höret nimmer auf"!) und ein Bierglas übrig gelassen. So tönen als Hintergrundmusik auch keine Oktoberfest-Hymnen ("Trink, trink Brüderlein trink / Lasse die Sorgen zuhaus") sondern massive Beats und die Sphärengesänge der Rausch-Gold-Engel Elli und Maria. Aus dem Ausrufer des Raritätenkabinetts wird ein hektischer DJ im Glitzeranzug (Pius Maria Cüppers), der Texte des Berliner Berghain-Bloggers Airen ins Mikrofon bellt. In dieser hitzigen Atmosphäre verhandeln der eben arbeitslos gewordene Chauffeur Kasimir (Stefan Willi Wang, diesmal bemerkenswert zurückgenommen) und die vergnügungssüchtige Karoline (Josephine Köhler mit einer sehr heutigen Rolleninterpretation) ihre Beziehungsprobleme. Während Karoline den vorbeifliegenden Zeppelin bewundert und sich in der Achterbahn ordentlich durchwirbeln lassen will, wird Kasimir zum pessimistischen Sozialkritiker: "Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne, und herunten verhungern derweil einige Millionen!“ Weil dem Kasimir die Lust und die nötigen Scheine zum Spiel des kurzzeitigen Vergessens fehlen, lässt sich Karoline auf diffuse männliche Angebote ein: auf den anfangs verklemmten Zuschneider Schürzinger (schön verbogen: Martin Aselmann) und auf seinen auftrumpfenden Chef Rauch (Michael Hochstrasser). Die Nacht im dichten Trockeneis-Nebel endet in desillusionierender Klarheit, als Karoline erkennt: "Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen."
Nach 18 Jahren als stilbildender Dauergast dürfte sich Georg Schmiedleitner mit dieser soliden Inszenierungs-Arbeit für längere Zeit (für immer?) vom Nürnberger Theaterpublikum verabschieden - zum leisen Servus richtete er bei der Premierenfeier einen Dank an die Besucher, die ihn über die Jahre mit Zustimmung, aber auch mit kritischen Anmerkungen (bis hin zu Buh-Rufen) begleitet haben. Diesmal war der Beifall, trotz der Tatsache, dass man die Bühnensprache des Österreichers mittlerweile gut kennt und daher vor Überraschungen leider sicher ist, ungeteilt.

Kasimir und Karoline ****
von Ödön von Horvath
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Premiere: 6.10.2017
Mit: Josephine Köhler, Stefan Willi Wang u. v. a.
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,kasimir_und_karoline,109226
Leserkritik: Selbstbezichtigung, Berlin
Leserkritik: Stefanie Reinsperger in Peter Handkes "Selbstbezichtigung", Übernahme vom Wiener Volkstheater im Kleinen Haus des Berliner Ensembles

Die kurzen, abgehackten Sätze: Dies ist unverkennbar der Sound des frühen Peter Handke, als er noch unangepasster Rebell, Bürgerschreck des Abopublikums und Stachel im Fleisch der Gruppe 47 war. „Publikumsbeschimpfung“ war damals sein erster großer Hit, aus derselben Zeit stammt seine „Selbstbezichtigung“ (1966).

Vor dem Stück geht Stefanie Reinsperger durch die Reihen und verteilt ein paar Apfelschnitze an das Publikum. In den ersten Szenen kauert sie halbnackt auf dem Boden und tastet sich ganz langsam an die Menschwerdung dieser Eva-Figur heran. Fast jeder Satz beginnt mit „Ich“. Einem „Ich“, das sich seiner selbst und der Welt noch nicht gewiss ist.

Stefanie Reinsperger lässt sich jedes Wort auf der Zunge zergehen, spielt mit verschiedenen Varianten der Betonung, wird langsam selbstsicherer und frecher. Vor der großen Videowand synchronisiert sie ihre früheren Wiener Inszenierungen, die sie mit Regisseur Dušan David Pařízek erarbeitet hat, wie z.B. die „Nora³“ (nach Ibsen/Jelinek) oder „Die lächerliche Finsternis“, mit der sie beim Theatertreffen 2015 gefeiert wurde.

Der kurze Abend berauscht sich an der Sprachakrobatik des Textes und den pantomimischen und gestischen Untermalungen der Performerin. Eingestreute Fremdtexte und vulgärste Wiener Dialekt-Passagen lockern das Stück auf, das mehrfach in die Gefahr gerät, zu eintönig und langweilig zu werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/10/selbstbezichtigung-handke-monolog-von-stefanie-reinsperger-am-berliner-ensemble/
Leserkritik: Selbstbezichtigung, Berlin
Peter Handke: Selbstbezichtigung, Berliner Ensemble / Volkstheater Wien (Regie: Dušan David Pařízek)

Regisseur Dušan David Pařízek legt den Text einer Schauspielerin in den Mund, die und das macht sie gleich zu Beginn nur mit einer Unterhose bekleidet, sehr deutlich, dieser Normierung nicht entspricht. Stefanie Reinsperger beginnt den Abend auf der neutral weißen Spielfläche, in verschiedenen Liegepositionen, zunächst den Rücken zum Publikum, später eine embryonale Haltung andeutend. Sie formt die Worte plastisch, affirmativ, als hätten sie ein Eigenleben und nichts mit ihr zu tun. Dabei zeigt ihr Gesicht mit gezwungen enthusiastischem Dauergrinsen die normativ vorgeschriebene Zuversicht eines Siegertypen. Schnell wird klar, dass Regisseur und Schauspielerin Handkes Text gegen den Strich bürsten. Wo er formell unpersönlich daher kommt, kippen sie ihn ins Gegenteil. Reinsperger sucht das größtmögliche Ausdrucksspektrum – sprachlich, mimisch, gestisch, körperlich – wechselt ständig die Modi, vom naiv Lebensfreudigen zum gehetzt Panischen, vom komödiantisch Verwirrten zum schuldhaft Verzweifelten. Sie spielt die gesellschaftlich vorgegebenen Rollen auf dem Weg zum Eingeständnis des Nichtgenügens, still an einer Bühnenecke sitzend und die Zuschauer*innen mit einer Taschenlampe anleuchtend. Eine Revue des Selbstoptimierungswahns, die der obersten Maxime unserer Zeit entspricht: nicht langweilen. Also präsentiert sie szenische Fragmente, kippt immer wieder in karikaturesk überzogenen Wiener Dialekt, steigert sich eindrucksvoll in einen in unzähligen Wiederholungen implodierenden Strudel der Selbstauflösung, der weniger berührt als belustigt.

Das ist beabsichtigt, denn auch die „Personalisierung“ des Stoffs ist reines Spiel. Da mögen selbst gebastelte Projektoren verschwommene Kinderbilder an die Rückwand werfen oder Reinsperger auf Videoschnipsel aus früheren Inszenierungen reagieren – die Figur, die wir sehen, ist natürlich nicht Stefanie Reinsperger, sondern ein Bild von ihr, eine ihre Form annehmende Verkörperlichung von Handkes Text, gelesen aus einem anderen und doch so ähnlichen Heute heraus. Die weiß, was wir erwarten. Ganz freundlich bietet sie den Zuschauern beim Einlass Apfelstückchen an, die Frucht der (Ur-)Sünde, Symbol der Schuld, welcher der Mensch nicht zu entrinnen vermag. Die ironische Brechung ist stets mitgedacht, als Ausdruck des Unwohlseins mit diesem apodiktischen Text, dem wir längst entwachsen sein wollen und von dem wir merken, dass wir es nicht sind.

So richtig abheben will der Abend in seiner Spannung aus überpersönlichem Textkonstrukt und radikaler Personalisierung nicht, weil er keinen Weg findet, letztere auf Augenhöhe zu bringen. Zu bemüht sind diese Versuche, zu deutlich als ironisch distanziert zu erkennen, als aufgestülptes Kontrastmittel, welches den zwingenden Determinismus der Vorlage nur verstärkt. Als vermeintlich gegenläufiger Widerspruch, der sich als perfides Instrument entpuppt, den ausgestellten Konformismuszwang im Zeitalter des vermeintlichen Individualismus durchzudrücken. Oder besser: All das wäre der Fall, stünde da nicht Stefanie Reinsperger auf der Bühne. Die Ausnahmedarstellerin zittert, windet, grimassiert sich mit jeder Faser von Körper und Geist durch die Textberge, wehrt sich gegen das Korsett, in dem sie steckt, macht den Kampf des halbwachen Ichs gegen den omnipräsenten Kollektivzwang spür-, sicht-, fühlbar. Sie gibt dem Text Körper und damit (Theater-)Realität. Und das jenseits jeglicher Personalisierungsbehauptung. Wer ihr zusieht, realisiert, welche Kräfte tagtäglich auf den nicht-normativen Menschen einwirken, so sehr, dass am Ende der Text in die zweite Reihe tritt. Er ist auch nur Symptom, vor uns sehen wir das Krankheitsbild. Und vergessen es nicht so schnell.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/11/wenn-der-text-zum-korper-wird/
Leserkritik: Beben, Berlin
Maria Milisavljevic: Beben, Theater an der Parkaue, Berlin (Regie: Volker Metzler)

Die Welt ist eine Gummizelle. Nur ohne Gummi. Hart sind die Wände, abweisend weiß. Ein Pfäd führt an ihnen entlang. Eine Aneinanderreihung von Schrägen. Auslauf für Sysiphos. Die Insassen: ebenso weiß. Fingernägel und Gesichter „verziert“ mit fluoreszierenden Farben. Dazu passend: Ein (weißes) DJ-Pult in der Mitte des Raums. Der Untergang der Menschheit ist eine Techno-Party. Regisseur Volker Metzler, der mit dieser Inszenierung sein Debüt als Schauspieldirektor des Theaters an der Parkaue gibt, und seine Bühnenbildnerin Claudia Charlotte Burchard haben sich eines der derzeit meistdiskutierten und -gefeierten Stücke des deutschsprachigen Theaters angenommen: Maria Milisavljevics Beben, Gewinner des Heidelberger Stückepreises. Eine Endzeitvision, vielschichtig, sperrig, eine kaum bezwingbar erscheinende Textfläche. Metaphysisches steht neben Konkretem, Dystopie neben Realismus. Ein gottgleiches Wesen ergötzt sich an der Selbstvernichtung der Menschheit; ein Kind wird erschossen und die Mutter will dem Soldaten, der abdrückte, die Hand reichen; ein Dröhnen erfüllt die Welt und lässt sie im Krieg versinken; irgendwo muss jemand immer noch schnell sein Level zu Ende spielen. Ein faszinierender Text, hochkomplex, verwirren, immer wieder auf falsche Fährte lockend, abbrechend und neu ansetzend, wild zwischen den Ebenen springend. Ein Weltpanorama in Fragmenten.

(...)

Kriegsbilder flimmern über die Wände, die Überforderung der Gleichzeitigkeit ist stets präsent. Der Zuschauer muss sich ständig entscheiden, wo er hinblickt und verliert so schnell das große Ganze aus den Augen. Die dystopischen Bilder verschwimmen. Ein eindeutiges, ein starkes Symbol. Zuweilen packt Metzler ein bisschen zuviel in die eineinhalb stunden. Songs, Rap-Einlagen, ausgedehnte Slapsticknummern: Wann immer der Abend den Text verlässt, wird er schwächer. Und hält vielleicht gerade so das jugendliche Publikum, das er ungemein herausfordert – das gilt für das „erwachsene“ im Übrigen genauso – bei der Stange.

In Milisavljevics Text gibt es einen Hoffnungsschimmer. Er beginnt mit dem Händereichen von Mutter und Mörder. Bei Metzler ist sie eine Verrenkung. Widerwillig, widernatürlich fast, treffen sich die Hände, hinter den Rücken, die Gesichter und Körper abgewandt. Eine Sekunde vielleicht, dann fallen die körper von einander ab, leblos. Ähnlich die Metaebene: Der „Mann an der Kante von Ulro“ hat einen Gegenspieler, der die Liebe repräsentiert. Im Text wacht der lange Verlassene auf, von unwahrscheinlichen Akten der Menschlichkeit erweckt. Am Ende, der Weltspieler sieht sich schon als Triumphator, deutet sich seine Niederlage schon an, das Überleben der Menschheit durch das Überleben der Liebe. Metzler reduziert auch diesen Aspekt. Leichen, Untote bevölkern die Bühne, der „Verlassene“ regt sich kaum, zwei Darsteller machen Smalltalk. Die Ablenkungsmaschinerie funktioniert, der Blick bleibt getrübt. Die Erlösung, die Milisavljevic heranfantasiert, bleibt aus. Ein etwas frustrierendes Ende, aber auch ein konsequentes.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/12/auslauf-fur-sysiphos/
Leserkritiken: Die Frau, die ..., Berlin
"Die Frau, die gegen Türen rannte" von Roddy Doyle, Berliner Ensemble

Der Stoff ist nicht neu: Der irische Schriftsteller Roddy Doyle erfand die Figur der Paula Spencer für das Drehbuch der BBC-Serie „Family“, die in der Regie von Michael Winterbottom 1994 für heftige Diskussionen im konservativen Irland sorgte und – wie im Programmheft zu lesen ist – auch die Debatte über das Scheidungsrecht anheizte.

Die Figur definiert sich vor allem über die Musik: sehr gerne erinnert sie sich an Popsongs der 60er und 70er Jahre z.B. von „The Rubettes“ und Barry Ryan, die mehrfach kurz angespielt werden. Eine Reminsiszenz an ihre Jugend und an das Kennenlernen mit dem Macho Charlo, der sie in einem Club ansprach. An die 80er Jahre erinnert sie sich nur diffus: Düstere Jahre, die sie in der Wohnung bei den Kindern verbrachte. Ihr Mann schlug sie grün und blau. Wenn sie sich doch mal vor die Tür wagte, musste sie lügen, dass sie gegen die Schlafzimmertür gerannt sei. Erst in der letzten Szene, die in den 90ern spielt, tanzt sie sich frei: noch sichtlich unsicher, aber neuer Lebensmut wird spürbar.

Der Makel dieses Solo-Abends ist, dass Bettina Hoppe ihn ganz allein tragen muss. Sie leistet Beachtliches, aber der Stoff würde noch wesentlich eindrucksvoller und berührender wirken, wenn sie auch einen Gegenpart auf der Bühne hätte, wie es in der BBC-Serie angelegt war, aus der dieser Monolog entwickelt wurde.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/13/die-frau-die-gegen-tueren-rannte-monolog-von-bettina-hoppe-am-berliner-ensemble/
Leserkritik: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet, Berlin
"Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet", Studio des Gorki Theaters

Das Studio Я kündigt ein „jüdisch-queeres Rache-Musical“ an. Autor/Regisseur Tucké Royale erwähnt in den Vorberichten Quentin Tarantino als eine Referenz des Abends.

Im Kopfkino rauscht sofort ein bunter Film ab: große Emotionen, schräge Songs, oszillierend auf dem schmalen Grat zwischen Glamour und Trash, herausgebrüllte Wut, viel Splatter-Ästhetik und Kunstblut. Kurz und knapp: „Roma Armee trifft Pulp Fiction“. Mit dieser Erwartungshaltung kamen wohl manche heute Abend zur Premiere von „Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet“ in die kleine Studiobühne des Gorki Theaters.

Die kommenden zwei Stunden entwickelten sich deutlich anders: eine sehr minimalistische Ästhetik, die queerem Camp und Glitzer ganz bewusst ausweicht. Die Darsteller auf der Bühne sind demonstrativ in tristes Grau gehüllt. Auch die Maske, die Oscar Olivo in der Hauptrolle der jüdischen Revuetänzerin Dolores trägt, orientiert sich an klassischen, strengen Formen und meidet jeden Prunk. Vom grell-blauen Make-Up auf dem Plakat blieb nicht mal ein zarter Lidstrich.

Die eingestreuten, von der Live-Band begleiteten Songs sind die einzigen zaghaften Farbtupfer: ein Mix aus jiddischem Klezmer und Tango. An diesem Abend wurde die Handbremse ganz bewusst angezogen.

Der Glamour und die extroviert an der Rampe mit großer Geste zelebrierten Emotionen werden bis zum Schluss verweigert. Mit einem nachdenklichen Monolog über den jüdischen Widerstand klingt dieser Abend noch leiser aus als er begann. „Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet“ unterläuft die Erwartungen konsequent. Einige verließen das Studio sichtlich enttäuscht vorzeitig. Uninteressant war dieses von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen von „Queering Holocaust History“ unterstütze Projekt aber keineswegs.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/26/mit-dolores-habt-ihr-nicht-gerechnet-das-rache-musical-im-gorki-studio-geht-unerwartete-wege/
Leserkritik: "Die schwarze Flotte" am Schauspiel Dortmund
"Die schwarze Flotte", Schauspiel Dortmund zu Gast im Kleinen Haus des Berliner Ensembles

Die investigative Correctiv-Recherche nach den Netzwerken und Strippenziehern der Schlepperbanden auf dem Mittelmeer vergleicht der Schauspieler Andreas Beck in seinem Monolog mit dem Anrennen gegen eine Wand, bis sich endlich der Riss auftut und man hinter die Kulissen blicken kann. Später findet er das schöne Bild einer Bowlingkugel: wenn er die Kugel auf ihren Weg schickt, weiß er nie, ob es ein Volltreffer wird, ob sie völlig von der Bahn abkommt oder irgendwo unterwegs langsam auskullert und zum Stillstand kommt.

Der Monolog hat jedoch damit zu kämpfen, dass er im Stil klassischen Frontalunterrichts vorgetragen wird. Der Performer duzt sein Publikum, zur Auflockerung lässt Kay Voges auch viele bunte Videosequenzen und gerne mal einen Ausschnitt aus einem Bond-Klassiker mit Sean Connery einspielen. Ansonsten prasseln hier Namen von Frachtern, Häfen, Reedern und die Zahlen ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer auf das Publikum ein. „Merkt euch diesen Namen“, mahnt der Schauspieler, ganz so wie früher in der Schule.

Das Überraschende ist, dass das Konzept im Mittelteil dennoch aufgeht. Atemlos und schwitzend hetzt Beck auf den verschiedenen Fährten, ärgert sich über Sackgassen, freut sich über den Scoop eines Praktikanten auf Facebook, der dazu führt, dass wenigstens einigen schwarzen Schafen und Briefkastenfirmen das Handwerk gelegt wird.

Natürlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Wir sind hier nicht in Hollywood, wo der strahlende Held das Böse besiegt und anschließend entweder einsam in den Sonnenuntergang reiten oder seine Braut küssen darf, erinnert uns Andreas Beck. Die größten Teile des Netzwerks bleiben im Dunkeln.

Hier hätte diese Studio-Produktion des Schauspiels Dortmund eigentlich enden können. Stattdessen hebt sie nun voller Empörung den Zeigefinger und wiederholt die allgemein bekannte Tatsache, dass Deutschland im Ranking der Waffenexporteure die Bronzemedaille hat. Außerdem fordert sie uns mit dem Hinweis auf die leitmotivisch durch den Abend geisternde „Lucy“, ein 1974 bei Ausgrabungen entdecktes Australopithecus Afarensis-Skelett an der Schwelle vom Affen zum Menschen, zum „aufrechten Gang“ auf. Einen so platten Schluss hat dieser ansonsten durchaus interessante Abend, der an diesem Wochenende im Kleinen Haus des Berliner Ensembles gastiert, nicht verdient.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/27/die-schwarze-flotte-fragt-nach-den-drahtziehern-der-schlepperbanden-auf-dem-mittelmeer/
Leserkritiken: Die schwarze Flotte, Schauspiel Dortmund
Anne-Kathrin Schulz nach einer Recherche von Correct!v: Die schwarze Flotte, Schauspiel Dortmund (Regie: Kay Voges)

Der Abend erzählt die Recherche wie eine Detektivgeschichte. Er führt das Publikum durch die Etappen, von Erfolg zu Rückschlag und immer so fort. Er wütet frustriert, wenn die Recherche mal wieder vor eine Wand läuft – ein weiteres Kernbild: Investigation heißt, so Beck, so lange gegen Wände zu rennen, bis sie Risse bekommen – und freut sich wie ein Kind, wenn ein solcher Riss auftaucht. Er erzählt vom dreiköpfigen Team, als wäre es eine Detektivbande ähnlich der Drei Fragezeichen: Da ist Monica, die auf einem Berg sitzt und das Internet durchforsten, Mario, der mit dem Rucksack durch die Welt zieht und Spuren sucht und der Erzähler, der in seinem Refugium die Puzzleteile zusammensetzt. Dabei kommen zuweilen Soundeffekte, Lichtstimmungen, Musikuntermalungen hinzu, kippt die Stimme ins Hollywoodesk-Erzählerhafte. Doch schnell wird die Fiktion durchbrochen, zwingt das reale Scheitern den Erzähler zurück auf den schlüpfrigen Boden der Tatsachen und in einen sachlich resignierten Tonfall.

Es sind diese Brüche, die den Abend so spannend machen. Wenn das abenteuerliche Detektivspiel jäh abgebremst wird und hart auf dem Boden der Wirklichkeit landet. denn am Ende steht das Scheitern, muss es stehen. Auch wenn die Rechercheure ein ausgeklügeltes Netzwerk hinter dem Menschenhandel entlarven, das Teil eines größeren Rings ist, für den der Flüchtende nur eine Ware unter vielen (Drogen, Waffen) ist, die einfachste, denn sie muss, wie es einmal heißt, nicht ankommen, um profitabel zu sein, das Handwerk legen können sie den Hintermännern nicht. Diese bleiben unberührbar, entziehen sich Blick und Verantwortung, verschwinden im Schatten. Das Geschäft mit dem Menschen bleibt lukrativ, die Spieler im Geschäft. Und doch ist der Versuch nicht umsonst, bringt uns jeder Riss in der Wand weiter, ist wissen vielleicht nicht Macht, aber eine Verweigerung völliger Machtlosigkeit. Das lässt über so manche Schwäche des Abends hinwegsehen lässt: die plakative Bebilderung, die Überdeutlichkeit seiner reichlich plumpen Assoziationsketten, den stets erhobenen Zeigefinger.

Der gegen Ende richtig ärgerlich wird: Da geht es um den internationalen Waffenhandel als Quelle allen Übels und Deutschland als Hauptübeltäter. Das ist nicht neu, aber so mechanisch, so wenig interessiert als irgendwelchen Verbindungen zum vorigen interessiert, dass der Schluss sich kaum noch auf Volkshochschulniveau bewegt. Da gewinnt der agitatorische Impetus die Oberhand, eine häufige Gefahr im Dokumentartheater. Und da rächt sich die Unterkomplexität des ganzen Unterfangens, die Linearität der Erzählung, die kompakte Eindeutigkeit der Beweisführung. Wo sich bei Meistern des Genres wie Rimini Protokoll oder Hans-Werner Kroesinger Ebenen überlagern, Schichten ineinanderfallen, erzählerische Brüche bleiben, Enden sich nicht verknüpfen, ist hier alles klar, eindimensional und am Ende von erschreckend didaktischer Plakativität. Erkenntnisreich bleibt Die Schwarze Flotte, sie regt mit ihrer auf Spannung setzenden, unsere Lust auf Detektivgeschichten ausnutzenden Erzählweise zum Weiterdenken an, zumindest bis etwa zehn Minuten vor Schluss – großes Theater ist sie nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/28/lucy-in-the-sea-with-james-bond/
Leserkritiken: Don Karlos, Rendsburg
Don Karlos von F. Schiller
Schleswig-Holsteinisches Landestheater Premiere: 28.10.2017 in Rendsburg
Don Karlos gefangen im Netz der Kabale und Liebe. Don Karlos der junge Infant ein schwärmerischer, verliebter „Rebell“ im Sinne des Sturm und Drang wird seine Lektion schmerzlich lernen, dass der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit durch die stringenten Machtstrukturen einer etablierten, totalitären Macht zu einem tragischen Ende führen, wenn die Umstände es wollen. Wolfram Apprich konzentriert sich in seiner Inszenierung auf den Text und lässt diesen mit seiner ganzen Macht wirken. Diese Inszenierung ist der Abend großer Dialoge. Wie mit einem Skalpell werden die Worte sorgsam vom Skelett der Bedeutung gelöst, um die Leidenschaften der Agierenden messerscharf zu reflektieren. Die etablierten Machtstrukturen, denen selbst Philipp unterworfen ist, bestimmen das Geschehen der Akteure im Sinne eines Machterhalts. Der zentrale Dialog zwischen Karlos und Eboli ist einer der emotionalsten Momente dieser Inszenierung, indem enttäuschte Liebe zur vernichtenden Rache wird. Posa fungiert als rationaler Verfechter einer Freiheitsidee für die ganze Menschheit, die durch das irrationale Handeln des verliebten Karlos verhindert wird. Die allgegenwärtigen Kontrollinstanzen der etablierten Machtstrukturen, kontrollieren das gesamte Geschehen, einschließlich Philipp, um jeglichen Widerstand im Keime zu ersticken. Dies wird durch das Bühnenbild und die Kostüme unterstrichen. Die Wände durchlässige „Gitterstäbe“, so dass ständig überwacht wird und die Kostüme, durchsichtige Gewänder, die die Akteure bis auf die Haut durchleuchten. Die Leidenschaften der Akteure, das Verhaftetsein in bestimmte Ideen, ist die Quelle für das Leid, das durch die berechnende Machtstruktur in barbarischer Strenge realisiert wird. Die schönste utopische Idee eines selbstbestimmten Lebens ist jedoch in seiner Realisation immer abhängig von den existierenden Machtstrukturen. Dieser Don Karlos verlangt vom Zuschauer höchste Aufmerksamkeit gibt dann aber seine Schätze bis ins Mark preis. Ein grandioser Don Karlos dank einer exzellenten Regie und Schauspielern*innen, die sich alles abverlangen. Ganz großes Theater aus der zu Unrecht häufig beschimpften „Provinz“.
Leserkritik: Hier.Stehe.Ich, Berlin
Junges DT – Hier.Stehe.Ich, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Uta Plate)

(...)

Es gibt durchaus lohnende Momente: Etwa, wenn sich die drei Ländergruppen wiederholt separieren und wetteifern darum, wer die besten, ersten, erfolgreichsten Widerständler*innen hervorgebracht haben, was gegen Ende in einer „Battle of the Heros“ kulminiert, die in der von diesem Rezensenten besuchten Vorstellung im Publikumsvotum eine polnische Kämpferin für Frauenrechte knapp „gewinnt“, unter anderem gegen einen Priester, der die Menschenrechte höher bewertet als kirchliche Disziplin, eine mutige russische Theatergründerin und eine Landsfrau, die sich für Obdachlose einsetzt. Da wird das Publikum zum Komplizen eines Reality-TV-affinen Aufmerksamkeitswettkampf. Ein knapper, aber hochpräziser Kommentar zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Engagement. (...)

Doch bleibt das Stückwerk, dem die Klammer fehlt, das Narrativ, das zusammenhält oder gar weiterführt. Viel zu vieles an diesem Abend ist Frontalunterricht, eine Nummernrevie didaktischer Versatzstücke, immer mit Blick auf den möglichst kleinen gemeinsamen Nenner serviert. Biografien werden referiert, Porträts gezeichnet – mit Worten und Edding – und persönliche Staments abgegeben. (...) Wenn das Eintreten für die Wahrheit unter akuter Lebensgefahr auf gleicher Ebene verhandelt wird wie eine Berliner Theaterbesetzung (den erwähnten polnischen und russischen Aktivist*innen stehen im „Battle“ auf deutscher Seite ein Volksbühnenbesetzer und ein subversives Performancekollektiv gegenüber), ist der Widerstand schon fast gebrochen. Da fühlt man sich gemeinsam wohl im schönen Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, sonnt sich in der Oase des guten Gewissens und muss nicht so schwierige Dinge tun wie zu differenzieren, Widerstandsgrade abzuwägen oder wirkliche Gefahren zu bewerten. Hauptsache man hat seinen Kampf, steht auf, wofür oder wogegen ist sekundär.

Ist das Projekt also ein Fehlschag? Als Theaterabend ja, als Prozess der Begegnung keinesfalls. Denn sein wahrer Wert liegt eben nicht im Ergebnis, nicht im vermeintlichen Ziel, das nur ein künstliches, der Notwendigkeit geschuldetes ist, sondern im Weg dorthin. Er liegt in der Begegnung junger Menschen aus Ländern, die sich derzeit politisch wie ideologisch wieder von einander weg bewegen, deren Verhältnis in allen bilateralen Relationen von zunehmender Feindseligkeit geprägt ist, und der Erkenntnis, dass die werte, die diese Jungen, Mädchen, junge Frauen und Männer umtreiben gar nicht so weit auseinander liegen, dass die „Helden“, die vergangenen wie die heutigen mehr eint als trennt, dass es sich lohnt sich zu engagieren, auch wenn es nicht so harmonisch zugeht, wie das allzu harmlos verpackte Bühnengeschehen, diese Nummernrevue der Widerstandsklischees vermuten lässt. das eigentliche „Labor“ befindet sich nicht auf der Bühne, sondern im Kennenlernen, im gemeinsamen Reisen und erleben, im Austausch und den Versuch, den Anderen zu verstehen, mehr noch, zu akzeptieren, dass da gar keine „Anderen“ sind, sondern nur weitere von der gleichen Art, mit dem gleichen Herz und Hirn. Eine Gemeinschaftlichkeit, die Unterschiede anerkennt, weil sie Gemeinsamkeiten sucht. Und so ist Hier.Stehe.Ich ein Erfolg – für die 18 Jugendlichen, die weiteren Beteiligten und die Welt, in die diese eindrucksvollen jungen Menschen hinausgehen. Nur eben nicht für das Theaterpublikum in der Box.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/02/oase-des-guten-gewissens/
Leserkritik: Monstertruck mit Siegfried an den Sophiensaelen Berlin, 3. November 2017
Monster Truck: Siegfried, Sophiensaele, Berlin / FFT Düsseldorf / Münchner Kammerspiele / Ringlokschuppen Ruhr, Mülheim

(...)Benannt nach dem Urmythos deutscher Identitätsphantasie tritt der Abend ein paar Schritte zurück und fragt nach der Sicherheit oder Illusion von Identität. Wenn Siegfried mythischer Held ist und glitzerbedeckter Zauberkünstler, Identitätsikone und Illusionsverkäufer, was ist er dann nicht? Und kann einer, der alles ist, überhaupt etwas sein?

Diskutiert wird das an diesem Abend nicht. Wie auch? Es fällt schließlich kein einziges Wort. Stattdessen treten vor Siegfried-Neonleuchtschrift und zu enervierend fröhlicher Comic-Musik drei Abfallprodukte westlicher Konsumseligkeit auf, lebensgro0ße Plüschpuppen: Donald Duck, jedermanns Lieblings-Pokémon Pikachu und der gute alte Teddybär. Sie hüpfen auf die Bühne, winken ins Publikum und dann wird es dunkel. Der Buchstabe S flimmert durch die Leuchtstäbe, mal einzeln, mal als lange Reihe, dann wieder als Inseln, natürlich ist auch ein „SS“ dabei. Dazu hüpfen und trotzen die drei Plüschmonster über die Bühne – in Kreis- und Schlangenlinien, im Gleichschritt und in behaupteter Individualität, sie tänzeln und hüpfen und marschieren, trennen sich, finden wieder zusammen. Donald scheint der schwächste. Wiederholt sackt er zusammen, dann kümmert man sich oder lässt ihn liegen. Teddy klaut Pikachu den Kopf, der ohne Haupt trotzdem weiter herumwatschelt, seine Vervollständigung schon bald wieder erfährt. Dazu dröhnt ein industriell dissonanter Soundteppich mit allerlei Störgeräuschen.

Wir beobachten: das Entstehen von Gemeinschaft, ihre Zwanghaftigkeit, der Druck auf den vermeintlich Schwachen, die engen Grenzen von Individualität. In einer Welt, in der alles möglich ist, jeder alles sein kann, und alles käuflich, heißt konsumierbar ist, auch und gerade die „individuelle“ Identität, ist ohnehin alles Kollektiv. Fröhlich grinsend tanzen wir in den Untergang, tappen, das Hirn ausgeschaltet, jedem neuen blinkenden Reiz hinterher. Glücklich lächelnde Schafe auf der Konsumweide. Dass alles eins ist, nichts allzu sehr herausstechen soll, die postpostpostmoderne Reizüberflutung natürlich gewollt ist, weil ja sonst die Gefahr bestünde, dass Bedeutung entsteht, betont noch mal Teil zwei. Da sitzen die drei Konsumverkäufer vor der Leuchtschrift, die den Duden nach Wörtern mit S durchforsten. Zu jedem Wort wird auf dem vor die Bühne gespannten transparenten Vorhang ein passendes Bild gezeigt. Es beginnt bei „SA“ und endet – natürlich – bei „Siegfried“. Ausgangs- und Endpunkt. Sieg Heil und Sieg Fried. Wagner und Hitler. Nationale Emanzipation und nationaler Untergang. Immer schneller wechseln die Worte und Bilder, werden zu einem visuellen Rausch, der schmerzt und überfordert, den Zuschauer am Ende ratlos zurücklässt. Orientierungslos wie die drei Kuscheltiere, die Mühe haben, den Weg zur Applausordnung zu finden.

Der Abend bleibt sperrig, will es auch sein, will vor den Kopf stoßen, irritieren, überfordern, vielleicht auch verärgern. Und sorgt bei der erschreckend schlecht besuchten Premiere doch vor allem für sympathisierendes mildes Lächeln. Die sind aber auch knuffig, die drei. Was das alles soll, tritt da mitunter in den Hintergrund, zum Reflektieren und Assoziieren lädt der extreme Abstraktionsgrad des stummen Abends eben auch kaum ein. Und so bleibt das Glühbirnchen im Zuschauer*innenkopf aus, stellt sich der Aha-, Wow- oder sonstige Effekt nicht ein. Womöglich ist auch das gewollte, lässt sich doch auch der selbstverständliche Anspruch auf in verdaubaren Portiönchen servierten Erkenntnisgewinn als perfide Korruptionsstrategie der alles umfassenden Konsumgesellschaft interpretieren. Nö, Antworten sind aus, Fragen gibt’s vielleicht im Späti nebenan. Hier gibt es Bilder. Und Pikachu. Ist ja nicht nichts, oder?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/03/die-drei-kuscheltiere/
Leserkritik: M - Eine Stadt sucht einen Mörder, Berlin
"M - Eine Stadt sucht einen Mörder": Puppentheater Magdeburg zu Gast im Kleinen Haus des Berliner Ensembles

Fritz Langs erster Tonfilm aus dem Jahr 1931, bevor er vor den Nazis ins Exil nach Hollywood floh, ist ein Genre-Patchwork. Es beginnt ganz harmlos – vor allem für heutige Sehgewohnheiten – auch recht schleppend als Sozialdrama in Berliner Mietshäusern. Bei den Gästen aus Magdeburg wird daraus ein lustiger Mix mehrerer ostdeutscher Dialekte zwischen Berlinerisch und Sächsisch. Im Lauf der knapp zwei Stunden schält sich bei Lang eine Detektivgeschichte heraus, die mit sehr gekonnt montierten Parallelsequenzen den Spannungssog eines Thrillers aufbot. Dem pädophilen Serienmörder M sind sowohl die Polizei als auch die Syndikate der Unterwelt auf der Spur, die durch verstärkte Razzien in ihren Geschäften gestört werden und ein Bündnis mit den Obdachlosen schließen.

Die Nebelmaschine läuft zwischendurch immer wieder auf Hochtouren und Edvard Griegs „Peer Gynt Suite“ durchzieht wie schon den Film auch diesen Abend als Leitmotiv. Die düstere Atmosphäre der Krimihandlung stellt sich auf der Bühne jedoch nur schwer ein. Auch das Katz- und Maus-Spiel wird nur angedeutet. Umso stärker ist die Magdeburger Inszenierung in ihren komischen und satirischen Momenten.

Roscha A. Säidow und ihr Ensemble reichern das Handlungsgerüst des Films mit kleinen, hinzuerfundenen Szenen an. Ihre Inszenierung setzt vor allem auf die eigens komponierte, angejazzte Musik, die 20er Jahre-Flair verbreitet, und auf das Zusammenspiel der stark geschminkten Schauspielerinnen und Schauspieler mit den Puppen (von der kleinen Handpuppe bis zur lebensgroßen Imitation).

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/04/m-eine-stadt-sucht-einen-moerder-gastspiel-des-puppentheaters-magdeburg-am-berliner-ensemble/
Leserkritik: M - Eine Stadt sucht einen Mörder, Berlin: bemüht
Ein völlig überflüssiges Projekt... der Film ist einfach so stark, in seiner Ästhetik und Dramaturgie nach wie vor bahnbrechend, dass dieses bemühte, völlig spannungslose, leider sehr laienhaft ausgeführte und wirkende Projekt in allen Punkten nur verlieren kann. Fatalerweise ist der dichteste Moment des Abends die Toneinspielung des gestehenden Mörders aus dem Film, mit der Stimme von Peter Lorre.
Leserkritiken: Maria Stuart (SH-Landestheater)
Maria Stuart eine Stückentwicklung nach Friedrich Schiller (Schleswig-Holsteinisches Landestheater 9.11.2017)
Das Stück beginnt mit einer Livereportage der Hinrichtung Maria Stuarts. In Manier heutiger boulevardisierter Livereportagen wird publikumswirksam über die Hinrichtung Maria Stuarts berichtet und zu einem gesellschaftlichen Ereignis stilisiert. Die Hinrichtung als Medienspektakel. Dann startet die Geschichte vom Beginn an. Zunächst wird mittels Stammbäumen über die familiären Beziehungen informiert und die Machtansprüche auf den englischen Thron verdeutlicht.
Ein zentrales Thema des Abends ist Macht. Wie entsteht sie und wie wird mit ihr umgegangen. Aktuelle Fragen, die heute genauso aktuell sind, wie zu Zeiten Maria Stuarts. Elisabeth und Maria die beiden Kontrahenten im Kampf um die Krone Englands. Das politische Machtspiel zwischen katholisch, totalitären Machtstrukturen (Maria Stuart) und der reformatorischen, protestantischen Weltanschauung (Elisabeth) steht exemplarisch für aktuelle politische Machtkämpfe. Es wird auch deutlich, wie selbst Elisabeth sich um Entscheidungen drückt, in dem sie das unterzeichnete Todesurteil an Davison (in dieser Inszenierung dem Regieassistenten) zu Verwahrung überreicht.
Ein weiterer Schwerpunkt des Abends ist die Frage nach der Kraft des freien Willens und der Glaube an die Realisation von Utopien. Die Selbstbestimmtheit des Menschen unabhängig von der allgemeinen gesellschaftlichen Meinung. In diesem Spannungsfeld konfrontiert diese Maria Stuart das Publikum (vor allem jugendliche Zuschauer) mit den Fragen zu Macht und Selbstbestimmung. Durch diese Aktualisierungen und Fokussierungen auf bestimmte Aspekte des Schiller Dramas, wird es auch zu einem Spiegel unserer Zeit.
Der Abend endet mit dem Gedanken - … denkt an Euer Grab …! Mit dem Gedanken an das Ende aller Menschen im Tod. Doch dazu hat Schiller mehrfach Stellung genommen: „Etwas, das so allgemein ist wie der Tod, muss eine Wohltat sein.“ oder „Warum so zaghaft zittern vor dem Tod, dem unentfliehbaren Geschick?“ Gedanken mit denen der Abend die Zuschauer entlässt.
Diese Maria Stuart war ein faszinierender Theaterabend, der sich mit den Themen Macht und Selbstbestimmung auseinandersetzte und auf lockere und unterhaltsame Weise zum Nachdenken anregte.
Leserkritik: Vater, Deutsches Theater Berlin
"Vater" von Dietrich Brüggemann in der Box des Deutschen Theaters Berlin

Michael Gerber, seit Jahrzehnten bekannt aus zahlreichen Rollen am Berliner Ensemble und Deutschen Theater, soll den todkranken, bettlägrigen Vater mimen. Oje, was kommt da auf uns? Ein tränenreicher Monolog voller Vorwürfe, Selbstanklage des Sohnes und demonstrativ ausgestelltem Dahinsiechen des Vaters, wie wir es gerade bei Ursina Lardi als sabberndem, dementem „Lenin“ an der Schaubühne erlebten? Die Vorschaubilder lassen derartiges befürchten. Als das Publikum die Box betritt, liegt Michael Gerber tatsächlich reglos in seinem Krankenhausbett, Alexander Khuon sitzt bedrückt daneben und spielt mit seinem Handy, über ihm hängt das Röntgenbild des Gehirntumors.

Nach dieser Exposition nimmt der Abend aber einen ganz anderen als den befürchteten Verlauf. Statt „Vater“ hätten ihn Dietrich Brüggemann (in Personalunion Autor und Regisseur) und Alexander Khuon (Performer dieses 90minütigen Quasi-Monologs) auch „Desirée und Katja“ nennen können.

Denn um das neurotische Verhältnis der Hauptfigur Michael zu diesen beiden Frauen geht es. Als er die erste SMS von Nina bekommt, sind der Vater und sein Gehirntumor recht schnell vergessen. Michael kreist assoziativ um sein chaotisches Liebesleben, erwähnt ständig den besserwisserischen Sven, der mit Frau, Kindern und Häuschen scheinbar alles ganz wohlgeordnet im Griff hat, und den Uwe, einen noch armseligeren Tropf als Michael, einen Elektroingenieur, der den Studentinnen in der Kneipe auf den Hintern guckt, aber keine von ihnen jemals erreichen kann.

Was gehen uns dieser Michael und seine Neurosen an? Was interessieren die banalen Problemchen dieser Ninas, Katjas und Desireés oder wie all die beziehungsunfähigen Figuren heißen mögen? Die Stärke dieses Abends ist, dass sich diese Frage irgendwann gar nicht mehr stellt.

Dietrich Brüggemann ist ein Meister genauer Beobachtungen, die er in sarkastische Formulierungen gießt. Bei seinem Theater-Debüt merkt man ihm deutlich seine Herkunft vom Film an: die ständigen Sprünge und Rückblenden, die aus Michael wassserfallartig heraussprudeln, sind klug montiert und jede Szene für sich so genau beschrieben, dass der Zuschauer die Katjas, Desireés und Svens plastisch im Kopfkino vor Augen hat. Der lakonische Humor, die schrägen, auch manche Albernheit nicht scheuenden Pointen und die Montagetechnik der Szenen und Stimmen erinnern an Indie-Komödien aus Nordamerika von Noah Baumbach oder Jason Reitman.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/11/vater-ein-verwirrter-junger-mann-denkt-am-sterbebett-unterhaltam-ueber-seine-scheiternden-beziehungen-nach/
Khemiri in Köln: Nachfrage
Liebe NK’s,Wo ist denn die angekündigte Kritik zu du dem letzten Roman von Jonas Hassen Khemiri aus Köln?

(Liebe Sina,

das war anders geplant, ja. Aber auch im nachtkritischen Geschäft gibt es unvorhergesehene Umstände, die keine Rücksicht nehmen auf das, was wir uns gedacht haben. Als verantwortlicher Planer bin ich entsprechend geknickt.

Beste Grüße
Georg Kasch, Redaktion)
Leserkritik: Vater, Deutsches Theater Berlin
Dietrich Brüggemann: Vater, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Dietrich Brüggemann)

(...)

Es ist der Stoff zu einer launigen Beziehungskomödie und man hat während der 90 Minuten viel Zeit, sie sich als Dietrich-Brüggemann-Film vorzustellen, auch weil der Abend bisweilen so wirkt, als pitchte einer seine Filmidee. Jacob Matschenz würde vielleicht wie üblich den Michael spielen, Robert Gwisdek wäre sicher ein guter Sven. Hier, in der Box des Deutschen Theaters, ist Alexander Khuon Michael – und alle andere. Unter den wachsamen Augen des Intendanten-Vaters, die vielleicht schönste Ironie der Premiere. Michael erzählt sein Leben, launig, nachdenklich, mal ein bisschen ratlos, dann mit schelmischem Trotz. Er springt wild zwischen den Zeiten, lässt alles mit allem kollidieren, frühe Kränkungen durch den Vater, das unentwirrbare Beziehungsgeflecht mit den Unerreichbaren mit den sich immer wiederholenden Mustern. Da ist keine Linearität, weil es diese in Michaels Leben nicht gibt. Da steht die abweisend freundschaftliche Desiree neben der scheiternden Stiefmutter, der besserwisserische Sven neben dem ewigen Single Uwe, das Kennenlernen der Eltern im Göttinger Studentenorchester neben einem verlorenen Abend in einer Studentenkneipe am gleichen Ort. Da geht nichts vorwärts, auch weil sich Michael fremdbestimmt fühlt. „Ihre Stimme sagt in meinem Kopf: Ich ziehe jetzt hier ein.“ Sagt er über Katja. Und lässt es zu, sich aber nicht ein.

Weil da schon ein anderer haust: Der Vater. Als Mahner, Zurechtweiser, den-Sohn-Lächerlichmachender, aber auch als dessen Projektion der eigenen Unzulänglichketen, real oder eingebildet. Er muss den Vater nicht ansprechen, sich ihm nicht zuwenden, kann ihn (Michael Gerber mit beeindruckender Unbeweglichkeit) links (oder in diesem Fall rechts) liegen lassen, denn er ist ohnehin immer da, in ihm drin, eine mehr richtende als leitende Instanz. Selbst wenn er verschwunden scheint, ist er nicht weit und stürzt sich im nächstmöglichen Moment wieder auf den dann Wehrlosen. Die kulturell eingeimpfte – vor allem den hauptberuflichen Söhnen unserer Gesellschaft – überragende Bedeutung des Vaters als übermenschliche Leit- und Leidfigur wurde wohl selten so zwingend und treffend sowie humorvoll auf den Punkt gebracht.

Dabei redet Khuon ja nur. Er skizziert die anderen Figuren, die nur Bedeutung haben als Projektionsflächen des eigenen neurotischen Zauderns. Anwesend sind sie als Röntgenbilder, die Vater und Mutter, die Freunde, die Angehimmelten – mal auch nur deren Beine – zeigen. Urlaubs- und Porträtfotos der Essenz, die auch Ratlosigkeit ist. Denn so orientierungslos, wie Michael ducrh dei Welt driften, sind eben auch diese Bilder, die er an und ausknipst. Da ist nichts, woran er sich festhalten kann. Das muss schon aus dem Inneren kommen. Aber da ist ja schon der Vater. Und Katja. Und die Stimme von Sven, welche die Realität als Umkehrung des Märchens vom Froschkönig beschreibt: „Ich wahren Leben bist du erst kein Prinz und wirst dann ein Frosch.“ Oder den Beziehungssuchenden als Hubschrauberpiloten: Er müsse erkennen, wo er nicht landen könne, und dort könne er dann eben nicht landen. Ja. Abende bleibt der Vorhang weg und die Fragen trotzdem offen, Michael verlässt das Krankenzimmer, vielleicht, um von Nadjas Freund aufs Maul zu bekommen. Dass das ganze kurz davor ins Surreale kippt, um auch Gerber einen Kurzauftritt zu geben und die ewige Wiederkehr des Vatertraumas zu betonen, ist da schon vergeben. Was bleibt, ist ein ratlos launiger Blick in die Verwirrung des post-post-modernen Menschen. Und die Erkenntnis, dass die starken Abende dieser DT-Spielzeit in der kleinsten Spielstätte des Hauses stattfinden.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/12/der-frosch-der-kein-prinz-war/
Khemiri in Köln: hätte interessiert
Der Khemiri hätte mich auch interessiert !!Das Buch fand ich großartig und ich war sehr neugierig auf Charlotte Sprenger 's nächste Arbeit !Aber am 11.11 ist wohl in Köln nix mit Theater !
Leserkritik: Die Orestie am Thalia Theater Hamburg
Aischylos „Orestie“ ist die Ablösung des alten Rechts der Blutrache durch das juristische Prinzip. Diese Tragödie ist die Demaskierung des naiven Vertrauens in die Entscheidungsfähigkeit des Menschen und des frommen Vertrauens der Menschen in die Entscheidungsfähigkeit der Götter. Die Befreiung von rächenden Göttern, die vermeintliche Etablierung der Selbstverantwortung der Menschen in Form demokratischer Entscheidungsfindung endet aber in einer korrupten Groteske. Was nach Volksentscheid aussieht, ist individuelles Urteil Athenes, welches zu Streit führt, der vermutlich zu neuen Bluttaten führt. Grundelemente der griechischen Tragödie wie Chor und Masken wurden von E. Mondtag genutzt um archaische Bilder zu schaffen. Musik und Gesang vervollkommnen die emotionale Ansprache des Publikums. Menschen als Ratten. Die westliche Kultur versieht die Ratte meist mit negativen Attributen. In Fabeln gelten Ratten als hinterhältig, feige und verschlagen. An diese Eigenschaften knüpft die Schimpfwortverwendung für Menschen an. Die Menschen sind Ratten, hirnlos und manipulierbar. Politik, als Opium für das Volk, um es einzulullen, während wichtige Entscheidungen andernorts getroffen werden. Die griechische Tragödie verhandelt schicksalhafte Verstrickung des Menschen, in so ausweglosen Lagen, dass er durch jedwedes Handeln nur schuldig werden kann. „Schuldlos schuldig“. In dieser Situation kann vielleicht das Rattenbild anderer Kulturkreise eine Hoffnung für die Menschheit sein. Asiatische und indische Kultur sprechen der Ratte positive Eigenschaften zu. So ist sie im Hinduismus ein Symbol für Intelligenz. In der chinesischen Kultur steht die Ratte für Ehrlichkeit und Kreativität
Leserkritiken: "Lolita will nicht sterben", Volksbühne Berlin
P14 – Lolita will nicht sterben, Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Zelal Yesilyurt)

„Ich bin nicht Lolita,“ proklamieren sie, „es hat sie nie gegeben. (…) Ich bin die Vergewaltigte, (…) ein entpersönlichtes Opfer“. Aber auch die Opferrolle wollen sie nicht. (...) Man, pardon, frau, ist zu betrauerndes Opfer oder Mittäterin. Dazwischen gibt es nichts. Soll, muss es aber, meinen die, die nicht Lolitas sein wollen. Und so ist der Abend vor allem eines: eine Abfolge von Rollensuchprozessen, ein Emazipationsversuch alsDurchprobieren verschiedener überkommener Ausdrucksmodi. Man versucht es mit Pathos und Sarkasmus, mit Rührstück und Horrorfil, mit flammender Anklage und archaisierendem Chor. Authentizität ist nicht gefragt, weil man/frau sie sie nicht leisten kann. Woher soll sie auch kommen, wenn es gar keine Identitätsgrundlage gibt, auf der aufgebaut werden könnte? Aber woher soll diese wiederum genommen werden? Am besten aus dem Klischee. Vielleicht dem der hysterischen, emotionalen Frau, die dieses als Waffe entdeckt und einzusetzen weiß?

Viel wird gelesen, vor allem aus Humberts beleidungsschwangeren Tagebüchern. Emanzipation durch Exorzismus des zu Verbannenden. Also schlägt man sich durch Zuschreibungen und Bilder, Fremdsichten und (Vor)Bilder, setzt immer wieder an, entlarvt das gerade gesehene als Fake, als manipulatives Instrument. Das soll das Publikum verunsichern, zur Selbsthinterfragung der eigenen Reaktionen führen, es in Fallen locken, die sich als sexistische Klischees und Bilder herausstellen, denen man (!) gerade aufgesessen ist. Nur ist das auch schnell durchschaubar, knirscht die Mechanik gut hör- und sichtbar an jeder Ecke. Es ist, als stünden die sechs vor einem postdramatischen Baukasten der Marke Castorf-Pollesch (vor allem der abschließende an letzteren gemahnenden Diskurs über die Heteronormativität der westlichen Welt am Beispiel „King Kong“ ist ebenso verkopft wie überflüssig) und bedienten sich transparent aus den enthaltenen Werkzeugen. Die aber eben solche bleiben, sich in den Vordergrund schieben, statt dem zu sagenden dienlich zu sein.

Dabei ist etwa die Idee, das Patriarchat zu besiegen, indem man es sich buchstäblich einverleibt, eine ebenso schlüssige wie wirkungsvolle – die entsprechende Horrorsequenz ist sicher das Highlight des Abends, steht aber ein bisschen allein.zu sehr ist das postdramatische Nummernrevue, ein bisschen zu verliebt auch in die eigene Cleverness, und doch zu vergeben, weil die sechs Bühnenrebellen mit einer anarchischen Kraft und einer Spielwut, die viel vom zweiten Wortbestandteil hat, zu Werke gehen, dass der Zuschauer gern über handwerkliche Mängel hinwegsieht und darüber, dass der ganze Emanzipationsdiskurs ein wenig zu effekthascherisch und zu wenig substanziell gerät – so vermengt er Pädophilie und Sexismus ein bisschen zu sehr –, meist kaum an der Oberfläche kratzt, was mit einer abstrakt sperrige Schlusspassage kompensiert werden soll, die nichts besser macht. Viel wichtiger ist die Absicht, die Energie, mit der hier das Prinzip der männlich dominanten Selbsterhebung buchstäblich zerfleischt wird. Um neu aufzubauen, muss zunächst niedergerissen werden. Und das zumindest tut der Abend.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/17/leichenschmaus-in-pink/#more-7630
Leserkritik: "Der gute Mensch von Sezuan", Schaubühne Berlin
"Der gute Mensch von Sezuan", Co-Produktion von HfS Ernst Busch und Schaubühne am Lehniner Platz

Dieser Arbeit fehlen der Witz und Esprit, mit dem die Vorgänger-Jahrgänge in „Mutter“ und „Dantons Tod“ überzeugten, die sie ebenfalls mit Peter Kleinert einstudierten. Das Stück wurde zwar auf 140 Minuten gekürzt, der Abend kommt aber nicht richtig in Schwung. Die Handbremse bleibt angezogen.

Am Ende sehen wir betroffen die Frage offen, warum sich Kleinert und sein Jahrgang für diesen Stoff entschieden. Die Themen soziale Ungerechtigkeit und Ausbeutung sind zweifellos weiterhin drängend, wie auch der kurze Text des französischen Philosophen Alain Badiou unterstreicht. Brechts Parabel wirkt aber so altbacken und gibt den Spielerinnen und Spielern so wenig Chancen, ihr Können zu zeigen, dass es eine verschenkte Chance war.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/15/der-gute-mensch-von-sezuan-als-coproduktion-von-ernst-busch-und-schaubuehne/
Leserkritik: Richard III, Theater Kiel
Richard III ignoriert die vierte Wand (Schauspiel Kiel Premiere 17.11.2017)

Von Beginn an wendet sich Richard III direkt an das Publikum. Im nonchalanten Plauderton weiht er uns in seine bösartigen Intrigen ein, um die Krone zu ergattern. Süffisant und clownesk kommt er daher und versucht ständig uns gemein mit ihm zu machen. Uns zu Mitwissern seiner Gräueltaten zu machen, so dass man nicht sagen kann, man habe von nichts gewusst. Dies geschieht zu nächst alles in verbindlichen Plauderton und seine Grausamkeiten wirken wie schlechte Witze. Je näher er seinem Ziel kommt, umso mehr legt er verbindliche Töne ab und offenbart sich immer stärker als bösartiger Despot. Richard III entpuppt sich immer stärker als der Teufel in Person. Das Bedrohliche an diesem Richard III (M. Gebbert) ist sein einschmeichelnder Plauderton, mit dem er seine Bösartigkeit maskiert. Nur Elisabeth (Y. Ruprecht) bietet ihm überzeugend die Stirn und ist sich seiner bösartigen Machtgier bewusst. Despoten dieser Couleur sind uns auch heute nicht fremd und man muss wachsam bleiben, um ihnen nicht in die Falle zu gehen. Doch auch dieses Schrecknis findet sein Ende; denn auch Richards Macht ist zeitlich begrenzt. Das Traurige ist nur, dass es unendlich viele unschuldige Leben kostet. Das beeindruckendste an dieser Inszenierung ist die Ignoranz Richard III gegenüber der vierten Wand, was den Zuschauer zum Mittäter macht, da man alles geschehen lässt, da es ja nur ein Spiel ist! Oh wie verführerisch ist so ein Trugbild, dieser Spiegel für das Publikum war stark!
Leserkritik: Hilmar Thate als Richard III
Das Theater Shakespeares kannte keine vierte Wand, die Kommunikation mit den stehenden und Bier trinkenden Londoner Werftarbeitern und Seeleuten war immer eine sehr direkte. Wie sonst sollte man die Monologe auch spielen.
Hilmar Thate konnte das vorzüglich in dieser Rolle.
Leserkritik: Germany Year 2071, Nature Theater of Oklahoma, HAU Berlin
Germany Year 2071 ist, das deutet der Name an, ein Science-Fiction-Film. Die Zukunftsvision ist keine angenehme: Außerirdische werden versklavt und als Delikatesse einer dekadenten westlichen Gesellschaft gezüchtet, Schweine ziehen durch die Straßen, dreimal in der Woche gibt es eine Revolution, Ausgestoßene hausen in Wäldern, ein Sumpfmonster bedroht die Bevölkerung, während die deutsche Bürokratie weiterhin fröhliche Urständ feiert. Die Medien sind zur Propagandamaschine geworden, die „alternative Fakten“ verbreitet, Terroristen ziehen Kreise, das Ende ist nah. Wenn das nach einem kruden Sammelsumrium aus weggeworfenen Ideen für Trash-Filme klingt, ist das pure Absicht. Ausschließlich mit Laien gedreht – auch die Hauptfiguren, zwei amerikanische Besucher*innen, in Deutschland für ein Geheimprojekt, das nie auch nur annähernd erläutert wird, wohl auch, weil es gar nicht existiert, berauschen sich an fröhlichem Dilettantismus.

Formal will der Film vor allem Distanz: Rückwärts gedreht, wirken die Bewegungen der vorwärts laufenden Figuren künstlich, roboterhaft, grotesk – wobei der Gegensatz zur rückwärts laufenden Welt ein durchaus spannender ist. Es steht als Mittel einfach da – wie die fahlen Schwarz-Weiß-Bilder oder die schnell enervierenden disruptiven Schnitte. Und natürlich der Fakt, dass Bild und Tonspur getrennt sind. Was zu sehen ist, wird nacherzählt, die Dialoge per Soundtrack eingesprochen. Die Trennung von Form und Inhalt, von Kunst und „Realität“, der Aufbau eines Spannungsfeldes durch größtmöglichen Kontrast: Der Film könnte ihn kaum deutlicher machen. Alles ist Künstlichkeit, Verzerrung und Verfremdung. Brecht als B-Movie. Erzählerisch wie ästhetisch schwankt der Film zwischen Trash und Surrealismus, zwischen Existenzialismus und Homevideo. Eine bizarre Absurdität reiht sich an die nächste, das funktioniert lange als Nummernreviue des Skurrilen, als wohlig-absurde Verzerrung des Allzubekannten – denn natürlich sieht 2071 sehr aus wie 2016 – selbstverständlich mit einem ironischen Schuss Metatheater (das Sumpfmonster etwas entpuppt sich als Karnevalswagen).

Das ist amüsant, ästhetisch konsequent und in seiner Feier des gewollt – und gekonnt – Trashigen durchaus sympathisch, auch wenn die Absicht, es genauso erscheinen zu lassen, an jeder Ecke durchscheint. Nur erwarten wir von einem Film, der Germany Year 2071, nicht zufällig die gleichen Ziffern des aktuellen Jahres, natürlich auch inhaltliche Aussagen. Über dieses Land und wo es hinsteuert. Was wir sehen ist die grotesk konsequente Endphase westlicher Selbsterhöhung und -überhebung, ein Land, das sich bis zur Paranoia abgeschottet, sämtliche humanistischen Werte im Prozess einer Entmenschlichung des Anderen über Bord geworfen hat, das abgestorben ist bis zur Kenntlichkeit. Ein ebenso hoffnungsloser wie simplistischer Kommentar auf unseren derzeitigen vermeintlichen Spätkapitalismus, der nur das Negative sehen will, weil das längst – in rechten wie linken Kreisen – als Durchschauen eines die Massen blendenden Systems akzeptiert wird und für die, die sich für die Wissenden halten, eine Art kollektiven Orgasmus darstellt. Das ist schnell durchdekliniert, als plakativ vereinfachend akzeptiert oder abgetan und nicht weiter interessant. womöglich gilt das auch für die Filmemacher*innen. Denn der Weg ist ja das Ziel. Nur werden so dessen letzten 150 Minuten zu äußerst anstrengenden. In denen überweitere Strecken nicht nur die Leere des Raumes gähnt. Von der Ambivalenz und Brüchigkeit der Theaterarbeiten des Nature Theater of Oklahoma ist hier leider nichts zu spüren.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/23/im-schweinesystem/
Leserkritik "Heisenberg", Berlin: anregende Offenheit
Simon Stephens: Heisenberg, Renaissance Theater, Berlin (Regie: Antoine Uitdehaag)

Stephens‘ Stück ist eine Aneinanderreihung von Szenen, Episoden, Begegnungen. Die Sekretärin Georgie, Mitte Vierzig, und der Metzger Alex Priest, 75, sind ein ungleiches Paar. Zwei einsame Herzen: sie obsessiv mitteilungsbedürftig, er kurz angebunden und abweisend. Für Autor wie Regisseur höchste Kitschgefahr! Die schon Stepehen weitgehend bannt. Sein Stück gleicht eher einer Versuchsanordung. Zwei gegensätzliche Teilchen oder Elemente – suchen Sie sich Ihre Analogie aus – werden in unterschiedlichen Versuchsaufbauten in Kontakt gebracht. Das führt mal zu einem Spiel aus Anziehung und Abstoßung, andere Male zu einer Fusion oder Reaktion – siehe oben – und wieder andere bleibt man auf Distanz. Hat man gerade einen Zugang gefunden, entgleitet der schon wieder. Wiederholt kippt der Dialog ins Monologische, erhebt sich das persönliche zum Philosophischen, wechselt der Text ansatzlos zwischen den Diskursebenen. Das irritiert, den Sprechenden, den Zuhörenden, das Publikum. Nichts ist greifbar, alles entzieht sich. Und doch bleibt irgend etwas zurück, entsteht so etwas wie ein Band. Ein pragmatisches. So reagiert Alex gegen Ende heftig auf die Frage, ob man nun zusammen sei. Etwas zu sein, erscheint ihm als das Mantra unserer flüchtigen Gesellschaft, als der Strohhalm , an dem wir uns festhalten. Und es ist doch ein Nichts, weil nie klar sein könne, was wir seien. Daher ging e es darum, etwas zu tun. Zeit miteinander zu verbringen, zum Beispiel, Dinge gemeinsam zu unternehmen, für einander einzustehen. Das ist fassbar, das ist real.

Walter Kreye gibt diesen Alex. Ruhig, nüchtern, eher trocken als abweisend. Einer, der sich langsam öffnet und doch stets bei sich bleibt. Was auch für Susanna Simons Georgie gilt. Sie spielt die Dauerquasslerin mit expressiver Hektik, transportiert die panische Verzweiflung, die sie spürt, immer mit, ebenso wie die störrische Lebensfreude, die eine Herausforderung für ihre Umwelt ist und sein soll, ohne je ins Chargieren zu verfallen. Sie sind gegensätzliche Pole, aber keine Sterotypen, ambivalente, widersprüchliche Menschen und keine Abziehbilder. Der niederländische Regisseur Antoine Uitdehaag übernimmt die Idee einer experimentellen Versuchsanordnung. Momme Röhrbeins Bühne ist absrakt, eine verschiebbare Treppenkonstruktion in neutralem Weiß, die ebenso Bahnsteig wie Restauranttisch, Schlamzimmer wie Fleischertheke ist. Ein offener Raum für Experimente. Links und rechts der Bühne Garderobenständer. Hier kleiden sich die beiden um, machen sich fertig für den nächsten Zusammenstüß.

Wie die Bühne und der Text hat auch die Inszenierung eine anregende Offenheit. Sie beginnt und endet mitten im Sprechakt, trennt die Szenen klar von einander und verweigert sich dem Drang, ein lineares Narrativ einzuziehen. Das natürlich da ist, denn schließlich ist eine Entwicklung der Beziehung der beiden schon im Text angelegt. Und doch bleiben da eben diese Ambivalenz, die Vielzahl der Möglichkeiten, ist der Ausgang nicht nur nicht vorbestimmt, sondern gar nicht möglich. Hier geht nichts aus, sondern bestenfalls etwas weiter. Die Unschärfe bleibt, muss bleiben, wie Alex‘ Trockenheit und Georgies trotzige Lebenslust, die sich nicht aufheben. Nein, hier bricht keiner des anderen Schale, man nähert sich an, aber gibt sich nicht auf. Nie überdreht der Abend, nicht einmal die zwischen den Szenen eingespielten Bilder anonymer urbaner Menschenmengen stören in ihrer Eindeutigkeit besonders. Er sucht die Zwischentöne (auch dies findet sich im Text, wo Alex selbigen den Zauber der Musik zuschreibt), findet den feinen Humor der Einsamkeit im Text, ohne Schenkelklopfer zu produzieren, bleibt im Ambivalenten und umschifft doch sicher das beliebige. Ein stilles, zurückhaltendes und ungemein kluges Stück Theater.

Komplette Rezension:
Leserkritik – Turbo Pascal: Böse Häuser, Berlin
Turbo Pascal: Böse Häuser, Sophiensaele, Berlin / Theater Rampe, Stuttgart

Böse Häuser. So so. Wo mögen die wohl stehen und was an ihnen ist böse? Eine Frage, die schnell beantwortet ist: „Böse Häuser“, so raunt uns Hegel in der Stückankündigung zu, seien die Orte, an die man gelangt, „wenn das Denken über den gewöhnlichen Kreis der Vorstellungen hinausgehe“. Gedankengebäude also – so zumindest drückt es ein Performer von Turbo Pascal an diesem Abend aus. Sie stehen nicht irgendwo in der Landschaft, sondern in uns, unserem Denken, unserer Vorstellung. Dort wohnen die Ängste, der Hass, vielleicht aber auch die Hoffnung und die Fähigkeit, auf andere zuzugehen. Es ist der Ort des „Anderen“ in uns, der anderen Vor- und Einstellungen, der fremden, den eigenen womöglich diametral entgegen stehenden Gedanken. Hierhin wollen Turbo Pascal ihr Publikum (ent)führen, es einladen, sich hineinzuversetzen in andere, fremd erscheinende Gedankengänge, weniger liberale vielleicht, als man sie sich selbst – wir Aufgeklärten, Toleranten sind ja unter uns – zugestehen mag. Mal austesten, wie es sich anfühlt, sich „feindlichen“ Argumentationen anzuvertrauen. Mehr noch: Herauszufinden, wie leicht man vom eigenen Weg auf einen ganz und gar gegensätzlichen geraten könnte.

Klingt spannend, ist es aber nicht. (...)

Natürlich ist das alles ungemein clever gedacht, die Mischung aus willkürlicher Aufspaltung und Gegeneinander-Setzung intelligent konzipiert, beschreibt sie doch die Zufälligkeit derAufteilung in die, die dazu gehören und jene, die es nicht tun. Die Nutzung gemeinschaftlicher Raumanoordnungen – der Sitzkreis oder seine individualistischere und etwas autoritärere Variante, die Vortragsbestuhlung, ist ein durchaus spannender Ansatz in seiner Betonung der Ambivalenz gesteuerter und damit stets imaginierter, unechter Gemeinschaft, einige Momente des Abends – der ausschließende Gemeinsamkeitskreit, das spielerische Thesenfeuerwerk, die angedeutete Verunsicherung durch die Überwachungsgruppe – führen tatsächlich in Sichtweise der „bösen Häuser“. Hinein bringt der Abend am Ende jedoch niemanden. Zu vorhersehbar die Versuchsanordnungen und was sie sagen wollen, zu harmlos die Gruppenexperimente, auch weil sie den Einzelnen von der Angel lassen, ihn als passiven, geschützten Zuhörer in seiner Komfortzone belassen. Es ist immer klar, wohin es geht, was die Aussage sein soll.

Nur konterkariert genau das die Absicht des Abends: Er will ja verunsichern, das Denken öffnen für das Nichtzugelassene, die Frage zulassen, wie viele der „bösen Häuser“ in uns sind. Nur dazu muss er einbrechen, herausfordern, braucht Überraschungsmomente, die den Zuhörer zwischen, sein Schutzschild abzusenken. Die bietet dieser Abend an keiner Stelle. Das Besucher*innen-Lächeln bleibt amüsiert, wissend und selbstgerecht, es gibt keinerlei Fallhöhe, der Boden ist weich und komfortabel. Am Ende fühlen wir uns bestätigt, auf der richtigen Seite zu stehen und kümmern uns wenig darum, dass der Abend uns gerade erst gesagt hat, dass genau dies das Problem sei. Er war dabei halt so vorsichtig, dass wir weghören könnten. Und so bleiben die „bösen Häuser“ unbetrachtet – und intakt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/29/in-der-komfortzone/
Leserkritik: "Endgame" von machina eX, HAU Berlin
Zum "Toxik"-Nachfolger "Endgame" von machina eX im HAU 3:

Die „Endgame“-Teilnehmer setzen sich an ihre Rechner und durchforsten die „Fakebook“-Accounts der bereits bekannten Aktivisten, um weitere Informationen über das rechte Netzwerk zu entschlüsseln.

Zwangsläufig bekommt der Abend eine ganz andere Dynamik als Vorgänger wie „Toxik“. Statt Knobeln im Team sitzen diesmal dreißig Computer-Nerds vor ihrem Laptop und kämpfen sich durch die Social Media-Info-Flut.

Dafür ist die Theaterhandlung diesmal viel klarer. Während bei „Toxik“ auf der Suche nach all den im Heuhaufen versteckten Nadeln der Blick aufs große Ganze verloren zu gehen drohte, ist diesmal der Sinn der gemeinsamen Mission immer klar und wird nach jeder Runde erneut betont.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/05/endgame-hacker-mitmachtheater-von-machina-ex-im-hau3/
Leserkritiken: Die Nacht, in der Alles (UA)/Rendsburg
Am 30.11.2017 hatte das Jugendstück „Die Nacht, in der Alles“ für Jugendliche ab 11 Jahren von Marisa Wendt ein Auftragswerk des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Rendsburg seine Uraufführung. Miriam und Hannah zwei Mädchen, die sich von Anfang an unsympathisch sind, lernen sich in der Theater-AG des Jugendzentrums kennen. Hannah, aus wohlhabendem Elternhaus ist verwöhnt und interessiert sich nur für Mode und stylisches Aussehen. Miriam, aus einfachen Verhältnissen, mit frecher Klappe und starkem Selbstbehauptungswillen. Sie sehen sich zunächst gegenseitig nur in diesen Klischeebildern. Doch je besser sie sich kennenlernen, umso mehr erkennen sie, dass ihr Zuhause kein behüteter Ort und Hannahs Vater der Chef von Miriams Mutter ist und „DIE NACHT, IN DER ALLES“ beginnt. Das Stück erzählt in Miriam und Hannah, die unterschiedlicher nicht sein können, in einer wilden Teenie-Nacht feststellen, dass sie mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie sich selbst vorgestellt hatten. Ein ermutigendes Stück voller Frauenpower und Theaterleidenschaft, das zeigt, dass anscheinend unüberwindbare Gegensätze bei der Bereitschaft zur gegenseitigen Annäherung sich auflösen lassen. Das Stück ist besetzt mit zwei jungen Schauspielschülerinnen Lucie Gieseler (Hannah) und Eva Maropoulos (Miriam) der Schule für Schauspiel in Hamburg. Sie übernehmen auch alle anderen Rollen des Stückes (Hannahs Vater, Miriams Mutter, Leiter der Theater-AG etc.). Bühnenbild und Kostüme (Julia Scheeler) sind minimalistisch; 2 graue Spielquader und 3 graue Pinnwände, sowie einige Kleidungsstücke. Alles wird erspielt. Die beiden jungen Schauspielern sprühen vor Energie und zeigen alle Facetten ihres Könnens, wodurch die Inszenierung spannend und lebendig wird. Sie wirken authentisch und begeistern von Beginn bis zur letzten Minute. Lisa van Buren die junge Regisseurin führt ihre jungen Kolleginnen sehr klug und geschickt, indem sie sie ständig fordert, in neue Rollen zu schlüpfen und diese zu meistern. Hier ist Spiellaune gefordert und die liefern die beiden jungen Schauspielerinnen perfekt ab. „Die Nacht, in der Alles“ erlebte eine bejubelte Uraufführung.
Leserkritik: "Fever Room" von Apichatpong Weerasethakul, Volksbühne
"Fever Room", Apichatpong Weerasethakul, Volksbühne

Bei fahlem Taschenlampenlicht wird das Publikum in den dunklen Bühnenraum geführt. Die Leinwand fährt hoch, doch es passiert erst mal enttäuschend wenig. Wiederholungsschleifen meditativer Bilder flimmern über die kleine Leinwand, die im großen Saal verloren wirkt. In seiner ersten Theater-Arbeit greift der thailändische Filmkünstler Apichatpong Weerasethakul Motive aus seinem jüngsten Film „Cemetry of Splendour“ über einen Soldaten im Wachkoma auf, der beim „Around the World in 14 films“-Festival vor zwei Jahren seine Berlin-Premiere hatte.

Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Ist ein Theater der richtige Rahmen für dieses Werk? Wäre es nicht viel besser in einem auf Filmkunst spezialisierten Kino wie dem Arsenal oder dem Babylon Mitte aufgehoben?

Langsam fährt eine zweite Leinwand hoch. Der Abend kommt aber immer noch nicht in Fahrt. Wir erleben lange Flussfahrten über den Mekong und Aufnahmen von südostasiatischem Meeresrauschen: die ideale Meditation für Leute, die unter Schlaflosigkeit leiden und die verdienstvolle Reihe „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“ vermissen, die früher vor dem ARD-Morgenmagazin als Einschlafhilfe diente.

Erst nach knapp 50 Minuten wird klar, warum „Fever Room“ eine große Bühne oder zumindest einen Museums-Raum braucht und in einem Programmkino falsch aufgehoben wäre. Die Technik der Volksbühne kommt zum Großeinsatz und lässt wie am Eröffnungsabend „Beckett/Sehgal“ ihre Muskeln spielen. Mit Lichteffekten lässt Weerasethakul einen großen Tunnel entstehen, der das Höhlenmotiv, das zuvor über die Leinwand flimmerte, aufgreift.

„Die Mittel von Großraumdisko und Stadionkonzert“, die hier mit klassischer Überwältigungsgeste aufgefahren werden, sind zwar altbekannt, wie Matthias Dell auf SPIEGEL Online anlässlich der deutschsprachigen „Fever Room“-Erstaufführung beim Steirischen Herbst 2016 anmerkte. Aber diese Lichtinstallation hat zweifellos ihren Reiz. Ein Schlund im Hintergrund der Bühne scheint alles in sich aufzusaugen und zu verschlingen. Weerasethakul spielt meisterhaft mit Farbschattierungen und Raumwirkung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/07/fever-room-apichatpong-weerasethakuls-lichtinstallation-in-der-volksbuehne/
Zu Leserkritik: "Fever Room" von Apichatpong Weerasethakul
Ich sprach vor Monaten einen jungen Mann, der den Filmemacher für seine früheren Arbeiten schätzt und von "Cemetry of Splendour" etwas enttäuscht war. Als ich ihm erzählte, dass Weerasethakul was in der Volksbühne machen wird, so in der Art Verschmelzung Film mit Installation, hat er gesagt - das wiederhole ich hier besser nicht, denn jeder Künstler kann von dieser zweisätzigen mit dem Skalpell ausgeführten Zeitkritik nur sofort in tiefe Depressionen versinken...

Ich kann mir sehr gut vorstellen, vor allem auch nach dem o.g. Film, wo er ja zeigt, dass er das kann, dass Weerasethakul auch sonst hervorragend mit der Licht-Ton-Raumwirkung spielen kann, mit dem Hineinsaugen des Publikums in den Bühnenhintergrund wie in einen Schlund, so wie Konrad Kögler beschreibt - Die Frage im Zusammenhang mit seinen speziellen Filmeinspielern, die zu der 3D-Installation "Fever Room" gehören, ist nur: WAS genau sollen wir daraus lernen (zu fühlen)? Dass ein Wachkoma oder ein Fieberrausch doch auch ganz nett, nahezu erstrebenswert sein kann? Vor allem, wenn man durch kriegerische Handlungen in es befördert wurde oder wenn man in Wirklichkeit kerngesund ist?
Die Frage - für mich und den jungen Philosophen - ist, ob es genauso überwältigend gewesen wäre als Licht-Raum-Installation, wenn der Filmemacher die Vorab-Verweise auf seine Filme unterlassen hätte? Was meinen Sie dazu, Konrad Kögler? Inwieweit genau hat es ihre Wahrnehmung der Filme ODER der Raumwirkung verändert, bereichert, Sie MEHR erfreut, als hätten Sie dem einen ODER nur dem anderen beigewohnt?
Leserkritiken: Antwort an Dialogues
Bei der Licht-Raum-Installation "Fever Room" kommt es aus meiner Sicht nicht darauf an, ob man die Filme von Apichatpong Weerasethakul bereits kennt oder nicht. Das Kunstwerk steht überzeugend für sich.

Die Enttäuschung Ihres Philosophen über die neueren Weerasethakul-Filme kann ich gut verstehen. Im letzten Absatz meines oben verlinkten Blog-Textes habe ich u.a. "Tropical Malady" erwähnt, mit dem Weerasethakul 2004 in Cannes berühmt wurde. Das Surreal-Fiebrige fehlt sowohl in den neueren Filmen als auch im "Fever Room", diese Werke haben andere Qualitäten.

Volksbühne und Kino Babylon Mitte zeigen übrigens die komplette Weerasethakul-Werkschau am Samstag/Sonntag (24 Stunden mit kurzen Pausen in 4 Blöcken).
Leserkritiken: neuer Raum
Danke für Ihre Antwort. Die Enttäuschung "meines" Philosophen bezog sich nicht nur auf die neueren Filme dieses Filmemachers, sondern darauf, dass sich selbst ein so wunderbar fähiger Filmemacher einen anderen Raum sucht, wenn ihm für sein ursprüngliches Medium das von Ihnen als Fiebrig-Surreale verloren gegangen ist und er das auch spürt. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden, wenn nicht in dem neuen Raum behauptet wird, dass der zwingend etwas mit den älteren Filmen zu tun hat. Der Verweis auf die eigene Arbeit und damit auf die eigene erlangte Berühmtheit in einem Medium - scheint uns in unserem Dialog (hier haben wir offenbar einen kleinen Ausbruch in einen Trialog, der mich sehr freut) - eher ein Werbemittel für garantierten Absatz der neueren Raumerforschung des Filmemachers und wir fragen uns, ob ein solches Vorgehen ein Zeichen der neueren Ästhetiken sowohl in der Film- als auch in anderen Kunsten sein könnte und ob es für die Künste heute zwingend geworden ist, so vorzugehen. Und wenn ja: WARUM?
Vielen Dank für den aufmerksamen Kino-Tipp, Herr Kögler. Ich habe zwar für das Wochenende bereits andere Prioritäten gesetzt, es freut mich aber, wenn viele Menschen in den Genuss dieser zusammengestellten Werkschau kommen können. Auch solche hoffentlich, die noch gar nichts von Weerasethakul gesehen haben und die vielleicht mit einem neuen Anspruchsdenken an Film (und auch Filmförderung) aus dem Babylon herauskommen könnten.
Und die Frage zuletzt: WELCHE genau? Wäre Ihnen möglich, diese anderen Qualitäten der neueren Arbeiten genauer zu beschreiben?
Leserkritiken: Weerasethakul-Filme Volksbühne
Ich würde sagen, dass die neueren Filme noch meditativ-ruhiger sind und das Surreal-Verspielte nicht mehr so überschießend ist. Außerdem spielt Politik inzwischen eine größere Rolle. Den Komapatienten aus "Cemetry of Splendour" könnte man als Parabel auf ein Land im Koma lesen. Dazu diese Tagesspiegel-Kritik zum Kinostart 2016: http://www.tagesspiegel.de/kultur/das-kino-des-apichatpong-weerasethakul-der-bildertraeumer/12821850.html

Hier gibt es einen schönen Überblick auf Englisch: http://www.bfi.org.uk/news-opinion/news-bfi/features/where-begin-apichatpong-weerasethakul
Leserkritiken: Weerasethakul
Ja, das könnte man. Den Komapatienten aus "CoSp" so lesen. Auch ohne Tagesspiegel oder andere Infos zum Kinostart. Wenn man aber bedenkt, welches Land oder welche Länder genau gemeint sein könnten, muss man eine Haltung einnehmen zu dem Meditativen in z.B. diesem Film. Es gibt ja in asiatischen Erzähltraditionen oder eben auch in der Geschichtenerzähl-/Film-Tradition, der Weerasethakul entstammt, ganz starke Geistererscheinungs-/Reinkarnationsmythologien, die uns mit unserem Seherfahrungs-Background des vor allem europäischen Films per se faszinieren und die uns auch da meditativ vorkommen können zum Beispiel, wo gar keine Meditation im eigentlichen Sinne von geistiger Versenkung, konzentrierter Fokussierung auf einen existenzialistischen Gedanken, ist.
Ich habe zum Beispiel in "CoSp" ganz stark das Gefühl auch einer inhärenten Religionskritik gehabt, indem die Meditation sich über ihren religiösen Inhalt stellte und nur noch etwas ganz oberflächliches, Bewusstsein tötendes war.
Und dann ist die Frage, ob das, was in Weerasethakuls ursprünglichem kulturellen Umfeld eine Kritik an den Verhältnissen dort ist, bei uns nicht eine Aufforderung zum schönen Chillen gleich angesichts welcher herrschenden Verhältnisse, sein könnte?
"Mein" junger Freund, der philosophische Verknappungskünstler, empfindet es übrigens vollkommen umgekehrt: Er findet die älteren Filme politischer und auch meditativer. Und zwar, weil er sie persönlicher intendiert findet und bildästhetisch wesentlich konsequenter, weil eben die Kameraarbeit meditativ ist und die Bildfokussierung einer Meditation des Betrachtens gleicht, der sich der Betrachter des Betrachters nicht entziehen kann. Das erzeugt eine Sehdisziplin, die sehr viel Freude beim Zuschauen bereiten kann, selbst wenn man nichts von dem Film versteht, keine nacherzählbare Fabel findet und das Sujet als Sujet nicht durch Beschreibung fassen kann. Genau dies ist für meinen jungen Freund das eminent Politische an diesen ersten Filmen gewesen. Und er ist vor allem enttäuscht, dass das Politische jetzt oberflächlicher ist, nicht mehr als vom privaten Blick und Gesehenes-Konservieren-Wollen motiviert zutage tritt, sondern konzeptionell angelegt. Wodurch auch der nahezu meditative Gebrauch der Kamera kein echt außerordentlich konsequent gegen die Zeitmoden gestemmter handwerklicher mehr ist, sondern ein handwerklich wiedergängerische Meditation darstellender... Das empfindet mein junger Freund als großen Verlust in der Filmkunst unserer heutigen Tage. Als einen Verlust mehr. Ich würde schätzen, dass er trotz seiner noch relativen Jugend einige tausend internationale Filme aus der gesamten Dauer der bisherigen Filmgeschichte kennt und "Tropical Malady" zählt seit Jahren zu seinen 10 Favoriten (es zählt noch ein weiterer Film vom selben Filmemacher dazu, den er nicht verrät), den er niemals mit jemandem anderen zusammen schauen würde. Auch nicht mit mir. Er hütet sein Gefühl für diesen Film ähnlich wie seinen Augapfel und verteidigt dieses Gefühl mit seinem Denken als gelte es, ein Leben zu bewahren... Das ist merkwürdig, nicht wahr...
Leserkritik: "Stress" von Adrian Figuero, HAU Berlin
"Stress" im HAU 3, Berlin

Adrian Figuero führte Gespräche mit jungen Straftätern: über ihre Biographie, ihre Träume, ihre Wut und ihre Ohnmacht.

Gemeinsam mit dem Dramaturgen Tunçay Kulaoğlu kompilierte er daraus eine Textfläche, die seine vier Performer sprechen: Nyamamdi Adrian (der Jérôme aus „Peng Peng Boateng“ im Heimathafen Neukölln), Lukas Steltner, Hasan Taşgın und Paul Wollin (bekannt aus den Gorki-Inszenierungen „Fallen“ und „Verrücktes Blut“).

Abwechselnd sprechen sie die Interview-Passagen der Häftlinge, die nie klar einer Person zuzuordnen sind, sondern als diffuser, vielstimmiger Chor von Leidensgenossen wirken. Manche sind bis heute voller Stolz auf ihre Taten. Sie fühlen sich als „echte Männer“, die sich in einer Gesellschaft, die ihnen wenig Chancen bot, nicht zum „Opfer“ machen ließen, sondern zur Wehr setzten. Aus ihrer Sicht nahmen sie sich einfach, was ihnen zustand. Denn wie kann es sein, dass die alleinerziehende Mutter aus Neukölln sich und ihre Kinder mit Putz- und anderen Minijobs über Wasser halten muss, während der Koks-Dealer seine Villa in Eberswalde hat, fragt eine Stimme.

Der Abend war ursprünglich als Mix aus Tanz und Theater angelegt. Die Momente, in denen die Regie die vier Jungs etwas von der Leine und in Aktion kommen lässt, lassen erahnen, was für ein kraftvoller, mitreißender Abend dieses Stück hätte werden können.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/08/stress-choreographie-ueber-junge-strafgefangene-im-hau/
Leserkritik: "Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten" im HAU Berlin
"Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten" im HAU Berlin
Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten“ polarisiert: Während der knapp zwei Stunden verließen einige Zuschauer vorzeitig den Saal. Selten wird eine Vorstellung aber auch so mit stehenden Ovationen bejubelt wie die Berlin-Premiere dieses Stücks im HAU 1.

Woran liegt das? De Keersmaeker, um die Volksbühne und HAU konkurrieren, hat ihren Stil in den vergangenen drei Jahrzehnten perfektioniert. Gravitätisches Schreiten zu getragenen Klängen, aufrecht, wortlos. Diese Handschrift strahlt natürlich klassische Eleganz aus. Der Cellist Jean-Guihen Queyras spielt Bachs Suiten makellos, die fünf Tänzerinnen und Tänzer (darunter auch De Keersmaeker selbst) folgen seinem Rhythmus. In ihrer Strenge wirkt die Choreographie aber sehr hermetisch und abweisend.

„Wie unter einer Glasglocke“ empfand Wiebke Hüster die Uraufführung des Werks bei der Ruhrtriennale im August 2017 in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Diesen Eindruck hatte ich auch gestern Abend im HAU. Das Problem des Werks brachte die Kritikerin im Deutschlandfunk treffend auf den Punkt: Die Inszenierung „bekommt etwas Falsches, Prätentiöses. Manierismus war schon in vielen Arbeiten de Keersmaekers ein Problem. Ihre tänzerische Einfachheit und Strenge bekommt dann etwas Sektiererisches und Pathetisches. Der Tanz lebt und atmet nicht mehr.“

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/09/mitten-wir-im-leben-sind-anne-teresa-de-keersmaeker-polarisiert-mit-bachs-cellosuiten/
Leserkritik: Die Bewerber, UNI.T – Theater der UdK Berlin
Kai Ivo Baulitz: Die Bewerber, UNI.T – Theater der UdK Berlin (Regie: Enrico Stolzenburg)

(...)Eine Gruppe Job-Suchender soll ein Training durchlaufen, an dessen Ende die Möglichkeit steht, sich für eine Busfahrerposition zu bewerben. Das Jobcenter, in dem die stattfindet, befindet sich dort, wo früher eine Kathedrale war. Arbeit als Religionsersatz, als unhinterfragtes Schmiermittel unserer Gesellschaft – aha, ja, verstanden. So prangt denn auch das Wort „Arbeit“ in Riesenlettern auf und über der Bühne (Lea Aigner). Diese plakative Setzung gehört jedoch noch zum Subtileren des Abends.

Die Personage ist eine Klischeeparade oberster Güte und unterster Schublade. Da ist der affektiert coole gescheiterter Club-Besitzer (Til Schindler), die Frustfresserin samt Fettarsch-Hose (Mariann Yar), das Brüderpaar aus frustriert Wütendem (Christian Hankammer) und gutmütigem Schlaffi (Benjamin Bronisch), die Esotherikerin (Esther Maria Hilsemer), der offensiv Schwule (Hicham-Tankred Felske) und so weiter. Man will den Job natürlich aus unterschiedlichen Gründen. Weil man ihn, wie der eher farblose Wenzel (Richard Manualpillai) schlicht braucht, weil man wie die Brüder Schulden hat, weil man wie Esotherikerin Aysche (ja, die Schreibweise ist ernst gemeint) Gutes tun will oder wie Ex-Flugbegleiterin Ilse (Eva Hüster) nicht immer die Beneidete sein will – was natürlich, dafür sorgt schon die sie anhimmelnde Martha (Paula Kober) nicht funktioniert. Hinzu kommt der von Selbstzweifeln zerfressene Coach (Armin Wahedi Yeganeh) – fertig ist das Sammelsurium der Stereotypen, die sich in ungefiltertem und undifferenziertem Overacting auf einem komödiantischen Niveau breit machen, das sich irgendwo zwischen Mario Barth und dem frühen „Didi“ Hallervorden gefällt.

Baulitz und Stolzenburg variieren zwischen Gruppen- und Zweierszenen, paaren schön zwei irgendwie passende Figuren zusammen, die sich banale Klischee über Selbstverwirklichung, eigene und fremde Wahrnehmung und letztlich immer das Gefangensein im kollektiven Hamsterrad an den Kopf werfen. Es wird auf Sandkastenniveau rivalisiert, ein wenig Küchenphilosophie, die sofort vergessen ist, gibt es auch. Man macht Yoga, sitzt in Stuhlkreisen herum, meditiert und übt die immer gleiche alberne Situation: Einem Fahrgast ist schlecht, der Fahrer muss reagieren, dazu macht der Rest des Busses zur Authentifizierung der Situation Motorengeräusche nach der Art eines Kindergarten-Spielkreises. Natürlich ist alles ironisch, nur wurde irgendwie vergessen, ein Bedeutungsfundament einzuziehen, auf dem die Ironie arbeiten könnte. Doch mehr als „Arbeit als einzige Option eines Lebensinhalts ist doof“ und „Arbeitsvermittlung geht am Menschen vorbei“ ist da nicht. Über Alternativen macht sich der Abend erst recht keine Gedanken – zumindest nicht jenseits einer „Ans-Meer“-Utopie, weswegen auch ständig unterschiedliche Varianten des Chansons „La Mer“ eingespielt werden.

Dass sich der Coach, der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst, vom Dach stürzen will und daran von zwei eher unwilligen Lifestyle-Engeln (Hilsemer und Kober) und einem nicht im Dienst befindlichen Tod (Elwin Chalabianlou – aus unerfindlichen Gründen in Patienten-Tracht mit Tropf ausgestattet) gehindert wird, und am Ende mit den von ihm gecoachten Losern „ans Meer“ fährt, ist dann auch egal. was bleiben, sind 100 Minuten albernen Dilletantismus (weniger auf Seiten der Schauspieler*innen – die können mit den „Rollen“ kaum mehr anfangen) und Publikumsunterforderung, die – und immerhin das gelingt dem Abend – wenigstens verärgert. Das ist ja auch schon etwas.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/10/brumm-brumm/
Leserkritiken: Prolls auf Pferden/Volksbühne Berlin
Elias Geißler, Josefin Fischer, Pauline Wedler: Prolls auf Pferden *there will be noise complaints, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Elias Geißler, Josefin Fischer, Pauline Wedler)

Teil eins des Abends entführt (...) in die Traumfabrik. Im Mittelpunkt steht eine Namenlose, die sich zunächst auf einer eleganten Sitzgruppe räkelt, ihr Gesicht vergrößert auf der immerpräsenten Videowand, während vorn, die Frühgeschichte Hollywoods per Dialog-Slapstick verhandelt wird. Die Vielleicht-Diva hat einen Filmriss (!), weiß nicht mehr, wer sie ist und probiert verschiedene Identitäten durch (...) Identitätsverlust als Preis für die Schaffung kollektiver Träume, für die Illusion, für den mehr oder weniger schönen Schein: Die ist das große Thema, das dieser natürlich selbstreferenzielle Abend durchspielt.

Zunächst als klamaukig wortreiche Ich-Suche der unbenamten und damit auch unkategorisierten, heißt: nicht-existenten sich selbst Vergessenden. Diese erste Stunde pendelt zwischen groteskem Slapstick à la Fritsch, komplett mit verzerrten Gesichtern, entstellten Grimassen, überzogener Gestik, und Pollesch-hafter Diskurs-Diarrhöe. Die unbekannte taumelt von Party zu Party, von Set zu Set, von Identität zu Identität. (...) Immer wieder übernimmt die Kamera, definiert ihr kontrollierender Blick, was wir sehen und was die Unbekannte nicht nur sieht, sondern ist. Alles ist Performance, immer einen Tick zu grell, ein wenig zu weit verfremdet, entstellt bis zur Kenntlichkeit. Kein Panorama, eher eine Farcen-hafte Dauersatire, die in der ersten Stunde durchaus die Spannung hält, was auch am musikalischen Rückgrat, eingezogen von The Twice Sustain und Fee Aviv Marschall, liegt (...)

Alles ist Projektion, Bühne und Leinwand nur zwei Medien der Verfremdung und der künstlichen Neuerfindung von Identität. Die nach der Pause konkreter wird. Da erzählt der Abend die Geschichte der Judy Garland, dem Kinderstar, von der Mutter ins Scheinwerferlicht gepresst, später in der Drogenhölle verendet. (...)

Projektionen, Fremdblicke und externe Identitätszuschreibungen auch hier, aber jetzt gewendet ins grotesk Schaurige. Der Tod taucht auf, getarnt als schmieriger Abziehbild-Mafioso, und überlässt die begehrte zunächst der Schwester Dementia. Auch der Wahnsinn ist Inszenierung, ist Spiel, ein tödliches zwar und doch eines, das mit dem Bühnentod nicht enden. Denn sind die „Stars“ nicht Untote, verurteilt dazu, nicht zu rasten und zu ruhen, bis wir, das gierige Publikum, es erlauben? das ist jetzt alles nicht sonderlich neu, die Aussage nicht und auch nicht die Mittel. Es ist das „alte“ Volksbühnenvokabular, das Elias Geißler, Josefin Fischer und Pauline Wedler in den Mixer werfen und als Wortwolke in den Raum schießen und zu einer Bestandsaufnahme der illusionsbildenden Künste zusammensetzen, die nicht übermäßig originell ist und zuweilen in Richtung Unterkomplexität tendiert, zumal die zweite Hälfte – Castorf lässt grüßen – dann doch sehr ausfranst, sich in Wiederholungen verliert und den Spannungsabfall letztlich nicht aufhalten kann. Doch so konsequent, wie hier das Zuviel zelebriert wird, so lustvoll und kompromisslos, wie sich die furcht- wie schamlosen 19 in die theatrale Schlacht werfen, so rücksichtslos, wie sie das Spiel in immer neue Extfreme treiben, so wenig kann man diesem Abend am Ende böse sein. Das Schöne und das Hässliche, das Lebensvolle und die Selbtstauflösung, die Lust und die Leere liegen nicht nur in Hollywood, das, einer der Running Gags des abends, eben kein „Holywood“ ist, nah beieinander. So lange sie sich jedoch mit solch unbändiger Energie und auch zerstörerischen Lust ineinander verknäueln lassen, besteht Hoffnung. Oder zumindest eine Menge Spaß.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/13/jenseits-von-holywood/
Leserkritik: Kanal Banal, SH Landestheater
Kanal Banal #2 (Schleswig-Holsteinisches Landestheater) war ein mit Ironie gewürzter Abend "revolutionären Liedguts" der 68iger Generation, nicht nur für Veteranen. Von Schwendter über Hendrix bis Helene Fischer "revolutionäres Liedgut", das mit Gesinnungsgenossen im ROTEN Foyer mit Glühwein im dialektischen Diskurs zelebriert wurde. Tausend Dank den "Revolutionären" dieses abends. Kanal Banal eine kleine exquisite Veranstaltungsreihe für ca. 30 Theaterhungrige ist auf dem Wege sich zu einem Hit für Eingeschworene zu etablieren. Bitte weiter so !!!
Leserkritik: zu 362 "Die Bewerber" an der UdK
Sehr geehrter Herr Krieger - ich lese Ihre Beträge gern und regelmäßig und vertraue Ihrem Urteil: Warum habe ich diesmal nicht die deutliche Warnung ernst genommen und gemeint, ich müsse hingehen?
Der Abend ist menschenfeindlich und ekelerregend (wenn man das als ästhetische Kategorie begreifen kann). Mir wurde körperlich unwohl. UND: Die Leitung der Universität der Künste und die Leitung des Bereichs Schauspiel haben zugelassen, daß dieses Arbeitsergebnis der Öffentlichkeit vorgestellt wird; man darf also vermuten, die Leitungen befinden sich im Einverständnis damit. Ich frage mich, an welchem Theater kann ein Regisseur, der auf die Darstellung realistischer Menschenbilder (ich kann es auch anders sagen: auf ein Spiel von Figuren, das geeignet ist, über das Verhalten von Menschen in sozialen Umfeldern, eine Aussage zu machen) orientiert, mit derartig unausgebildeten jungen Schauspielern etwas anfangen?
Von den handwerklichen Unzulänglichkeiten der Regie ganz abgesehen.
Da kann man sich nur mit Grausen wenden.
Peter Ibrik
Anfrage an die Redaktion: Können die neuen Beiträge nicht obenan stehen?
Es gibt doch bei der Ablage auch Mappen, wo das Neueste zu oberst liegt.
Leserkritik: "Gertrud"/DT Berlin
"Gertrud" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters

Trotz des exzellenten Schauspieler-Trios funktioniert die Roman-Adaption von Jakob Fedler in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nicht gut. Der als „eigenwilliger, sprunghafter, sich preisgebender Erzählsturm“ angekündigte Abend stemmt sich seinem Publikum sehr schroff entgegen und gibt ihm kaum eine Möglichkeit anzudocken.

Mit einigen Slapstick-Nummern und einem angedeuteten Sirtaki wurde zwar versucht, den ansonsten sehr düsteren, abweisenden Abend aufzulockern. Aber das führt nur dazu, dass drei Clowns über die Bühne springen, bevor sie wieder in den Lamento-Ton verfallen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/16/gertrud-einar-schleefs-schroffer-unzugaenglicher-roman-in-den-kammerspielen-des-deutschen-theaters-berlin/
Leserkritiken: "Gertrud"/DT Berlin
Einar Schleef: Gertrud, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin / Schauspielhaus Bochum (Regie: Jakob Fedler)

Fedler reißt Fetzen heraus, stellt sie unverbunden nebeneinander, lässt die Sprecher*innen (über weite Strecken ist das wenig mehr als eine szenische Lesung) zwischen den Zeiten hin- und herspringen. Das ist auch im Roman so, aber hier wirkt das schnell beliebig. Wenn die Sprache nicht atmen kann, sich nicht in Spiel übersetzt, dann fehlen eben die Assoziationsketten, die Verbindungsfäden, aber auch die Widersprüche, die diese Lebenserzählung, künstlerisch überhöht und entprivatisiert, ausmachen. Hier klebt Anekdote an Anekdote, auseinandergerissen durch illustrative Spielversuche, die gern mal in den Slapstick kippen und in ihrer leeren Komik dem Abend den allerletzten Rest Substanz rauben. Dabei wäre das sträflich unterforderte Schauspieler*innen-Trio durchaus bereit, tiefer zu bohren. Das deutet sich nur selten und immer sehr kurz an. Etwa wenn Antonia Bill Kreise um die Kupferplatten rennend mit Gertruds sportlichen Triumphen beginnt und mit der Zurechtstutzung ihrer Figur durch multiple gesellschaftliche wie familiäre Druckmechanismen endet und am Ende erschöpft nach Luft ringt. Hier öffnet sich ganz kurz die Tür in einen weiten Bedeutungsraum. Fedler schlägt sie wieder zu.

Und so springt der Abend zwischen heiligem Ernst und alberner Komik, darf sich Koch wiederholt gebärden, als wäre er wieder bei Herbert Fritsch, füllt der ratlose Regisseur die zeit mit ziellosem Herumgelaufe und -gerutsche, zweckfreien Slapsticknummern und einer Textauswahl, die zunehmend wie ausgewürfelt wirkt. Der Zuschauer dagegen rutscht immer tiefer in seinen Stuhl, lässt die Gedanken schweifen, so wenig versuchen die Textfragmente auch nur, ihn hineinzuziehen in die wilde, faszinierende Gedankenwelt dieser Figur, in das konfliktreiche Universum, das sie hervorachte und das sie zurückbringt. Das scheint Jakob Fedler alles nicht zu interessieren. Warum diese Passagen, diese Geschichten ausgewählt wurden, erschließt sich nicht, sie finden nicht zueinander, suchen sich nicht einmal, stehen leer und nur auf sich weisend im Raum. Wie die drei Gertruds, dewren Band sich nicht erkennen lässt. Fedler hat ein paar Ideen (Sprachrhythmik, Chor, Figurauspaltung, Körperlichkeit im Dialog mit dem Text) und hat sie schon wieder vergessen, wenn er sie auf die Bühne gebracht hat. Der Abend hat die Aufmerksamkeitsspanne und Konsequenz eines Dreijährigen. Und so stehen am Ende alle verloren herum: die Darsteller*innen, die Sprache, Schleefs Vorlage, Gertrud. Und das gelangweilte Publikum. ein Theater auf dem Weg zur Selbstabschaffung.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/16/auf-dem-weg-zur-selbstabschaffung/
Leserkritik: Moby Dick, Rendburg:
André Rößler schafft mit seiner Inszenierung des Romans „Moby Dick“ einen spannenden Theaterabend, der glänzend unterhält, viele Momente des Nachdenkens bereithält und uns einen Spiegel unserer Zeit vorhält. Rößler hat glänzend erkannt, dass nur wenige Romane sich eignen, einen Gedanken, eine Idee des Autors aufzunehmen, um diese in andere Kontexte (aktuelles Zeitgeschehen) zu übersetzen oder weiterzudenken.Die Story ist die schicksalhafte Reise des Walfangschiffes Pequod, dessen Kapitän Ahab aus Rache und Hass den weißen Wal jagt, der ihm ein Bein abgerissen hat. Gespickt wird die Story von Melville mit mythologischen, philosophischen, religiösen und wissenschaftlichen Exkursen. Rößler beginnt seine Inszenierung mit Videosequenzen über den Wal aus literarischen, religiösen und wissenschaftlichen Werken, entsprechend der Romanvorlage. Dem folgen Bilder von Bohrtürmen, Ölfässern und Raffinerien. Der Bogen von Melville in unsere Zeit ist gespannt. Dann sehen wir einen Mann im Schutzanzug mit Schutzmaske durch das Watt laufen und am Horizont verschwinden. In nächsten Moment kommt er in den Theatersaal und das Spiel beginnt. Im weiteren Verlauf erzählt der einzig Überlebende, Ismael (beeindruckend gespielt von René Rollin), die Geschichte von Moby Dick dem Schriftsteller Hermann Melville. Kapitän Ahabs Jagd (schauspielerisch beeindruckend verkörpert von Reiner Schleberger) auf den weißen Wal steht im Widerspruch zu den materiellen Interessen (Gewinn- und Profitgier) der Mannschaft und Schiffseigner. In solchen Szenen werden bewusst aktuelle Bezüge gesucht, wie z.B. die heutige Gesellschaft von Gewinn- und Profitgier getrieben wird. In diesen Machtkämpfen erhebt Starbuck (Timon Schleheck, immer mit Starbucks Kaffeebecher bewaffnet) überzeugend seine Stimme im Sinne des Gemeinwohls, doch er bleibt als Verlierer auf der Strecke. Rößler greift das Kapitel „The Whiteness of the Whale“ mit Goethes Farbenlehre (weißes Licht eine Summation aller Farben) auf. An die Farbe Weiß binden sich traditionelle Assoziationen, wie Schönheit, Unschuld und Gerechtigkeit. Doch in Rößlers Inszenierung verkörpert Weiß auch die Macht und Gewalt des Todes. Der weiße Wal ist Zentralsymbol des Romans und der Inszenierung. Im Gegensatz zu Ahabs Hass getriebenen Rachefeldzug begreift Ismael den weißen Wal als Sinnbild der Natur. Auch heute ist die Natur Garant unserer Existenz und ihre Zerstörung würde uns vernichten. Ahab dient Melville zum Aufbau einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive, die Rößler in Assoziationen zu totalitären Systemen nutzt und geschickt bebildert. Ahabs Monomanie ist nicht nur individuelles Schicksal, sondern Ausdruck gesellschafts- und zivilisationskritischer Wirklichkeit, begründet in den Widersprüchen der Wirklichkeit und somit unserer Zeit. Dies bebildert Rößler immer wieder geschickt, ohne die Story zu zerstören. Im Gegenteil er macht sie aktuell, heutig. Starke Bilder sind wie Pip in den Kopf des Wales kriecht und dort ca. 30 Becher mit Wasser stehen hat, die er auszutrinken beginnt. Wasser ein lebensnotwendiges Gut des Lebens für alle und kein Spekulationsobjekt für ungezügelte Profitgier. Oder die Werbung der Mannschaft durch Ranstadt („Leiharbeitervermittlung“) und die skrupellosen Beschäftigungsmethoden von Unternehmen. Oder Queequeg, der tätowierte Polynesier, der Fremde und argwöhnisch beäugte Outsider, ein Spiegelbild der Emigranten und ihrer Schicksale in unserer Zeit. So folgen stark bebilderte Assoziationen zu unserer Wirklichkeit und dialektische Diskurse über Licht und Dunkelheit, Gott und Teufel, Gut und Böse. Moby Dick ein Menetekel, das uns mahnen soll Eigeninteressen, Profitgier, Machtmissbrauch nicht über das Wohl des Lebens zu stellen, um weiteren Generationen endliches Leben in Würde zu garantieren. Moby Dick ein faszinierendes Theaterereignis, das vom Publikum mit begeistertem Applaus gefeiert wurde.
Leserkritik: The show must go on, Berlin
"The show must go on", Jérôme Bel, Volksbühne

Das Konzept von Jérôme Bels „The Show must go on“ ist schnell zusammengefasst: Ein Hit jagt den nächsten. Beatles, David Bowie, The Police, Céline Dion, Tina Turner, Edith Piaf – hier ist für fast jeden Geschmack etwas dabei. Im Publikum wird zunächst zaghaft mitgesummt, später eifrig mitgewippt und mitgesungen. Das eine oder andere Feuerzeug wird gezückt.

Die Bühne bleibt zunächst ganz schwarz. Nach und nach betreten die 25 Performer die Tanzfläche: eine sehr bunt zusammengewürfelte Truppe um die beiden Aushängeschilder Frank Willens (bereits fest im Ensemble der Volksbühne engagiert) und Anne Tismer, die hier nach den Beckett-Monologen ihren zweiten Volksbühnen-Auftritt hat und auch bereits für Serras „Liberté“ im Februar angekündigt ist. Sie werden flankiert von mehr oder minder professionellen Tänzerinnen und Tänzern. Der Programmzettel führt akribisch den Hintergrund jedes einzelnen auf: Manche tanzen in Compagnien, die schon im Spätsommer bei „Fous de danse“ auf dem Tempelhofer Feld dabei waren, manche kamen über Freunde zu dieser Produktion, wieder andere arbeiten an Dercons Volksbühne als Regieassistentin, Theaterarzt oder an der Kasse.

Nach nicht mal 90 Minuten ist der Spaß vorbei. Einen tieferen Sinn wird man bei dieser Berliner Neuinszenierung eines 17 Jahre alten Stücks, das schon weite Reisen um den Globus auf dem Buckel hat, vergeblich suchen. Regisseur Bel warnte im Programmheft: „Aber es gibt nichts zu verstehen…“

Das Stück ist als „crowd pleaser“ und „bonbon“ angelegt, brachte es die New York Times nach einer MoMa-Aufführung 2012 (gekürzte Fassung mit anderen Performern) auf den Punkt. Nach so vielen düsteren Stoffen und zum Teil quälenden Abenden im ersten Drittel dieser Berliner Spielzeit ist „The Show must go on“ immerhin eine unterhaltsame, vorweihnachtliche Hit-Revue, die gute Laune verbreitet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/20/the-show-must-go-on-pop-hits-in-einer-choreograhie-von-jerome-bel/
Leserkritik: The show must go on, Berlin
Jérôme Bel: The show must go on, Volksbühne Berlin (Regie: Jérôme Bel)

(...)Hier wird – das ist für Bel nicht Untypisch – das Theatrale so sehr ausgestellt, dass alle überkommenen Theaterkonventionen ad absurdum geführt werden. 2001 in Paris war das noch ein Skandal. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Und doch funktioniert der Abend auch hier und heute. Weil er seine konsequente Dekonstruktion des Erwarteten kongenial kreuzt mit seinem Gegenteil, der Erfüllung von Erwartungshaltungen. Es ist eine Greatest-Hits-Show, die ihr illustratives Prinzip bis zum Ende, wenn die Performer*innen zu „Killing Me softly“ langsam zu Boden sinken und bei „The Show Must Go On“ wieder aufstehen, durchzieht. Und die zugleich das Genre, in dem sie sich aufhält, das Tanztheater, lustvoll und mit viel Humor, ohne Scheu auch vor leicht infantilen Gags, dekonstruiert, den Theaterraum als solchen bis zur Lächerlichkmachung entlarvt, den Konsens zwischen Bühne und Publikum aufkündigt. Da wird der Zuschauer selbst zum Performer, im gleißenden Licht angestarrt vom Ensemble bei „Every Breath You Take“, zum Mitsingen verführt in den stillen Passagen von „The Sound of Silence“. Da kehrt sich der Blick um oder wird zumindest unsicher. Der eigene wird zurückgeschleudert, aus Gesichtern, die längst ihren eigenen Charakter gewonnen haben, ohne je ein Wort zu sagen. Da ist die Gemeinschaft der Musik, aber auch die Individualität des sich nicht einpassen lassenden Einzelnen.

Der Abend feiert das menschliche Gesicht und den menschlichen Körper in seiner Einzigartigkeit wie als kollektive Kraft. Und er feiert ihn nicht zuletzt durch seine wiederholte Abwesenheit. Die uns zurücklässt. Mit unseren Gesichtern, unseren Körpern, unseren Stimmen. Es ist ein Abend, der in enervierend plakativer Eindeutigkeit daherkommt und so komplex, so ambivalent, so widersprüchlich und fluide ist, weil er diese Eindeutigkeit nie aufgibt. Er ist sein Gegenteil, weil er in erster Linie das ist, was er zu sein scheint. er erfüllt Erwartungen und untergräbt sie gleichzeitig. Er macht die Gesichter und Körper unergründlich und legt sie damit offen, macht das Publikum zum distanzierten Beobachter und zieht es genau dadurch, subtil und perfide, hinein. Am Ende, die Performer*innen sind gerade aufgestanden, verbeugen sie sich schon, mitten im Song. Die Show geht weiter. Und wer ist hier eigentlich der Performer? The show must go on ist ein Abend, der ratlos zurücklässt. Und glücklich macht. wenn man diesen Menschen bald wieder begegnet, im Abenddienst oder an der Kasse, wird der Blick ein anderer sein. Kunst vermag das.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/21/killing-us-softly/
Leserkritiken: Winterreise, Berlin
Kornél Mundruczó / Proton Theatre: Winterreise, Proton Theatre, Budapest / Hebbel am Ufer (HAU1), Berlin (Regie: Kornél Mundruczó)

Der ungarische Film- und Theatermacher Kornél Mundruczó, ein Seismograf und nicht gerade zimperlicher Analytiker gesellschaftlicher Brüche und Verwerfungen, (...) schließt Schuberts Zyklus mit der Flüchtlingsbewegung der vergangenen Jahre kurz, macht Schuberts an Liebenskummer und Weltschmerz Leidenden selbst zum Refugee.

Dessen Existenz eine temporäre, flüchtige ist. So wirkt auch die Bühne wie skizziert. Ein wie achtlos hingeworfener Kasten mit weißem Teppichboden, der eine Schneedecke andeutet, ein zerschlissenen Sofa, das allen Besitz des Flüchtenden enthält, eine Toiletteschüssel, der auch als Waschbecken dient, ein umgestoßener Einkaufswagen. Der Sänger János Szemenyei ist dieser Flüchtende, der inmitten dieser Nicht-welt, dieses Warteraums im Nichts die Schubert-Lieder interpretiert. Begleitet vom neuen konzertorchester berlin werden sie bei ihm zu rohen, schroffen, zuweilen fast aggressiven Brocken eines ungehörten Leidens. Das Orchester spielt rau, brüchig, kippt immer wieder ins Dissonante. Kein Frieden nirgends. Der Einsame bleibt allein, nur einmal hat er Gesellschaft – da wird er von einem Polizisten kontrolliert.

Aber natürlich hat er Leidensgenossen. Die erscheinen hinter ihm auf einer quadratischen Videowand. es sind echte Refugees, Gestrandete, Wartende, Ungewollte. Man sieht Bilder eines desolaten, trostlosen Flüchtlingsheims, beobachtet die dort Lebenden beim Alltag, hochformalisierte Szenenfragmente, die oft das, was der Darsteller auf der Bühne tut (Essen, Schlafen) spiegeln – oder umgekehrt. Zu sehen sind einzelne Gesichter, regungslos, sie schauen in die Kamera, bleiben mitten in der Bewegung stehen, senken den Kopf, schauen aus dem Rahmen hinaus auf die anderen, die da sein könnten, in Einzelbildern oder in multiplen Splitscreens, eine anonyme Masse das gleiche Nichtleben Führender. Das ist klug gedacht, technisch stark umgesetzt, visuell wie formell makellos. Aber es lässt auch ungemein kalt. Die formale Strenge dieser Anordnung prallt auf die gewollte Leidensdramatik der musikalischen Ebene und findet keinen Anschlusspunkt.

Alles bleibt Behauptung, die Menschen hinter den Gesichtern, die Mundruczó wie Masken einsetzt, werden nicht sichtbar, bleiben auf Distanz. Das ist offensichtlich Teil des Plans, hält aber das Publikum auf Abstand. Was Mundruczó wohl auch selbst spürt. Also schiebt er eine Sequenz nach, in der Flüchtlingskinder einer Katze hinterherjagen, um mit ihr zu spielen. Und weil das noch nicht reicht, gibt es noch echte Aufnahmen riesiger Refugee-Züge auf ungarischen Autobahnen. Doch auch diese dürfen nicht direkt wirken und werden gegengeschnitten mit Aufschriften auf Häusern und Straßen, zynischen, abweisenden, bitter ironischen. Der Wille zur Formalisierung, zur Abstraktion setzt sich durch, aber er findet keinen weg, zum Zuschauer zu sprechen, auch weil die Ebenen – das Bühnen-„Geschehen“ mit dem Vortrag der Winterreise und die pseudodokumentarischen (weil sorgfältig inszenierten und komponierten) Bilder im Hintergrund nicht zueinander finden. Die Abstraktion des Realen und die versuchte Authentifizierung des Künstlerischen treffen sich nicht, sondern schießen aneinander vorbei. Da bleibt eine Leerstelle, die jene, um die es eigentlich gehen soll, nicht sichtbar macht, sondern eher verdeckt. Da triumphiert das Handwerk über die Kunst.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/22/lost-in-abstraction/#more-7778
Leserkritik: "schlammland gewalt"/DT Berlin
"schlammland gewalt", Uraufführung von Ferdinand Schmalz in der Box des Deutschen Theaters Berlin

In der Reihe „Limited Edition“ präsentiert das Deutsche Theater Berlin in unregelmäßiger Folge ein paar kleine Fingerübungen in der Box. Unmittelbar vor den Weihnachts-Feiertagen kam dort „schlammland gewalt“ zur Uraufführung, der neue Text des österreichischen Bachmannpreisträgers, der sich hinter dem Pseudonym Ferdinand Schmalz verbirgt.

Er ist bekannt für seine grotesken Stoffe, die meist in kleinen Dörfern irgendwo in der Provinz angesiedelt sind, seine saftigen Sprachbilder und seine Kalauer. Dass er sein neues Stück zwischen „Bierzeltluft, Brathendl und Blasmusik“ ansiedelte, klang vielversprechend. Aus den dürren Ankündigungen war noch herauszulesen, dass eine „schlammige Masse“ das Dorffest unter sich begraben werde.

Statt der erwarteten funkensprühenden Apokalypse im österreichischen Bergdorf performten Thorsten Hierse, Caner Sunar und Olga Wäscher die Textfläche in verteilten Rollen zum Livemusik-Klangteppich von Sebastian Deufel sehr brav. Der kleine, nur eine Stunde kurze Abend von Josua Rösing in der Box löst die Handbremse nicht. Die Exzesse des Dorffestes und die drastische Sprache kommen in der recht statischen Inszenierung zu wenig zur Geltung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/22/schlammland-gewalt-urauffuehrung-von-ferdinand-schmalz-als-limited-edition-in-der-box-des-deutschen-theaters/
Leserkritiken: Kunst, Yasmina Reza, BE
Yasmina Reza: „Kunst“, Berliner Ensemble / Schauspiel Frankfurt (Regie: Oliver Reese)

Oliver Reese setzt in seiner Inszenierung auf Eindeutigkeit. Die drei Figuren werden glasklar verortet. im Bühnenbild: Serges Wohnung ist ein angedeutetes modernistisch kaltes Penthouse, Marcs verströmt altmodisch hölzerne Enge, Yvans ist ein unentschiedene geschmackfreien Sammelsurium mit Kitschgarantie. In der Kleidung: Marc trägt klassischen Dreiteiler samt Krawatte, Serge bekleidet sich edel leger mit Hemd und Westover, Yvan ist der Klischee-Loser mit Kurzarm-hemd, Schlabberhosen und geschmackloser Krawatte. Und schließlich im Spiel: Wolfgang Michels Marc ist ein Menschenfeind, der Tonfall gelangweilt spöttisch bis angewidert arrogant, die Mundwinkel immer schön nach unten gezogen, ein Welt- und Menschenverächter. Martin Rentzschs Serge ist jovial, achtet auf seine seriöse Fassade und doch fehlt ihm die Mitte. Er ist entweder bemüht enthusiastisch oder ein beleidigter mit eingefrorenen Zügen. Ein Fake-Intellektueller, wie er im Buche steht. Und Sascha Nathan schließlich gibt Yvan liebenswert schluffig, zieht den Mund wahlweise schief oder lässt ihn treudoof offenstehen, ein Mann ohne Eigenschaften.

So weit, so klar. Dass das Rollen sind, macht Reese auch deutlich. Die Monologe werden zu fahl ausgeleuchteten Gruppenbildern, klar formalisiert, dazu gedacht, den „Menschen“ hinter der Fassade zu zeigen, oder besser, anzudeuten, dass die Fassade eben nur solche ist. Zwischen den Szenen wird das Licht gedimmt, Musikuntermalung hält das Publikum bei der Stange, die Darsteller stellen sich zur nächsten Szene auf. Alles Theater, sagt uns das. Weil wir es ja noch nicht wussten. Geht das Licht wieder an, agieren die drei, die am Ende olivenessend auf einer Bank sitzen werden, mit plakativer Überdeutlichkeit und fischen nach Lachern. Natürlich bringt die Lächerlichkeit des weißen Bildes die meisten – Reza hatte, das verschweigt das eher kursorische Programmheft nicht – durchaus Probleme mit einem Teil der „Kunst“-Fans, einem eher kunstfeindlichen Teil, das tendenziell stärker auf Marcs Seite steht. Diese bedient auch Reeses Inszenierung zur Genüge. Um Lacher zu erzeugen, scheint ihm alles Recht.

Auch das ist natürlich eine Aussage, kleistert aber die durchaus scharfe wie unangenehme Analyse menschlicher Beziehungen in einer auf Äußerlichkeiten und Konsumierbarkeit gegründeten Welt, wo es primär ums eigene Ego-bezogene Image geht, zu. Mehr noch: Die Inszenierung fällt in ihre eigene Falle, biedert sich dem vermuteten Publikumsgeschmack so weit an – erfolgreich, wie der tosende Applaus bei der Berliner Silvesterpremiere zeigt – dass sie die Mechanismen, die Reza überaus klug dekonstruiert und entlarvt – „Kunst“ ist und bleibt wohl ihr bestes, weil kompromisslosestes Stück – reproduziert, statt sie bloßzustellen. Und so endet der Abend ist netter Harmonie, rückt man das schief hängende Bild zurecht, ohne Loriot auch nur im Auge zu haben, und verzerrt doch das, welches der Text malt. Das Ergebnis ist harmlose Unterhaltung, die nicht wehtut, weil sie es nicht will und bei der die reflektierende Metaebene, der eigentlich durchaus verstörende gedankliche Unterbau, wenig mehr sind als Häppchen, das eher wenig reflektierende Lachen, auf das der Abend eigentlich abzielt, zu legitimieren. Feigenblatt-Boulevard. Nicht mehr.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/01/das-bild-hangt-schief/
Leserkritiken: Kunst, Yasmina Reza, BE
Naja, aber der Text von Reza VERHINDERT eben auch nicht, dass "Feigenblatt-Boulevard" aus ihm gemacht werden kann - Ein Problem von zeitgenössischer Dramatik, das Adolf Dresen bereits Mitte der Neunziger Jahre am Beispiel u.a. ihres Stückes beschrieben hat... Die hohe Kunst am Boulevard scheint mir zu sein, mit ihm alles an Spiel zu erm ö g l i c h e n, außer ein Spielen, dass sich Flachheit gegenüber Figuren und Untergrund gestattet... DAS mit dem Text gleichzeitig zu verhindern ist das Schwerste; Komödie ist am schwersten zu machen- Tragödie ist Rausch, Komödie Steinbruch-
Leserkritik: Kirschgarten, Dortmund
So nah sind wir der Ranjewskaja und den ihren in der Tat noch nicht gekommen. Ist doch Tschechows Kirschgarten ein Stück fürs große Ensemble und die große Bühne. Das große und, so viel sei schon veraten, tolle Ensemble gibt es am Schauspiel Dortmund auch. Sascha Hawemann hat die Geschichte der gutsherrlichen Insolvenzverschleppung aber nun mit viel (russischer) Seele in die intime Studiobühne versetzt.

An drei Seiten drumherum ein schmaler Gang, dann in einer Reihe die Zuschauer, gerademal eine Armlänge von Spiel und Spielern entfernt. Handausstrecken möglich und Füsse einziehen manches Mal nötig. Dabei ist es beileibe kein Kirschgärtchen, das Hawemann hier anpflanzt. Die Gefühle sind so groß wie eh und die Verzweiflung tief. Das Grundgefühl der essentiellen Haltlosigkeit, das das Ensemble den Figuren mitgibt, die Schwierigkeit, lieb gewonnenes los- und alte Sicherheiten zu verlassen und alles noch und sich einmal ganz neu zu denken, das alles bringt die tschechowschen Gestalten nicht nur räumlich, sondern auch emotional ganz nah ans Heute.

Die komplette Kritik: http://reihesiebenmitte.de/ueberaus-bunt-und-unglaublich-nah-sascha-hawemanns-kirschgarten-in-dortmund/
Leserkritik: Kanal Banal, Rendsburg
Kanal Banal #3 (SH Landestheater Rendsburg)
Kanal Banal, das neue Format am Schleswig-Holsteinischen Landestheater präsentierte im „Roten Foyer“ in Rendsburg seine 3. Folge. Es gibt nicht das Erfolgsstück „Shakespeares sämtliche Stücke in 90 Minuten“ sondernd „Der Abend, der nicht genannt werden darf!“ eine Hommage an Harry Potter in 90 Minuten. Diesen Abend erleben 30 Zuschauer im plüschigen „Roten Foyer“ um mit den Schauspielern*innen Lisa Karlström, Neele Frederike Maak, Alexandra Pernkopf, Katrin Schlomm; Christian Simon und Nenad Subat in die Zauberwelt des Harry Potters einzutauchen. Wie immer ist dieser Abend als szenische Lesung mit vielen theatralischen Leckerbissen gespickt, die zu großer Heiterkeit bei Zuschauern und Akteuren führen. Liebevoll wird an Requisiten, Kostümen und Ausstattung gearbeitet, ohne den Charakter des Improvisierten zu verlassen. Den Akteuren merkt man ihre große Spielfreude an, die sich flugs auf das Publikum, durch deren unmittelbare Nähe zu den Akteuren, überträgt. Dieser Kanal Banal ist eine kleine Perle im Repertoire des Landestheaters und von der Empathie der Akteure jedes Mal befeuert. Chapeau vor diesem fantastischen Abend zu Harry Potter und dem Stein der Weisen.
Leserkritik: "Protagonist" am HAU Berlin
"Protagonist" (Jefta van Dinther/Cullbergbalettten, Stockholm zu Gast im HAU 1/Berlin)

Eine Stimme raunt leicht esoterisch-angehaucht auf Englisch vom Band. „Manchmal weißt du, dass sich was ändern muss. Und du spürst es. In der Luft. In deinem Bauch,“ ist auf dem Programmzettel nachzulesen.

Während der ersten halben Stunde der „Protagonist“-Choreographie versuchen die Tänzerinnen und Tänzer des schwedischen „Cullbergbaletten“, Halt zu finden. Sie verknäueln sich immer wieder zu kleinen Gruppen, die sofort auseinanderfallen. Die Individuen sind auf sich zurückgeworfen.

Wie schon bei früheren Arbeiten von Jefta van Dinther steuerte die finnische Lichtdesignerin Minna Tiikkainen eindrucksvolle Lichteffekte bei. Im Lauf des Abends drängen die Popsongs des Schweden Elias ins Zentrum. Die Zuckungen und Verzweiflungsgesten des Ensembles erleben ihren Höhepunkt, als er „We are falling“ singt und zu „Let´s make a revolution!“ aufruft. Die Tänzer erstarren wie zu Salzsäulen, die Bühne versinkt kurz im Schwarz, bevor der zweite Teil des Abends beginnt.

In einer Rückabwicklung der Evolution streifen die Tänzer ihre Kleider ab, imitieren Steinzeit-Menschen und Menschenaffen und verschwinden auf den Klettergerüsten im Hintergrund.

Das Problem dieser Choreographie, die 2016 in Amsterdam Premiere hatte und an diesem Wochenende am HAU in Berlin gastierte, ist, dass sie zu stark in zwei kaum verbundende Teile zerfällt. „Protagonist“ bietet einige starke Eindrücke, hat sich aber in einen sehr rätselhaften Kokon eingesponnen. Im Programmheft wird manches angedeutet (autobiographische Motive, eine Auseinandersetzung mit der Berliner Club-Szene), von dem an diesem eine Stunde kurzen Abend wenig zu entschlüsseln und zu spüren ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/14/protagonist-jefta-van-dinther-und-cullbergbaletten-am-hau/
Leserkritik: Kabale und Liebe, Berlin
Nach Friedrich Schiller: Kabale und Liebe, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Christian Weise)

(...)

Jens Dohle kümmert sich um den Soundtrack, spielt Fahrstuhlmusik auf der Orgel oder wird auch schon mal dramatischer, stets im Stummfilmmodus verbleibend. Butch Warns streut Sounds ein, ein brutales Stakkato für Walter und seine Bande, Unterwassergeräusche für die lebende Tote Milford. Wenn der Präsident spricht, tut er das im Schreibmaschinenduktus, ein Bürokrat der Macht. Ein schöner Effekt im Gespräch mit Luise: Auf seine mechanischen Klänge antwortet sie in Klaviernoten. Wie überhaupt der Abend vor hübschen und durchaus sinnigen Einfällen nur so strotzt. So verfällt Ferdinand später, da ist er schon betrogen, in den Duktus des Vaters. Der Herkunft kann halt keiner entkommen. Das weiß auch der Mops. Nur braucht es ihn nicht, denn es ist alles schon im Stummfilm vorhanden. Den Weise immer wieder bricht. Tritt Ferdinand (Noah Saavedra) herunter vom Bühnenpodium, steigt er heraus aus der Stummfilmwelt, gewinnt seine Stimme wieder (eine allerdings auch etwas künstliche sehr hohe) und wird zum eigenen Beobachter. Er liest halb verständnislos die per Übertitel eingeblendeten Textzeilen oder deklamiert einen Monolog, als habe er keine Ahnung, wovon er da spricht. Er blickt mit fremdelndem Blick auf das seltsame Geschehen, kann das im Gegensatz zur einzigen stets stumm bleibenden, Noelle Haeseling als Luise. Das Patriarchat, das die Frau ihrer Stimme beraubt, es ist alles andere als überwunden.

Wie gesagt: Das ist alles durchaus sinnig. Die Fremdheit der Geschichte treibt Weise ins extreme. er scheut keine Albernheit und keinen Slapstick, überzeichnet, wo er kann, borgt bei Herbert Fritsch (die Ästhetik) und Vegard Vinge oder Ersan Mondtag (Klangwelten und Tempo), bleibt aber narrativ im Gegensatz zu Genannten weitgehend linear. Die irren Kostüme (Wellmann) und weißgeschminkten Gesichter bauen maximale Distanz auf und reinterpretieren das Geschehen als Farce. Doch kommt der Blick von außen hinzu: der fragende Blick des aus der Zeit fallenden Ferdinand, die stumme Frau, die klanglichen und ästhetischen Verschiebungen, die etwa Ferdinand zunehmend in der sphäre der macht verorten (er neigt etwa zunehmend zu Wutausbrüchen) deuten an, subtil und zugegeben durchaus übersehbar, dass das, was wir zu sehen bekommen vielleicht nicht ganz so lächerlich, nicht ganz so fremd, nicht ganz so gestrig ist, wie wir es uns gern einreden. Nur misstraut Christian weise – nicht ganz zu unrecht – der Kraft seiner ästhetischen Setzung, diese Botschaft mitzuvermitteln. Also wird er gegen Ende didaktisch – mit Aus-der-Rolle-Treten und mit Mops. Da plumpst dann leider das schöne erzählerische Konstrukt zusammen, wirkt die nachgeschobene Schlussszene – nach der Geschichtenstrecke und vor dem Mops – seltsam angepappt und plötzlich wahnsinnig schal. Auch dieser Abend scheut letztlich das Risiko: nämlich nicht oder nur teilweise verstanden zu werden. Also wird er überdeutlich und entsorgt sich damit am Ende selbst. Schade.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/15/am-ende-war-der-mops/
Leserkritik: Fontane, Berlin
Rainald Grebe: fontane.200: Einblicke in die Vorbereitungen des Jubiläums des zweihundertsten Geburtstags Theodor Fontanes, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Rainald Grebe)

Immer wieder fährt die Kamera durch, natürlich leere und waldige, Landschaften, man wechselt zwischen Klamauk und ernst, Jubiläumssatire, Fontane und Brandenburg-Bashing, streut Musiknummern ein – auch schön abwechselnd zwischen Ernst (Fontane) und Ironie (das Beste von gestern, heute und vorgestern) – wie überhaupt der Abend streng darauf achtet, dass auf jeden ernsthafteren Ton ein klamaukiger folgt, der die Wirkung des vorangegangenen relativiert und allzu oft auch aufhebt. Da kann Tilla Kratochwil noch so anschaulich aufzeigen, dass Fontanes Romanen den Bechdel-Test, der untersucht, wie ernst ein Auto seine Frauenfiguren nimmt, nicht besteht, das ist in der nächsten Szene schon vergessen. Wo Gegenwartsbezug oder gar politische Analyse aufscheinen, wo man an der Oberfläche kratzt, wird es sofort wieder weggespült. Der Ethnozentrismus der Jubiläumsindustrie? Das hinterfragbare Image Fontanes als Erschaffer großer Frauenfiguren? Sein Status als Vorgänger heutiger „Groschenroman“-Autor*innen? Alles kurze Streiflichter, die nicht weiter interessieren. Rainald Grebe kann und will sich nicht entscheiden, was er mit dem Abend anfangen will, also macht er das, was er am besten kann: unterhalten. Gern albern, manchmal leicht anarchisch, stets sprachgewandt. Und ach, wie beliebig!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/16/der-rote-hahn-kraht-nicht/#more-7870
Leserkritik: Tigermilch, Berlin
Junges DT – Nach dem Roman von Stefanie de Velasco: Tigermilch, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Wojtek Klemm)

Es ist ein Balanceakt, dieses Erwachsenwerden. So wie sie da am Bühnenrand stehen und versuchen, das Gleichgewicht zu halten, die acht Spieler*innen zwischen 15 und 21 Jahren, so soll es sich angefühlt haben, damals, auf der Schwelle zwischen Kindein und Erwachsenenleben, was auch immer das bedeuten mag. Tidermilch heißt der 2013 erschienene Debütroman von Stefanie de Velasco, benannt nach dem Gebräu als Milch, Maracujasaft und Mariacron, mit dem sich die beiden 14-jährigen Protagonistinnen bevorzugt die Kante geben. Um zwei Mädchen geht es, Nini und Jameelah, und um einen Sommer, der mit der Mission Entjungferung beginnt und mit einem Mord noch lange nicht endet. Es geht um mehr oder minder zerrüttete Familienverhältnisse, das Leben als Außenseiter in irgendeiner Betonburg am Stadtrand, umgewollte Schwangerschaften, Abschiebungen, einen Ehrenmord, Prostitution, das volle Programm. Erwachsenwerden im Crashkurs.

Bei Regisseur Wojtek Klemm und dem Ensemble des Jungen DT werden aus knapp 300 Buchseiten 100 atemlose Minuten. Erwachsenwerden als dauernder Ausnahmezustand, als Balanceakt am Rande des Abgrunds, wie ihn die rast- und ratlosen Acht zu Beginn und am Ende erproben. (...)

Und so wechselt der Abend ständig den Tonfall: In einem Moment spielerisches Abenteuer, bricht im nächsten tödlicher Ernst herein, nur um fast noch kindlichem Ausprobierensdrang zu weichen. (...)

Das Wechselspiel findet sich auch in der Erzählweise des Abends wieder. Szenenandeutungen stehen neben Erzählpassagen, die Spieler*innen treten immer wieder aus sich hinaus, reflektieren sich, als seien sie externe Beobachter. Dann wieder sprechen Körper, einzeln, gemeinsam, mit- oder gegeneinander, Choreografien der Vitalität, des Spiels, des Verliebtseins, aber auch der Gewalt, des Streits, des auseinanderdriftens. Stets bleiben Spieler*innen und Figuren auf Distanz gegenüber einander, aber auch sich selbst. Der erste Sex ist eine Umarmung, Nacktheit eine bemalte übergestülpte Folie, der Mord ein Aneinanderklammern, Gewalt ein wilder Tanz. Nichts ist real und alles viel stärkler als die Wirklichkeit. Was wichtig ist, verschwimmt, der große Krach zwischen Nini und Jameelah bleibt ebenso Fußnote wie der Sex mit einem Freier oder die Schocknachricht von Anna-Lenas Schwangerschaft. Episoden, schnell verdrängt von der nächsten. Momente des Innehaltens sind selten, zerbrechlich und kostbar, Erkenntnis geht dem nächsten Fehler voraus. Erwachsewerden ist an diesem Abend erschöpfender Hochleistungssport und kompromisslose Verausgabung.

(...) Gemeinsam, als universell Pubertierende, Wartende auf das, was da noch kommen soll, taumeln sie am Abgrund entlang und doch jede(r) für sich, Individuen und Symbole zugleich, stehen sie am Ende da, sich kaum aufrecht haltend, geschlagen, ihrer Illusionen beraubt, aber nicht ihrer letzten Hoffnung und vor allem nicht ihrer selbst. Noch nicht erwachsen. Und das ist die beste Botschaft dieses anstrengenden, mitreißenden, berührenden, albernen Abends.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/18/im-ausnahmezustand/
Leserkritiken: Anfrage
"Erkenntnis geht dem nächsten Fehler voraus." - Sascha Krieger sollte sich diesen Satzteil patentieren lassen. Wenn er das nicht will oder kann (weil er eigentlich ein Zitat ist z.B:) bitte ich ihn darum, ihn in einem literarischen Text verwenden zu dürfen. Ich werde ihn dann als Quelle in den Anmerkungen benennen. Ginge das? Ob er einverstanden wäre damit? Wären Sie einverstanden, Herr Krieger?
Leserkritiken: "Requiem pour L."/Berliner Festspiele
Fabrizio Cassol nach Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem pour L., Berliner Festspiele / les ballets C de la B (Regie: Alain Platel)

Mozartsche Strenge trifft auf afrikanische Rhythmik, erstarrte Kontemplation und stille Reflexion auf lebendigen Bewegungsimpuls und aktive Auseinandersetzung mit dem Nichts. Zunächst wechseln sie sich ab: Mozartpassagen, reduziert auf drei Stimmen, individualisiert auch, herausgehoben, aus der anonymen Masse des Chores, und Afro-Pop-Rhythmen, pulsierend, mitreißen, aber mit nicht minder Ernsthaftigkeit vorgetragen. Mit zunehmender Dauer wird das Verhältnis der beiden Pole dialogischer, stimmen auch die afrikanischen Sänger ein in den Mozart – und die klassischen Stimmen in die afrikanische Musik – wird das Latein in kongolesische Sprachen übersetzt, fließen Mozart und „Afro-pop“ rhythmisch zusammen. Am eindrucksvollsten gelingt das in den Schreckensmotiven des „Dies irae“. Diese brechen ein inmitten eines Pop-Songs, reiben sich an ihm und bilden eine beide Elemente nicht negierende, sondern umso stärker hervortreten lassende Symbiose. Die den Tod akzeptierende Lebensfeier und die in Musik gegossene Angst vor dem Sterben gehören zusammen, sind zwei Perspektiven auf das Gleiche, unterschiedliche Blickwinken, von denen nicht einer den anderen entwertet, Verbündete im gleichen Kampf: der Auseinandersetzung mit dem nicht fassbaren.

Dies gilt auch für die körperliche Ebene: Erstarrung steht neben Bewegung, sie entstehen auseinander, reiben sich, sind beides Versuche, eine Sprache des Körpers zu finden, sich der eigenen Auslöschung zu stellen. Körper sitzen, tanzen, zucken, gemeinsam oder allein. Es bilden sich Gruppen und Körper stehen isoliert im Scheinwerferlicht. Verständigungen sind fragil. Einmal etwa fällt das Akkordeon dem rhythmischen Überschwang ins Wort, behauptet sich widerständig, droht den musikalischen Zusammenhang zu zerreißen. Ein Stachel im Fleisch, der bleibt. Denn die Frage, wie mit der realität, die auf der Leinwand zu sehen ist, umzugehen ist, bleibt ungelöst. Als der Tod naht, wird das Geschehen zunehmend fragmentarisch. Immer wieder setzen die Sänger*innen an zum „Miserere nobis“, immer wieder bricht die Stille ein. Innehalten oder Bewegung?

Die Antwort bleibt aus. Einsame A-Capella-Stimmen stehen verloren im Raum, die Tuba versucht den Dialog, man findet zueinander und entfernt sich wieder. Dann Stille. Und als alles auf die Dunkelheit, das Ende wartet, setzt es noch einmal an. Die Band spielt, das Ensemble tanzt. Doch es ist kein Triumph der Lebensfreude, wie es das Klischee erwarten ließe. Ein kriegerischer, aggressiver, ritualhafter Rhythmus bewegt die Körper, eine wütend-trotzige Herausforderung, die an Kriegstänze erinnert. Leben als Trotzdem. Die Realität ist nicht zu übersehen, sie steht stumm und still und riesenhaft hinter dem Ensemble. Das sie nicht negiert und sich doch wehrt. Das Leben ist doch eine seltsame Sache. Und an diesem Abend ein ambivalentes, ratloses, mitunter ein wenig dahinplätscherndes und zugleich ungeheuer eindrückliches Fragezeichen. Verloren sitzen wir, verloren tanzen sie. Ratlos, rastlos, verständnislos. Ohne Antwort. Aber mit Musik.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/19/der-tod-so-nah-so-fern-so-unverstandlich/
Leserkritiken: Rosa von Praunheim, DT Berlin
Rosa von Praunheim: Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Rosa von Praunheim)

Sie heißen „Analverkehr“, „Kleiner Penis“, „Sex after Death“ oder Täschchen von Gucci“: Anlässlich seines 75. Geburtstages darf sich Rosa von Praunheim, Ikone der Schwulenbewegung und, ob einem das gefällt oder nicht, einer der wichtigsten deutschen Filmemacher der letzten Jahrzehnte am Deutschen Theater selbst feiern. Einen eigenen Theaterabend bekommt er, gut zwei Stunden für 75 Jahre Leben, die er als Liederabend für zwei gestaltet hat. Song-Titel? Siehe oben. Das Duo, dem er sein Leben anvertraut, besteht aus DT-Ensemblemitglied Božidar Kocevski und dem Musiker und Schauspieler Heiner Bomhard. Es geht um Kindheit und Jugend, erste Lieben, das Schwulsein zwischen Privatheit und Politikum, die Kunst und den Aktivismus, Beziehungen und Sex und – natürlich – den Tod. Beim Hereinkommen wirken Film- und Fernsehausschnitte als Apettitanreger. Da gibt es Ausschnitte aus von Praunheims Dokumentarfilmen aber auch Schnipsel zu seinem größten „Skandal“: dem Zwangsouting Prominenter im Jahr 1991, ein ziemlich verzweifelter Versuch, Aufmerksamkeit für die aus dem Köpfen der Jungen zunehmend verschwindende AIDS-Problematik zu erzeugen. Allein Inge Meisel noch einmal zu sehen, wie sie von Praunheim in einer Talkshow vehement verteidigt, ist den Eintritt wert.

(...)

Episodenhaft rauscht der Abend durch von Praunheims komplexe Familiengeschichte (er erfuhr erst im Jahr 2000, dass er adoptiert war), seine Sex- und Beziehungs-„Karriere“, wir treffen wichtige Figuren seines Lebens, darunter Tante Luzi, Lotti Huber oder Mario, mit dem er wenige tage vor dessen AIDS-Tod ein Geduicht schrieb (das Video flimmert auch über die Leinwand). Dabei ist der Tod allgegenwärtig, ob als „Kollateralschaden“ im Krieg, als Folge der AIDS-Epidemie oder als Ventil für die Jammerorgien eines alten Mannes. Wie alles andere ist auch er todernst und unendlich lächerlich zugleich. Was ihn nicht entwertet: Seine Präsenz als Endpunkt alles Seins und Schaffens, des sinnhaften wie des zweckfreien, bleibt unbehelligt. Von ihm auch denkt sich der Abends zurück in und durch ein Leben, das sich stets inszenierte und daher auf die Bühne gehört – auf eine revuebühne, versteht sich, mit viel Glamour, Gelächter und Musik.

(...)

An Anzüglichkeiten, an sexuell Eindeutigem geizt der Abend daher nicht. Stets mit einem Augenzwinkern serviert, aber gleichzeitig auch bitterernst. Einer, der mit seiner öffentlichen Person spielt, aber der ein Ziel verfolgt, der sich ins Lächerliche zieht, um ernst genommen zu werden. Für alle, die Rosa von Praunheim nicht kennen, ist der Abend eine Einführung in ein Gesamtkunstwerk, das auch eine lebenslange politische Kampagne war und ist, die Provokation wie Lächerlichkeit zur Kunstform erhob und zur argumentativen Waffe. Hier, auf der Bühne, dargestellt von zwei wunderbaren und zugegeben heterosexuellen Spielern – die auch die eigene Rolle immer wieder selbstironisch brechen dürfen – wirken die Provokationen, die Tabübrüche, harmlos, amüsant, unterhaltsam. Womit der Abend bei seinem Kern angekommen ist: dem Spiel. Rosa von Praunheim ist und war ein Spielender, einer, der mit sich und der Gesellschaft, ihren Vorurteilen und Tabus spielte, um zu zeigen: Aus Spiel kann nicht nur Ernst werden, es kann ihn auch besiegen. In diesem Sinne ist Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht ein Triumph. An dessen Ende sich von Praunheim für den Premierenapplaus noch einmal umzieht. Das Spiel endet nie.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/22/spiel-des-lebens/
Leserkritik: Bosch on stage, Wien
Bosch on stage. Autor und Regie: Jérôme Junod, mit: Jeanne-Marie Bertram, Roman Blumenschein, Horst Schily, Jens Ole Schmieder, Kirstin Schwab, Martin Schwanda, Petra Staduan, Doina Weber
Produzenten: Anna Maria Krassnigg und Christian Mair, Salon5 bzw. Thalhof Wortwiege, gemeinsam mit Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien und dem Theatermuseum. Wien, Theatermuseum,
Um dem Rätsel Hieronymus Bosch näher zu kommen, genügen offenbar nicht mehr die die üblichen (human-)wissenschaftlichen Kategorien. Ich kenne den Bosch als Kunsthistoriker. Dieses Stück und seine Inszenierung kommt dem Bosch vielleicht viel näher als viele wissenschaftlichen Studien. Ein exzellentes Beispiel für das, was man artistic research nennt. Besonders beeindruckt hat mich die Szene mit der 'Kunsthistorikerin' Caroline und ihrer Bühnenbegegnung mit Bosch. Was vielleicht ohne den Kunstgriff der auf der Bühne schwebenden Verknüpfung der Jahrhunderte einfaches reenactment wäre, vielleicht sogar kitschig, wird so zu einer beeindruckenden Verdichtung. Und der Schauspieler spielte das so überzeugend, dass es schon geradezu Verführung war: So ähnlich könnte es gewesen sein, so könnte man Bosch verstehen: als tief blickender und zu gleich verunsicherter Mensch an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, der angesichts der Welt, wie sie ist, den Gott und seinen Plan nicht mehr sehen kann.
Leserkritik: Colonia Digital, Berlin
andcompany&Co.: COLONIA DIGITAL: The Empire Feeds Back, Hebbel am Ufer (HAU1), Berlin

(...) Für andcompany&Co. stellt Cybersyn so etwas wie ein Gegeninternet dar, eine sozialistische, am Gemeinwohl ausgerichtete Alternative zum Internet der Konzerne, zum Netz der Datensammler. Das ist natürlich zu plump, um es so deutlich auszusprechen. Also redet man knapp anderthalb Stunden fast ununterbrochen um den lauwarmen Brei herum. Assoziativ und wortspielerisch, wie man es von der Gruppe kennt, geht es um Kontrolle und Beherrschung – und den Unterschied beider – um Kommunikation, um das Wesen von Systemen. „Der Zweck eines Systems, ist, was es tut“, erklärt Karschnia anhand eines verwirrenden Diagramms. Oder kurz: „ZESIWET“. Die Lust der Internet-Industrie an Akronymen aufs Korn nehmen? Check. Überhaupt hat man Spaß an leicht zu versenkenden Gags. Hier ein paar Trump-Anspielungen, die gehen schließlich immer, dort eine Nachstellung der berühmten Computer-Abschaltszene aus 2001. Es sind nicht die schlechtesten Momente des Abends, der ansonsten mit seiner Überforderungslogik kokettiert.

Unablässig ergehen sich die drei in Streitgesprächen. Wer auf welcher Seite steht, worum es überhaupt geht, welche Positionen sich gegenüberstehen, verfliegt schnell in einer Wortflut, die jene der Daten für den leidenden Zuschauer ein wenig nachvollziehbarer macht. Auch die Bühne ist überladen. Verpixelte schwarz-weiße Bildfragmente sind zu einer Papplandschaft zusammengestellt, die sich als labyrinthisches Tunnelsystem durchkriechen lässt, was die drei denn auch ausgiebig tun. Ob man drin ist oder draußen, ist entscheidend, aber nie so richtig zu bestimmen, weil keiner mehr weiß, was das eigentlich sein soll. Drei Kontrollsessel stehen im Raum, die aussehen wie aus einer No-Budget-Scifi-Serie der Sechzigerjahre. Satellitenbilder flimmern über die Bildschirme, Bildfluten oder auch Dokumentarisches wie Bilder von der Beerdigung des chilenischen Nationaldichters Pablo Neruda. Allende erscheint als Roboter-Bild und erzählt etwas vom neuen Menschen.

Der Abend ist ein wildes Potpourri aus Internetskepsis, Utopie-Nostalgie und der Lust an der Unberechenbarkeit der Sprache. Doch ist das gedankliche Konzept zu eng, um die vielen losen gedanklichen Enden ihren Weg suchen, die Assoziationsketten und -türme frei mäandern zu lassen. „Ich lenke, also bin ich“, heißt es einmal. Die Kontrolle, die angeblich verloren sei, halten die drei in ihren roten Ganzkörper-Anoraks, Verzeihung, Schutzanzügen, und den Achtzigerjahre-Headsets, fest in der Hand. Hier die böse neue Welt der Datenflut, dort die gute Utopie. Da kann man noch so lustvoll vom Hundertsten ins Millionste kommen und durch Kontrollebenen hetzen, an der spitze steht doch nicht, wie von Allende erhofft, das Volk, sondern andcompany&Co. Und die Kleider, die ihr Diskursfeuerwerk trägt, scheinen von Hans Christian Andersens Kaiser geborgt. Bald stellt sich der Verdacht ein, dass all das aufgefahrene Material, die Sprachgewalt, die Überforderungsmaschine nur davon ablenken soll, dass der Abend darunter nackt ist, dass seine Substanz nur leere Behauptung ist, ein vages, Gut-Böse-Schema, dem argumentative Kraft zu verleihen bei allem Aufwand nicht recht gelingen will. Oder um im Duktus zu bleiben: COLONIA DIGITAL ist eine einzige Feedback-Schleife, die sich nur selbst füttert.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/23/ich-lenke-also-bin-ich/
Colonia Digital, Berlin: Link-Hinweis
https://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/-spy-on-me--festival--kluge-perfomances-zu-chancen-und-risiken-der-digitalitaet--29542204
Leserkritik: Nijinski von Marco Goecke
"Nijinski" (Marco Goecke, Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart) im Haus der Berliner Festspiele

Marco Goecke, der weltweit gefragte Hauschoreograph des Nederlands Dans Theaters und – zumindest noch bis 2018 – des Stuttgarter Balletts, nähert sich in einer Hommage an Vaslav Nijinsky, einen der ersten Superstars des modernen Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an.

Diese Arbeit ist nicht am Staatsschauspiel der schwäbischen Hauptstadt entstanden, sondern wurde am Theaterhaus Stuttgart von der vor 11 Jahren gegründeten, seitdem sehr umtriebigen Gauthier Dance Company entwickelt und nun ins an drei Abenden ausverkaufte Haus der Berliner Festspiele eingeladen.

Zum Glück gibt es im sehr ausführlichen Programmheft einen kurzen Abriss der Szenen: Goeckes Hommage an Nijinski ist hochgradig assoziativ. Im Zentrum des knapp 90minütigen Abends steht weniger die Biographie des Protagonisten als das Spiel mit Licht, Schatten, Stimmungen und Andeutungen.

In der Hauptrolle glänzt Rosario Guerra. Die Liebesszenen meistert er ebenso souverän wie kurze Versionen von Nijinskis Paraderollen und das finale Abgleiten in den Wahnsinn.

Der Abend ist ästhetisch beeindruckend, macht es seinem Publikum wegen seiner collagenhaften Assoziationstechnik aber auch recht schwer, sich in den Andeutungen zurechtzufinden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/26/nijinski-assoziative-hommage-von-marco-goecke-zu-gast-im-haus-der-berliner-festspiele/
Leserkritik: Jeder Idiot hat eine Oma... von Rosa von Praunheim
"Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht", Rosa von Praunheim, Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele

Zu seinem 75. Geburtstag machte das Deutsche Theater Berlin dem Regisseur und Aktivisten Rosa von Praunheim ein besonderes Geschenk: Intendant Ulrich Khuon überließ ihm die Kammerspiele, um sich dort auszutoben, und gab ihm neben dem Gast-Musiker Heiner Bomhard den talentierten Božidar Kocevski an die Hand, der in mehreren Inszenierungen wie „König Ubu“, „Lesbos – Black Box Europa“ und „Hauptmann von Köpenick“ auf sich aufmerksam machte.

Das Ergebnis mit dem kauzigen Titel „Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht“ kann man am ehesten als bunte Revue durch Rosa von Praunheims Leben und eine Zeitreise durch die vergangenen Jahrzehnte der Schwulenbewegung beschreiben. Beides ist natürlich untrennbar verbunden.

Während das Publikum langsam nach den Plätzen sucht, flimmern vorne zur Einstimmung schon Archivaufnahmen: sein Outing von Hape Kerkeling und Alfred Biolek, das 1991 so hohe Wellen schlug, frühe Praunheim-Filme, die lustvoll zwischen Camp und Trash neue Spielräume ausloten und immer wieder Bilder von Lotti Huber, mit der er fünf Filme drehte.

Der restliche Abend verläuft so, wie wir es von Rosa von Praunheim gewohnt sind: im einen Moment (tod)ernst an die vielen Opfer der AIDS-Krise der 80er und frühen 90er erinnernd, im nächsten Moment schlüpfrig, wenn Kocevski mit Vibratoren und Dildos experimentiert. Mal parodistisch (Bomhard als Thomas Gottschalk und homophober Bavaria-Redakteur, Kocevski als Kinski-Verschnitt), mal einfach nur albern.

Der Abend ist sicher kein Meilenstein der Theatergeschichte, aber Geburtstagskind von Praunheim hatte sichtlich Spaß, als er die große Treppe herabstieg und sich gemeinsam mit seinen beiden Spielern den wohlwollenden Applaus des recht gut unterhaltenen Publikums abholte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/26/jeder-idiot-hat-eine-oma-nur-ich-nicht-revue-zu-rosa-von-praunheims-geburtstag-am-deutschen-theater-berlin/
Leserkritik "Meister und Margarita", Zürich
Warum finde ich hier keine Kritiken zu der tierisch guten Inszenierung von Peter Kastenmüllers Meister und Margarita? Voland und der Kater
Behemoth waren traumhaft.

http://www.theaterneumarkt.ch/plattform-13/veranstaltungen/meister-und-margarita.html


(Liebe Freia,
wir besprechen monatlich rund 50 Premieren. Dabei wählen wir von manchmal über 300 Premieren im gesamten deutschsprachigen Raum aus. Sie sind aber herzlich eingeladen, an dieser Stelle eine Leserkritik zu schreiben.
Mit besten Grüßen, Anne Peter / Redaktion)
Leserkritiken: WOLKEN.HEIM, Berlin
Elfriede Jelinek: WOLKEN.HEIM. Und dann nach Hause, bat-Studiotheater, Berlin (Regie: Branko Janack)

So lange der Abend in Jelineks Ursprungstext verharrt, ist die Betriebstemperatur eine eher moderate. Die vier Spieler*innen (Sarah Hostettler, Xenia Noetzelmann, Gustav Schmidt und Laina Schwarz) tun ihr bestes und dürfen doch meist nur den Text aufsagen. Wenn sie Vogelmasken aufsetzen und mit verzerrt dumpfer Stimme sprechen, werden die positiven „Wir“-Definitionen zu Ressentiments und Drohungen, dunkles Kellergewölbe der „deutschen Seele“. Zwischendurch wird geraucht oder Federball gespielt, Akte der Selbstgenügsamkeit, des Sich Einmauerns im Blick stets nur auf sich selbst. Ansonsten köchelt das ganze auf Sparflamme, bleiben Jelineks Assoziationsflüge am Boden, trockene Sprachübungen einer Gesellschaft im Ab- und Ausgrenzungsmodus.

Womit wir beim spannendsten narrativen Instrument zumindest dieses ersten Teils wären: Moïra Gilliéron und Cleo Niemeyers Bühne. Sie besteht nur aus einem Element: einem schwarzen Kubus aus verspiegelten Wänden in der Bühnenmitte. Hier reflektiert sich die Wir-Gesellschaft, baut Scheingemeinschaften – die Spieler*innen bleiben stets auf Distanz zueinander, die sich im Lauf des Abends eher noch vergrößert. Das „Wir“ als Konstrukt, um das Vielfältige nicht wahrnehmen, sich mit ihm nicht auseinandersetzen zu müssen. Später schieben sie die Wände auseinander. Zunächst zu einer Mauer, in der sich das zugehörige Publikums-Wir spiegelt, später vereinzelt im Raum. Am Ende schieben sie sie wieder zusammen, diesmal mit den Spiegelflächen nach innen. Nun werden die vier endlich Gemeinsacht, eine, die sich einigelt, einsperrt, vor der Außenwelt verschließt, vereint nur im Ausschluss des Außen.

Doch das funktioniert natürlich nicht, die Welt ist Draußen wie Drinnen. Davon spricht Und dann nach Hause, eine Art Epilog, den Jelinek 16 Jahre später für eine Peymann-Inszenierung des Stücks nachschob. Und hier beginnt der Abend zu leuchten. Denn gesprochen, nein, gelebt, errungen und errannt, erschwitzt, erkämpft, erstritten, erschrien, erdiskutiert, wird er von der Ausnahmeschauspielerin Stefanie Reinsperger. Mit Wiener Akzent wuchtet sie den Text als Suchbewegung auf die Bretter, als Frage- und Antwortspiel eines Ichs, das sein Wir verloren hat und doch immer weiter behauptet. Wo sind wir gelandet, wo und was ist dieses Zuhause, das wir uns einklagen, wo steht „unsere“ Jugend, wo findet sie ihren Platz inmitten all der Identitätsdefinitionen, die ihre Vorgänger wie Pflöcke in den „deutschen Boden“ gerammt haben. Sie zetert und wütet, streitet mit sich selbst, hinterfragt sich gibt jeder gedanklichen Wendung Ausdruck, Gefühl, Körper, zerlegt den Text, indem sie ihn aufnimmt, dekonstruiert ihn nicht, sondern legt die in ihm enthaltene Fragmentierung seines Diskurses frei.

Sie führt den Kampf um die Möglichkeit einer Identität mit jeder Körperfaser, trotzig, in Rage, die ultimative Wutbürgerin. Sie greift nach den Händen von Zuschauer*innen und betet ihnen vor: „Es ist ganz wichtig, an sich selbst zu glauben und sich selbst treu zu bleiben.“ Phrasen als Rückzugsort und Mantra, das das Getöse der nagenden Fragen ruhigstellen soll. Denn die Tradition, auf die sich das „Wir“ so gern beruft, ist eine Konstruktion, eine Erkenntnis, die in den erschrocken geweiteten Augen Reinspergers aufscheint. Und die sie mit aller Sprachwucht niederringt. Am Ende ist auch sie bereit, in den Kubus zu gehen. Das „Wir“ ist gerettet, die „Leitkultur“ in Takt. Zumindest auf diesen vier Quadratmetern.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/28/das-errungene-wir/
Leserkritik - Franziska, Frank Wedekind, P14 Jugendtheater Volksbühne
Nach „Franziska“ von Frank Wedekind: Betrunken am Highway, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Charlotte Brandhorst)

(...)Frank Wedekinds selten gespieltes Stück Franziska haben sie sich als Vorlage herausgesucht. Oder besser – wir sind hier schließlich noch in dert Castorfschen Zeitschleife: als Steinbruch. Die Geschichte der jungen Frau, die einen Pakt mit einer Mefisto-Figur namens Veit Kunz eingeht, demzufolge sie zwei Jahre lang als Mann leben darf, um ihm anschließend lebenslang zu dienen, ist eine Faust-Parodie, ein Weiterspinnen in eine Zeit, in der der Teufelspakt eher lächerlicher Theaterdonner ist, das Bedürfnis, jemand anderes zu sein, jedoch eher zugenommen hat. Das ist bis heute nicht besser geworden. Die jungen Spieler*innen interessiert denn auch die Geschichte selbst weniger. Spannender ist die Sehnsucht danach, ein Anderer oder wichtiger noch eine Andere zu sein. also transponieren sie die Story erst einmal in den Wilden Westen oder besser seine filmische Vision, René Pollesch lässt grüßen, auch ein Ort, an dem alte Identitäten abgestreift, neue nach Belieben angenommen werden konnten. Die Ich-Wandlerin Franziska passt da perfekt hinein.

Also wird gewechselt, was das Zeug hält. Szenisches und Erzählerisches verzahnt sich, Spieler*innen wechseln mitten im Satz die Identität, Szenen werden abgebrochen oder wiederholt. Man agiert deklamatorisch an der Rampe oder intim vor der Live-Kamera (die – Castorf wäre stolz – bei P14 selten fehlt), spielt, monologisiert, versucht sich im Diskurs. Man spielt seine Rolle und spielt, wie man sie spielt, zuweilen auch, wie man sie spielen würde, wenn man sie denn spielte. Alles ist Meta und alles ist Theater. Denn dass auch Franziska irgendwann im Theatermilieu landet und so gar zwei Stück-im-Stück-Passagen beinhaltet, ist natürlich auch kein Zufall, schließlich ist die Bühne der klassische Ort der Ich-Verwandlung des Identitätstauschs. Da stülpen sich die Jungen Kleider über oder behauptet Franziska ihr Mannsein ganz entgegen dem offensichlichen Schein. Illusionsparodie und -verweigerung, Überdeutlichkeit und visuell-textliche Diskrepanz stehen nebeneinander.

Wie überhaupt das Nebeneinander des Disparaten Grundprinzip des Abends ist. Da soll und darf nichts zusammenpassen, beißt sich das Spiel ständig lustvoll in den Schwanz, währen tonnenweise Castorf- und Pollesch-Mittel auf die neben einem Saloon-Klavier und einer Fototapetenwand mit Wüstenmotiv leere Bühne gehievt. Das strengt an, überfordert und geht dem geneigten Zuschauer bald gehörig auf die Nerven. Soll es auch, der feind heißt schließlich Eindeutigkeit. Das Leitmotiv des Theaters als Identitätslabor ist nicht zu übersehen, das Motiv weiblicher Selbstermächtigung auch nicht – es ist natürlich kein Zufall, dass nur die Jungs cross-dressen müssen und dabei selbstbewusst lächerlich (im besten Sinne) wirken dürfen. Wer möchte, darf die Mosaikhaftigkeit des Abends, der an ein Puzzzle erinnert, das nur dann gelingt, wenn das entstehende Bild nicht einmal im Ansatz identifizierbar ist, beliebig nennen. Wahrscheinlich ist sie das auch und vermutlich will sie es sein. Denn heißt, selbst zu entscheiden, wer man sein will, nicht auch, alles sein zu können? Wenn es sein muss, auch gleichzeitig? Ist es nicht das Diktat der Eindeutigkeit, das uns – und nicht zuletzt den nicht-männlichen Teil der Menschheit – in vorgestanzte Rollen presst? Ein Diktat, das dieser Abend lustvoll und gern auch mal gewollt dilettantisch über den Haufen wirft.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/02/04/wider-die-eindeutigkeit/
Leserkritik: Was für ein Sch***! SH-Landestheater, Rendsburg
Kanal Banal #4 oder „Was für ein Sch***!“ (8.2.2018 Rendsburg, Schleswig-Holsteinisches Landestheater)
Monatlich wartet das Schleswig-Holsteinische Landestheater im „Roten Foyer“ in Rendsburg für 30 Zuschauer mit einem TRASH Abend auf. Mittlerweile hat sich diese Veranstaltung zu einem wahren Renner gemausert. „Was für ein Sch***!“ nimmt Bezug auf die fünfte Jahreszeit, den Karneval, der im wahren Norden noch nicht so richtig Fuß gefasst hat. Vier Schauspieler*innen blödeln, was das Zeug nur hergibt. Stimmung ist Trumpf und die 30 Zuschauer schunkeln und feiern mit. Kurzweil ist das Motto des Abends mit Bullshit-Bingo und Kamelle. Die glorreichen Vier geben was die Theaterkiste nur hergibt und 60 Minuten verfliegen wie im Fluge. Doch es gibt in diesem Freudenfeuer von Slapstick und Comedy einen sehr nachdenklichen Moment, der unsere Zeit von Krieg, Vertreibung, Flucht, Ausbeutung und Ungerechtigkeit reflektiert, beeindruckend von Neele-Frederike Maak performt wird und einen für einen Moment erschauern lässt und lange nachwirkt. Dieser Stich traf und Nachdenklichkeit blieb. Bravo für diese Zäsur in einem heitern Abend.
Leserkritik "Menschen, Orte und Dinge", Berlin
"Menschen, Orte und Dinge", Berliner Ensemble, Kleines Haus

Für ihr Berlin-Debüt hat sich die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler, die für ihre Arbeiten in Aachen, Münster oder Düsseldorf viel Lob ernetete, das Drama „People, Places and Things“ (2015) des Briten Duncan Macmillan ausgesucht. Die deutschsprachige Erstaufführung passt gut ins Profil des Kleines Hauses von Oliver Reeses Berliner Ensemble, der zeitgenössische Stoffe und well-made-plays gezielt fördern möchte.

Macmillan träumt in einem Interview im Programmheft von einem Theater, das den „Kampf mit Netflix“ aufnimmt: „Anspruchsvoll, lustig und rasant“ soll es sein. Leider ist dieser Abend davon meilenweit entfernt. Die Studie einer suchtkranken Schauspielerin, die sich chamäleonhaft in immer neue Lügen verstrickt und in der sektenhaften Therapiegruppe der Ärztin (Josefin Platt) verweigert, ist viel zu langatmig und über weite Strecken klischeehaft.

Regisseurin Sonnenbichler kann trotz der schwachen Vorlage noch einiges retten: dies ist vor allem dem verspiegelten Bühnenbild von Wolfgang Menardi, den Videos von Stefano Di Buduo, der die Rauschzustände der Drogensüchtigen mit flackernden Lichteffekten symbolisiert, sowie einigen starken Monologen der Hauptdarstellerin Sina Martens zu verdanken.

Unter dem Strich ist dieser mehr als zweistündige, stark verqualmte Abend eine Enttäuschung. Vor allem die Schauspieler in den Nebenrollen, die klischeehafte Kurzauftritte als Pfleger oder Patienten der Therapiegruppe (Patrick Güldenberg, Oliver Kraushaar, Owen Peter Read) haben, sind unterfordert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/02/14/menschen-orte-und-dinge-enttaeuschende-studie-einer-suchtkranken-im-kleinen-haus-des-berliner-ensembles/
Leserkritik: Der Schrecken der Ozeane, Altonaer Theater
"Für die ganze Familie" gibt's Theater eigentlich ja immer nur zur Vorweihnachtszeit sein; diese Tradition hat auch die anhaltende Konjunktur klugen, hervorragenden Kinder- und Jugendtheaters überdauert, wie es mittlerweile fast überall das "Junge Schauspiel" zeigt. Und wer an haltbare Highlights erinnert, wie derzeit etwa Dierk Breimeier, einst Beleuchtungschef am Hamburger Schauspielhaus, der etwa Götz Loepelmanns legendäre "Pünktchen und Anton"-Fassung nach Erich Kästners Klassiker herauf beschwört in den eigenen Facebook-"Theatergeschichten", der darf sich glänzender Augen von großen und kleinen Kindern sicher sein.

"Für die ganze Familie" könnte Theater also gern öfter sein. Als "Der Schrecken der Ozeane" zum Beispiel: das ist eine Seeräuberpistole, die gerade das Altoner Theater zeigt. Autor "Leuw von Katzenstein"; und es ist schon länger kein Geheimnis, dass hinter dem Pseudonym Ludwig von Otting lauert, einst künstlericher Geschäftsführer der Intendanten Jürgen Flimm, Ulrich Khuon und Joachim Lux am Hamburger Thalia Theater und mittlerweile im Unruhestand. In den Treppenhäusern im Thalia-Haupthaus künden Gastspiel-Plakaten auch vom haltbatren Ruhm des Gastspiel-Managers von Otting. Aber schon länger schrieb er nebenbei Bücher für jüngere Leute, außerdem freche Chanson-Texte für die Ehe-Partnerin, Schauspielerin und Dozentin Cornelia Schirmer; gerade ist eine "Überschreibung" der 'Gefährlichen Liebschaften' von Choderlos de Laclos in Arbeit ...

Und als Regisseur der Theaterfassung vom 'Schrecken der Ozeane' (einem der Erfolge als Autor) nennt sich von Otting nun also "Gustav Rübenacker".

Dieser Herr Rübenacker hat eine knallige Piraten-Parade auf die Bühne gepflanzt. Buckelbert Hansen, der titelgebende Ober-Seeräuber, karriolt auf einem Schiffchen daher, das deutlich sichtbar von kraftvollen Ensemble-MitgliederInnen über Silke Rudolphs Bühne geschoben wird; vor Stephan Pertschis ebenso spar- wie wirksamen Video-Projektionen. Schiffe, das Meer, tentakelreiche See-Ungeheuer und die Kulisse vor Lissabon im Theater? Kein Problem für Rudolph und Pertschi, Rübenackers Partner. Und fast alle im Ensemble, Achim Buch als Buckelbert vorneweg, sind obendrein mit Gesang und Instrument am Start; die Show steckt voller Musik, und von Ottings Lieder-Gattin Schirmer ist kurz nach der Pause mit einer zarteren Piraten-Ballade vom Band dabei.

Vollends mitreißend allerdings ist von Ottings szenische Phantasie. Gut - er hatte immer mal wieder (sehr selten!) Liederabende inszeniert, gern erotisch (in Hannover) und gern auch mit Hamburg-Bezug (am eigenen Haus); aber mit dem Katzenstein-Stoff jetzt schießt die Piraten-Trämerei Kobolz: vor allem mit Friedrich, dem sprechenden Raben (gespielt und als Handpuppe geführt), mit dem ganzen Ensemble als gefährlich gefräßigen Krokodilen im Reich vom Scheich "Ibn Bin Ma Ebn Im Ladn", mit dem Schiffskoch-Ehepaar Schnitzel, das eine herrliche Hommage an das frühere Kantinenpaar im Thalia Theater ist. Buckelberts Bande setzt erst den althanseatischen Hamburger Traditions-Reeder Rickmers schachmatt, dann erobert sie (auch mit Hilfe eines hoch-, ach was: höchst toupierten Königspudels, der Einrad fahren kann) die Leib-Fregatte der Queen von England, wobei natürlich die Kronjuwelen gekapert werden ... Die Krake wird erledigt; und als Libella, herrschende Fürstin von Lissabon, die Piraten in einem künstlichen Eismeer fängt, legt Buckelbert ihr nicht nur die "Duchesse de Coco" zu Füßen, einen monströsen Edelstein, sondern bringt trickreich sich selbst der Herrscherin zum Opfer: als Ehemann und künftiger Regent.

Schon nacherzählt ist das Wahnsinn pur; im Spiel erst recht - Rübenacker/Otting hält die schräge Filibuster-Fabel im Gleichgewicht des Fabulierens. Gerade genug Illusion wirkt im ulkigen Spektakel, aber auch genau so viel Durchschaubarkeit - für kleine und große Kinder bekommt der Traumberuf Pirat ein neues Gesicht. In Altona! Ahoi! Oder, mit Buckelberts Schlachtruf: Donner und Dorade!
Leserkritik: Solaris, DT Berlin
Leserkritik: "Solaris", Regie: András Dömötör, Deutsches Theater Berlin/Box

Auf der zerklüfteten Bühne (Sigi Colpe) und in einheitlichen Anzügen, die eher an frühe Renn- als an Raumfahrer erinnern, kristallisieren sich schnell die Rollen heraus. Das beste Schauspielerfutter bekommen Jeremy Mockridge und Timo Weisschnur als spleenige Bewohner der Forschungsstation: Als Snaut und Sartorius geben sie den Typus „zerstreuter, leicht verrückter Professor“, über den sich Neuankömmling Kris Kelvin (Elias Arens) wundert.

Sie haben längst durchschaut, was Kelvin erst langsam begreift: Jeder von ihnen wird von einem geheimnisvollen „Gast“ heimgesucht. Dahinter verbirgt sich die Kopie eines Menschen aus ihrem früheren Leben auf der Erde, mit dem schmerzhafte Erinnerungen verbunden sind. Hier kommt Esther Maria Hilsemer ins Spiel: sie kam als Gast von der UdK, war schon in Dömötörs vorheriger Inszenierung „Your very own double crisis club“ dabei und spielt Kelvins Ex-Freundin Harey. Diesem Duo gehören die stilleren Momente des Abends.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/03/02/solaris-andras-doemoetoer-adaptiert-den-stanislaw-lem-klassiker-in-der-box-des-deutschen-theaters/
Leserkritiken: "Girls & Boys", Berliner Ensemble
Dennis Kelly: Girls & Boys, Berliner Ensemble (Kleines Haus) (Regie: Lily Sykes)

Schnell kommt das Programmheft zum Punkt: „Ein Stück der Stunde“ sei Dennis Kellys neues Werk Girls & Boys. Mit seiner Geschichte über weibliche Emanzipation und männliche Gewalt passt es zweifellos perfekt in die #MeToo-Debatte. Was vielleicht auch erklärt, warum man es am Berliner Ensemble so eilig hatte: Erst vor vier Wochen feierte das Stück Weltpremiere am Londoner Royal Court, jetzt findet an Oliver Reeses Haus bereits die deutschsprachige Erstaufführung statt. Da hilft es natürlich, dass Regisseurin Lily Sykes kein großes Ensemble managen muss – Girls & Boys ist ein Ein-Personen-Stück. Es ist die Geschichte einer durchaus emanzipierten Frau, erfolgreiche Entwicklerin von Dokumentarfilm-Formaten, verheiratet mit einem Möbelhändler, Mutter zweier Kinder. Sie erzählt über ihren Werdegang, dazwischen sind Spielszenen eingestreut, Interaktionen mit den Kindern, die unsichtbar bleiben. Sieht die namenlose Hauptfigur sie an, geht ihr Blick ins Leere, nimmt sie sie in den Arm, ist da nur Luft. Dafür gibt es eine Erklärung, die der Zuschauer erst nach und nach erfährt. Denn was recht komödiantisch beginnt, wird irgendwann zur Tragödie mit mehr als einer Verbeugung vor Euripides und Co. Denn der Mann kann nicht aus seiner patriarchalen Haut.

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Dass sich hier ein Mann mit dem Thema männlicher Gewalt und patriarchaler Machtstrukturen befasst, ist in jeder Sekunde spürbar. Dabei watet er durch biologistische Untiefen, die mit soziologischen Perspektiven kollidieren und am Ende ein diffuses Mann-gleich-Gewalt-gleich-Unterdrückung-Bild hinterlassen, das verschleiert, wo es offenlegen will, das simplifiziert, wo Komplexität gefragt ist, das Oberflächen nicht ankratzt, sondern sie nur mit einer weiteren zukleistert. Lily Sykes Inszenierung nimmt die hilflose Eindeutigkeit der Vorlage auf und verstärkt sie nur. Sie drückt zunächst auf die komödiantische, dann die tragische Tube, stets bedacht, Zwischentöne nicht zuzulassen. So entsteht eine seltsame Mélange aus Boulevard und Sommertheater, unterkomplex, effektbewusst, ängstlich bemüht, nicht zu tief zu schauen. In seinen besseren Momenten macht der Abend die existenzielle Verunsicherung sichtbar, in welche nicht erst #MeToo das männliche Selbstverständnis gestürzt hat. Nur ist er sich dessen erstens nicht bewusst und bleibt zweitens die weibliche Sicht, die hier ja vermeintlich im Mittelpunkt steht, außen vor. Der Blick ist ein männlicher und er merkt es nicht einmal. Damit spiegelt er das, wovon er handelt. wenn er uns doch nur einen Hinweis geben würde, dass er darum weiß.

Komplette Rezension:https://stagescreen.wordpress.com/2018/03/11/der-mannliche-blick/
Leserkritik: Girls & Boys, Berlin
Welch verpasste Gelegenheit! Das im Titel wie Programmheft angekündigte Thema der sich verschiebenden Rollenbilder mag nicht neu sein und ist doch aktuell. Wie umgehen mit immer stärkeren Frauen bzw. immer schwächeren Männern? Wie einen vernünftigen Dialog zu hochemotionalen Fragen hinbekommen? Wie sexuelle Sehnsucht mit Lebensalltag in Einklang bringen?

Das Ärgernis beginnt bereits im Setting: nicht "Girl" und "Boy" verhandeln hier, sondern eine Frau monologisiert für beide. Das ist nicht nur eine Absage an den Dialog, es überfordert auch die sich (gleichwohl tapfer) durch den Text kämpfende Stefanie Eidt. Vor allem bleibt der entscheidende Bruch des/ihres Mannes reine Behauptung, wird nicht glaubhaft entwickelt.

Ebenso wenig erhellend sind die verbalen Sexausfälle ("...wenn ich von hinten gefickt in einen Haufen Kotze zu fallen drohe, ist es Zeit mein Leben zu ändern...") sowie (ohne zu spoilern) das so unglaubwürdig wie reißerisch zugespitzte Finale.

Vor kurzem sah ich die "Wiedervereinigung der beiden Koreas", eine wunderbare, tragikomische Szenenabfolge über die vielen Facetten der Liebe. Das Männlein-Weiblein-Verhältnis hätte eine ähnlich kluge Annäherung verdient!
Leserkritik: Rimini Protokoll/Staat 3, Berlin
Rimini Protokoll (Daniel Wetzel): Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3), Staatsschauspiel Dresden / Haus der Kulturen der Welt, Berlin

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Groß sind die Fragen, die im Raum stehen, noch größer jedoch die Ablenkungsmaneuver, mit denen ihre Beantwortung vermieden wird. Denn schnell wird klar, dass das, was hier geschieht, harmlos bleibt. Zu abstrakt und auf Unterhaltung abgestimmt die Fragen, zu komisch bis ironisch die Antwortoptionen. Es ist ein Spiel, natürlich, aber eines, das bald vergessen lässt, dass hinter ihm ja ein Ernst stehen soll, dass hier die Grundlage menschlichen Zusammenlebens erörtert, die Fundamente gesellschaftlicher Ordnung hinterfragt zu werden behauptet wird. Nichts davon geschieht. Ob man Speck und Eier frühstückt oder Veganes ist dann schon der Höhepunkt der Konkretion. Das Zeitreiseszenario ist schnell aufgeweicht, der Fragemarathon kippt ins Beliebige. Seriöses steht neben Albernem, Konkretes neben Abstraktem, die Antworten lassen meist vage Nichtpositionierungen zu. Der Fakt, dass das System selbst die individuelle Antwort zu finden verspricht – auf Basis der zuvor gegebenen – wenn der Befragte nicht rechtzeitig seine Eingabe macht, wird übergangen, einer der interessanteren Aspekte – die Übernahme der Entscheidung des Einzelnen durch den Algorithmus – nicht thematisiert.

Wie der Abend auf Unterhaltung und Abwechslung setzt. Das ursprüngliche Szenario – jeder Besucher sitzt vor einem Bildschirm an einem kleinen Tisch, gegenüber ein anderer, willkürlich ausgewählter, eine Gegenüberstellung, aus der der Abend im Übrigen auch nichts macht – wird bald aufgegeben. Da bleiben die Nichtwähler auf der Spielfläche zurück. Gebrandmarkte? Ausgestellte? Die private Wahlentscheidung als Basis eines öffentlichen Prangers? Nichts da, der Ton ist jovial bis uninteressiert. Die Teilnehmer*innen sollen andere identifizieren, mit denen sie nichts gemein haben, werden mit jenen, mit denen sie die meisten Antworten teilen, gepaart“ und am Ende auf Basis ihrer Antworten zu Vogelarten gruppiert. Das hat mit Aristophanes‘ Die Vögel zu tun, in denen es ja auch um Gesellschaftsbildung geht. Griechenland ist ein Leitmotiv, die Spielführer zwei griechische Schauspieler, die zwischendurch vom dortigen Referendum über die EU-Hilfspakete schwadronieren. Ignorierte und damit obsolet gewordene Demokratie.

Die digitale Herrschaft ist da aber kein Gegenentwurf, denn er produziert Schafe. Solche sind die, die in einem Paar-Quiz die richtigen Antworten geben, einer der befremdlicheren Momente des abends. Denn was soll uns das sagen: Wer sich an belegbare Tatsachen hält, ist ein blind der Herde folgendes Schaf? Ernsthaft? Ansonsten ist Träumende Kollektive. Tastende Schafe eine Abfolge von Ablenkungsmaneuvers, Versuchen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erhalten und zugleich den großen, wichtigen Fragen über die Vwereinbarkeit von Demokratie und datenbasierter Digitalisierung auszuweichen, als hätten Rimini Protokoll Angst, was herauskommen könnte, wenn man ihnen folgte. Stattdessen genügt sich der Abend in immer neuen Spielszenarien, eines beliebiger als das nächste, die eben doch nicht viel mehr sind als pures, zweckfreies Spiel. Auch weil er die Konsequenz eines solchen Demokratie erneuernden oder gar ersetzenden Ansatzes außen vorlässt. Das Ergebnis des „Experiments“ ist eben nur eine willkürliche Abfolge schräger Töne. Langweilend, nichtssagend, harmlos. So wie der ganze Abend.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/03/13/unter-schafen/
Leserkritik: Rimini Protokoll/Staat 3, Berlin
Der Leserkritik zu "Träumende Kollektive. Tastende Schafe" muss ich zustimmen.

Das Interessanteste an „Staat 3“ waren die kurzen Bezüge auf das griechische Referendum vom 5. Juli 2015, als die Mehrheit gegen das mit EU, EZB und IWF ausgehandelte Paket stimmten. Das Abstimmungsergebnis wurde jedoch dadurch konterkariert, dass das griechische Kabinett umgebildet wurde und nur wenige Tage später im Europäischen Rat ein Paket verabschiedet wurde, das den abgelehnten Forderungen ähnelte. Das wäre ein guter Anlass gewesen, weiter über Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie und den enormen medialen Druck der Ja-Kampagnen, unter dem die Nein-Sager damals standen, nachzudenken. Leider wurden diese Stränge von Rimini Protokoll aber nur kurz angetippt und nicht vertieft.

Die beiden Schauspieler Kostis Kallivretakis und Vassilis Koukalani führen launig durch eine Zeitreise ins Jahr 2048. Die Zuschauer werden aufgefordert, recht abstrakte Fragen zu beantworten und damit IRIS zu füttern. Aus den Ergebnissen formieren sich Duos und Kleingruppen. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte z.B. auch »Pendiente de voto« von Roger Bernat (Barcelona), das 2017 beim FIND-Festival der Schaubühne gastierte, aber sowohl die unterhaltsameren Fragen zur Abstimmung stellte, als auch mehr Ecken und Kanten bot.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/03/11/staat-von-rimini-protokoll-spielerische-annaeherung-an-facetten-der-demokratie-im-hkw-und-neuen-museum/
Leserkritik: "Uraufführung" von Hofmann&Lindholm,
"Uraufführung" von Hofmann&Lindholm, uraufgeführt am 16.03.2018 in der Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart.

Die Uraufführung der Uraufführung beginnt jetzt, nachdem der unter ärztlicher Überwachung schlafen gelegte Kritiker die Augen geöffnet hat und das Stück zu Ende ist. Andererseits sollte ein Bericht über diese Uraufführung wohl besser mit dem Anfang beginnen - obwohl; das Stück hat ja ebenfalls mit dem Ende angefangen. Alles klar?

Nachdem eine überschaubare Anzahl von Zuschauern in die hinteren Hallen der Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart freundlich eingelassen wurden, finden wir uns in einer Art Rumpelkammer wieder. Ein Krankenhausbett mit Infusionsbeutel steht in einer Ecke und nach und nach ergreifen einige Personen ein Mikrophon und berichten von ihrer Geburt. Zur Bekräftigung zeigen sie Bilder, auf denen sie zusammen mit ihren Müttern als Neugeborene zu sehen sind. Die Erzählungen über ihre Geburten, das versichern sie glaubhaft, würden allerdings nur auf Hörensagen beruhen, da sie selbst damals zwar dabei gewesen seien, jedoch noch keine Worte besessen hätten und somit auch keine Erinnerungen.

Hier spannt sich der Bogen zu Faust II 'Der Abstieg zu den Müttern‘. Im allertiefsten Ursprung, so die Aussage, gibt es keine Worte, dort gibt es nur die Erfahrung des Jetzt, so dass selbst der Dichterfürst dafür keine Worte finden und deshalb von dem Ereignis nur indirekt erzählen konnte. Diese Idee des Indirekten wird nun zur Kernidee des Stückes 'Uraufführung‘, das demnach nur dadurch entstehen kann, indem wir, die Zuschauer und gleichzeitig die Handelnden dieses Stückes, im Nachhinein darüber reden, schreiben oder diskutieren. Deshalb ist dieser Text auch gleichzeitig ein Teil der Uraufführung.

In 16 kollektiven Erinnerungen, wie die folgenden Szenen bzw. Aufstellungen genannt werden, bewegen sich Zuschauer, Kulissen, Schauspieler frei und selbständig im Raum. Wer ist Schauspieler, wer ist Zuschauer, man weiß es nicht mehr so genau, die Grenzen werden diffus und unscharf. Ist jetzt der Kritiker, der schlafen gelegt wird, tatsächlich ein Zeitungsmann, ist er Schauspieler oder nur ein mutiger Zuschauer? Wer ritzt sich mit einem scharfen Messer das Handgelenk und lässt einige Tropfen Blut in eine Schale tropfen? Wer erzeugt die Töne mit dem Theremin und bewegt damit die Scheinwerfer? Wer wirft mit Eiern? Ist der Arzt, der seinen Ausweis herumzeigt, wirklich Arzt? Jeder wird über diesen Abend eigene Erinnerungen erzeugen. Zusammen mit den Anderen kann daraus eine kollektive Erinnerung erwachsen und sollte dies tatsächlich gelingen, wäre diese 'Uraufführung' weit mehr als nur ein Theaterstück.
Girls & Boys, Berlin: verschenkt
Oh Mann (Frau)… was für eine unentschiedene, stückwerk bleibende Arbeit. Bin vor allem von S. Eidt enttäuscht, welche man ja doch schon so viel besser gesehen hat. Aber wahrscheinlich hat da eher die Regie versagt. Oder Dramaturgie (fehlt hier ja laut Programm völlig!?) Was ist eigentlich künstlerische Beratung in so einem Fall?
Die hätte sich auch mal der musikalischen Ausgestaltung beratend annehmen können. Teilweise sogar peinliche Umsetzung. Sehr schade.
Verschenkt.
Leserkritik: Weisses Ostern, Schleswig
Am 18.3.2016 hatte Lothar Trolles Stück „Weisses Ostern“ Uraufführung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Schleswig unter der Regie von Alexandra Holtsch. Sie komponierte Theatermusiken, erarbeitete musikalische Konzepte für elektronische Musik und Orchester und ihr Stil, zeitgenössische elektronische Musik mit Werken aus allen Epochen zu mixen, wurde eines ihrer Markenzeichen. In jüngster Zeit konzentrierte sie sich auf Produktionen, in denen sie Komposition und Regie übernahm. Alexandra Holtsch mit der Regie eines Stückes von Lothar Trolle zu betrauen ist sicher ein Glücksfall; denn sie bilden ein fantastisches „Pas de Deux“, da Lothar Trolles Stücke das Publikum durch eigenwillige Form fordern. Sie sind inhaltlich und sprachlich oft kompliziert. Trolle versteht seine Stücke als „Arbeitsprozesse“, die er immer wieder neu zusammenbaut, indem er Szenen aus einem Stück in ein anderes verpflanzt und neue Titel findet. Thematisch befassen sich seine Stücke mit surreal gestalteten Alltagsdarstellungen, Endzeitbildern und dadaistischen Kasperle-Spielen. Seine Stücke haben eine eigene Musikalität der Worte und lesen sich oft wie Partituren. Seine Stücke wurden oft zu Hörspielen, für die er zahlreiche Preise erhielt. Weisses Ostern ist eine Collage aus drei Trolle Texten. Eine Frau wird vom Wecker aus dem Schlaf gerissen, kümmert sich um das Kind, das in die Schule muss, um sich dann wieder hinzulegen. Denn gestern war Premiere und heute ist zweite Vorstellung. Diese Geschichte beginnt wie ein Hörspiel. Schauspieler*innen sprechen den Text und der Vorhang öffnet und schließt sich mehrfach. Leere Bühne oder ein Super Trouper beleuchtet Bühne und Publikum. Dann wiederholt sich die Szene zwischen drei Akteuren im Publikum voller Emotion und Empathie. Die exakte, akribische Beschreibung alltäglicher Abläufe, wird durch die Wiederholung der Akteure im Publikum zum unlöschbaren Engramm. Dann folgt auf der Bühne mit Warteschlangenbank (Ausstattung: Sabine Mader) die Szene einer Frau die S-Bahn fährt. Fünf fast identische Personen (geklonte Wesen, Klone, Clowns) bevölkern das Geschehen. Plötzlich setzen Wehen ein und ein Sohn kommt im Krankenhaus zur Welt. Diese Story kommt daher, wie ein beängstigender Erinnerungs-traum und wird mit Bildern eines Pinguins (Ausdruck eisiger Kälte, Gefühlskälte) und eines Storches im Tutu (Geburt) zum angsterfüllten Albtraum von den Wehen bis zur Geburt. Währenddessen auf dem Bahnsteig ein Mann stirbt. Durch die Verflechtung dieser beiden Geschichten wird deutlich wie dicht Geburt und Tod beieinanderliegen, was durch den Storch mit schwarzer Sense bildlich verstärkt wird. Die dritte Story – Anna – bemüht sich eine Nacht lang, den Anrufbeantworter zu besprechen. Diese Story wird durch die markante Stimme von Neele Frederike Maak zu einem der Höhepunkte des Abends. Dieser scheinbar banale Text lebt durch die Sprachgestaltung der Darstellerin und zeigt was mit Texten von Trolle möglich wird – Träume. Die geschlossene Ensembleleistung (Ingeborg Losch, Neele Frederike Maak, Karin Winkler, Flavio Kiener, Robin Schneider) und deren konzentriertes Spiel mit Sprache machten den Abend zum Erfolg. Das Konzept ging auf, Lothar Trolle erneut wirksam auf die Bühne zu bringen. A. Holtsch hat es verstanden Trolles Stücke, die von der Musikalität der Sprache leben, effektvoll in Szene zu setzen mit traumartigen Bildern, voller melancholischer Komik und an der Grenze zur Katastrophe, selbst in scheinbar alltäglichen Banalitäten. Das Publikum dankte dem Ensemble, der Regisseurin und dem anwesenden Autor mit starkem Beifall für diesen Abend voller Sprache und Musikalität. Dank dem Generalintendanten Peter Grisebach, der den Mut besaß einen Lothar Trolle Abend mit A. Holtsch zu wagen, wurde es ein spannender, anregender Theaterabend in der oft fälschlich belächelten Provinz.
Leserkritik "Tristan und Isolde", Berlin: abgetörnt + wundergläubig
Abgetörnt und wundergläubig
Vor einem Monat wurde Daniel Barenboims vierte Berliner Premiere von „Tristan und Isolde“, insbesondere die Inszenierung durch Dmitri Tcherniakov, von der Kritik recht launisch durchgewunken: „Zäh, aufgesetzt und statisch,“ konstatierte Barbara Wiegand im rbb. Genüsslich kolportierte Alexander Kissler in Cicero die verdiente Reaktion des Publikums: Tcherniakow „wurde mit preußischer Ausdauer ausgebuht“. Manuel Brug von der WELT war immerhin aufgefallen, dass Tcherniakow den Handlungsablauf irgendwie „auf der Zeitlinie rückwärts‘“ angelegt hat. Als Kritiker muss man seine Karte gewiss nicht selbst zahlen, warum sich also Gedanken machen. Zum Beispiel, dass Tcherniakow seinen Tristan auf eine Reise rückwärts schickte: In „das Wunderreich der Nacht, aus der ich einst erwacht“. In das Isolde ihm folgen soll. „Dem Land, das Tristan meint, der Sonne Licht nicht scheint: es ist das dunkel nächt’ge Land, daraus die Mutter mich entsandt,…“ Wollte Tcherniakow uns sagen, dass Lieben und Sterben uns aus der hoffärtigen Welt treiben in die kindliche Regression, in die absolute Innerlichkeit - vor dem dann folgenden Nichts? Und dass „gutes Sterben“ bedeutet, dass dieser letzte Innenraum angefüllt wird von einem allumfassenden – auch musikalischen - Strahlen und nicht von Grauen, Angst und Panik?
In der Inszenierung von Stefan Bachmann vor gut 10 Jahren wollten Herzog & de Meuron durch eine aufgespannte Gummimembran über einer Druckkammer „das Erscheinen des Auftauchens und das Erscheinen des Verschwindens“, „das Erscheinen der Leere, des Nichts, des Nullraums“ visualisieren, im Programmheft wurde aus „der eigene tod“ von Peter Nadas zitiert. Im Freitag kann Andre Sokolowski sich nur erinnern, dass die „Bühnenbild-Maschinerie ab einem ganz bestimmten Punkt nicht mehr beherrschbar“ war, „die Aufblasluft trat plötzlich aus...“ Was haften blieb, war ein Furz!
Am 18.03.18 hatte dann an der Bismarck-Oper eine verquaste, ebenso apologetische wie revoltierend umwertende Interpretation von „Tristan und Isolde“ Premiere: „Das Wunder der Heliane“ von Erich Wolfgang Korngold. Peter P. Pachl deutet in der Neuen Märkischen Zeitung an, dass Korngold wohl eher die Musik für einen Film schaffen wollte, als eine Oper im klassischen Sinn. Korngold vertraute im Verständnis der damaligen Film-Welt wohl darauf, dass auch ein grob und dürftig gezimmerter Plot bei hinreichender Melodramatik gewaltige Emotionen freisetzen könne. Beim Premieren-Publikum ist diese Rechnung voll aufgegangen, es kriegte sich vor Begeisterung kaum mehr ein. Gerade weil die Musik Korngolds und ihre Umsetzung durch das Ensemble der Deutschen Oper durchaus Anerkennung verdienen, hätte ich mir eine szenische Aufführung gewünscht, welche die Verhunzung des Wagner-Stoffs verbirgt.
Leserkritik "Wie es euch gefällt", Rendsburg
Wie es euch gefällt, eine der wortbrillantesten Shakespeare Komödien wurde in einem traumhaft schönen Bühnenbild leuchtender Sterne in den Farben des Regenbogens (Bühne und Kostüme: Katharina Philipp) dargeboten. Die zehn Rollen wurden von 6 Akteuren verkörpert. Hier bediente sich Kathrin Mayr (Regie) des „cross-castings“, indem sie alle Rollen von Männern spielen ließ, bis auf die Rolle des Orlandos, der von Katrin Schlomm verkörpert wurde. Somit wurde die auch heute aktuelle Genderdiskussion akzentuiert. Der besondere Reiz dieser Komödie liegt im Spiel über das Theater als Theater. Die Schauspieler wechseln ihre Rollen, verkörpern unterschiedliche Charaktere und demonstrieren ihren Spaß am Spiel mit sprühendem Wortwitz Shakespeares. Durch die Aufhebung der Geschlechterrollen müssen die Akteure selbst ihre Möglichkeiten und Ziele definieren. Die Verwirklichung ihrer Ziele verlangt Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung, was im Spiel erprobt werden kann. Oder ist dies alles doch nur eine Illusion? Durch scharfzüngige Seitenhiebe Touchstones wird die Komödie zur Gesellschaftssatire, was in dieser Inszenierung leider manchmal vernachlässigt wurde. Die Inszenierung wird dominiert durch märchenhafte Bilder und Shakespeares Kritik an dieser romantischen Weltsicht, wird somit teilweise übertüncht. Auch wenn der Titel „As You Like It“ dem Zuschauer verspricht, ihm zu gefallen, wird diese Erwartung mehrfach gebrochen und hinterfragt. In diesen Momenten hat die Inszenierung ihre Höhepunkte, wenn die sieben Akte des Lebens thematisiert werden oder wenn Rosalind sich am Ende fragt, was sie wohl machen würde, wenn sie eine Frau, ein Mann oder ein Hermaphrodit wäre. Leben wird dieser Inszenierung durch die Akteure eingehaucht und sie sind es, die die etwas seichte Inszenierung herrlich an die Wand spielen. Katrin Schlomm als Orlando und Simon Keel als Rosalind sind traumhaft und somit sind ihre Szenen voller Spielfreude, die bis in die letzte Reihe des Publikums zündet. Auch René Rollin und Christian Simon in ihren nachdenklicheren Passagen bieten, beeindruckende schauspielerische Leistungen. Weiterhin Lorenz Baumgarten als Oliver und Silvius überzeugt in nahezu konträren Rollen und Timo Schleheck als Touchstone ist ein besonderer Leckerbissen mit seinem schelmischen Spiel. Dieser Abend ist der Abend der Akteure und des Bühnenbildes hinter denen die Regie leider etwas verblasst; denn selbst Shakespeares Komödien sind ironische Spiegelungen unserer Gesellschaft, was in Texten deutlich wird wie „Ja, das ist unser Ziel: Die Freiheit finden wir, nicht das Exil“, gerade in unserer Zeit fliehender Menschen. Doch Dank der großartigen schauspielerischen Leistungen ist dieser Abend ein herrliches Vergnügen.
Leserkritik: Tropfen auf heiße Steine, Deutsches Theater Berlin
Leserkritik: "Tropfen auf heiße Steine" in der Box des Deutschen Theaters Berlin

Seit einem Jahr ist diese „Komödie mit pseudotragischem Ende“, wie Fassbinder seine „Tropfen auf heiße Steine“ im Untertitel nannte, in einer neuen Version in der Box des Deutschen Theaters Berlin zu sehen. Die Reihe „Limited Edition“ dient als Experimentierfeld, auf dem sich junge Künstler an kleinen Formaten und mit verkürzter Probenzeit ausprobieren können. Philipp Arnolds Inszenierung ist jedoch mehr als eine Fingerübung und könnte auch nebenan in den größeren Kammerspielen bestehen.

Die erste Hälfte dieser nur eine Stunde kurzen Arbeit gehört zum Besten, was an diesem Haus in letzter Zeit zu sehen war. Es macht großen Spaß, den beiden Hauptdarstellern Bernd Moss (als Leopold Bluhm) und Daniel Hoevels (als Franz Meister) bei ihrem Spiel zuzusehen. Moss glänzt als schmieriger Verführer, der sein Opfer mit lauerndem Blick und reptilienhaft-gierig geöffnetem Mund umgarnt. Hoevels verkörpert den unbedarften Jungen, den Leopold auf der Straße aufgabelte und in sein Bett bringen möchte, ebenfalls gekonnt. In der zweiten Szene kippt das Verführungs-Spiel in die Beziehungshölle: Franz findet sich ein halbes Jahr später in der klassischen Hausfrauen-Rolle am Herd wieder, kann dem tyrannischen Leopold jedoch absolut nichts recht machen.

Die beiden Schauspieler sind bleich geschminkt bis auf pechschwarz-umrandete Lippen und Augen. Sie sitzen sich auf engstem Raum zwischen Pappwänden gegenüber, die sich im Lauf der Inszenierung verschieben und die ohnehin kleine Spielfläche noch weiter einschnüren. In der zweiten Hälfte brechen Anna Wolf (Natalie Selig) und die sonnenbebrillte Diva Vera (Franziska Machens) in die Wohnung von Leopold und Franz ein. Anna möchte ihren Franz zurück haben und beginnt ihrerseits damit, Leopold zu verführen und in seine Nase zu beißen.

Der Schluss ist nicht mehr ganz so präzise wie die ersten Szenen dieses Abends. Dennoch gelang Philipp Arnold ein sehenswerter Abend, der auch ein Jahr nach der Premiere noch auf dem Spielplan des DT Berlin steht und zurecht zum „Radikal jung“-Festival ans Münchner Volkstheater eingeladen wurde, in dessen Programm sich „Tropfen für heiße Steine“ sehr gut einfügen wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/03/27/tropfen-auf-heisse-steine-sehenswertes-fassbinder-drama-in-der-box-des-deutschen-theaters/
Leserkritik: Kafka, Berlin
Leserkritik: "Kafka" von Kirill Serebrennikow/Gogol Center Moskau am Deutschen Theater Berlin

Die erste Hälfte wird zu einem Wimmelbild kurzer Szenen, bei dem Kafka von den üblichen Verdächtigen (seinem Vater, seiner Verlobten Felice Bauer, seinen Vorgesetzten bei der Unfallversicherungsanstalt) mit ihren Ansprüchen und Forderungen konfrontiert wird. Leider stößt hier die Übersetzung an ihre Grenzen: auf der Bühne toben die Dialoge, unterbrochen von etwas Slapstick, Tanzeinlagen und Live-Video. Die Simultandolmetscherin hat den Kraftakt zu bewältigen, die Textmassen zu übersetzen. Aus den verschiedenen Figuren und Klangfarben wird daraus ein einziger langer Wortschwall, der über die Kopfhörer an die Ohren des Publikums dringt, so dass für das nicht-Russisch-sprachige Publikum viel vom Reiz des Originals verloren geht.

Im zweiten Teil nach der Pause tritt das Übersetzungs-Problem in den Hintergrund, da Serebrennikow hier vor allem auf poetische Bilder für Kafkas Leidensweg durch Krankheiten und Sanatorien bis zum Tod setzt. Der als Revue-Mix aus Tanz, Schauspiel, Gesang und Live-Video angelegte Abend kommt hier stärker zur Ruhe und gewinnt an Konturen. Bis dahin wirkte auch die Musikauswahl oft zu beliebig: Beethovens „Ode an die Freude“ tritt neben Swing-Klänge der 1920er Jahre, Goethes „Erlkönig“ wird auf Russisch und Deutsch rezitiert. Wie auch André Mumot in seiner insgesamt positiven Radio-Kritik anmerkte, ist bei manchen szenischen und musikalischen Assoziationen der Bezug zu Kafkas Persönlichkeit nur noch schwer auszumachen.

Es ist die bittere Pointe dieses Abends, dass sich Regisseur Serebrennikow zwei Jahre nach der Moskauer Premiere selbst in einer sprichwörtlich kafkaesken Situation wiederfindet, wie sie Kafka-Leser z.B. aus den Schilderungen über Josef K.s albtraumhaften Weg durch das Labyrinth im Fragment „Der Prozess“ kennen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/03/29/kafka-kirill-serebrennikow-und-das-gogol-center-naehern-sich-den-tagebuchaufzeichnungen/
Leserkritik: Auerhaus, Thalia Theater Hamburg, Gaußstraße
Auerhaus oder „Fifty years ago“
Franziska Autzen schafft mit ihrer Inszenierung des Romans „Auerhaus“ das Unglaubliche. Sie schafft einen Traum der Erinnerung aus Musik, Licht und starken Bildern. Das Bühnenbild (Ute Radler) ein einfaches Klettergerüst aus Quadern von Metallstangen das „Auerhaus“, wie man es von zahlreichen Spielplätzen kennt, ist die ideale Spielfläche, da sie Raum für Assoziationen des Zuschauers lässt. Die vier Akteure dieses Abends sind faszinierend in ihrer Vielfalt der Darstellung. Sie hauchen dieser Story Leben ein und schaffen einen unvergesslichen Abend. Klug geht die Regie mit dieser Story um, da sie ständig den emotionalen Momenten der Geschichte nachgeht und starke gefühlvolle Bilder schafft, die durch die Musik in besonderem Glanz erstrahlen. Franziska Autzen lässt die Geschichte von Frieders bestem Freund Höppner erzählen, was die Möglichkeit schafft jederzeit in das Spiel einzusteigen und den Zuschauer emotional mitzunehmen in das jeweilige Geschehen. Zentrale Story sind die Depression und Selbstmordversuche Frieders, „der sich nicht umbringen wollte, sondernd nicht mehr leben“. Das Auerhaus ist die Bereitschaft von Freunden, Frieder beim Überwinden seiner Depressionen zu helfen und weitere Suizidversuche zu verhindern. Das Auerhaus eine dörfliche WG von Gymnasiasten, die versuchen ihre Utopie von Gemeinschaft und Freiheit zu verwirklichen, in einer Zeit des eigenen Lebens, wo man noch alles für möglich hielt. Ihr Lebensmodell ist der Widerstand gegen das Lebenskonzept „Birth – School – Work – Death“. Diese Utopie versuchen sie mit allen Freuden und Risiken (Depression, Suizid) ihres Lebens zu verwirklichen. So oszilliert die Inszenierung zwischen purer Lebensfreude, maßloser Traurigkeit und Verzweiflung über das Leben, aber immer voller Emotion. Dieser Abend ist Leben pur und wenn man sich diesem Treiben hingibt, kann man eine erstaunliche Reise machen, in eigene Erinnerungen einer vergangenen Zeit. Auerhaus ist letztendlich die Konfrontation mit sich selbst. Getragen wird dieser Abend von der Musik Frieder Hepting/Johannes Hoffmann, die durch ihre Komposition maßgeblich zum Erfolg dieses Abends beitragen. Die Songs von Franziska Hartmann und Marie Jung sind zwei der musikalischen Höhepunkte des Abends. Selten eine so fantasievolle, lebendige Inszenierung gesehen, die einen einfach nur staunen lässt.
Leserkritik: Machine Müller, Gastspiel in Berlin
"Machine Müller": Kirill Serebrennikow, Gogol Center zu Gast am Deutschen Theater Berlin

Die 2016 erschienene „Machine Müller“ von Regisseur Kirill Serebrennikow und Choreograph Evgeny Kulagin setzt Maßstäbe, wie poetisch und klug sich Heiner Müllers schroffe Texte für die Bühne adaptieren lassen.

Im Zentrum seiner Collage steht das „Quartett“: Sati Spivakova und Konstantin Bogomolov, zwei namhafte Größen der Moskauer Theaterszene, liefern sich das sarkastische Duell zweier Zyniker, bei denen die Liebe zum Machtkampf wird. Mit eisigem Lächeln setzen sie ihre Spitzen und verschieben den Chor aus zwanzig hervorragenden Tänzerinnen und Tänzern nach Belieben wie Schachfiguren.

Ein herausragendes Erlebnis ist auch die kristallklare Schärfe, mit der Alexander Gorchilin Fragmente aus der „Hamletmaschine“ spricht. Als düsterer Todesengel flaniert er durch das Tanz-Ensemble und schnürt ihnen den Raum ab. Er bringt die ganze Wucht des Texts zur Geltung und geht wie mit Müllers Fleischermesser durch die Berliner Theaterszene, wo die „Hamletmaschine“ derzeit nur als recht fade Clownsnummer des Gorki-Exil Ensembles zu sehen ist. Gorchilin arbeitete bereits seit dem Studium mit Kirill Serebrennikow zusammen und war in der Rolle des Grigoriy auch einer der zentralen Protagonisten im sehenswerten Film „Der die Zeichen liest/The Student“.

Mehr als nur ein Zwischenspiel sind die Aufritte des Countertenors Arthur Vassiljev, der mit Arien von Purcell divenhaft zwischen den Szenen schwebt. Der noch stärkere Affront für die Moralwächter in Putins Apparat und der russisch-orthodoxen Kirche ist sicher die Freizügigkeit, mit der Evgeny Kulagins Tänzerinnen und Tänzer die Schönheit feiern. Ihre „Körperskulpturen“, wie sie Sonja Zekri (Süddeutsche Zeitung) als Moderatorin einer Gesprächsrunde über „Phantasie und Zensur“ nannte, sind wie in Stein gemeißelt und von einer umwerfenden Präzision und Energie, wie sie selten zu erleben sind.

Die „Machine Müller“ ist ein sehr poetischer, kraftvoller Abend, der an keiner Stelle explizit politisch agiert, aber im Subtext sehr viel über Putins Russland erzählt. Das subversive Spiel mit den konservativen Normen von Sexualität und Geschlechterrollen ist ebenso provozierend für die Staatsmacht wie ein zweiter Strang dieses Abends: Gewalt war für Heiner Müller stets ein zentrales Thema in seinem Werk. Videokünstler Ilya Shagalov und Lichtdesigner Igor Kapustin projizieren an den passenden Stellen leuchtende Flammen und Kriegsruinen an die Rückwände. Eindringlich sind auch die Szenen eskalierender Obrigkeitsgewalt, bei der Teile des Tanzensembles mit Helmen und Schlagstöcken auf die anderen losgehen, oder die Passagen zur Sklaverei, bei der sie sich gegenseitig zu Boden drücken.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/02/machine-mueller-herausragende-heiner-mueller-collage-von-kirill-serebrennikow-zu-gast-am-deutschen-theater-berlin/
Leserkritik, Das ferne Land, München
Leserkritik: "Das ferne Land", Münchner Volkstheater

In Frankreich ist Jean-Luc Lagarce der meistgespielte zeitgenössische Autor, nur Shakespeare und Molière stehen häufiger auf dem Spielplan. In Deutschland kennen ihnen auch viele Theater-Insider nicht. Daran hat auch die hervorragende Kino-Adaption seines Stücks „Einfach das Ende der Welt“ (2016) wenig geändert.

Lagarce schrieb dieses Stück übers Abschiednehmen und Sterben während eines sechsmonatigen Berlin-Aufenthalts: Louis kehrt zu seiner Familie zurück, zu der er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Der Grund ist: Er hat sich mit AIDS infiziert. Erst 34 Jahre jung wird er bald sterben.

Nur zwei Wochen vor seinem Tod an HIV konnte Lagarce 1995 noch eine aktualisierte Fassung von „Einfach das Ende der Welt“ fertigstellen: In „Das ferne Land“ lernen wir nicht nur die biologische Familie von Louis, sondern auch seine soziale (Wahl-)Familie, seine Freunde und Liebhaber.

Der französische Regisseur Nicolas Charaux inszenierte am Münchner Volkstheater die deutsche Erstaufführung dieses Stücks: ein fast dreistündiger Abend über einen Verlorenen. Von seiner Familie in der Provinz trennt ihn die tiefe Kluft, die Didier Eribon in seinem soziologischen Essay „Rückkehr nach Reims“ analysierte. Seine Schwester Suzanne flüchtet ins Plappern, sein Bruder Antoine reagiert wütend und aggressiv auf die Rückkehr des „verlorenen Sohns“. Aber auch in seiner Wahlfamilie findet er keinen Halt: der Liebhaber starb vor kurzem selbst an AIDS und geistert ebenso wie der Vater nur durch die Erinnerungen von Louis. Zwischen One-Night-Stands und einem langjährigen Freund, der ihn in die alte Heimat begleitet, fühlt er sich einsam.

Wie fern sich die Figuren sind, verdeutlicht Regisseur Charaux mit intelligentem Einsatz von Videos. Nicht nur die bereits Toten, sondern auch Louis tritt in Schlüsselszenen nur als Projektion auf der Leinwand mit ihnen in Kontakt. Eine Kommunikation auf Augenhöhe ist den Figuren nicht möglich. Gregor Knop ragt als Gast des Münchner Volkstheaters in der Hauptrolle des Louis heraus und wird zum Zentrum der melancholischen Szenen.

Mit dem Lichtdesign von Günther E. Weiß und der fast leeren Bühne von Pia Greven evoziert Charaux eine traurig-düstere Grundstimmung. Nach der Pause dauert es aber eine Weile, bis sich die Atmosphäre langsam wieder aufbaut. Ein weiterer Makel der Inszenierung ist, dass das Tableau der emotional verwahrlosten Figuren, die sich elf Spielerinnen und Spieler teilen, sehr überladen wirkt. An diesen Punkten bleibt die Theateradaption deutlich unter der Messlatte, die Xavier Dolan mit seiner Verfilmung des Stoffs sehr hoch gelegt hat. Dennoch war „Das ferne Land“ eine interessante Annäherung an den französischen Dramatiker Jean-Luc Lagarce, den die deutsche Theaterlandschaft für sich entdecken muss.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/12/das-ferne-land-nicolas-charaux-inszeniert-aids-drama-am-muenchner-volkstheater/
Leserkritik: Duncan Macmillan: Menschen, Orte und Dinge, Berliner Ensemble
Duncan Macmillan: Menschen, Orte und Dinge, Berliner Ensemble (Kleines Haus) (Regie: Bernadette Sonnenbichler)

Bernadette Sonnenbichlers deutschsprachige Erstaufführung zeichnet vor allem eines aus: Sie betont, wo das Stück eindeutig scheint und überpinselt Ambivalenzen mit grobem Strick. Sie setzt auf Effekte, wo Macmillan Zwischentöne einstreut, schreit, wo der Text flüstert, plakatiert, wo das Stück Brüche offenlegt. Zunächst setzt sie alles daran, das Wrack, das Emma (der Einfachheit halber nehmen wir mal den am längsten durchgehaltenen Namen) ist, zu illustrieren. Schwarz-weiße, verzerrte Störmuster (Video: Stefano Di Buduo) wabern über die unterbrochenen neutral passiven Wände mit vereinzelten Spiegeln und gleich vier Waschbecken (Bühne: Wolfgang Menardi), die unpersönlich anti-empathische Nichtarchitektur einer Therapieeinrichtung ebenso andeutend wie die Lücken im Ich ihrer Bewohner. Immer wieder setzt Sonnenbichler akustische und visuelle Störelemente, lässt es ständig schwarz werden, animiert einen Teddybären und verschiebt Möbel, zum Ende des ersten Therapieversuchs tanzt ein gelbes Ei über die Bühne, das sich in einen Hasenkopf verwandelt. Halluzinationen aus dem Klischeebaukasten von Sucht und Entzug – nicht, dass Sonnenbichler zwischen beiden unterscheiden würde. Das ist eindrucksvoll, aber so effektverliebt, dass es den Text über weite Strecken übermalt.

Dabei müht sich Sina Martens eindringlich, spielt die Süchtige mit vollem Ausdrucksspektrum, von verzweifelt bis rasend, von resigniert bis aggressiv. Vor allem aber störrisch: Über zwei Drittel hinweg fokussiert der Abend auf ihre Kooperationsverweigerung, spielt immer und immer wieder die gleiche Note. Gepaart mit einem grell klischeeverliebten Restensemble um den wahnhhaften Sucht-Entertainer Paul (Owen Peter Read), den trocken vernünftigen Therapiehelfer und (Ex-?)Junkie Foster (Oliver Kraushaar) und den quecksilbrigen Mark (Patrick Güldenberg, der mit seiner rohen Wandlungsfähigkeit hier seltsam fehl am Platz wirkt), der von totalem Wrack über aggressiv Verzweifeltem zu kühl-distanziert Geläutertem und schließlich flapsigem Buddy seinen Charakter öfter wechselt als andere ihre Unterwäsche, prügelt Sonnenbichler immer wieder auf das gleiche Pferd ein.

Was den ersten Teil wenigstens erträglich macht, die anschließende langsame Läuterung jedoch vollkommen aus dem bisher gesetzten Rahmen kippen lässt. Da fällt der Regisseurin nichts mehr ein, auch Licht, Video und Sound schweigen meist in dieser vollkommen ziel- und ratlos wirkenden Szenenfolge, die ein wenig abgemildert wird durch die Konfrontation mit den Eltern: Axel Werners resigniert ernüchtert liebender Vater und die bittere Härte der Mutter, die Josefin Platt (die auch die wohlwollend direkte Ärztin und die unsichere Therapeutin gibt) mit einem Hang zur plakativen Überzeichnung gibt. Da deutet sich so etwas wie ein wahrhafter Konflikt, ein von allen Seiten gefährdeter Annäherungsversuch, der kaum eine Chance hat gegen die erlernten Abwehrmechanismen, an, den die Darsteller*innen, allen voran Martens, gern annehmen, mit dem die Regisseurin jedoch weniger anzufangen weiß. Der plakativ künstliche Ton, der den ganzen Abend über jeglichen Empathieversuch des Publikums erschwert, die distanzierende Eindeutigkeit, die Materialschlacht, die Geschichte und Figuren verzwergt, bekommt auch der offene, schmerzhafte wie zaghaft hoffnungsvolle Schluss nicht aus dem theatralen System. Eine vertane Chance. Wenigstens das passt ja zum Stoff.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/04/26/schreien-statt-flustern/#more-8379
Leserkritik: DO’s & DON’Ts / HAU Berlin
DO’s & DON’Ts – eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt von Rimini Protokoll/Hebbel am Ufer

„Man weiß nicht, wo das Theater beginnt und die Realität aufhört, man kann es und man soll es auch nicht wissen“, schrieb Peter Michalzik in einem Porträt über das Dokumentartheater-Kollektiv.

Auf ihr neues Projekt „DO’s & DON’Ts – eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt“, das heute am HAU 1 in Kreuzberg seinen Start- und Zielpunkt hatte, trifft dies ganz besonders zu. In einem zum Bus umgebauten LKW wird das Publikum zu einer Tour zu den hässlichen, kontrastreichen Ecken Berlins mitgenommen. „Die Stadt stellt ein riesiges Laboratorium zur Beobachtung alltäglichen menschlichen Verhaltens dar“, schreibt Rimini Protokoll im Programmheft.

Die Reiseleitung hat ein sehr ungleiches Duo inne: Rudi, ein zurückhaltender Busfahrer, irgendwo aus der norddeutschen Tiefebene, der es mit den Verkehrsregeln nicht so genau nimmt und bereits 7,5 Punkte in Flensburg hat. Neben ihm sitzt die quecksilbrige, altkluge Berliner Pflanze Dido, die bei Zwischenstopps aus dem Wagen springt und mit Videoeinspielern ihres Schulchors für den musikalischen Rahmen der Tour sorgt.

Am Bahnhof Südkreuz klinkt sich auch Didos Bruder Jasper ein: eine Mischung aus Skater-Boy, Schülersprecher und politisch engagiertem Anarchisten, der von einer freien Gesellschaft ohne Regeln und Zwänge träumt. Auf dem Bahnsteig irritiert er die neuen Systeme für Gesichtserkennug, weil er minutenlang regungslos stehenbleibt, klettert dann über den Zaun zum Tempelhofer Feld und erklärt uns, wie streng die Freizeitaktivitäten auf dem Tempelhofer Feld reglementiert sind, und macht sich mit Rudi schließlich einen Spaß daraus, die Autofahrer im abendlichen Berufsverkehr dadurch zur Weißglut zu treiben, dass sie den Bus mitten auf dem Tempelhofer Damm querstellen.

„Welche Freiheiten habe ich? Was darf ich nicht mal denken? Wie wäre es, ohne Regeln zu leben?“ Es macht Spaß, Dido, Jasper und Rudi bei dem Versuch zuzusehen, Neukölln und Tempelhof unsicher zu machen. „DO’s & DON’Ts“ ist zwar kein neuer Meilenstein im Werk von Rimini Protokoll, aber ein erfrischend frecher, mal ganz anderer Stadtrundfahrts-Theaterabend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/03/dos-donts-rimini-protokoll-macht-mit-dido-jasper-und-rudi-neukoelln-und-tempelhof-unsicher/
Leserkritiken: Draufgängerinnen / DT Berlin (Box)
Junges DT – Tanja Šljivar: Draufgängerinnen. All Adventurous Womes Do, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Salome Dastmalchi)

Es war eine Klassenfahrt mit Folgen. 2014 kehrten sieben 13-jährige Mädchen in Bosnien und Herzegowina mit einer Überraschung von einem fünftägigen Schultrip zurück: Jede von ihnen war schwanger. Die kollektive Empfängnis schlug wellen, erreichte die Weltpresse, führte zu Diskussionen über sexuelle Aufklärung, Verhütung und natürlich vermeintliche moralische Defizite in der Gesellschaft. Jeder hatte etwas zu sagen, nur sieben Menschen blieben stumm: die schwangeren Mädchen. In ihrem Stück Draufgängerinnen. All Adventurous Womes Do gibt ihnen Tanja Šljivar nun eine Stimme. Und Regisseurin Salome Dastmalchi Gesichter und Körper. Vier weibliche und drei männliche, zwischen 15 und 19 Jahren alt. Geworfen in einen weißen, noch zu beschreibenden Raum. (...)

Die sieben treten vor allem als die Gruppe auf, die die Öffentlichkeit ihn ihnen sah. Das ist die Schwäche des Abends. Auch wenn einzelne zu Wort kommen und mitunter ihre Geschichten andeuten, stehen sie immer fürs Ganze, erscheinen sie austauschbar, nicht individuell und damit genau im Sinne der sie kollektivierenden und anonymisierenden Außenwelt aus Eltern, Ärzten, Kirche, Gesellschaft. Das ist ein kleiner Schönheitsfehler ansonsten eher starker eineinhalb Stunden. Denn die Energie, die Unbedingtheit, die herausfordernde Direktheit, mit denen die sieben Spieler*innen das Recht einfordern, für sich selbst nicht nur zu sprechen sondern ebenso zu leben, zündet. Die Freude über die positiven Schwangerschaftstest ist wie ein Sonnenaufgang, ein Anknipsen des Lichts, ein Moment, nach dem sie nicht mehr ignoriert, objektifiziert, benutzt werden können. Zumindest glauben sie dies. Dabei findet der Abend stets den richtigen Ton: die Aufgeregtheit frühpubertärer Schulhofgespräche, das Selbstbewusstsein sich findender (wenn auch kollektiver) Ichs – etwa in einer wunderbaren Catwalk-Szene mit Umschnall-Babybäuchen – die Teenage-Träume von einer besseren Zukunft, die stillen, reifen, klarsichtigen Selbstreflexionen.

Spielerisch ist der Tenor, die Schwangerschaft ein Abenteuer, ein Rammbock, der die Tür zum Erwachsenwerden aufstößt. Doch die Gesellschaft schläft nicht. Langsam ändert sich die Athmospäre, friert das Lächeln ein, werden die Körper rigider, die Gesichter ernsthafter. In roten einteiligen Overalls stecken die sieben. Sie erinnern ein wenig an Gefangenen-Uniformen à la Guantanamo, das rot ist Herausforderung, aber auch Scham, Symbol der gesellschaftlichen Verurteilung. Immer wieder ballen sich die Mädchen und Jungen – die Gender-Mischung steht für die Universalität des Behandelten, aber auch für die Verantwortung der sich gern entfernenden Väter (Stromaes unvermeidliches „Papaoutai“ erklingt mehrfach) – zusammen, suchen die Nähe des anderen, die Wärme der Gruppe, bilden Tableaux gemeinsamer Verzweiflung wie Widerständigkeit. Gemeinsam sind sie vielleicht (noch) nicht stark genug, um dem übermächtigen Außen zu widerstehen (am Ende treiben alle ab). Aber es hat sich etwas geändert: Sie haben ihre Stimmen gefunden, ihre (kollektive) Identität, ihre Stärke, die eine dediziert weibliche in einer patriarchalen Welt ist. „Wir sind die Zeitbomben der Zukunft. Wir werden explodieren“, sagen sie, ruhig und bestimmt, nachdem sie ihre Zukunft gerade getötet zu haben scheinen. „Uns ist nichts zugestoßen“, behaupten sie am Ende. Vom Status Quo um sie herum lässt sich das nicht sagen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/04/zeitbomben-der-zukunft/
Leserkritik: Bürger Schippel, Schleswig Holsteinisches Landestheater
Carl Sternheims "Bürger Schippel" ist ein groteskes Sittenbild der wilhelminischen Zeit. Eine bissige Satire auf den bürgerlichen Standesdünkel. Sternheim wollte mit seinem „Bürger Schippel“ die Schwachstellen des Mittelstandes aufdecken. Sternheims „Bürger Schippel“ ist die absurde Komödie des rücksichtslosen Aufstiegs eines rückgratlosen Menschen. Der Proletarier Schippel, der sich mittels seiner Tenorstimme zum „Bürger“ hochsingt, zeigt exemplarisch den kriecherischen Weg zur Macht. 23 Jahre nach der Uraufführung, schrieb Sternheim, „dass alle Volksverführer und Mitläufer, die die Macht in Händen halten, ihr Urbild in dem Bastard Schippel haben“. Sternheim wollte mit seinen Stücken auf Probleme und Fehler in Deutschland hinweisen und die Gesellschaftsordnung reformieren. Die Integration des Proletariers Schippel in den Bürgerstand wird durch verschiedene Episoden wie die Gartenszene des Schauspiels unterbrochen. Thema im Bürger Schippel ist das Selbstbewusstsein des Menschen, primär nicht das, des Proletariers Schippel, sondern des Bürgers Hicketier und die Darstellung seiner Reflexion über den gesellschaftlichen Platz seines Standes. Zu diesem Thema passen eigentlich nicht die eingeschobenen Spielszenen was zur grotesken Verfremdung führt. Was kann uns Sternheim mit seinem Stück heute noch sagen? Ausgrenzung ist auch heutzutage ein aktuelles Thema, wenn wir an die Emigranten, Arbeitslosen und die Ärmsten unserer Gesellschaft denken, die vom gesellschaftlichen Leben der Mittelschicht ausgeschlossen werden. Oder wenn wir uns politische Entwicklungen anschauen, die schon wieder faschistische Züge zeigen. Sternheim ist also Top aktuell. Seine klare, kahle analytische Sprache legt die Schwächen der mittelständigen Gesellschaft wie mit einem Seziermesser frei. Leider fehlt der Inszenierung diese Schärfe. Doch es sind die Darsteller*innen, die Sternheim immer wieder zum Leben erwecken. Manja Haueis als Thekla interpretiert Thekla als junge, emanzipierte Frau mit dem Selbstbewusstsein selbstbestimmt zu leben. Lisa Karlström als Jenny fasziniert mit ihrer klaren sezernierenden Sprache und spielt Sternheims Text grandios. Lorenz Baumgarten als Bürger Schippel spricht die meisten Texte ins Publikum. Er hält uns den Spiegel unserer Unzulänglichkeiten vor Augen. Er wird zum Sprachrohr Sternheims und sezerniert die zu kritisierenden gesellschaftlichen Gegebenheiten, um letztendlich auch einer des zu kritisierenden Mittelstandes zu werden. Seien wir gewarnt, dass wir nicht wieder Volksverführern als Mitläufer hinterherlaufen, statt uns selbstbewusst und selbstbestimmt für eine gerechtere Welt zu engagieren.
Leserkritik: "Die Präsidentin" bei den Ruhrfestspielen
"Die Präsidentin", Koproduktion Ruhrfestspiele Recklinghausen und Theater Magdeburg, Regie: Cornelia Crombholz

Der Einlass ins Kleine Haus der Ruhrfestspiele verzögerte sich ca. 15 Minuten wegen „technischer Probleme“. Als das Publikum endlich Platz nehmen darf, herrscht auf der Bühne noch hektische Betriebsamkeit. Alle packen mit an, vom Bühnentechniker bis zur Hauptdarstellerin Corinna Harfouch, die an diesem Abend in die Rolle der Front National-Einpeitscherin Marine Le Pen schlüpfen soll.

„Sind die mit dem Bus gerade erst aus Magdeburg angekommen?“, wundert sich ein Besucher. Das Geräume nimmt kein Ende. Was zu Beginn noch halbwegs koordiniert schien, entpuppt sich als ziellose Kulissenschieberei. Genervte Zwischenrufe, ironisches Klatschen. Corinna Harfouch tritt an die Rampe und poltert: Es ist eh alles so schlimm. Theater kann nichts mehr bewirken. Deswegen haben wir uns entschieden, zwei Stunden lang nur alles hin- und herzuschieben.

Was nun folgt, macht die Sache nicht besser. Die Koproduktion „Die Präsidentin“ des Theaters Magdeburg und der Ruhrfestspiele Recklinghausen war als Uraufführung der gleichnamigen Comic Novel der beiden Franzosen Francois Durpaire und Farid Boudjellal angekündigt, die den Gedanken weiterspannen, was passiert wäre, wenn vor einem Jahr nicht Emmanuel Macron, sondern Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt worden wäre.

Unter der Regie von Cornelia Crombholz verkommt dies zur Farce mit klischeehaften Theatermitteln aus der Polittheater-Mottenkiste. Corinna Harfouch setzt sich eine alberne Pappkrone auf, stottert sich mit verschmierter Clownsschminke durch eine Rede ans Volk und wird von einer Truppe unfähiger Knallchargen und Hofschranzen umlagert.

Mäßig komisch schleppt sich der Abend dahin. Harfouch tritt noch mal aus der Rolle und erklärt: Bei den Proben habe man lange nicht gewusst, wie man auf die Weltlage und all die Probleme reagieren soll. Dann habe man auf einm Magazin-Titelbild Trump und seine Minister als Clowns abgebildet gesehen. Deshalb sei man auf diesen Spielstil verfallen.

Gegen den Rechtspopulismus und Trump kommt man mit derart ironisch zur Schau getragener Ratlosigkeit keinen Milimeter weiter. „Ging so“ und „durchwachsen“: so lauteten die euphemistischen Satzfetzen des Publikums auf dem Heimweg. Schade, dass Gerhard Stadelmeier schon im Ruhestand ist. Er hätte sicher die richtigen Worte für diese fade Veranstaltung gefunden. Auf der Webseite der Ruhrfestspiele wird er zitiert: „Die Diktatorin in der Warteschleife, gespielt von einer Schauspielerin, deren einzigartige Bühnenpräsenz Gerhard Stadelmaier in der FAZ einmal die „Kunst des Raubtiers“ nannte, die Schauspielerin selbst eine „blitzgescheite Beherrschungsberserkerin“. Hinter den hier geschürten Erwartungen blieb „Die Präsidentin“ meilenweit zurück.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/12/die-praesidentin-corinna-harfouch-als-marine-le-pen-mit-pappkrone-in-einer-farce-bei-den-ruhrfestspielen-und-in-magdeburg/
Leserkritiken: "Heisenberg"/Studiotheater Stuttgart
'Heisenberg' ist der Name eines deutschen Wissenschaftlers und Nobelpreisträgers. 'Heisenberg' ist der Titel des Theaterstücks von Simon Stephens.
Viele kennen den Namen 'Heisenberg' auch aus der US Serie 'Breaking Bad’ wo der Antiheld, ein gescheiterter Lehrer, Drogenbaron und Familienmensch diesen Namen als Decknamen wählt. Und hier wie dort, spielt die bekannte Heisenbergsche Unschärferelation eine unscharfe Rolle mit. Laut Wikipedia handelt es sich dabei um die Aussage in der Quantenphysik, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig genau bestimmbar sind. Literarisch steht dies wohl als Metapher für die Unschärfen und Ungenauigkeiten von Beziehungen und Personen.

Aber zum Stück von Simon Stephens: Ein alter Mann, Alex Priest (Stefan Viering) wird von einer jungen Frau, Georgi Burns (Lisa Wildmann) in Gespräche gezogen aus denen sich eine Liebesgeschichte in Form eines Road Movie entwickelt. Beide, der alte Misanthrop und die naive Betrügerin haben die Herzen am rechten Fleck und am Schluss gibt es ein Happy End. So gesehen besteht höchste Schnulzengefahr. Dass dem nicht so ist, liegt an den herausragenden Leistungen der Akteure und an den guten Dialogen, die die oszillierenden Unschärfen in den Beziehungen zwischen den Protagonisten ausloten.

Alex Priest hat nie viel von der Welt erwartet, hält nicht viel von Menschen und Gefühlen. Er bestreitet auch, dass es so etwas wie 'Persönlichkeit' gibt. Persönlichkeit wird für ihn von Augenblick zu Augenblick aus aktuellen Handlungen und den wechselnden Erinnerung ständig neu definiert. Nicht was man sein will ist für ihn entscheidend, sondern das, was man tut. Stefan Viering verkörpert den alten Mann mit Kraft, Ehrlichkeit und Natürlichkeit, die vergessen macht, dass er das 'nur' spielt.

Lisa Wildmann als Georgi Burns spielt überzeugend sowohl das komplementäre Element wie auch das Gegenteil von Alex Priest. Jung, quirlig, unstet, wild - in einem Satz beschwört sie mehrmals das Gegenteil von dem, was sie soeben noch gesagt hat und meint es trotzdem jedesmal 'ehrlich'. Sie ist in dem was sie sagt und tut nicht greifbar und kann deshalb auch nicht aus ihren Handlungen definiert werden, wie es dem Weltbild von Alex Priest entspricht. Dass sie trotz dieser unüberbrückbarezn Gegensätze doch einen gemeinsamen Modus finden ist das spannende an diesem Abend und der Grund, warum das Publikum begeistert mitgeht. Am Ende gab es zurecht viele Bravos und langen Applaus. Das Stück und das Studio Theater sowieso, sind wärmstens zu empfehlen.
Leserkritik: Ballroom Schmitz, Berlin
Berliner Ensemble, 19.5.2018
Die neue Inszenierung „Ballroom Schmitz“ ist für Kenner des Theaters von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht so neu nicht: wieder eine Radio-Show. Dieses Mal findet sie auf der Bühne des Berliner Ensembles statt, d.h. im Theater am Schiffbauerdamm, von wo aus angeblich in den 20-/30er Jahren eine legendäre Radio-Show versendet wurde. Das wird dreist behauptet. Ebenso, dass ihrem Erfinder Bernhard „Bernie“ Schmitz an diesem Abend gehuldigt wird – gesanglich, tänzerisch und an den Instrumenten sehr virtuos, solistisch und chorisch: Nico Holonics, Annika Meier, Tilo Nest, Friedrich Paravicini, Owen Peter Read, Carina Zichner und der Mit-Autor, -Regisseur und Arrangeur Clemens Sienknecht. Bravo!

Der Bühnenhintergrund erinnert mehr an einen Salon als an eine Radiostation, so wie in den beiden Stücken in Hamburg. Dort wurde erst „Effie Briest“, dann „Anna Karenina“ – „allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ – durch die Sienknecht-Bürk´sche Radio-Show-Maschine hindurch gepresst. Mit Erfolg. Weil – so las ich – den Schauspielern ihre Spielfreude so herrlich anzumerken war. Aha: Theater ist also dazu da, denen, die es machen, Freude zu bereiten. Clemens Sienknecht offenbarte 2016 im Interview anlässlich der Verleihung des Hamburger Theaterpreises für das „Effie Briest“-Stück, das auch zum Theatertreffen eingeladen war: „Je berühmter der Text, desto einfacher, die Erwartungen der Zuschauer zu unterwandern.“

Heute ist die Grundlage kein Werk der Weltliteratur, sondern ein während der Proben entwickeltes Skript. Ob es den Radiopionier Schmitz und dessen Show je gegeben hat, und ob er dabei die Äthergeige erfunden hat, ist wohl ebenso egal wie die Frage, warum fast alles auf Englisch gesungen wird, und warum plötzlich Brechts Stimme eingespielt wird, um einen Schauspieler beim Gedichtvortrag fertigzumachen. Doch die Frage: "Wozu diese ' verschmitzte' Mischung aus erfundener Biografie, skurrilen Foto-Projektionen, Wortverdreh-, Tanz- und Gesangsnummern, die immer auf der gleichen Ebene schwebender Absurdität verbleibt?" entlarvt den Fragenden als humorlos und hoffnungslos veraltet. Dies hier ist postmoderne "Wurst", in die Tanzeinlagen und Werbe-Jingles genauso hineinpassen wie Parodien auf Joe Cockers herzzerreißende Fassung des Beatles-Songs „With a little help from my friends“ oder das fatalistische Heimweh-Lied von Brecht / Eisler „Und ich werde niemals sehen“. Angenehm heraussticht da der angebliche Schmitz-Forscher der Humboldt-Universität, Dr. Schliemann, in Gestalt von Werner Riemann, der seit Jahrzehnten Interessierte durch das BE führt. Er wirkt zöherlich und scheint sich – als Einziger auf dieser “wellness-stage“ – zu fragen: „Was tue ich hier eigentlich?“ Denn es wird nie klar, wer hier veralbert wird. Folge 795 der Show endet irgendwann ebenso launig und zufällig, wie sie begonnen hat: "Bis zur nächsten Folge!"

Egal, was Sienknecht/Bürk als Nächstes „verwursten“ – ob die Tagesschau vom 9. 11. 1989, den Krankenbericht von Roger Willemsen, die letzten Worte der Black-Box des Flugs MH 17, Koran-Suren oder die Speisekarte der BE-Kantine – , es wird dabei eine irgendwie schrille, trashige Radio-Show herauskommen. Garantiert. Wem dies genug ist für einen Theaterbesuch, der wird hier bestens unter-halten. Wer sich vom Theater eine geistig-emotionale Anregung und Verbindung zur Welt erhofft, stellt sich schon während dieses Abends verärgert die Frage: Wozu das Ganze? 

20.05.2018, Lydia Richter







  
Leserkritik: Ballroom Schmitz, Berlin
Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Ballroom Schmitz. Ein Radioclub für Weltempfänger, Berliner Ensemble (Regie: Clemens Sienknecht, Barbara Bürk)

(...)

Die Geschichte des Bernhard Schmitz ist natürlich eine Art theatraler Schelmenroman, die Geschichte eines Unangepassten, der mit Humor, subversiver Naivität und nicht zu bremsender Kreativität, sich durch eine einengende und feindselige Welt navigiert und sie für einen Augenblick ein kleines bisschen weiter macht. Dem denn auch allerlei Fremdes zugeschrieben wird: So manches Juwel der Popgeschichte wird Schmitz zugeschustert, seine „Gedichte“ sind bekannte Songtexte, auch so manche Erfindung – etwas das Theremin, das hier „Ätherwellen-Geige“ heißt – eignet er sich an. Ein liebenswerter Gauner, der seinen eigenen Eulenspiegel-Feldzug gegen „Realität“ und „Fortschritt“ führt. Das wäre vielleicht sogar interessant, würden sich Bürk und Sienknecht weiter für diese Ebene interessieren. Stattdessen gleicht der Abend einem Kindergeburtstag der nervigeren Sorte. Jede noch so abstruse Idee wird verfolgt, jedes Wortspiel ausprobiert, jede Song-Persiflage versucht. Musikalisch ist der Abend ebenso unterhaltsam wie virtuos – die Harmonien bei „Helplessly Hoping“ haben selbst Crosby. Still and Nash nicht so perfekt hinbekommen – durch seinen Einfallsreichtung auch immer wieder äußerst komisch.

Und beginnt irgendwann doch sehr zu langweilen. Nämlich dann, wenn dem Zuschauer einfällt, dass hinter all den hübschen und schrägen Ideen nicht nur nichts steckt, sondern sie selbt alles andere als originell sind. Die Tanztheaterparodien, die Song-Überschreibungen mit nicht passenden Texteinschüben, die Buchstabenvertausch-Wortspiele, die verglichen Flirtversuch-Slapsticks, die harmlosen Hochstaplereien – das alles sind hundertfach erprobte Versatzstücke seichteren Comedy-Fernsehens. Zumal auch noch reichlich Selbstzitäte hinzukommen: Die Unterzeile früherer Bürk/Sienknecht-Abende („allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie) findet sich ebenso wieder wie die zunehmend langweilenden Irritations-Virtuositäten gern auch mal live performter springender Schallplattennadeln.Weit entfernt davon, irgendetwas wirklich erzählen oder sich mit einer verklärten, erfundenen, herbeigesehnten Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen, berauscht sich der Abend an seinem eigenen Einfallsreichtum, dem ironischen Überlegenheitsgefühl, das bestenfalls als pubertär zu bezeichnen ist, und einem kunsthandwerklichen Willen zur Unterhaltsamkeit, die vor nichts zurückschreckt. Der geneigte Zuschauer ertappt sich jedoch irgendwann dabei, dass er diesem ganzen Spaß immer befremdeter gegenübersteht, wie ein Elternteil, das beim Kindergeburtstag nicht verstehen kann, wie die lieben Kleinen seit einer halben Stunde über den gleichen Witz zu lachen imstande sind. Schlimmer noch: Bürk und sienknecht wissen natürlich genau, was sie tun, wissen, wie sie das Publikum zum Lachen bringen, setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Hauptgericht, sicher im wissen um die gewünschte Wirkung. Und so ist Ballroom Schmitz nicht nur weitgehend substanzfrei und selbstverliebt, sondern auch berechnend bis an den Rand des Zynismus. Bernhard Schmitz und seine Zeitgenossen eskapistischen Entertainments wären stolz.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/20/radio-ga-ga/
Leserkritik: Ballroom Schmitz, Berlin
"Ballroom Schmitz", Barbara Bürk/Clemens Sienknecht, Berliner Ensemble

Die knapp zwei Stunden könnte man als launige Nummernrevue zusammenfassen, die sich vor allem aus zwei Quellen speist: Erstens der skurrile Humor slapstickartiger Intermezzi, die unverkennbar den Geist von Christoph Marthaler atmem, mit dem Bürk/Sienknecht lange zusammengearbeitet haben. Zweitens eine Grundidee, die Achim Hagemanns „Der Popolski Show“ (seit 2008 im WDR und auf Kleinkunstbühnen) ähnelt. Während laut Hagemann die gesamte jüngere Musikgeschichte ohne den schrulligen Popolski nicht denkbar wäre, liegt dem „Ballroom Schmitz“ der Gag zugrunde, dass die bekannten Songs und Ohrwürmer von „Hey Joe“ bis „Billie Jean“ angeblich entweder auf einer Idee von Bernhard Schmitz beruhen oder von den Musikern ihm als Hommage gewidmet sind.

Das Herzstück des Abends sind ganz klar die Parodien und Überschreibungen der Songs. Dann ist der Abend ganz bei sich: amüsant, schlitzohrig und auf überzeugendem musikalischem Niveau. Die Überleitungen und Zwischenspiele sind jedoch leider eher zäh geraten. Wie schon bei „Effi Briest“ gibt es als „Running Gag“ wieder einen Werbe-Jingle des fiktiven Radiosenders und eine Unmenge mehr oder weniger zündender Kalauer. Werner Riemann, der regelmäßig Führungen durch das Theater am Schiffbauerdamm anbietet, hat einen kurzen Gastauftritt in der Veräppelung eines Expertengesprächs, dessen Witz darin besteht, dass der Moderator seinem Gast keine ganzen Sätze, sondern nur ein kurzes Nicken oder ein „Ja, so ist es“ entlocken kann.

Ganz hübsch ist der Auftritt des völlig verschüchterten Owen Peter Read: er soll Passagen aus „Trommeln in der Nacht“, Brechts Frühwerk, das Christopher Rüping gerade beim Theatertreffen präsentiert hat, vorsprechen. Aus dem Off donnert die Stimme Brechts, der ihn immer wieder korrigiert, zurechtweist und Regieanweisungen gibt, die irritieren.

Als Musikkabarett funktioniert der Abend wunderbar, die Rahmenhandlung ist diesmal jedoch recht fad. Der Reiz, der durch ironische Kommentare und Querverweise auf „Effi Briest“ entstand, stellt sich beim „Ballroom Schmitz“ nicht ein. Die Meta-Ebene kommt zu kurz. Das gut unterhaltene Publikum spendete dennoch freundlichen Applaus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/19/ballroom-schmitz-barbara-buerks-und-clemens-sienknechts-schlitzohrige-nummernrevue-am-berliner-ensemble/
Rimini Protokoll "Do's & Don'ts, Berlin: Überwachung
Rimini Protokoll (Aljoscha Begrich, Helgard Kim Haug, Jörg Karrenbauer): DO’s & DON’Ts – eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt, Hebbel am Ufer, Berlin

Da steht er. Ein vielleicht 16- oder 17-jähriger Junge. Regungslos. Die Sonnenbrille im Gesicht, Rücksack und Skateboard neben sich. Minutenlang, ohne sich zu bewegen, gelehnt an eine Säule auf dem S-Bahnsteig des Bahnhofs Südkreuz. Um ihn herum andere, die auf die Bahn warten. Sie trinken Bier, laufen herum, blicken sich um, starren auf Handy. Geben Lebenszeichen von sich. Nicht er. Und wir? Wir beobachten ihn, beobachten die anderen, hören Stimmen von Kindern, die sich fragen, wie sie auf jemanden wie ihn reagieren würden. Einen der nichts tut. Gar nichts. Würden sie die Polizei rufen und wenn ja, wie einige sagen, warum eigentlich? Denn er tut ja nichts. Was macht ihn verdächtig, was ist normales Verhalten und was nicht. Und vor allem: Wer bestimmt das und auf welcher Wertebasis. Und was und wer gibt uns eigentlich das Recht zuzuschauen, diese Menschen ohne ihre Wissen zu beobachten? Kurz darauf stehen wir vor dem Eingang des Bahnhofs, da, wo ein Pilotprojekt zur Gesichtserkennung läuft. Wo es um Überwachung geht, wie der Junge, der sich einen schwarzen Strich ins Gesicht gemalt hat, um das System auszutricksen, sagen wird. Spiegeln wir nicht diesen überwachenden Blick?

(...)

Dabei geht es – und deshalb ist die Figur des jugendlichen Schülersprechers, Kapitalismusverweigerers, Überwachungsgegners und Dauerdemonstrierers Jasper so wichtig – darum Fragen zu stellen, zu hinterfragen, was wir sonst hinnehmen. Im Kleinen wie im Großen, in der Familie, in der Schule und in der Gesellschaft: Wer macht die regeln, warum und welche Auswirkungen haben sie. Und so steht Jasper da, auf der anderen Seite des Zauns um das Tempelhofer Feld und erklärt uns, warum dieser Ort eben kein Freiraum, kein Freiheitsraum ist – nämlich, weil jemand willkürlich entscheiden kann und das auch tut, wer rein darf und wer nicht, wann der Ort zu nutzen ist und wofür, was wo gemacht werden darf und was eben nicht. Auch hier verändert sich der Zuschauerblick, nimmt er Bekanntes neu und anders dar. Ja, vieles in diesen zwei Stunden ist Leerlauf, Videoeinspieler und Chor-Lieder oft Lückenfüller, manche Gimmicks, etwa der Fahrerwechsel von Rudi zu Jasper am Ende oder die Beschallung eines Reihenhausviertels mit Hip Hop, albern und effekthascherisch.

Doch wenn das Fenster aufgeht, der Blick in und auf die Stadt wandert und zuweilen, meist verwundert, manchmal neugierig, einmal auch mit Stinkefinger, zurückgegeben wird – so ganz undurchdringlich ist die Verspiegelung wohl doch nicht – dann fordert er den Schauenden zur Positionierung heraus, stellt ihm Fragen, etwa darüber, warum die befragten Kinder so viel Angst haben vor der Außenwelt, oder eben wie illusorisch die Freiheit, in der wir zu leben vermeinen, womöglich ist, und was ihr Preis sein mag. Und er bringt uns in eine fragwürdige Position, die des Voyeurs, des Kontrollierenden, des Überwachenden, eine Umkehrung, die sensibilisieren mag, wenn wir wieder auf der anderen Seite stehen und nicht wissen, wer uns gerade beobachtet und warum. Und ob das, was wir tun – oder eben nicht tun – von diesem Beobachter nicht als regelwidrig, als Gefährlich, als zu sanktionieren aufgenommen wird. Am Ende treten die 30 Teilnehmer*innen hinaus in eine Stadt, die vielleicht nicht die gleiche ist, aus der sie vor zwei Stunden diesen Raum, in dem einst Schweinehälften baumelten, betreten haben.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/27/die-stadt-erblicken-lernen/
Leserkritik: Prometheus. 25 Jahre Unabhängigkeit, Berlin
"Prometheus. 25 Years of Independence" von Davit Gabunia und Data Tavadze, Royal District Theatre, Tiflis bei "Radar Ost", DT Berlin

In den knapp zwei Stunden zeichnen sie mit gemeinsam mit ihren acht Spielerinnen und Spielern ein sehr düsteres Bild von der postsowjetischen Kaukausrepublik und der Welt. Eine angedeutete Vergewaltigung, kompromittierende Videos, mit denen Gegner erpresst werden, rüde Verhörmetoden bis hin zur Folter, dazwischen mischen sich Erinnerungen an den rechtsextremistischen Terrorakt von Anders Breivik gegen das Jugendcamp auf der Insel Utoya: in ihrer assoziativen Szenenfolge reiht sich ein Negativbild an das nächste. Ähnlich düster und sperrig beschrieb Nachtkritik die erste deutsch-georgische Ko-Produktion „Tiger und Löwe“, mit der Tavadze/Gabunia vor wenigen Wochen in Karlsruhe vom stalinistischen Terror erzählten.

Aus der bedrückenden Monotonie ragen nur wenige Bilder heraus, die sich einprägen: Ein Mann, der zahlreiche Stühle gleichzeitig mit sich herumtragen und balancieren muss. Sein Körper wirkt darunter wie in eine Rüstung eingezwängt. Das Ensemble, das einen halbnackten Spieler mit Filzstift markiert: einer nach dem anderen tritt vor, zerrt an ihm und bemalt ihn. Die Aktion, mit der der Abend beginnt, fokussiert sich vor allem auf die Leber des Opfers.

In der Schluss-Sequenz wird der Bogen zurück zu dieser Eröffnung geschlagen: an eine lange Holzstange gefesselt, die an die Passion Christi erinnert, klagt Prometheus über die Strafe, die ihm im griechischen Mythos auferlegt ist. Als Strafe für seine Hybris, den Menschen das Feuer gebracht und sich zum Gegenspieler von Zeus aufgespielt zu haben, wird er von Zeus an einen Kaukasus-Felsen gekettet und muss es wehrlos über sich ergehen lassen, dass ein Adler über ihm kreist und seine Leber frisst, die ihm jedes Mal nachwächst, so dass sich seine Qual ebenso als ewiger Kreislauf wiederholt wie das Leid der Figuren im Stück „Prometheus. 25 Jahre Unabhängigkeit“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/01/radar-ost-eindruecke-vom-neuen-osteuropa-festival-am-deutschen-theater/
Leserkritiken: "Trans Trans Trance" von Radar Ost / DT Berlin
Leserkritik: "Trans Trans Trance" von von Kamilė Gudmonaitė, Gastspiel OKT / Stadttheater Vilnius - Litauen, bei "Radar Ost", DT Berlin

Vielversprechend begann das litauische Gastspiel „Trans Trans Trance“ von Kamilė Gudmonaitė: Die drei Performerinnen (Dovilė Kundrotaitė, Jovita Jankelaitytė, Adelė Šuminskaitė) stürmen im „Pussy Riot“-Stil mit Masken in die Box des Deutschen Theaters. Das könnte eine anarchische, kraftvolle Auseinandersetzung mit der bestehenden Ordnung und den Geschlechterverhältnissen werden, wie sie sich die Litauerinnen vorgenommen haben.

Recht schnell erschöpft sich der Abend in einem müden Geplänkel, das sich an bekannten Klischees und Rollenmustern abarbeitet. Mal geht es um das „90-60-90“-Schönheits-Diktat der Modeindustrie, mal werden all die berühmten Markennamen in einem ermüdenden Name-Dropping aufgezählt, mal werden Glamour-Tussis, deren ganzer Lebensinhalt darin besteht, sich in schicke Klamotten zu werfen und gemeinsam zu trinken, in einer Nummer karikiert, die in slapstick-haftes Herumsauen mit der Zuckerdose mündet. Den aktuellen Debatten wird wenig Neues hinzugefügt, die einzelnen Nummern wirken zu beliebig aneinandergereiht. Nach einem kollektiven Striptease des Trios im Halbdunkel springen sie zu einem Klage-Solo, wie groß die Hürden für eine Abtreibung in ihrem katholisch geprägten Land nach wie vor sind.

Gegen Ende besteht kurz die Hoffnung, dass der Abend doch noch eine konzentriertere Form finden könnte. In mehreren kurzen Passagen kristallisiert sich das zwar schon im Titel präsente, aber bis dahin vernachlässigte Thema der Transsexualität heraus. Eine Spielerin schildert ihre schmerzhaften Diskriminierungserfahrungen und wird von einer anderen Spielerin zur Seite geschoben. Sie versucht das Berliner Publikum aus der Reserve zu locken und mit den bekannten populistischen Phrasen zu provozieren, dass Transsexualität eine widernatürliche Abweichung und einfach ekelhaft sei. Ein Dialog kommt aber nicht zustande.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/01/radar-ost-eindruecke-vom-neuen-osteuropa-festival-am-deutschen-theater/
Leserkritik: Draufgängerinnen, Berlin
Leserkritik: "Draufgängerinnen", Junges DT, Box des Deutschen Theaters Berlin

Diese beiden Namen sollte man sich merken: Erstens Tanja Šljivar, kurz vor dem Bürgerkrieg in Jugoslawien geboren, schrieb ihren Text, der die anonymen Mädchen ihre Sicht der Dinge erzählen lässt, als Writer-in-Residence im Kosovo. Sie lässt die Protagonistinnen diverse Wechselbäder erleben: anfängliche Euphorie, dass sie alle gemeinsam schwanger wurden und ein großes Abenteuer auf dem Weg zum Erwachsenwerden erleben dürfen. Ernüchterung darüber, dass die Eltern, Lehrer und Ärzte sie moralisch verurteilen und im Regen stehen lassen. Trotzhaltung und Aufbruchstimmung, es vielleicht doch gemeinsam zu schaffen. Zweifel und Ausweichen. Rätselraten, wer die Väter sein könnten. Schließlich der Entschluss, gemeinsam abzutreiben. Šljivar schildert diese pubertären Nöte in kurzen, flotten Szenen. Ihr Talent zeigte sie auch in ihrem nächsten Text „Vor solchen wie uns haben uns die Eltern immer gewarnt“, der 2017 beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens als szenische Lesung präsentiert und vor wenigen Tagen am Schauspiel Stuttgart mit guten Kritiken uraufgeführt wurde.

Der zweite Name, den man sich merken sollte, ist Regisseurin Salome Dastmalchi, die mehrfach am Ballhaus Naunynstraße inszenierte, und gemeinsam mit Niloufar Shahisavandi und ihrem Ensemble mitreißende Choreographien erarbeitete. Die sieben Mädchen werden von einem gemischten Ensemble des Jungen DT gespielt: drei Jungen (Eren Gündar, Bruno Liebler, Peter Steden) und vier Mädchen (Livia Marlene Wolf, Marthe Müller Lütken, Chenoa Nort-Harder, Emmi Büter) treten im Einheitslook aus „Orange is the new black“-Overalls und weißen T-Shirts an. Zum Nirvana-Klassiker „Smells Like Teen Spirit“ feiern sie ekstatisch ihre Schwangerschaft. Zu französischen Chansons und Popsongs werfen sie sich in Catwalk-Posen und flirten selbstbewusst mit dem Publikum. Strenges chorisches Sprechen, kleine Solo-Nummern und wildes, nervöses Durcheinanderreden wechseln sich an diesem Abend ab. Ein Gimmick für die Digital Natives sind die Brainstorming-Szenen, in denen mit Twitter-Hashtags verschiedene Lösungswege an die weißen Wände gekritzelt werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/11/draufgaengerinnen-box-deutsches-theater-kritik/
Leserkritik: Please, repeat after me, München
Leserkritik: Please repeat after me" von Ziad Adwan im HochX vom 7.-9.6.2018

Wer kann sich schon trauen, die aktuellen Probleme der Migranten bitter-komisch zu beleuchten? Nur Migranten. Dabei wird der Begriff "Migranten"schon völlig verwaschen gebraucht, und meint meist Asylbewerber, oder Geflüchtete, nein Flüchtende. Unscharf, verwaschen sind auch die Videos, die Ziad Adwan auf lange Plastikplanen im Münchner HochX Theater projiziert, holprig der Ton, unsicher der Ablauf. Das scheinbar ungeprobte Stück konfrontiert seine Zuschauer mit dem Unvorhersehbaren, den Zufällen und den Willkürlichkeiten rund um Migration. Wer ist die Person im Pass? Wer ist der oder die echte - der eingetragene Mann oder die in Erscheinung getretene Frau? Wo zuerst noch ernsthaft Bruchstücke der Migranten-Realität tänzerisch verarbeitet werden, wo Angst, Einsamekit, andere narrative Kulturtechniken bruchstückhaft aneinandergereiht werden, verschwimmt im Laufe des Stückes über dem sich scheinbar auflösenden Theaterabend auch die Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Ernst und Heiterkeit, zwischen Schauspielerin und Rolle. Hohläugig und manisch schleicht eine Tänzerin zusehends verwirrt von Bühne in den Zuschauerraum und hinter die Bühne, führt sinnlose kleine Befehle aus und entfernt sich erst lange nach dem Schlussapplaus aus ihrer Rolle - erst ganz zum Schluss, als sie das Kopftuch abzieht und mit ihren Kollegen einen geglückten Theaterabend genießt, der gekonnt zwischen allen Stühlen balancierte.
Leserkritik: Penthesilea ist mager, Berlin
Lukas T. Sperber: Penthesilea ist mager, Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Lukas T. Sperber)

Von Sascha Krieger

Sperber versucht in Stück wie Inszenierung, die äußeren wie inneren Kämpfe miteinander kurzzuschließen. Denn wie Penthesilea mit der pragmatischen, auf das Überleben ihres Volkes bedachten Prothoe (Juliane Böttger) und der zunehmend verunsicherte (was Nilsson mit einigem Overacting überdeutlich macht) Odysseus mit Antilochos ringen, tun sie es auch mit sich selbst. Selbstmord oder Kampf? Mitspielen oder rebellieren? Leben oder Tod? Die Schwerpunkte schwanken, mal kippt das Gewicht auf die eine, mal die andere Seite. Dabei leidet der Abend unter zwei Schwierigkeiten: Zum einen ein Hang des Textes zur Wiederholung, zum sich im Kreis Drehen, zum Wiederkäuen der immer gleichen Argumente, verbunden mit einer in seinen schwächeren Momenten plakativen Simplizität, die oft gleich darauf mit einer übergestülpten philosophisierenden Kompelxitätsbehauptung kompensiert zu werden such. Und zum anderen eine Darstellung, die das Überdeutliche, pathetischen Ton nicht Ausschließende bis an den Rand der Karikatur drückt. So wirkt der Abend ein wenig statisch, um einiges zu lang, nicht von der Stelle kommend.

Und fängt sich doch immer wieder. Weil die Darsteller*innen dann oft doch eine Balance finden, einen Zwischenton, der das schwarz-weiße Entweder-Oder der Möglichkeiten aufbricht. Weil etwa der zappelnde zerbrechlich dürre Körper Viktor Nilssons immer wieder seine eigene Geschichte erzählt, die anfängliche Gewissheit der Worte seiner Figur konterkariert. Weil die Kämpfe der Figuren mit einander und sich selbst unerwartete Wendungen nehmen und Penthesilea, die sich zunächst in einem hilflosen Akt destruktiver Rebellion zu Tode hungernde, mit den Mitteln von List und Manipulation eine Tür zu einer anderen, krieglosen Zukunft einen Spalt breit aufzustoßen scheint. Ein Moment ironischer Unentschiedenheit, in der sie die Frage des ungeduldigen Tiresias, ob sie denn endlich stürbe, offen lässt. Im Ankündigungstext war von Matriarchats-Utopie und Gender-Diskussion die Rede, von einer heutigen Befragung eines vermeintlich unüberbrückbar fremden Mythos. Dies ist lange bestenfalls Subtext an einem Abend, der ebenso in der Vergangenheit, im Überlieferten gefangen scheint wie seine Figuren. Und der doch mit der Möglichkeit des Versuchs endet, einen anderen Frieden, einen anderen Weg zu finden, als der von der patriarchalen Tradition vorgezeichnet. Einen, auf dem die Frau nicht mitspielt oder durch Verweigerung seine Gültigkeit affirmiert, sondern die eigenen Regeln setzt, ein eigenen Narrativ entwickelt. Ein Moment nur. Ein Hoffnungsschimmer. Wenig ist das nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/14/die-zappelnde-hoffnung/
Leserkritiken: "GAS" bei den Autorentheatertagen, DT Berlin
Autorentheatertage 2018 – Tom Lanoye: GAS. Plädoyer einer verurteilten Mutter, Theater Bremen (Regie: Alize Zandwijk)

(...)

Auf der visuellen Ebene wird die Unmöglichkeit, sie Ungeheuerlichkeit, dessen, was Lanoyes Text versucht, erst richtig deutlich. Die Undurchdringlichkeit eines Menschen zwischen seinen Bildern, seinen einander ausschließenden Interpretationen. Das bärtige Monster und der unsichere Junge – wie können sie ein und derselbe sein? Immer wieder werden die Bilder durchgestrichen, aufgelöst, neu angesetzt, doch das Rätsel bleibt. Damit illustriert die Inszenierung nicht nur den Text, sie abstrahiert die Auseinandersetzung, die dieser führt, und macht sie dadurch – so paradox wie der Monster-Sohn – greifbar, konkret, unmittelbar. Das gelingt auf der spielerischen und textlichen Ebene weniger gut. Lanoyes Stück kämpft mit dem Versuch, ein Gleichgewicht zwischen naturalistischer Unmittelbarkeit und abstrahierender Universalität zu finden. Die Mutter spricht umgangssprachlich, aber ihrem Milieu enthoben, sucht psychologische Authentizität und zugleich reflektierende Distanz. In Sorels Spiel schleicht sich denn auch immer wieder eine gewissen Künstlichkeit ein, ein routiniertes Zurückfallen auf darstellerische Muster von realistischer Plausibilität, Wut, Trauer, die sich als schauspielerische Techniken identifizieren lassen.

Dies findet auch im Text seine Entsprechung. Die Attacken gegen Internet und Medienöffentlichkeit, die angedeutete Radikalisierungsgeschichte, der Sensationalismus der fiktiven Tat (warum muss es ausgerechnet ein Verbrechen sei, das so monströs und unvorstellbar ist, dass es allen Realismus schon wieder gefährdet?), die Erklärungsklischees der Experten, das private versus das öffentliche Ich, die Unvereinbarkeit von Kind und Verbrecher: Das sind reichlich durchgekaute, oft erprobte Topoi, die in ihrer Versatzstückhaftigkeit wiederholt gegen die Stringenz einer zutiefst persönlichen Sinnsuche ankämpfen, die Brüche setzen, welche die mechanische Konstruktion hinter der Oberfläche sichtbar machen und der empathischen Annäherung, der Konkretion einer unpersönlich geführten Debatte in einem individuellen menschlichen Schicksal, Steine in den Weg legen. Die gewollte Unmittelbarkeit wird so regelmäßig in eine Distanz gedrängt, die ihr entgegensteht, in einen Zwischenraum der Unentschiedenheit, der das Publikum außen vor lässt, eingeladen zur Empathie und doch nicht durch die Tür gelassen. Die wahre, intensive, in der Verzweiflung ihrer Unfähigkeit, eine Antwort zu finden, aufwühlende Auseinandersetzung passiert in den schematischen Geisterbildern (Film: Nadine Geyersbach, Luan Lamberty) zur Rechten. Hierhin geht ganz am Ende auch der Blick der Mutter. Wenn die Worte versagen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/15/der-geist-auf-der-schrankwand/
Leserkritik: Tage der Revolte, Rendsburg
Innovation und Revolte (SH-Landestheater; Rendsburg)
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater & Sinfonieorchester veranstaltete in Rendsburg vom 15.-16.6.2018 die „Tage der Revolte“. Diese Veranstaltung wurde vom Schauspieldirektor Wolfram Apprich angeregt in Erinnerung an Karl Marx (200 Jahre), Novemberrevolution (100 Jahre) und der 68iger-Bewegung (50 Jahre). Alle drei Jugendclubs (Flensburg, Rendsburg, Schleswig) sowie das Bürgertheater „Raum-Stadt-Spieler“ und das Mehrgenerationenprojekt in Zusammenarbeit mit der Europa-Universität Flensburg hatten die Aufgabe in der Spielzeit 2017/18 ein Projekt zum Thema Rebellion und Revolte zu erarbeiten. Die Ergebnisse wurden dann auf den „Tagen der Revolte“ vorgestellt. Alle Projekte wurden von den Teilnehmern unter Anleitung der Theaterpädagogen*innen entwickelt (Claudia Schmidt; Janina Wolf; Konrad Schulze). Das Projekt der „Raum-Stadt-Spieler“ wurde von Katinka Springborn geleitet. Die Ergebnisse aller Gruppen überzeugten durch ihre Kreativität, Spielfreude und die unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Thematik. Der Theaterjugendclub Flensburg zeigte „Bestandsaufnahme“. Es ging um die Frage „Was ist Rebellion“. Es wurde in historischen Kostümen gespielt um den Bezug von Vergangenheit und Gegenwart deutlich zu machen. Das Projekt lebte von starken emotionalen Bildern in den Massenszenen und exzellentes chorisches Sprechen. Das Projekt sprühte voller Energie und Empathie. Der Unterschied zwischen Schwarz und Weiß ist eben kein rein genetisches Faktum, sondern eine politische Waffe. Es folgte der Schleswiger Theaterjugendclub mit „Aufstehen. Die Zeiten ändern sich (nicht)“. Militanter Drill und Schießübungen eines totalitären Systems wurden durch formalistische Massenauftritte und Einheitskleidung (weiße Overalls) wirkungsvoll in Szene gesetzt. Gebrochen wurden diese Szenen immer wieder durch alltägliche Unterbrechungen (Toilettengänge auf Grund einer schwachen Blase), Slapstick-Einlagen (Anschluss einer Mikrofonanlage) und Monologen aus bekannten Theaterstücken (Faust, Julius Caesar), die vor Ironie und hintersinnigem Humor strotzten. Es folgten die „Raum-Stadt-Spieler“ mit „Wenn wir nicht nein sagen“. Ausgangspunkt war die Geschichte von Huckleberry Finn und seiner Freiheit. Nun entwickelten sich Szene für Szene Geschichten in denen es um Unterdrückung und Widerstand ging. Langsam und schleichend, kaum merklich verschärften sich die Situationen bis zu offenem Hass gegen Migranten und politischen Unterdrückung in totalitären Systemen, da die Masse aus Angst vor Repressalien im Schweigen verharrte. Ein starkes Projekt, da es so schleichend, unterschwellig bedrohlich wurde und ein NEIN sagen zu spät kam. Wehret den Anfängen! Weiter ging es mit dem Theaterjugendclub Rendsburg „Kiosk zu! – Geht mich ‘n Scheiss an“. Dieses Projekt überwältigte durch seine ungebrochene Kreativität. Revolution im Stil eines Musicals und einer Comedyshow. So bunt und kreativ kann Revolution sein. Den Abschluss bildete das Mehrgenerationsprojekt „2. OG links“. Ein Stationen-Theater zu der 68iger-Bewegung in Kooperation mit der Europa-Universität in Flensburg. Die Akteure im Alter von 8 – 72 Jahren ließen die 68iger nochmals aufleben und konfrontierten das Publikum mit literarischen Texten und eigenen Liedern zum Thema Revolte und Rebellion. Begleitet wurden diese Tage der Revolte durch den Film „Easy Rider“, der revolutionären Einfluss auf die Filmindustrie in den USA hatte und die Hard Rock Formation Pay Pandora, die in die Nacht rockte. Drei Tage der Revolte waren ein gelungenes Theaterfest zum Thema Rebellion und Revolution. Dank dem Theater (Wolfram Apprich) für diese Idee und der Theaterpädagogik, die eine Glanzleistung theaterpädagogischer Arbeit aufs Parkett legte, sowie allen Akteuren*innen, die voller Empathie, drei Tage die Bühnen rockten.
Leserkritik: "enfant", Volksbühne
Leserkritik: "enfant", Boris Charmatz, Volksbühne

Unerbittlich packt der Greifarm die reglosen Kinderkörper, einen nach dem anderen. Wie in Einar Schleefs legendärer „Sportstück“-Inszenierung baumeln sie kopfüber am Fangarm des Roboters. Ein brutales, kaum auszuhaltendes Einstiegsbild: Kinder, die wie Schlachtvieh am Fleischerhaken aufgehängt sind.

Bereits 2011 wurde dieser Tanzabend zur Eröffnung des renommierten Festivals in Avignon uraufgeführt, ausgerechnet im Papstpalast und ausgerechnet ein Jahr nach dem Höhepunkt der Enthüllungen über den Missbrauch der katholischen Kirche. Der zweite Referenzpunkt dieser Choreographie sind die KZ-Transporte, die vom Scheunenviertel rund um die Volksbühne und von der Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße in die Vernichtungslager führten.

„enfant“ ist ein kurzer, mit mechanischer Wucht unerbittlich abrollender Abend, der in schwer auszuhaltenden, streckenweise auch sehr monotonen Szenen vom Leiden geschundener und missbrauchter Kinder erzählt. Die Arbeit des Haus-Choreographen Boris Charmatz der Volksbühne hinterlässt zwiespältige Eindrücke.

Die Aufführung polarisiert: In Berlin stehende Ovationen, die man am Rosa-Luxemburg-Platz zuletzt in den finalen Tagen der Castorf-Ära erlebte. Von der Deutschland-Premiere bei der Ruhrtriennale in Bochum 2012 berichtete „Die deutsche Bühne“, dass es „Aufhören“-Zwischenrufe und laute Buhs am Ende gab.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/21/enfant-boris-charmatz-volksbuehne-tanz-kritik/
Leserkritik: Und ich werde hinausgehen, Flendsburg
Und ich werde hinausgehen (SH-Landestheater, Flensburg 20.6.2018)
Eine Gemeinschaftsproduktion der Theatergruppe SZOL HA, Umwelt Technik Soziales e. V. Rendsburg und dem Schleswig-Holsteinischen Landestheater. Eine Theaterproduktion, die von Krieg, Gewalt, Vertreibung, Flucht und der Ankunft in Deutschland handelt. Dieser Abend spiegelt dem Zuschauer, wie schwer es Asylbewerber in Deutschland haben und die Absurdität von Abschiebungen. Der Abend beginnt stimmungsvoll mit Liedern und Musik der Asylanten. Dann wird sachlich über den Krieg in Syrien berichtet. Anschließend wird eine Szene über die Gewalt in syrischen Gefängnissen gespielt. Erschütternd die Erschießung eines Gefangenen, die Vergewaltigung einer Frau und der Tatsache, dass Kinder in Gefangenschaft geboren wurden und nichts kennen als die Grausamkeit im Gefängnis. Dann die Szene einer Grenzpatroullie, die einen Mann erschießt, der seinem Freund helfen wollte. Die Szene endet mit der „lapidaren Bemerkung“, dies sei auch eine Form von Freiheit. Nach dem bisher gesehenen, könnte man dem fast zustimmen, im Vergleich zu den unmenschlichen Misshandlungen in den Gefängnissen. Dann der Monolog eines Asylanten über den Prozess der Entfremdung in der Fremde. Dieser Monolog trifft ins Mark. Er zeigt, welche Marter das Asyl in der Fremde ist. In einer Spielshow „Wer ist der Super-Asylant?“ wird mit sarkastischem Humor dargestellt, welche Demütigungen die Asylanten in Deutschland in vielen Fällen erfahren. In einer weiteren Spielshow werden zwei deutsche Teilnehmer aus dem Publikum involviert. In diesem Spiel wird schnell deutlich welchen Repressalien die Asylanten im täglichen Leben ausgesetzt sind, im Vergleich zu weißen deutschen Bürgern. In einer choreografierten Szene wird dargestellt, dass es trotz der Versuche, der Annäherung zur Überwindung der letzten Distanz, vor der Berührung, nicht kommen kann. Dann wird das Publikum mit Fragen des Einbürgerungstestes konfrontiert mit dem Ergebnis, dass 75% der Zuschauer, diesen Test nicht bestanden hätten. Der Abend schließt nach einer Shakespeare Szene zu Flucht und Verbannung mit dem Hinweis, dass sich in vierhundert Jahren nichts geändert hat. Der Abschluss ist dann ein gemeinsames Schweigen des Publikums. Ein ganz starker, beeindruckender Theaterabend, der ins Mark traf und dem Publikum deutlich machte, was es bedeutet Asylant zu sein. Da wird man zornig gegen populistische Parolen und besinnt sich auf Humanität und Menschlichkeit, dem Weg der in eine gerechtere Zukunft führen kann. Danke der beeindruckenden Regie von Rosana Trautrims und Konrad Schulze und den Akteuren*innen Abdul Salam Dabagh, Ali Abdulrahman, Anke Rothenbach, Mohammad Alhussain, Puya Elyasi, Sanad Abdula, Judith Homfeldt, Sabine Goedje-Schmidt, Zhanna Baghdasaryan für ihre überzeugende Darstellung. Die Aufführung wurde mit starkem Beifall und standing ovation bedacht. Von solchen Abenden wünscht man sich mehr.
Leserkritik: "Autobiography", Tanz im August
Leserkritik: "Autobiography", Company Wayne McGregor, Tanz im August/Haus der Berliner Festspiele

Dank des höheren Etats zum 30jährigen Festival-Jubiläum konnte Tanz im August einen der Stars der britischen Choreographen-Szene präsentieren: Wayne McGregor gastiert mit seiner Company und seinem aktuellsten Werk „Autobiography“, das im Herbst 2017 bei der Uraufführung in Sadler´s Well von den Londoner Kritiken bejubelt wurde.

23 kurze Szenen dachte sich McGregor aus, die exemplarisch für verschiedene Lebenssituationen stehen. Von Verwirrung und Zerrissenheit über das Genießen der Natur bis zum Älterwerden spannt sich ein Bogen, der keineswegs linear ist. McGregor dachte sich als besonderen Kniff für diesen Abend aus, dass die Reihenfolge der Szenen vor jeder Vorstellung von einem Algorithmus neu festgelegt wird. Nur das Solo zu Beginn und der Schluss sind fix. Im Festival-Magazin erzählt McGregor, dass 24.000 Permutationen möglich sind. Der Algorithmus basiert auf dem genetischen Code, den der für sein starkes Interesse an Robotik und Genetik bekannte Brite in einem Online-Test analysieren ließ.

Der Nachteil dieser vor jeder Vorstellung neu arrangierten Versatzstücke: Einen roten Faden wird man vergeblich suchen. Dementsprechend beliebig wirkt der Abend.

Der Vorteil der Arrangements: Der schnelle Wechsel sehr unterschiedlicher Szenen hat seinen eigenen Reiz. Getragene Langsamkeit wechselt mit aufwühlenden Beats und hektischen Moves, auf düstere Stimmung folgt grell ausgeleuchtete Gruppen-Action.

Den stärksten Eindruck dieser Arbeit „Autobiography“ hinterlassen das effektsicher eingesetzte Lichtdesign von Lucy Carter und die variantenreiche Musik-Auswahl von Jlin, die ihre Electro-Sounds mit Barock-Kompositionen mixt. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass dieser Abend trotz der genannten Einschränkungen überzeugt. Die Einstufung als „philosophical process“, von dem der Guardian schwärmte, wirkt jedoch stark übertrieben.

https://daskulturblog.com/2018/08/18/autobiography-company-wayne-mcgregor-tanz-im-august-kritik/
Leserkritik: "The Sea Within", Berlin: meditativ
Leserkritik: "The Sea Within", Voetvolk/Lisbeth Gruwez, Tanz im August/HAU 2

Als „zeitgenössisches Ritual“ bezeichnen Choreographin Lisbeth Gruwez und Komponist Maarten van Cauwenberghe das Werk „The Sea Within“ ihrer flämischen, aus dem Arbeitsumfeld von Jan Fabre entstandenen Compagnie Voetvolk.

Zehn Tänzerinnenn schickten sie auf eine meditative Reise zu einer „neuen Weiblichkeit“, um „Kraft, die wir als Frau haben, neu zu erfinden“. Bis auf eine Urschrei-Therapie kurz vor Schluss sind die meisten Szenen sehr ruhig. Inspiriert von der Shibashi-Technik des Tai-Chi versuchen die Tänzerinnen, die Rhythmen der Natur nachzuempfinden: sie biegen sich im rauschenden Wind, wogen wie das Wasser, drehen sich langsam und bedächtig.

„The Sea Within“ sind konzentrierte 70 Minuten im HAU 2, die von einem esoterisch raunenden Begleittext angekündigt wurden, der davon schwärmte, dass sich die Tänzerinnen „in einer großen, atmenden Landschaft auflösen“ und das „Wir“ das „Ich“ umarmt. Mit oft recht redundanten Szenen erzählen die Tänzerinnen von den fünf Rhythmen der Natur, die sie im Probenprozess entdeckt haben: „Stakkato, Fluss, Stille, das Drehen und die lyrische Stimmung.“

https://daskulturblog.com/2018/08/18/the-sea-within-tanz-im-august-kritik/
Leserkritik: "Neues Stück II", Tanztheater Wuppertal
"Neues Stück II", Tanztheater Wuppertal Pina Bausch/Alan Lucien Øyen bei Tanz im August/Volksbühne

Ausverkauft! Warteliste geschlossen!“, steht über dem Portal der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz. Dieser Name ist nach wie vor ein Publikumsmagnet: „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“. Die Erwartungen waren hoch, als bekannt wurde, dass eines der beiden neuen Stücke, die in Wuppertal im Frühsommer neu einstudiert wurden, zum Abschluss des „Tanz im August“-Festivals in Berlin zu erleben sein wird.

Leider entwickelten sich die 3,5 Stunden zu einem Tiefpunkt des Festivals. Statt einer gelungenen Synthese von Tanz und Theater wird das Publikum von einer einfallslosen, dauerverqualmten Nostalgie-Show gequält. Tanz ist nur in Spurenelementen vorhanden, das Theater in seiner langweiligsten und altbackensten Form.

In zahllosen Variationen werden kleine Szenen angeboten: außer dem permanenten Qualm und dem 50er Jahre-Look (von den Kostümen bis zum Wählscheiben-Telefon) zieht sich das Sterben alsw Leitmotiv durch den sich zäh dahinschleppenden Abend. Die Dialoge sind meist banal, oft „geschmacklos und albern“, wie die FAZ-Kritikerin nach der Uraufführung in Wuppertal treffend bemerkte.

Arme Pina Bausch! Ein solch schwaches Gastspiel, das der Norweger Alan Lucien Øyen mit ihrer Compagnie einstudiert hat, hat diese 2009 gestorbene Tanz-Legende wahrhaftig nicht verdient. Alexandra Albrechts FAZ-Fazit ist nichts hinzuzufügen: „Von der Wahrhaftigkeit und emotionalen Wucht und Intelligenz früherer Aufführungen bleibt bei diesem Spiel mit Metaebenen und Ironie nicht mehr viel übrig.“

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/09/01/neues-stueck-ii-tanztheater-wuppertal-tanz-im-august-volksbuehne-kritik/
Leserkritiken: Tanz im August Berlin, Link
Tanz im August Triumph einer gestürzten Intendantin:

https://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/tanz-im-august-triumph-einer-gestuerzten-intendantin-31202642
Leserkritik: Moby Dick, Theater RambaZamba
Leserkritik: Moby Dick, Theater RambaZamba, Berlin

Jacob Höhne, Regisseur und Künstlerischer Leiter des Theater RambaZamba, und sein Dramaturg Steffen Sünkel lassen Ahab und seine Matrosen brüllen, schreien und stampfen. Auf der abschüssigen Rampe finden sie keinen Halt, drängen aber immer weiter, mit dem Kopf gegen die Wand. Für die Hauptrolle des „Ahab“ gewannen sie Matthias Mosbach, der wie Sünkel während der Peymann-Ära am Berliner Ensemble eng mit Leander Haußmann zusammenarbeitete. Wie er als „Baal“ über die Bühne tobte, wie er als Franz Moor Schillers „Räuber“-Bande rockte, ist noch in bester Erinnerung. Im Vergleich dazu tritt er als „Ahab“ wesentlich zurückhaltender auf. Nur in wenigen Momenten kann Ahab wirklich aufdrehen, ansonsten bleibt er fest im Kreis seiner Matrosen verankert, die ganz überwiegend von Ensemble-Mitgliedern des Theaters RambaZamba gespielt werden.

Es ist das erklärte Ziel von Höhne, das für seine Inklusions-Arbeit bekannte Theater RambaZamba zu anderen Institutionen zu öffnen. Diesmal erweist sich die Kooperation mit der Puppenspiel-Gruppe „Das Helmi“ aus dem benachbarten Ballhaus Ost als guter Schachzug. Der Spott, mit dem die Puppen gleich nach der Pause die Geschlechterstereotype kommentieren, gehört zu den witzigsten Passagen eines sehr gut besuchten, aber mit fast 2,5 Stunden etwas lang geratenen Abends.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/09/05/moby-dick-theater-rambazamba-kritik/
Leserkritik: Shakespeare in Love, Rendsburg
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater startet mit „Shakespeare in Love“ in einer Bühnenfassung von Lee Hall in der Inszenierung von W. Apprich. Das Stück lebt von den Dialogen Tom Stoppards und ist eine einzige Hommage an das Theater. „Shakespeare in Love“ ist ein Theaterfest der Sinne mit der Musik von Paddy Cunneen im Arrangement von C. Coburger und seinem Quartett. Der junge William träumt von einer Karriere als Autor und Schauspieler und die junge Viola von einem Leben als Schauspielerin auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Zu Shakespeares Zeiten undenkbar! Aus diesem Stoff entsteht eine romantische Komödie, die am Landestheater zu einem Märchen für Erwachsene wird, das von der mystischen Kraft des Theaters erzählt. W. Apprich inszeniert „Shakespeare in Love“ als Fest ansteckender Lebensfreude, voller Komik, Romantik und scharfsinnigem Humor. Es ist ein Stück über Autoren, Schauspieler und die faszinierende Welt des Theaters, die kräftig auf die Schippe genommen wird und mit Shakespeare Zitaten gespickt ist, was Shakespeare-Kennern ein zusätzliches Vergnügen bietet. Die Ausstattung von M. Benkner schafft mit farbenprächtigen Vorhängen und Kostümen des 16. Jahrhunderts auf hölzernem Bühnenboden shakespeareschen Theaterflair. Der Clou des Abends ist das faszinierende „Pas de deux“, das Regie (W. Apprich) und Musik (C. Coburger) auf die Bühne zaubern. Dieser „Shakespeare“ ist Musik, der dem bunten Bühnentreiben seinen Odem einhaucht. Doch was wäre dieser Abend ohne seine Schauspieler*innen. Sie erwecken das Konzept des Abends zum Feuerwerk der Theaterkunst und einem stürmischen Traum shakespearescher Theaterlust. Das gesamte Repertoire der Theaterkunst – Komödie, Drama, Slapstick, Fechtszenen, Tänze, Pantomime und vor allem Musik – sprudelt voller Tempo und Lebensfreude über die Bretter, die die Welt bedeuten. Doch auch Seitenhiebe kommen nicht zu kurz. Eitelkeiten von Schauspielern und Autoren werden auf die Schippe genommen, die leider bestehende Abhängigkeit der Kunst vom Gelde wird von (P)Fennyman (R. Schleberger) verdeutlicht und die Genderdiskussion spiegelt sich in der Szene der „Kussprobe“. Meike Schmidt als Viola de Lesseps und Schauspieler T. Kent überzeugt durch ihr facettenreiches Spiel. Sie beherrscht die Klaviatur der unterschiedlichen Genres (Drama, Komödie) und der ständige Wechsel zwischen den unterschiedlichen Rollen gelingen ihr perfekt. Lukas Heinrich ein junger Schauspieler in seinem ersten festen Engagement als Will Shakespeare beeindruckt durch Mimik, Gestik und nuancenreiches Spiel, um sich unter die Haut der Zuschauer zu schleichen, dass einen Gänsehautschauer packen. Das gesamte Ensemble in unzähligen Rollen überzeugt mit präziser vor Spielfreude strotzender Darstellungskraft. Chapeau vor dieser Ensembleleistung, die einmal mehr zeigt, wie grandios Ensembletheater sein kann. Doch der leuchtende Stern an diesem Theaterhimmel ist S. Keel als Lord Wessex und Schauspieler Ned Alleyn. Seine Gestik, Mimik und die Art sich zu bewegen, zeugen von hoch konzentriertem Spiel und faszinierend, clownesker Komik. S. Keel ist ein urbanes Erlebnis schauspielerischer Darstellungskunst und seine Todesszenen sind deftiges zirzensisches Theater. Dann ist da noch die Musik. Sie ist treibende Kraft, die stets das Böse will und nur das Gute schafft. Sie ist lebendig, frech, jung und schafft ständig die richtige Stimmung zum Spiel. Das Schlagzeugsolo von K. Ullrich und das überzeugende, glockenklare Trompetenspiel von C. Ueberschär sind Glanzpunkte. Like Alfred Hitchcock verewigt sich P. Grisebach in diesem fulminanten Theatererlebnis mit seiner Choreografie der Tanzszenen. W. Apprich und sein Ensemble mit dem musikalischen Arrangement der Musik von C. Coburger und seinen Mannen sowie allen Beteiligten, vor allem auch hinter der Bühne, haben bewiesen, das nicht Millionen Dollar notwendig sind um großes Theater zu zaubern, sondern vor allem Begeisterung für das Theater und Professionalität.
Leserkritiken: Stellvertreter, Berlin: der Schrecken bleibt fern
Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Philip Tiedemann)

Tiedemann lässt das Welttheater als intimes Schattenspiel beginnen. (...) In der Folge wird aus der großen Weltpolitik ein Kammerspiel, ein Intrigantenstadel in seelenlosen Intéreurs. Das wäre nicht schlimm, führte die Reduktion zu einer Konzentration statt zu einer Verzwergung. Die Schattenspiele werden aufegegeben, sämtliche abstrahierenden oder auch nur leicht irritierenden Ebenen wieder planiert. Selbst die zu Beginn noch subtil störende, Realitäten ins Wanken bringende Lichtregie (Florian Bojescul) und die Stachel ins dramatische Fleisch werfende Industrial Sounds und Kirchenglocken in ein Spannungsfeld setzende Regie (Henrik Kairies) scheinen irgendwann die Lust so verlieren, und so wirkt der Abend bald weniger konzentriert als verzwergt. zumal die Streichungen auch zu dramaturgischen Mängeln führen: So erscheint die Szene, in der Gerstein – in der Darstellung Oliver Nitsches zunächst reiner Effekt, wenn er beim ersten Auftritt ansatzlos losbrüllt und so klar macht, wie wichtig und dramatisch das alles sei, später nuancierter und sogar so etwas wie eine Figurenzeichnung andeutend – enthüllt, dass er einen Juden versteckt, seltsam routiniert heruntergehastet, passt der Ortswechsel von Berlin nach Rom überhaupt nicht. Gerade noch hatte sich Fontana zuversichtlich gezeigt, dass der Papst Haltung zeigen würde, da lamentiert er in der nächsten Szene über dessen Schweigen.

Doch das sind kleine handwerkliche Fehler, die Crux des Abends ist eine größere. Statt intimem spannungsreichem Kammerspiel wird posiert, was das Zeug hält. Kohns Fontana ist Mensch gewordenes Pathos, Martin Seiferts Kardinal ein aasig aufgeplusterter Klischeepolitiker mit Hang zur karikaturesken Lächerlichkeit, Georg Preusses Pius ein zuletzt weinerlicher, kleinlich machtbewusster Intrigant, ganz klein in übergroßer Pose. Tiedemann überzeichnet, ohne den realistischen Grundgestus aufzugeben und macht damit seine Figuren zu Pappkameraden. Inhaltlich setzt er durchaus valide Akzente, gibt etwa des Kardinals erschreckernder Vision eines durch Hitlers geeinigten Europas als Gegenpol zur angeblichen Schwäche liberaler Demokratien viel Raum – und verpasst doch die eindeutigen Anknüpfungspunkte ans Heute, wo beispielsweise ein Viktor Órban die liberale Demokratie als Feindbild ausgerufen hat. Die Soutanen und Uniformen (von Wedel) bleiben Kostümfest, ein Blick ins Jetzt aus. Dazu passt auch, dass die einzige Frau im Ensemble (Krista Birkner) nicht mehr tun darf, als stimmungsvoll traurig zu singen. Ansonsten bleibt das ein Boys‘ Club – was niemanden zu stören scheint. Aber eben zum rückwärts gewandten Blick des Abends passt. Genüsslich wird das plakative Gegeneinander von Gut und Böse durchgespielt, doch versagen beide seiten in ihrer abziehbildhaften Eindeutigkeit, die es dem Zuschauer erlaubt, sich wissend zurückzuziehen und nicht weiter nachzudenken, wie die pragmatisch auch das Entsetzlichste zu rationalisieren vermögenden Denkmuster, die das stück vorführt, längst wieder am Wirken sind. Am Ende entledigen sich die Spieler ihrer Oberbekleidung, ziehen sich hemdsämelig zurück in den Kreuzkasten und geben ein Guernica-Tableau en miniatur. Der Schrecken bleibt fern, die Schatten der Vergangenheit sind längst verschwunden.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/09/09/vergangenheit-ohne-schatten/
Leserkritik, Kaukasischer Kreidekreis, Schleswig: Vertrauen auf Brecht
Im „kaukasischen Kreidekreis“ geht es um den Streit der Magd Grusche und der Gouverneurswitwe Abaschwili, um deren Sohn Michel. Der Richter Azdak prüft die Frauen mit der Kreidekreisprobe und entscheidet auf Grund des Ergebnisses dieser Probe, für die soziale Mutterschaft der Grusche und gegen die leibliche Mutter Abaschwili. Die Geschichte der Grusche gilt als Analogie für die Sozialisierung des Tales, „das den Bewässerern zugesprochen wird, damit es Frucht bringt“. Brechts Kreidekreis verhandelt die Frage des Besitzstandes. Gehört Besitz den Mächtigen und Reichen oder denen, die dafür arbeiten und es erhalten. Diese Frage ist hoch aktuell in unserer neoliberalen, westlichen Wohlstandsgesellschaft. S. Nolte bedient sich des epischen Theaters, das charakterisiert ist durch Verfremdungseffekte (V-Effekt), wie z. B. die Auftritte des Sängers, der das Spiel im Spiel verdeutlicht und so Distanz zwischen Darstellung und Zuschauer schafft, so dass die Möglichkeit besteht, Menschen und Verhältnisse als veränderbar zu begreifen und politische sowie gesellschaftliche Spielräume zu erkennen. Brechts Theater ist politisch und zeigt, das gesellschaftliche Systeme von Menschen gemacht sind und von Menschen verändert werden können. Brecht übt Kritik an Gesellschaftssystemen, die auf Besitz und Macht basieren und nicht auf den produktiven Kräften des Volkes. Stefan Nolte (Regie) und Mechthild Feuerstein (Ausstattung) vertrauen diesem Konzept des brechtschen Theaters. Es wird auf offener Bühne gespielt, so dass Umzüge und Umbauten, Teil der Inszenierung sind. Kostüme und Bühnenbild folgen dem Prinzip, Ausdruck des Spiels zu sein (wundervolle, fantasievolle Kostüme aus Plastiktüten und Kisten zur Gestaltung der Spielfläche, ein Glanzpunkt dieser Inszenierung). Schauspieler gekleidet in weiße, neutrale Overalls spielen Rollen, für die sie sich verkleiden und konfrontieren den Zuschauer mit der Frage, inwieweit Grenzen überschritten werden dürfen (z.B.: Todschlag eines Panzerreiters durch Grusche; Azdak der die Reichen ausnimmt, um den Armen zu geben), um eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu etablieren. S. Nolte konfrontiert das Publikum zurückhaltend mit unangenehmen Wahrheiten im ersten Teil, um ihm den Spiegel bürgerlicher Wohlgefälligkeit vorzuhalten. Der erste Teil befasst sich im Wesentlichen mit Grusches Rolle als fürsorgende, soziale Mutter für Michel, trotz aller Unbill, die ihr begegnen. Der erste Teil bleibt recht blutleer, sowie die Magd Grusche, der es an physischer Präsenz fehlt, um ihren beschwerlichen, mutigen Weg zur sozialen Mutterschaft zu verdeutlichen. Zentraler Satz des Sängers im ersten Teil „Schrecklich ist die Verführung zur Güte“, der durch Grusches Weg zur sozialen Mutterschaft charakterisiert und immer Kampf um und für eine freie Entscheidung des Willens ist. Im zweiten Teil beginnt die Inszenierung zu leben. Dies wird schon durch den Sänger deutlich, der im ersten Teil mehr Erzähler ist und im zweiten Teil zum Sänger wird, was das Gesamtbild belebt. Azdak (U. Kramer) gibt einen bauernschlauen Robin Hood, der für die Armen und Unterdrückten Recht schafft, gegen das Gesetz, in überzeugender Weise. Grusche (H. Züger) wird zur mutigen Kämpferin für ihr Recht, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie läuft Gefahr sich um Kopf und Kragen zu reden. Glanzpunkte sind weiterhin die Gerichtsverhandlung zweier Fälle (R. Rollin als Alte und B. Boca, C. Hellrigl, T. Schleheck ein schillerndes Kabinettstück), die Dialoge zwischen Azdak (U. Kramer) und Schauwa (M. Haueis) sowie die Begegnungen zwischen Grusche (H. Züger) und Chachava (C. Hellrigl). Ein gelungener Brecht, der auf das epische Theater vertraut und zeigt welche Kraft Ensembletheater hat. Brechts Aüsserung, „dass die Ausbeuter nicht zu allen Zeiten mit denselben Mitteln ausbeuten“, gilt heute mehr denn je, auch wenn in den neoliberalen Wohlstandszonen diese Ausbeutung, hinter einem dichten Schleier verschwindet, was vielleicht deutlicher hätte sein können.
Leserkritik: ALLE DA!, SHL Rendsburg
„ALLE DA!“ ist ein Klassenzimmerstück über Krieg, Flucht, Migration und kulturelle Vielfalt von Gökşen Güntel nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Anja Tuckermann in der Regie von André Becker und den Kostümen von Simone Fröhlich für Kinder und Jugendliche ab ca. 10 Jahren.
Robin Schneider betritt den Raum mit einem Rucksack. Während er ihn abstellt und auspackt, schaut er sich vorsichtig und skeptisch um. Wer sind diese Menschen, in diesem Raum? Ab und zu lächelt er eine Person an und nimmt langsam Kontakt auf, mit schüchternen Fragen. Schließlich bietet er Tee an, ein Ritual der Gastfreundschaft, mit dem er zwischen den einzelnen Bildern, Gemeinschaft erzeugt. Dann schlüpft er in die Rollen eines Reporters und Astronauten. Der Astronaut berichtet, wie die Erde aus dem All aussieht und wie klein und zerbrechlich sie ist („Es ist schon komisch, wenn wir uns unsere Erde von hier oben anschauen, wie zerbrechlich sie wirkt. Da ist es geradezu grotesk, was wir Menschen auf der Erde veranstalten.“). In collagenhaften Bildern verkörpert Robin Schneider Krieg, Flucht und Angst. Diese Themen lädt er durch massives körperliches Spiel stark emotional auf, so dass Aggression, Wut, Furcht und Angst physisch und psychisch spürbar werden. Starke beeindruckende Momente dieser Inszenierung. Dann wird die kulturelle Vielfalt und die daraus folgenden Missverständnisse mit viel Spielfreude und Spielwitz dargestellt. Alle Fragen wie: Warum gibt es Kriege? Warum werden Wälder abgebrannt? Warum fliehen Menschen aus ihrer Heimat? Wie kommen Flüchtlinge in Deutschland an? werden spielerisch bebildert und somit direkt erfahrbar. Robin Schneider bringt diese oft verdrängte Wirklichkeit durch starke Bilder ganz nahe an die Zuschauer und schafft Brücken des einander Verstehens und sich in andere Menschen einzufühlen. Vorurteile werden mit Augenzwinkern oder bedrohlichem Ton, spielerisch vermittelt und unmittelbar erfahrbar. Das Stück endet mit der Feststellung, dass wir alle Bewohner dieser Erde sind und gut auf unseren Planeten aufpassen müssen, um uns nicht selbst zu vernichten.
André Becker hat eine emotional aufwühlende, mitreißende Inszenierung geschaffen, die durch brillantes Spiel von Robin Schneider zu einem Feuerwerk an Spielfreude wurde. Da diese Inszenierung sicher zu etlichen Fragen führt, können diese, im Anschluss an die Aufführung, mit den Theaterpädagoginnen besprochen werden. Für Lehrer steht eine exzellente Materialmappe zum Stück zur Verfügung.
Spannendes, lebendiges Theater, das auf intelligente, spielerische Weise die Probleme unserer Zeit erfahrbar macht und den Unterricht an den Schulen emotional bereichern kann. Mit Spaß fürs Leben lernen. Was will man mehr!
Leserkritik: Effi, Berlin
Nach Theodor Fontane (Fassung von Kay Wuschek und Oliver Schmaering): Effi, Theater an der Parkaue, Berlin (Regie: Kay Wuschek)

(...)

Ein Feuerwerk des Metatheaters feuert Kay Wuschek an diesem Abend ab. Die Stoffbearbeitung von ihm und Oliver Schmaering fokussiert auf das Theater als Ort des Diskurses, der Hinterfragung, des Spiels im Sinne von Ausprobieren. Es streicht die Distanz heraus, die zwischen dem Zuschauer*innen-„Wir“ und dem Figuren-„Sie“ zu stehen scheint, aber auch seine Rolle in der Reproduktion überkommen geglaubter gesellschaftlicher Mechanismen. Der Abend knallt uns Ideen wie Treue oder Monogamie vor die Füße, fordert mit der hormonellen Überfrachtung eines Teenagers (sein Publikum spiegelnd) das Recht des verdrängten Sex ein, dessen Tabu gestandene Männer wie Crampas oder Innstetten zu so zerrissenen Testosteron-Monstern machen und scheut auch nicht zurück vor den dunklen Seiten des Stoffes: So akzentuiert er immer wieder die Kindlichkeit der gerade 17-Jährigen und damit die Unangemessenheit, den inhärenten Missbrauch einer Welt, in der ein solches Mädchen zum Sexobjekt, zum ziel männlichen Begehrens degradiert wird. Das Theater erscheint hier als Medium der Entlarvung seiner eigenen Lügen, als Ankläger seiner eigenen Taten.

Vor allem aber bürstet es sich gegen den Strich, verweigert es sich einer linearen Erzählung, springt hin und her – zwischen Zeiten, Ebenen, Handlungspunkten. Immer wieder landet es an der gleichen Stelle, immer anders und immer ohne Ausweg. Das Duell ist mal Slapstick, mal rational wegdiskutierte Absurdität, aber immer tödlich. Der Abend rennt an, gegen und für die Geschichte, versucht sich immer wieder an Szenen, scheitert, probiert es erneut, andern, ebenso vergeblich. So dekonstruiert sich eine logisch aufgebaute, lineare, kausal schlüssige Geschichte zu einem mosaikhaften Wirrwar an Fragmenten, Bruchstücken, die plötzlich, aus der Distanz, mit heutigem Blick, überhaupt nicht mehr zusammen passen, kein Bild mehr ergeben und schon gar keinen Sinn. Das gilt auch für die Figuren, allen voran Effi, die nicht zufällig verdoppelt ist, mit sich selbst nicht eins, unter dem Blick der Gegenwart zerschlagen, zersplittert, auf der Suche sich selbst wieder zusammenzusetzen. Er spiegelt unsere Ratlosigkeit, die entsteht, wenn wir hinter den „Klassiker“ blicken, und uns fragen: Was soll das alles. Und die Hilflosigkeit der in ihm und der Welt, die er repräsentiert, Gefangenen, eine Welt, von der wir wissen, dass sie vergangen ist und doch überall auf der Welt auch gegenwärtig. Natürlich ist diese Effi hoffnungslos überfrachtet, kann sich Joachim Hamster Damms Bühne – mal abweisender Kasten mit vielen Türen, die irgendwo hineinzuführen scheinen und in Wirklichkeit ausstoßen, auswerfen, ausweisen, mal sich zum Albtraum-Ort verjüngendes Biedermeier-Ambiente – gar nicht schnell genug drehen, um die fast 100 Seiten Text in gerade zwei Stunden zu bewältigen.

Das hohe Tempo, gepaart mit den sprunghaften Wechseln von Ton und Ebenen, die nicht immer stimmig sind, zuweilen zu sehr auf die Effekt-Tube drücken, und ein bisschen oft nach Lachern fischen, strengt an, es überfordert und droht mitunter, die Suchbewegung dieses Theaterexperiments zu überdecken, zumal manchen, vielleicht der Tatsache geschuldet, dass diese Inszenierung sich an Jugendliche wendet, zu plakativ ausdiskutiert und zu lang ausgewalzt ist. es bleibt ein Abend, der sich nicht scheut zu haken, auch mal zu scheitern, so unfertig zu sein wie unser bewundert distanzierter Blick auf all die „Klassiker“, die unser Welt- und unser Geschlechterbild noch immer bestimmen. (...)

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/09/20/die-zertrummerte-effi/
Leserkritik, Hundeherz, DT Berlin: kein Zugriff
"Hundeherz", Lilja Rupprecht nach Michail Bulgakow, Deutsches Theater Berlin/Box

Die beiden Hauptfiguren von „Hundeherz“ sind der angesehene Chirurg Filipp Filippowitsch Preobrashenski (Helmut Mooshammer) und der Straßenköter Bello (Natali Seelig). Der Chirurg sammelt den Hund auf und lockt ihn mit einer Wurst, deren Duft die ganze Box des Deutschen Theaters durchzieht, in sein Apartment. Dort beginnt er mit Experimenten und pflanzt ihm menschliche Organe ein.

Der Traum vom „Neuen Menschen“ wird gründlich ad absurdum geführt: aus Bello wird Polygraph Polygraphowitsch Bellow, ein Säufer und Ganove, der den Professor tyrannisiert und von den Staatsorganen schließlich als neuer Leiter der Unterabteilung zur Säuberung der Stadt Moskau von streunenden Tieren bei der Stadtreinigung der Moskauer Kommunalwirtschaft vom Bock zum Gärtner gemacht wird.

Bulgakow wusste natürlich, dass dieser Text nie die Zensur passieren könnte. Das Programmheft zitiert aus seinem Brief an den Verleger, dass „Hundeherz“ auf keinen Fall zur Veröffentlichung in Betracht komme. Die Manuskripte wurden jedoch bei einer Hausdurchsuchung entdeckt und beschlagnahmt. Erst während Gorbatschows „Glasnost“ erschien der Text erstmals unzensiert in der Zeitschrift Snamja.

Die bissige Novelle eignet sich mit ihren an Frankenstein und Faust erinnernden Motiven zwar besser für eine Dramatisierung als viele andere Prosatexte. Lilja Rupprecht fand in ihrer Inszenierung, die vor zweieinhalb Jahren in der Box des Deutschen Theaters Berlin Premiere hatte, nicht den richtigen Zugriff. Wie zuletzt auch bei Jeff Koons im Studio der Schaubühne konfrontiert sie ihr Publikum mit einem Gewitter aus Videoeinspielern (Moritz Grewenig) und Sound (Romain Frequency), das den knapp 90 Minuten kurzen Abend zu sehr dominiert. Ihr Ensemble (neben den beiden genannten Hauptdarsteller*innen stehen Elias Arens und Linn Reusse auf der Bühne) muss oft frontal vor dem Publikum ins Mikrofon schreien und kommt zu wenig ins Spielen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/09/20/hundeherz-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: Die Gerechten, Gorki/Berlin
"Die Gerechten" von Albert Camus, Regie: Sebastian Baumgarten, Gorki Theater

Die Schallwellen der Explosion ziehen durch den gesamten Theatersaal.
Der Anschlag auf den russischen Großfürsten, den ein bolschewistisches Terrorkommando 1905 ausführte, ereignet sich im Drama von Albert Camus aus dem Jahr 1949 erst im 3. Akt nach langen Diskussionen über Politik, Moral und Liebe. In Sebastian Baumgartens Inszenierung, die an diesem Wochenende am Gorki Theater Premiere hatte, steht die Tat gleich am Beginn des Abends.

In Pelzmänteln aus dem Handbuch für besonders klischeehafte Russland-Darstellungen treten die fünf Spieler*innen (Mazen Aljubbeh, Jonas Dassler, Lea Draeger, Aram Tafreshian und Till Wonka) nun an die Rampe und bieten eine Parodie des Stücks. Was bei Camus noch als sehr ernsthafter Diskussionsbeitrag für den Salon-Disput linker Pariser Intellektueller gedacht war, ob revolutionärer Terror ein legitimes oder gar notwendiges Mittel auf dem Weg zu einer gerechteren, sozialistischen Gesellschaft ist, wird bei Baumgarten zu einem mäßig unterhaltsamen Typen-Kabarett linkischer, stotternder, vor sich hinwurstelnder Figuren, denen man nie und nimmer die Tatkraft für einen Terrorakt zutraut und erst recht nicht den geistigen Hintergrund, um die rechts- und politiktheoretischen Diskurse zu führen, die Camus ihnen in den Mund legte.

Aus dem Lese- und Ideendrama des französischen Existentialisten wird ein ebenso zielloser wie verqualmter, mit zwei Stunden angesichts der konzeptionellen Lücken der Regie deutlich zu langer Abend, der immerhin manche Stellen zum Schmunzeln hat, z.B. einen Auftritt von Jonas Dassler als Geheimpolizist Skuratow im vierten Akt.

Zwischen den Akten, die in Stummfilm-Manier jeweils durch große Schrifttafeln zu Klavierbegleitung angekündigt werden, treten die Spieler*innen kurz aus ihren Rollen und frontal an die Rampe, schlüpfen in blau-weiß-gemusterte Overalls und beballern das Publikum mit einem Schnipsel-Gewitter aus Fremdtexten von Walter Benjamin über Jaques Lacan bis Slavoj Zizek. Der Abend hätte tatsächlich noch zu großer Form auflaufen können, wenn er all die Spuren, die er wie Konfetti ausstreute, ernsthaft verfolgt hätte. Stattdessen fielen „Die Gerechten“ nach dem philosophisch-soziologischen Intermezzo nur wieder in die nächste Runde der Camus-Parodie zurück. Die Spieler*innen mussten sich und uns mit angestrengter ironischer Distanz durch den nächsten Akt eines Textes quälen, der in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Staub angesetzt hat und mit dem Regisseur Sebastian Baumgarten bis auf Veralberung sichtlich wenig anfangen konnte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/09/30/die-gerechten-camus-baumgarten-gorki-theater-kritik/
Leserkritiken: Die Gerechten, Gorki/Berlin
Albert Camus: Die Gerechten, Maxim Gorki Theater (Regie: Sebastian Baumgarten)

(...)

Die ästhetische Setzung in der immer wieder in Blutrot ausgeleuchteten Bühne verortet das Geschehen in einem Nirgendwo zwischen schriller Farce (etwa gegen Ende wenn die grotesk maskierten Schergen des Systems auftauchen), fahlem Geisterspiel und – spätestens beim Auftritt der Witwe des Attentatsopfers in einer überladenen Kuzifix-Landschaft – Moritat und Mysterienspiel. Da wechselt Regenberg schon mal von expressionistischer Stummfilmbegleitung zu Jazz und Bach, und kann doch nicht verhindern, dass die zunehmende ästhetische Eklektizismus des Abends seinen fehlenenden Zusammenhalt nur noch stärker akzentuiert. Denn je weiter sich Diskurs und Narration, das Ringen um die Frage, ob Gerechtigkeit und Mord, Gewalt und Weltverbesserung einander nicht ausschließen, und der zitatenreiche Bilderbaukasten Baumgartens, der die Revolutionäre gar nach der zunächst misslungenen Tat in ein Fast-Food-Restaurant spült, auseinander bewegen, desto weniger greifbar erscheint das hier zu Verhandelnde. Desto weiter entfernt sich der naiv revolutionäre ach so heilige Ernst – auch den akzentuiert Baumgarten im überdeutlichen, hoch pathetischen Sprechen und agieren der Figuren – von der revolutionärer Begeisterung gegenüber aus sehr guten Gründen so skeptischen Gegenwart. Ein finaler Versuch, das Hier und Heute irgendwie noch in den Abend zu pressen, scheitert kläglich.

Die Fragen, die Camus so umständlich und über weite Strecken auf der stelle tretend durchkaut, werden in der ästhetischen verzerrung nicht deutlicher, sondern lächerlicher, kleiner, irrelevanter. Sie reagieren auch nicht mit den für sich stehenden Diskursblücken, die wenig mehr sind als eitler Selbstzweck – und Ausdruck eines Abends, der ratlos vor sich selbst steht. Der einen Stoff in der Hand hat, von dem er glaubt, er könne in Dialog treten mit unserer unruhigen Zeit, uns helfen, Fragen zu beantworten, vor denen wir als (westliche Gesellschaft) stehen: jene nach der Unverständlichkeit politisch motivierter Gewalt, aber auch die nach den Grenzen des Engagements, den Punkten, an denen aus selbigem Terrorismus und aus Freiheit Totalitarismus wird. Was Sebastian Baumgarten im Text findet, sind dagegen Probleme und Fragen, die bei genauerem Hinsehen den unsrigen so verschieden erscheinen, und deshalb auch kleine Türen aufschließen können, hinter denen sich womöglich Antworten finden ließen. So bleibt eine viel zu wenig unterhaltsame, weil viel zu halbherzige Fingerübung in expressionistischer Theaterästhetik , die sich von ihrem Stoff (und er sich von ihr – abstößt, bis beide so schnell verfliegen wie der anfängliche Bühnennebel.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/01/die-fragen-mein-freund-kennt-nicht-einmal-der-nebel/
Leserkritik: helden:tot, Essen
Stefan Sprangs helden:tot. Uraufführung am 28.09.2018, Theater Essen-Süd (Regie Batzik/ Wiesemann).

In helden:tot diskutiert der Protagonist Wennmann. Mit sich selbst. Über sich und über das Leben. Dargestellt wird er dabei von Raphael Batzik und Aless Wiesemann. Der innere Monolog wird so für die ZuschauerInnen zum Dialog, bei dem es hitzig zur Sache geht. Denn die beiden Seiten Wennmanns haben eine sehr unterschiedliche Sicht auf das Leben – und ziehen doch am gleichen Strang. Meistens. Ob Wennmann nun emotional sein darf oder nicht, ist noch nicht vollends beschlossen.
Eigentlich möchte man gar nicht so genau hinsehen. Hinhören schon gar nicht. Zu bekannt aus dem eigenen Leben erscheint das Gesagte auf der Bühne. Aber dann ist es doch unmöglich, den Blick von den beiden Schauspielern zu lassen, die trotz ihrer gegensätzlichen Rollen auf der Bühne perfekt zusammen harmonisieren. Gemeinsam demonstrieren sie überwältigendes Theater, in dem die beiden Teile Wennmanns nicht nur um die Oberhand kämpfen, sondern auch – wie es scheint – um die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen. Das macht das Stück noch packender, als es ohnehin schon ist. Abgerundet wird das Spiel durch den treffenden Einsatz von Licht und Musik. Beim Zuschauer bleiben am Ende zwei Dinge: Erstmal tief durchatmen. Und der Wunsch, das Stück direkt noch einmal ansehen zu können.
Leserkritik, Grand Finale, Berlin: effekthascherisch
"Grand Finale", Hofesh Shechter Company, Haus der Berliner Festspiele

Ein Tanz auf dem Vulkan im Halbdunkel zwischen monumentalen Stelen, die an das Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins erinnern, ist an zwei Gastspiel-Abenden im Haus der Berliner Festspiele zu erleben: Der in London lebende, israelische Choreograph Hofesh Shechter lässt seine Tänzer*innen in seinem neuesten Stück, das seit der Pariser Premiere 2017 auf Tour ist, die Extreme durchleiden.

Momente der Stille, die allzu kitschig geraten sind, wie z.B. Seifenblasen, die kurz vor der Pause auf das Ensemble herabrieseln, wechseln sich mit aggressiv dröhnenden, die Trommelfelle angreifenden Beats ab, zu denen die Tänzer*innen orientierungslos taumeln, hysterisch zappeln oder wie tot zu Boden sinken.

In den letzten zwanzig Minuten nach der Pause lässt Shechter diese Extreme besonders holzschnittartig aufeinanderprallen. Das Publikum, das von Sekt und Pausen-Häppchen langsam zurückschlendert, wird von den operetten- und walzerseligen Melodien von Franz Lehar begrüßt. Das live auf der Bühne musizierende Orchester spielt ein letztes Mal beschwingt auf, die Titanic winkt mit dem Zaunpfahl.

Die New York Times brachte es nach dem Gastspiel in Brooklyn auf den Punkt: „Grand Finale“ ist zu effekthascherisch und in vielen Szenen voller Klischees. Vor allem die erste Stunde mäandert oft
ziellos dahin. Allzu beliebig wirken die Szenen, wie auf Hochglanz poliertes, aber doch schales Kunsthandwerk. Für Momente ist das schön anzuschauen, platzt aber so schnell wie die oben erwähnten Seifenblasen, sobald man dagegen stupst. Auch die insgesamt sehr wohlwollend urteilende Guardian-Kritikerin Judith Mackrell musste zugestehen, dass der Abend dringend schärfere Konturen, einen klareren Fokus und einige Schnitte gebraucht hätte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/05/grand-finale-hofesh-shechter-company-kritik/
Leserkritik: She She Pop, Berlin
She She Pop: Shame, Shame, Shame! 25 Jahre She She Pop. Geburtstagsgala, Hebbel am Ufer (HAU2), Berlin

(...)

Es wird vor- und zurückgespult: Wir beobachten die jungen She She Pop in der Garderobe, hören sich widersprechende Geschichten vom Anfang und plumpsen doch immer wieder hinein in die Essenz der Gruppe: die ständige Selbst-, Publikums- und Gesellschaftsbefragung, die Rollenausgrabung und -umkehrung, die „Arbeit mit der Scham“, wie es Ex-Kommillitone und heutiger Theaterwissenschafts-Professor Jens Roselt nennt. Eine gemeinsame, die nur dann gelingt, wenn auch das Publikum, die Publika an Bord sind. Die heute sicherlich gemößigter, milder, intellektuell geschärfter daherkommt als vor 20, 25 Jahren. Und doch nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt hat. Auch diese Geburtstagsgala ist ein versuchs- und Diskursraum, in dem es um die Durchbrechung eingeübter Muster geht und die Frage, was zum Vorschein kommt, wenn man den eigenen Panzer ablegt. In dem selbiger Panzer spielerisch, ironisch gebrochen und reaffirmiert wird, Selbstironie zur Waffe wird, die abwehrmechanismen der Zuschauer+innen zu schwächen und sie sich selbst gegenüber so zu exponieren, wie es die „lieben She She Pops“, wie sie an diesem Abend immer und immer wieder genannt werden, schon immer getan haben.

Denn die Dauerironie, die Selbstuntergrabung, das Spiel mit der Schamüberwindung sind gefährliche Instrumente in den Händen der heute sechs Performer*innen. Sie sind archäologische Werkzeuge, die dazu dienen, im Zuschauer zu graben, nicht Hinterfragtes offenzulegen, Gewissheiten ungewiss werden zu lassen. Und bei aller Leichtigkeit, bei aller revuehaften Selbstbespiegelung, bei all dem koketten Sich-selbst-nicht-ernst-nehmen wird auch an diesem, Unikum bleibenden Abend fleißig gegraben, geschürft, freigelegt. Kein nostalgischer Blick zurück, sondern eine Selbstbefragung mit dem Ziel, das Gezicke gegen die Welt fortzuführen, als unterhaltsamer Stachel im Fleisch des Spätphase-Patriarchats, als perfide Clownerie einer vermeintlich längst emanzipierten Gegenwart, als zerstörerische Kollektivbespaßung, bei der man so lange mit dem Kopf nickt, bis er schmerzt. Apropos Kollektiv: Auch um dieses geht es immer wieder, seit 25 Jahren. Wer bildet es, wie funktioniert es, was bringt es? Offene Fragen, an denen sich Performer*innen und Publikum weiterhin reiben werden, als Partner*innen, Antagonist*innen, Kompliz*innen. Als Kollektiv. Shame on us.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/07/die-schamlosen-sieben/
Leserkritik: Hinweis
@ Sascha Krieger: Genau. Nicht zu vergessen, dass Roselt über den Unterschied vom selbstbestimmten Spiel mit der Scham gegenüber der Beschämung als Machtausübung geschrieben hat. Und machtvoll beschämen, das können natürlich auch Frauen. Hoffen wir mal nicht bei den lieben Sieben. Also Roselt:

"Beschämung erweist sich als subtiles Mittel gesellschaftlichen Terrors. Sighard Neckel, der die soziale Dimension der Scham dargelegt hat, stellt fest: 'Scham ist Wahrnehmung von Ungleichheit, Beschämung eine Machtausübung, die Ungleichheit reproduziert.' [...] Öffentlich anzuprangern, daß einem Unrecht widerfahren ist, muß einen gesellschaftlich nicht deklassieren. Unrecht kann Revolutionen entfachen. Scham hingegen treibt in Depression und Selbstauslöschung (und ich füge hinzu, wer kann schon ewig käpfen, irgendwann geht nichts mehr). [...] Vielleicht zeichnet es Schauspieler sogar aus, daß sie sich ihre Scham nicht abtrainiert haben und nicht schichtweg schamlos sind (was diesem Berufsstand seit Jahrhunderten gerne vorgeworfen wird), sondern daß sie sich der eigenen Scham aussetzen und mit ihr arbeiten - im Sinne eines Auslotens, Überschreitens und Zurückziehens. [...] Die Würde des Menschen ist antastbar."
Leserkritik: Eröffnungsgala des Theaters Gera
Eröffnungsgala des Theaters Gera
Im Kreis der Studienkollegen ist es bereits Tradition, die Eröffnungsgala des Theaters Gera zu besuchen. Nach 2016 waren auch wir in diesem Jahr am 14.09.2018 wieder dabei und mir kam vor, dass selbst in diesem kurzen Abstand eine weitere gute Entwicklung abzulesen ist. Kam der Chor des „Freischütz“ vor zwei Jahren noch recht „vereinzelt“ über die Rampe, so ließ die Stimmkraft diesmal bereits mit dem Beginn, der Ouvertüre zur verkauften Braut, das Haus vibrieren.
Generalintendant Kay Kuntze hat offenbar seit 2011 gute Arbeit geleistet und bewältigt den Spagat von Kunstanspruch (zum Beispiel Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“) und Unterhaltungsbedürfnis (wie Carl Zellers „Der Vogelhänder“) für ein möglichst breites Publikum.
Insgesamt erinnert das Arrangement der Eröffnungsgala – gewollt oder ungewollt - an den „Kessel Buntes“ des DDR-Fernsehens.
Für mich nachdrücklich war, in der Eröffnungsgala Eichendorffs „Mondnacht“ in der Vertonung von Robert Schumann zu begegnen: „Es war, als hätt‘ der Himmel / Die Erde still geküsst…“
Und das Finale aus dem Ballett von „Forever Lennon“, wo Kay Kuntze unaufgeregt vorführte, dass das Theater einer Thüringer Provinzstadt wie Gera, wo die AfD Erfolge feiert, ganz organisch und ungezwungen einen Hort multinationaler und multikultureller Vielfalt darstellt. Und wo er und sein Ensemble, im Jubiläumsjahr der 1968er an das Wesentliche erinnern: „All You Need is Love“.
Dabei gehe ich, wie George von Wergenthin in Arthur Schnitzlers „Der Weg ins Freie, über manches, das leicht zu Missverständnissen Anlass bieten könnte, mit absichtlicher Flüchtigkeit hinweg. Denn wie sollte man einen Blick schildern, der aus den Augen einer jungen Tänzerin herniederglänzte, während man sie eben aus der Vielfalt der Darsteller herausschaute.
Leserkritiken: Invisible Republic/HAU Berlin
andcompany&Co.: Invisible Republic: #stilllovingtherevolution, Hebbel am Ufer (HAU2), Berlin

(...)Die obsessive Selbstbefragung lähmt, wie sie es immer schon getan hat, weil sie nicht zu Antworten kommt. Dabei schwebt den Macher sogar eine solche vor: jene Bini Adamczaks, die fordert, dass die künftige Revolution, nachdem sie 1917 auf den Staat und 1968 auf das Individuum fokussierte, nun die Beziehungen zwischen Menschen ins Zentrum stellen müsse. Also konstruieren die vier Spielerinnen die Versammlung, das Interagieren der Individuen, als Kern eines neuen Aufbegehrens und als „Seele der Politik“. Doch wie sich (ver)sammeln, wenn man in alten Rollen steckt? Denn ist dieser abend nicht eher symptom des zu überkommenden, als Vision von einem Aufbruch ins Neue? Die Videowand spielt hier eine Schlüsselrolle: Hier flimmern alte Nachrichtenbilder und wechseln mit einer Art ironischem Roadmovie auf der Suche nach dem revolutionären Geist. Hier ist alles rückwärtsgewandt, man wandert durch Erinnerungs- und Popkultur, wälzt Filmzitate und fordert zum Lesen auf. Die Nabelschau dominiert, der Ausweg entfernt sich. Auch, weil es sich der Abend in seiner Ironisierung des Vergangenen, in seiner wissend lächelnden Entlarvung wohlfeiler Revolutionsnostalgie so bequem macht, dass er bald keine Lust verspürt, den Hintern hochzubekommen und sich ernsthaft zu fragen: Wohin jetzt?

Stattdessen werden wir Zeuge von Hexenmetaphorik als Symbol für weibliche Systemumgestaltung auf, um es freundlich auszudrücken, eher überschaubarem gedanklichen Niveau. Das erstaunlichste dabei ist, wie stark die Rhetorik des Wegbrennens und Einreißens kollidiert mit einem immer selbstbewussteren Beharren auf nostalgischer Selbstbespiegelung. Der Abend scheitert am Ende – und das ist bei andcomapny&Co. nichts vollkommen Neues – an seiner eigenen Cleverness, an der sich selbst feiernden Hellsichtigkeit, die gar nicht bemerkt, wie sehr sich der Blick mit jeder weiteren Iteration einschränkt. Und sich immer weiter von seinem Objekt entfernt. Denn die „Revolution“ als reales Phänomen oder als gedankliches Konstrukt verzwergt zunehmend zu einer Abfolge von Versatzstücken, Bildern, Sprüchen aus der linken Nostalgiemottenkiste, zu cleveren Bonmots und leer bleibenden Alternativen. Das theoretische Wort bleibt Papier, das Archivbild, Nachricht von gestern.

Und Selbstzweck: Irgendwann verliert der Abend aus dem Auge, dass er irgendwo hinwollte, dreht sich im Kreis, hält das Stellen von Fragen schon für die Antwort und die weiderholung des altbekannten für Erkenntnis. Was eine Revolution künftig sein müsse, was sie ausrichten solle und warum ihre Vorgänger gescheitert sind – all die Themen also, die sich der Abend überhelfen wollte –interessiert kaum, wichtiger sind die clevere Assoziation, der witzige Einfall, die eifrig gedrehten diskursiven Kreise, das Spiel als Selbstzweck. Das Nachdenken über das Morgen verschwindet in einer Revue des Gestern, kurzweilig, wortmächtig, unterhaltsam. Aber auch ungeheuer selbstverliebt, streckenweise ärgerlich albern und in seinem Wagenburg-haften Rückzug in popkulturelle Sicherheit auch ein gerüttelt Maß feige. So groß der Aufwand, so gering der Gewinn. Statt die anfangs diagnostizierte „postrevolutionäre Depression“ anzugehen, suhlt sich Invisible Republic darin, fühlt sich wohl in der eigenen Blase, in der Geborgenheit von Gewissheiten und der Selbstverleugnung, man habe verstanden und würde künftig alles besser machen. Doch zum Wie und Wozu kommt diese Selbstbeweihräucherung progressiver Überlegenheitsgläubigkeit nicht. Was übrig bleibt ist ein launiges Potpourri zu einer schlanken Revue aufbereiteter Revolutionsklischees. Heiter, harmlos, beliebig. Was gerade draußen vor der Tür passiert, interessiert da nicht weiter.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/15/heiter-in-die-mottenkiste/
Leserkritiken: Christoph Heins "Verwirrnis" (1)
Schwäche statt Reinheit
Christoph Hein liefert fast jährlich neue Romane mit Zentralfiguren, in denen viel Autobiographie enthalten ist, wie er am 19.08.2018 bei MDR Kultur im Gespräch mit Knut Elstermann berichtet.
Von der Zentralfigur des jüngsten Romans „Verwirrnis“, Friedeward Ringeling, heißt es gleich auf der zweiten Seite: „Er war ein edler Mensch.“ Vielleicht hätte Reinheit statt Edelmut den Anspruch dieser Figur noch besser getroffen.
Auch Zentralfiguren seiner letzten Romane wie Rainer Trutz im gleichnamigen Roman oder Konstantin Boggosch in „Glückskind mit Vater“ vermittelten den Eindruck moralischer Reinheit inmitten brutalster Gewalt oder zumindest schwieriger gesellschaftlicher Umstände. Etwas irritierend endete „Glückskind mit Vater“ damit, dass Konstantin Boggosch „wirres Zeug“ träumt. Obwohl ein Roman ja gar keinen Anspruch darauf erhebt, ließ mich der wirre Traum auf der letzten Seite zweifeln, dass mir zuvor eine „wahre“ Geschichte aufgetischt worden war, sondern dass ich – als geschätzter Leser - statt dessen mit einer geschönten, einer gereinigten Version abgespeist wurde.
Im neuen Roman kommt „Verwirrnis“ (wurde der Titel vom Autor oder vom Verlag gewählt?) nur einmal vor: als Friedeward Ringeling sich seinem Vater am Sterbebett entzog und ihm innerlich vorwarf, dass er ihn „in die schlimmste Verwirrnis seines Lebens gestürzt hatte“
Der Vater Pius Ringeling hatte den Charakter seiner Kinder durch Prügelstrafe festigen wollen, letztmalig, um dem fast erwachsenen Sohn bei ertappter Intimität mit dem begabten Pianisten und späteren Organisten Wolfgang Zernick die homosexuelle Neigung mit dem „Siebenstriemer“ zu exorzieren. Die ‚Folter‘, wer wollte es verdenken, machte ihn schwach: „In seiner Verzweiflung behauptete Friedward, er sei verführt worden. Wolfgang habe ihn dazu überredet, er habe nicht gewusst, worauf er sich einlasse, und sei nur neugierig gewesen. Er biss sich auf die Lippen, auf die Zunge, um zu schweigen, aber die Schmerzen öffneten ihm den Mund.“
Vielleicht war dieser Verrat der Anfang vom Ende der großen Liebe zwischen Friedeward und Wolfgang, der Liebe die – so Wolfgang – das Wichtigste und Höchste und deshalb auch gesegnet sei. Etwas irritierend, dass Christoph Hein – „die paktierende Sympathie mit seinem gebrochenen und dennoch stolzen Helden“ nannte es Harald Jähner in der Berliner Zeitung – im Gespräch mit Knut Elstermann Wolfgang zweimal als „Hallodri“ desavouriert.
Gestern in einem vietnamesischen Restaurant im Süden Berlins trug eine junge Serviererin ein T-Shirt mit der Rückenaufschrift „Forever or never“. Egal ob ‚queer‘ oder nicht, beginnt die ‚Verwirrnis‘ nicht mit dem Ende der großen Liebe? Muss man sich nicht einen Zustand großer ‚Verwirrnis‘ vorstellen, der einen Intellektuellen aus seiner schöngeistigen Tätigkeit in einem gutbürgerlichen Heim hinaus in eine bedrohliche Dunkelheit treibt, auf den „Waldplatz“, wo er sich an einem bekannten Treffpunkt, einer Klappe, einen Stricher bezahlt.
Und wäre es nicht eine verständliche Schwäche, mit der Staatssicherheit zusammen zu arbeiten, wenn diese Friedeward dabei behilflich ist, die „kleine, nun sagen wir, Besonderheit weiterhin in einen Mantel des Schweigens gehüllt zu lassen“? Und überdies zustimmt, dass Friedeward längere Reisen ins NSW, ins nicht-sozialistische Wirtschaftsgebiet unternimmt?
Leserkritiken: Christoph Heins "Verwirrnis" (2)
Tyred
Schon der junge Friedeward spielte nach dem Verrat an Wolfgang unter der Prügelfolter seines Vaters mit dem Gedanken daran, nun, nach der Einstufung als IM, als inoffizieller Mitarbeiter der StaSi, in seinem 60. Lebensjahr, vollzieht er den Selbstmord: „Ich werde nie wieder einen Schlag mit dem Siebenstriemer hinnehmen.“ Aber waren tatsächlich die Schläge mit dem Siebenstriemer die als unerträglich erlebte Demütigung, oder war es die – doch eigentlich verständliche – Schwäche, die in Verrat mündete?
„Des allen müd bin ich gegangen. Friedeward Ringelin. Leipzig, am 18. Juni 1993, 22:30“.
Große Literatur: „Tyred with all these for restfull death I cry“, der Anfang des berühmten Sonetts 66 von Shakespeare. Dieser Anfang war mir zuletzt in Julian Barnes Schostakowitsch-Roman „Der Lärm der Zeit“ begegnet, zusammen mit Sätzen wie: „Die Tyrannei wusste, wo die meisten Menschen ihre schwachen Seiten hatten und wie damit umzugehen war“. So geht ein Roman in den nächsten über und vielleicht sollte man Tyrannei durch Macht ersetzen.
Auf zwei der letzten Seiten macht Christoph Hein ein großes Fass auf, ohne es zu füllen. Die neuen sächsischen Machthaber nach der Wende hätten keinesfalls eine demokratische Erneuerung der Leipziger Universität im Sinn gehabt, sondern schlichte Enteignung. Es ging um Abwicklung von Personal, Verscherbelung von Universitätsbesitz zur Bereicherung von Liquidatoren, von Banken.
Nun bin ich doch gespannt, ob Christoph Hein diesen Faden in einem kommenden Buch aufnimmt und überzeugend weiterspinnen kann.
Leserkritik: Kultur verteidigen, Gorki/Berlin
"Kultur verteidigen" von Hans-Werner Kroesinger/Regine Dura, Lecture Performance im Rahmen des "War or Peace"-Festivals, Gorki Theater

Mit einem Irritationsmoment beginnt die Lecture Performance „Kultur verteidigen“ im Lichtsaal, der kleinsten Spielstätte des Gorki Theaters. Rashidah Aljunied, Oscar Olivo, Ruth Reinecke und Mehmet Yilmaz lesen schwärmerische Hymnen auf den Führer Adolf Hitler und die Nazi-Ideologie. Die Texte klingen oft ungelenk und sehr laienhaft. War hier nicht ein Reenactment des „Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur“ im Jahr 1935 angekündigt, zu dem sich antifaschistische Intellektuelle und Exilant*innen wie André Gide, Bertolt Brecht oder Anna Seghers in Paris versammelt haben?

Oscar Olivo, regelmäßiger Gast am Gorki Theater vor allem in den Arbeiten von Christian Weise, löst nach einigen Minuten auf: Wir hörten Original-Dokumente aus einem Preisausschreiben unter dem Titel „Wie ich Nazi wurde?“. Menschen, die bereits vor 1933 in die Partei eingetreten sind, waren aufgerufen, über ihre Motivation zu schreiben. Der ausgelobte Preis für den Gewinner-Text wurde allerdings nie vergeben, wie Olivo beiläufig anmerkt.

Nach der Reichstagsbrandverordnung kommt die knapp einstündige Performance bei ihrem eigentlichen Thema an. Die Textauswahl der bekannten Dokumentartheater-Macher*innen Hans-Werner Kroesinger und Regina Dura demonstriert vor allem die Hilf- und Ratlosigkeit der Intellektuellen in dieser angespannten Zeit: zwei Jahre nach dem Beginn der Nazi-Herrschaft und vier Jahre vor dem Überfall auf Polen.

Dass Kroesinger/Dura das Wort und ihre Recherche-Ergebnisse in den Mittelpunkt stellen, ist Kern ihres Konzepts. Aber selbst für Kroesinger/Dura-Verhältnisse ist dieser Abend ungewöhnlich spröde. Dies liegt auch daran, dass nur wenige der historischen Texte die Intensität des flammenden Appells von Ernst Toller erreichen, den Rashidah Aljunied vorträgt. Bertolt Brechts Redebeitrag blieb wesentlich blasser und erschöpfte sich in seiner bekannten Forderung, die Klassenverhältnisse in Frage zu stellen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/21/kultur-verteidigen-kroesinger-dura-gorki-theater-kritik/
Leserkritiken: Mein Freund Harvey, SHL Schleswig
Mein Freund Harvey oder „Back to Black and White“ Mein Freund Harvey von Mary Chase war Mitte des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich und wurde 1945 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Die Story ist schnell erzählt: Als Elwood P. Dowd (René Rollin) auf der Party von Myrtle Mae (Eva Maropoulos) seinen Freund Harvey vorstellt, einen Puka (ein Geist in Tiergestalt aus der alten irischen Mythologie) in Gestalt eines ungefähr zwei Meter vierzehn großen, weißen, unsichtbaren Hasen, beschließt seine Schwester Veta (Heidi Züger), ihn in ein Sanatorium einzuweisen, um die Familie vor weiteren Peinlichkeiten zu schützen. Sie wird jedoch von Dr. Sanderson (Simon Keel) aus Versehen selbst eingewiesen. Nachdem dieser Irrtum aufgeklärt worden ist, macht man sich auf die Suche nach Elwood und Harvey. Als Dr. Chumley (Klaus Gramüller) Elwood und seinen Hasen in der Kneipe aufspürt, erzählt dieser ihm, wie er Harvey kennengelernt hatte. Der renommierte Psychiater und der Hase ziehen anschließend durch die Wirtshäuser, wobei Elwood sie verliert und sich auf die Suche nach Harvey macht. Nach Aufklärung aller Verwicklungen muss entschieden werden, ob Elwood die desillusionierende Injektion erhalten soll oder nicht. Kurz vor der Injektion akzeptiert Veta den unsichtbaren Freund ihres Bruders. Wie bringt man diese hintergründige Komödie des Sieges der Poesie über den grauen Alltag heute auf die Bühne, ohne dass sie verstaubt wirkt. Henning Bock wartet mit einer genialen Idee auf: „Mein Freund Harvey“ als Fernsehsendung der ARD im Jahr 1950, natürlich Schwarz-Weiss. Stephan Testis Bühne ist ein Fernseher auf dessen Mattscheibe in Schwarz-Weiss (Bühne und Kostüme) gespielt wird. René Rollin als Elwood liefert ein geniales Dialogspiel mit seinem imaginären Hasenfreund mit einer Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, die jede Schauspielerei vergessen lässt. Dies wird verstärkt durch die manierierte, überzogene Spielweise aller anderen Dartsteller*innen. Der Abend beginnt in Farbe mit Karin Winkler als Fernsehzuschauerin und Fernsehansagerin. Dann die ersten Gags, wie Bildstörung und dann alles in Schwarz-Weiss, eine perfekte Idee. Alle Darsteller*innen drehen gewaltig auf und kein Gag wird verschenkt. Ein Feuerwerk an Slapstick und hintergründiger Komik. Allein das Spiel um Nähe und Distanz zwischen Ruth Kelly (Manja Haueis) und Dr. Sanderson (Simon Keel) mit grandiosen körperlichen Verrenkungen. Dr. Sanderson mit dem Hang zu ihren Brüsten und Kelly zu seinen „E…n“. Oder wenn Elwood mit bunten Blumen aus dem Zuschauerraum in den Fernseher eintritt und der Blumenstrauß im Fernsehen grau ist. Oder wenn die Darsteller*innen aus dem Fernseher heraustreten und zurückwollen, aber die Mattscheibe den Zugang versperrt. Hier wurde mit viel Überlegung und feinem Gespür für Komik gearbeitet, die dem Abend seinen Charm verleihen. Komödie ohne Schenkelklopfer, feinsinnig und intelligent, ein wahrer Genuss. Selten wurden Paradoxien des Lebens so prägnant auf den Punkt gebracht wie an diesem Abend. So wird „Mein Freund Harvey“ zur Botschaft für mehr Toleranz, Fantasie und Freundlichkeit (Elwoods Lebensphilosophie: „Man kann auf zwei Wegen gut durch das Leben kommen, entweder man ist sehr schlau oder sehr freundlich. Früher war ich sehr schlau, nun bin ich sehr freundlich.“) und ein liebevolles Plädoyer für den Mut zu ein bisschen Verrücktheit innerhalb des alltäglichen Irrsinns. Eine Komödie, die man lieben muss, wenn sie so klug, originell, witzig und sensibel inszeniert wird, wie am Schleswig-Holsteinischen Landestheater. Wieder einmal zeigt die „vermeintliche Theaterprovinz“, wie intelligentes Theater begeistern kann und zu welchen schauspielerischen Bravourleistungen Ensembletheater fähig ist.
Leserkritik: "Damned be the traitor of his homeland!", Frühwerk
"Damned be the traitor of his homeland!", Oliver Frjilć, Gastspiel im Gorki Theater

Häufiger wiederkehrende Motive aus Oliver Frljićs Arbeiten sind in „Damned be the traitor of the homeland“ klar zu erkennen: der makabre Scherz eines Schauspielers, dass der Regisseur bei einem Unfall gestorben sei, oder die offensive Beschimpfung des Publikums, das mit Vorwürfen überzogen wird. Mit ähnlichen Stilmitteln hat Frljić im vergangenen Jahrzehnt – vor allem in Polen und auf dem Balkan – manchen Skandal provoziert und auch den Münchner Marstall aufgeschreckt.

„Damned be the traitor of the homeland“ ist allerdngs deutlich anzumerken, dass die Arbeit aus einer frühen Phase von Frljićs Karriere stammt: auch heute geraten ihm manche Produktionen noch etwas holzschnittartig, aber diese Inszenierung, die 2010 am Mladonski Theatre im slowenischen Ljubljana Premiere hatte und im Anschluss zu diversen europäischen Festivals eingeladen werde, ist ein ganzes Stück von seinen stärksten aktuellen Produktionen wie „Mauser“, „Balkan macht frei“ oder „Der Fluch“ entfernt, in denen er subtiler mit angedeuteten und stärker ironisch gebrochenen Provokationen spielt.

Damals, vor mittlerweile fast zehn Jahren, mag es wie ein Befreiungsschlag gewirkt haben, dass die Spieler*innen in kabarettistischen Wortgefechten gegeneinander sticheln und zwischen ironisch vorgetragenem Balkan-Pop und Volksliedern in den Wunden bohren, die der Zerfall des Vielvölkerstaats Jugoslawien und die Kriege in den 1990er Jahren hinterließen. Es war damals vermutlich auch ein Schock für das Publikum in Ljubljuna, so frontal und aggressiv angeschnauzt zu werden. Heute bekommt Primož Bezjak nur freundlichen Applaus und wissendes Kichern, wenn er in seinem aktualisierten Monolog unter Pistolenschüssen dem Berliner Publikum im besonderen und dem Westen im allgemeinen die Leviten liest, dass die Empörung über Menschenrechtsverletzungen selektiv ist und mit Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren lieber Geld verdient wurde als sich näher mit den moralischen Fragen der Rüstungsexporte auseinanderzusetzen.

Das Gorki Theater lud „Damned be the traitor of his homeland“ als letzte größere Produktion des „War or Peace“-Festivals ein, obwohl es im Repertoire ein stärkeres und aktuelleres Stück zum Thema Balkankriege zu bieten hat: „Common Ground“ (2014) von Hausregisseurin Yael Ronen, das nach der ersten Spielzeit von Shermin Langhoffs Intendanz gleich für das Theatertreffen ausgewählt wurde. Deshalb ist „Damned be the traitor of his homeland“ vor allem als historischer Rückblick interessant, mit welchen stilistischen Mitteln zu Beginn des Jahrzehnts die Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit auf dem Balkan geführt wurde.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/25/damned-be-the-traitor-of-his-homeland-gastspiel-gorki-theater-kritik/
Leserkritik: Fahrt zum Leuchtturm, Berlin
Nach dem Roman von Virginia Woolf: Die Fahrt zum Leuchtturm, Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Marie Schleef)

(...)

Schleef interessiert das Äußerliche, sie externalisiert die Erstalrrung in gesellschaftlichen Verhaltungsmustern, abstrahiert sie und lässt dabei die inneren Gegenströmungen, die Quellen einer möglichen Emanzipation in den Hintergrund treten, zu Fußnoten werden. Das verkleinert nicht nur besagte Emazipationsgeschichte, das verzwergt auch die künstlerische Sprengkraft, die dieser Text einst entfaltete. In Zwischenspielen wird die Geschichte von Fischer und seiner Frau von Tismer und Cristián Lehmann Carrasco (der ansonsten Sohn James ausgestellt und distanziert als Kind-Konzept abstrahiert) in klindlicher Dauerregung erzählt. Ein befreiender Sprachfluss vielleicht, aber auch eine Verfestigung von Geschlechterklischees gepaart mit einer Emazipationsvision geboren aus der Infantilität. Weiter führt da schon der Faust-Exkurs: Da krallt sich Tismers Mrs Ramsay (Anne Tismer erweist sich erneut als ungeheuer wandelbar bis an den Rand der Beliebigkeit) eine Assoziationskette ihres Mannes (stocksteif: Florian Kroop) und referiert über Gretchen und ihre Position als männlich determiniertes Opfer. Dabei befreit sie sich zunächst von der patriarchalen Interpretation, aufgezwungen vom Autor, der Gretchen zu seinem Objekt degradiert, und letztlich sogar vom inneren Monolog, den ihr Virginia Woolf zuschreibt. Sie findet ihre Stimme, wird vom Automaten zum selbstbestimmten Menschen, eine Erkenntnisbewegung als Live-Emanzipation, rüde gestoppt von der Klingel der wiederherzustellenden Ordnung.

Leider nur ein Moment, ein anarchisch widerspenstiger Augenblick inmitten eines ansonsten merkwürdig uninspirierten Abends. Die Reduktion von Woolfs Meisterwerk der literarischen Moderne auf ein feministisch-emanzipatorisches Zitat saugt ihm nicht nur viel von seiner auf dem Papier kaum fasslichen Lebensenergie aus, es lässt die Schlussszene zwischen Vater und Sohn ohne Funktion und aussage zurück, eine Insel der Ratlosigkeit in einem Abend, der sich ein Korsett aufzwängt, das ebenso eng ist wie die Welt, in der er seine Geschichte verortet. Wo Virginia Woolf die Räume der Literatur wie der Möglichkeiten des Menschen, vor allem auch der Frau, selbstbestimmt zu leben, weitet, zieht Marie Schleef mauern ein, presst die Erzählung in einen engen interpretatorischen Rahmen, der die Reduktion Woolfs auf ihr Frausein reproduziert und damit die kritisierten und zu überwindenden Rollenmuster tendenziell gar festigt, weil er ihnen die Kontrolle über den Text verleiht, sie ihn sich zurechtstutzen und -rücken können, sie ihn auf einen Aspekt reduzieren. Es scheint, als hätten so manche*r nach wie vor Angst vor Virginia Woolf.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/26/angst-vor-virginia-woolf/
Leserkritik: Boys don´t cry..., Düsseldorf
"Boys don´t cry and girls just wanna have fun", Ein Liederabend von André Kaczmarczyk, Schauspielhaus Düsseldorf

Wunderbar ironisch ist der Streifzug durch die Geschlechterrollen, den André Kaczmarczyk, eines der Aushängeschilder des Düsseldorfer Schauspielhauses, mit einigen Kolleg*innen zum Ende der vorigen Spielzeit einstudiert hat. „Boys don´t cry ans girls just wanna have fun“ wurde in den regionalen Zeitungen bejubelt, entwickelte sich schnell zum Publikumsmagnet und zog deshalb mittlerweile auf die Große Bühne um, war heute aber noch mal am Original-Ort zu erleben.

Die sechs Spieler*innen schlüpfen fast im Minuten-Takt in neue Kostüme: von Genet Zagay, die Trude Herrs „Ich will keine Schokolade…“ schmettert, geht es zu André Kaczmarczyk auf High Heels und in Strapsen als Frank´n´Furter. Stefan Gorski trällert im roten Fummel „Das bisschen Haushalt, sagt mein Mann…“, Sebastian Tessenow wird von seinen Kolleginnen zu „You can leave your hat on“ herumkommandiert. Lou Strenger und Hanna Werth tauchen mit Schnurrbärten und in Anzügen in die 1920er Jahre ein.

Unterhaltsame zwei Stunden und zwei Zugaben surfen die Ensemble-Mitglieder, begleitet von den beiden Musikern Daniel Brandl und Matts Johan Leenders, und unterstützt von der Choreographin Bridget Petzold durch das „postpatriarchale Durcheinander“. Den nötigen Tiefgang bekommt die Revue durch den Dramaturgen Frederik Tidén, der sich als langbeinige Marilyn Monroe immer wieder ins Geschehen einschaltet. Er erzählt von seinen Schwierigkeiten in der Pubertät, als er in der bayerischen und später badischen Provinz als Exot wahrgenommen wurde und auf der Suche nach seiner Identität war, macht sich scharfzüngig über Edeka-Wurst-Angebote lustig, die sich gezielt an Männer oder Frauen richten, oder streut ein paar Anekdoten von Susanne Bartschs „On Top“-Party ein, die es vom Schweizer Bergdorf Bäretswill zur Nachtleben-Ikone in Manhattan schaffte.

Gegen Ende der zwei Stunden dominieren die melancholischeren, nachdenklicheren Songs, auch Tidén meldet sich öfter zu Wort. So entwickelt sich „Boys don´t cry and girls just wanna have fun“ zu einem Abend, der nicht nur kurzweilige Unterhaltung bietet, sondern auch ein überzeugendes queeres Statement ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/27/boys-dont-cry-and-girls-just-wanna-have-schauspiel-duesseldorf-kritik/
Leserkritiken: "Damned..."/Oliver Frljics Gastspiel im Gorki Berlin
Oliver Frljić: Damned Be the Traitor of His Homeland!, Mladinsko Theatre, Ljubljana / Gastspiel im Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Oliver Frljić)

(...)

Es sind diese, ernsten, konzentrierten, dichten Momente, in denen dieser Abend am stärksten wirkt, nicht die ironischen, provokativen, anarchischen. Eine Wutrede, die in der Originalaufführung auf serbisch in das slowenische Publikum geschleudert wurde und deren vermeintliche moralische Überlegenheit aufgriff, wird nun zu einer müssen Beleidigung der vermeintlich so „politisch korrekten“ Deutschen, ein Klischeefest, das im wohligen Gelächter verpufft. Eine Pflichtübung, ein mechanisches Kratzen an der vierten Wand, das niemanden tangiert, weil es so blutleer, so allein an diesem Haus, dem Gastspielort Gorki tausendmal gehört daherkommt, sich so seltsam vom Rest des Abends abhebt, dass es vollständig verpufft. Da lehnt sich der Zuschauer ungestört zurück – was in anderen Momenten schwerer fällt. Nämlich dann, wenn es an die Substanz geht, die Tödlichkeit von Vorurteilen aufblitzt, die Maske abfällt. Da kann noch so oft versichert werden, alles sei nur Theater, hier bricht die Wirklichkeit durch, erzeugt Unsicherheit, Unschärfe, Ungewissheit.

Und hier liegt der Kern von Frljićs Diagnose: die Erschütterung von Gewissheiten, fein zurechtgelegten Identitäten, die urplötzlich zerbersten, zersplittern, verschwinden. Hier knallen sie immer wieder auf die Bretter, in verzweifelt wiederholten Versatzstücken und auswendig gelernten Phrasen, der Unmöglichkeit miteinander zu interagieren – oder wenn, dann nur mittels Gewalt. Symptomatisch, dass die Auseinandersetzung über die Liedverweigerung monologisch geschieht, die Sprecher*innen starren ins Publikum. Kein Gespräch, kein Näherkommen, kein Verstehenwollen, sondern das sich Verschanzen im letzten Rest kollektiver Identität, die längst zur individuellen geworden ist. Fällt sie ab, bleibt nichts. In diesen Sequenzen ist Oliver Frljić ganz nahe am Grundproblem zerfallender, sich selbst erodierender Gesellschaften. Der Balkan-Pop, die ironischen Distanzierungen und metatheatralen Spielereien mögen das Publikum bei der Stange halten für genau diese Momente sich den Weg freischaufelnder Wahrheiten. Keine Antworten nirgends, aber wer sich den wunden nicht widmet, wird sie nie heilen können. Und vielleicht muss man sie erst wieder öffnen, um sie endgültig schließen zu können. Das tut dieser Abend. Zu selten, aber er tut es.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/27/der-wundenoffner/
Leserkritik: Das Urteil, Hamburg
Das Urteil ist eine surrealistische Geschichte von Franz Kafka aus dem Jahre 1912. Zu dieser Geschichte gibt es mehr als 200 Interpretationsversuche. Georg, ein Kaufmannssohn, steht kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten Frieda. Er hat Briefkontakt zu seinem glücklosen Freund, den er über seine Erfolge nicht informiert hat, um ihn nicht zu kränken. Georgs zukünftige Frau ermutigt ihn, seinem Freund über die Hochzeit zu unterrichten. Als Georg seinem Vater diesen Brief zeigt, kommt es zum Streit. Georgs Vater erzählt seinem Sohn, dass er schon lange mit seinem Freund korrespondiert und dieser bestens über Georg informiert ist. Georgs Vater wirft seinem Sohn vor, die Geschäftsleitung okkupiert zu haben und eine unehrenhafte Frau zu heiraten. Der Streit endet mit den Worten des Vaters: „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ Georg läuft zum Fluss, springt über das Geländer und ruft: „Aber liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“ und fällt hinab.
Clara Weyde inszeniert diese Geschichte am Jungen Schauspielhaus Hamburg als surrealistischen, kafkaesken Alptraum mit beeindruckend starken Bildern. Gregor kommt nach Hause und betritt das Haus. Das Haus ist sehr beengt und erinnert an Räume von Escher. Das Haus hat etwas gespenstisch Bedrohliches. Im Haus begegnet ihm ein Mann mit Taktstock und er flüchtet. Der Mann mit Taktstock erzählt die Geschichte des Urteils und es erscheint eine Gruppe Kinder mit schwarzen Hauben, die an Mormonen erinnern. Der Mann mit Taktstock dirigiert den Kinderchor, der das Lied „What a Wonderful World“ intoniert. Eine Sängerin singt falsch und wird vom Chorleiter Mobbing mäßig vorgeführt und traumatisiert. Alle Kinder des Chores weisen Merkmale erzieherischer Gewalt auf (z.B.: blaue Augen und Hämatome im Gesicht). Anschließend muss ein Kind den Lebenszyklus eines Fischparasiten mit Wirtswechsel erklären. Es geht um das Prinzip „Überlebensstrategien“, auch wenn diese Strategie unsinnig erscheint. Mehrfach wird auf biologisches Wissen verwiesen. Die Entwicklung einer Made zur Fliege in Form einer Yogaübung, um zu verdeutlichen, wie durch innere Befreiung, Neues entstehen kann. Immer geht es um die Vater-Sohn-Beziehung, in der der Vater meist übermächtig groß erscheint. Es werden auch Texte aus Kafkas „Brief an den Vater“ und aus „Elf Söhne“ eingebaut. Ein Vater von elf Söhnen beschreibt beim Sezieren einer Wasserleiche seine Söhne. Einer seiner Söhne seziert ebenfalls ungeschickt eine Leiche. Er möchte seinem Vater gefallen und findet nicht die erhoffte Anerkennung, da dieser verschwindet, als er seinen Sohn 6 beschreiben soll. Wunderbar die Idee mit dem Glashafen mit Süßigkeiten, in der oberen rechten Ecke des Zimmers auf einem Bord, für die Kinder nicht erreichbar. In einem unbeobachteten Moment machen sie sich über diese Schätze, per Räuberleiter, her; ein Befreiungsakt der Kinder von ihren erwachsenen Unterdrückern. Der Sohn zeigt Selbstbestimmtheit, indem er seinem alten Vater klar macht, dass er so ist wie er ist. Die Inszenierung endet letztlich mit dem Tod des Vaters, dem misslungenen Selbstmord des Sohnes und den Worten des Vaters „nicht mal das schaffst du!“. Kafkas Urteil als düsterer, surrealer und bedrohlicher Alptraum, indem es um den verzweifelt Kampf der Jugend geht, sich von den unterdrückenden Einflüssen der Erwachsenen zu befreien, um zu einem eigenen Leben zu gelangen. Eine Inszenierung die nachwirkt und deren Bilder beunruhigen aber letztendlich einen Schimmer auf selbstbestimmtes Leben ermöglicht, da der Sohn lebt.
Leserkritiken: Core of Crisis/P14 der Volksbühne Berlin
Elias Geißler, Josefin Fischer: Core of Crisis!, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Elias Geißler, Leonie Volke)

(...)

Es ist die Familieneinheit als Miniatur gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die den „Core of Crisis“ bildet. Ein patriarchales System fester Rollenzuordnen, so eingefahren, dass es sich nur noch als Horrorszenario darstellen lässt. Und so wandelt der Abend über weite Strecken zwischen viktorianischer Gothic Novel und (post)modernem Slasherfilm, zitiert sich durch die Literatur und (Trivial-)Kulturgeschichte, lässt die „Blair Witch“ auf Hänsel und Gretel treffen, macht Halt bei Euripides und Mary Shelley, der Bibel und dem Exorzisten, Batman und René Pollesch. Ein wilder Genremix diskutiert Macht und Liebesfähigkeit, das Kippen Letzterer in Gewalt, die Macht und Ohnmacht der Fantasie als Möglichkeitsraum und Gefängnis, führt patriarchale Strukturen ins Extrem und sucht den Ausweg im Spiel. Zu Beginn probieren es die ungeborenen Zwillinge mit der „Schädellage“, um hinauszukommen in die Welt. es gelingt und tut es später, als es die nächste, die reale (?) Welt zu finden gilt, erneut. Mit ihr endet der Abend auch. Ob ein weiterer Ausweg zu finden ist, bleibt unklar.

Denn vielleicht ist dieser längst gefunden oder gänzlich unmöglich. Oder beides. Dieser Abend ist vor allem eines: Theater, pures Spiel. Die ohne Ausnahme fantastischen zehn jungen Spieler*innen – zu nennen sind noch Castro Reis, Rosa Raue und Julius Franke als das wunderbar comichafte Rächer*innen-Trio und der angesichts der gedanklichen und rhetorischen Überfülle der Aus-der-Zeit-Gefallenen herrlich die Verlorenheit der Heutigen skizzierende Caspar Unterweger – pflügen sich durch die Register, durch Schauermärchen, Slasherfilm und hohe Tragödie, aber auch Farce, Stummfilmgestik oder Diskurstheater, versuchen sich an allen möglichen (und einigen unmöglichen) Drastellungs-, Sprech- und ausdrucksformen, fallen von ergreifender Düsternis und schockierender Gewalt und schenkelklopfende Komik und zurück, ironisieren alles und jeden und am Ende auch die Ironie selbst, die urplötzlich wieder zu tödlichem Ernst mutiert.

Es ist ein Anspielen gegen die Geister, die Dämonen von 2000 Jahren familienbasierter „Zivilisation“, ein Eintauchen in Fantasiewelten, ein Freispielen durch die Kraft der Einbildung, die in Albernheiten abdriftet aber auch zur Hoffnung wird, die Auswege aufzeigt und stets zum Albtraum werden kann. Die in nur per Videokamera (Nimo Wöginger und Luna Zscharnt sind im Dauereinsatz) zugängliche Hinterzimmer führt, die sich natürlich auch als Orte des Verdrängten und nicht Abschüttelbaren lesen lassen zurückziehen, die ihre Verlorenen durch das Labyrinth der Wirklichkeiten wandeln lässt, um am Ende am greifbarsten und unsichersten Ort von allen herauszukommen: der Bühne. Dort, wo die Fantasie, wo das Spiel herrschen, Wirklichkeiten entstehen und platzen. Wo es keine Antworten gibt, sondern nur Fragen. Keinen Ausweg, aber die Vorstellung davon. Wo Elektra auf Gollum trifft und mit ihm eins wird. Oder zwei oder drei. Am Ende versucht die Mutter den Zwillingen ein Geheimnis zu verraten, aber sie hat es vergessen. Vielleicht haben wir es in den zweieinhalb vorangegangenen Stunden nicht verstanden, aber zumindest erlebt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/11/09/wenn-elektra-gollum-trifft/
Leserkritik: Carlon Bunce, München
München, 04. November 2018
No TIM(E) like the Present

Carlton Bunce sprengt mit seiner britischen SciFi-Performance “No TIM(E) like the present” virtuos das Raum-Zeit-Kontinuum und nimmt den Zuschauer mit auf einen wilden Ritt durch den Outer Space – vorbei an Asteroiden, hin zu irdischen Archetypen, und zurück zum Big Bang.
Ein Reisebericht von Gudrun Kosche

Daumenkino durch die „Yellow Pages of Time“

Das kleine Kellertheater Blaue Maus ist zum Bersten voll – gespannte Stille und Dunkelheit – ein Mann wird auf Händen hereingetragen und auf der Bühne sorgsam drapiert. „Eine Reminiszenz an Stephen Hawking“, wie mir der Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Carlton Bunce später erzählt.

Sure, von Astrophysik ist auch die Rede – kräftig gemixt mit Gedanken über den Urknall, über Sex und Romantik auf dem Silbertablett – mit dem einzig anderen auf der Welt vorhandenen Lebewesen, einem roten Flugsaurier, der die Rolle der Über-Ich-Ehefrau Terry einnimmt und mit allen Mitteln der Unvernunft erst noch aus der Reserve gelockt werden muss.

Untermalt mit Musik auf selbst kreierten Instrumenten des Sound-Tüftlers Ardhi Engl – eben desjenigen, der sorgsam hereingetragen wurde – die Musik will gehätschelt werden. Wussten Sie, dass eine einzige Saite wie ein ganzes warmes Cello klingen kann? Und dass die Seiten eines Federballschlägers, geschmückt mit Federn, indianischen Traumfängern gleich, Wind und Töne erzeugen, die sogar Terry besänftigen?

Das ganze Stück ist auf Englisch – man versteht überraschend viel. Der walisische Wahlbayer Carlton Bunce spricht exzellent und exakt, trotz des zur Rolle gehörenden Lispelns, was die Verschrobenheit von TIM und sein ehrgeiziges Unterfangen, die Paarung mit der kokettierend-störrischen Terry, unterstreichen soll – und was im Lauf des Stücks aber glücklicherweise völlig in den Hintergrund gerät.

„Are you tired?“, fragt er mich am Ende der Vorführung bei Wein, Käse und Serrano-Schinken. „No, not at all“, antworte ich. „Oh, you´re polite!“ – “No! I´m good at flattering, but it´s true!”

Really, eine intellektuelle Erfrischung auf hohem Niveau, gut verständlich, virtuos konzipiert, sicher dargebracht, mit Wort- und Bühnenwitz inszeniert.
Leserkritik: 1917 - Russisches Roulette, Freiburg
Es war eine Geschichtsstunde im Freiburger THEATER DER IMMORALISTEN, obwohl sie laut Ankündigung keine sein sollte. Trotzdem war sie weder langweilig noch zäh sondern unterhaltsam, informativ, nachdenklich machend und dennoch durchgehend skurril, komisch und witzig:
'1917 - RUSSISCHES ROULETTE' ist das 2. Stück einer dreiteiligen Serie zum Ende des 1. Weltkrieges vor 100 Jahren.

Aufgezogen als Game-Show kündigen der Showmaster James Foggin und Anna Tomicsek, als seine 'reizende Assistentin', drei Kandidaten an, die unter Gejohle vom Band und dem Applaus des Publikums hinter ihren Pulten Aufstellung nehmen. Dargestellt werden historisch bedeutsame Persönlichkeiten auf dem Weg vom Zarenreich zum stalinistischen Gulag. Entsprechend ihren historischen Rollen werden sie nach und nach aus dem Spiel genommen und durch neue Akteure ersetzt oder wie z. B. Lenin auf einem Stuhl in der ersten Zuschauerreihe 'zwischengeparkt'. Wie es sich für eine Gamehow gehört, bekommen die Kandidaten Punkte und Punktabzüge, die entweder von den realen Geschehnissen aus dem Verlauf der russischen Revolution abgeleitet werden oder aufgrund spezieller Aufgaben vergeben werden. Zar Nikolaus muss etwa die kompletten Namen seiner vier Urgroßmütter aufzählen und scheitert verzweifelt am letzten Namen. Die Assistentin erläutert ihm nun im Plauderton sein weiteres Schicksal und schickt ihn mit einem "Trotzdem Applaus - und alles Gute für die Zukunft" von der Bühne.
Weitere 'Kandidaten' sind Pawel Miljukov, Alexander Parvus, Alexander Kerenski, Leo Trotzki und Felix Dserschinski, die abwechselnd von Jochen Kruß, Markus Schlüter und Daniel Leers toll verkörpert werden. Alle sind mit sehr viel Liebe zum Detail kostümiert und vor allem Mitautor Florian Wetter, der den Lenin grandios spielt, wirkt äußerlich geradezu wie seine Wiedergeburt.
Punktsieger der Game-Show wird - nicht wirklich überraschend - Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, obwohl dessen Lebenspunkte nahezu aufgebraucht sind. Als die Assistentin, die sich zuletzt als 'Das russische Volk' outet, Lenin kurz vor seinem Tod all seine Verbrechen an der Menschlichkeit und den Menschenrechten aufzählt und dieser auf jeden Satz mit steinernem Gesicht antwortet: „Die Wahrheit ist konkret“, bleibt mir als Zuschauer das Lachen im Hals stecken. Als zum Abschluss dann noch Stalin mit Gummimaske wie ein Zombie ins Publikum winkt, das von seinem Schergen Dserschinski mit gezogener Pistole direkt bedroht wird, verstehe ich den Satz Karl Poppers, den die Autoren Florian Wetter und Manuel Kreitmeier ihrem Programmheft voranstellen: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“
Tolle Aufführung, großer berechtigter Applaus.
Leserkritiken: Robin Hood, Schleswig-Holsteinisches Landestheater
Robin Hood zur Weihnachtszeit von John von Düffel für Kinder ab 5 Jahren in der Regie von Lisa van Buren am Schleswig-Holsteinischen Landestheater. Ein buntes Bühnenbild (Stephan Testi) mit tollen Überraschungen, wie ein lebender Baum und Möglichkeiten für viel, variable Bewegung der Akteure. Es beginnt mit einem Straßenmusikanten, der in die Geschichte einführt und immer wieder mit seinem Gesang die Story vorantreibt. Nils Höddinghaus mit seiner dunklen, rauchigen Stimme überzeugt als Straßenmusikant. Die Musik von Christoph Coburger überzeugt durch ihre frische Lebendigkeit und ist frei von verstaubter Kinderliedermelodie. Die Story lebt von viel Bewegung, lebendigen Dialogen, komischen, clownesken Nummern und Tempo, was der Story „Drive“ gibt und die Kinder aufmerksam bei der Stange hält. Die Regie hat es verstanden die Akteure ständig in Bewegung zu versetzen, was die Inszenierung beeindruckend lebendig macht. Das Duo Sebastian Prasse und Nils Höddinghaus als Large/Extra Large und Scarlett/Glenn sind gelungene clowneske Nummern, wie z.B. als Scarlett und Glen mit ihren langarmigen Pullovern mit den viel lustiges Spiel möglich wird. Nicolas Müller (Sheriff von Nottingham, Gouvernante und Mc Mean) überzeugt insbesondere als komische Gouvernante. Lucie Gieseler (Mitch und Lady Marian), Kimberly Krall (Little John) und Matthias Wagner (Bruder Tuck) liefern ihre Rollen sauber und sehr engagiert ab, haben aber das Problem, die farbloseren Guten dieser Story verkörpern zu müssen. Robin Hood glänzt durch seine große körperliche Beweglichkeit und verleiht der Rolle somit enorm große Lebendigkeit. Die Regie arbeitet ausgesprochen wenig mit Moral der Story, was wohltuend ist und somit voll den Spaß in den Mittelpunkt stellt. Ein Fest für Auge und Ohr, bei dem es viel zu sehen und hören gibt. Doch auch die Story von Freiheit, Freundschaft und Gerechtigkeit kam zu ihrem Recht. Für die Schulen hat die Theaterpädagogik zusätzlich eine unterstützende Materialmappe für die Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs zur Verfügung gestellt. Vorbildlich was das Landestheater für das Kinder- und Jugendtheater auf die Beine stellt um neue Theatergenerationen an das Theater heran zu führen.
Leserkritik: Der Biberpelz, SH-Landestheater
(SH-Landestheater, Premiere 8.12.2018)
Der Biberpelz - Eine Diebskomödie - von Gerhart Hauptmann ist eine sozialkritische Komödie und Milieustudie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit dem Biberpelz nahm Hauptmann die Obrigkeit aufs Korn (Amtsvorsteher von Wehrhahn). Was kann uns diese Diebeskomödie in unserer Zeit noch bieten? André Rößler hat das Stück in unsere Zeit transformiert und den Untertitel „Eine Diebeskomödie“ ernst genommen. Die Bühne (Simone Graßmann) ist eine zeitlose, einförmige Plattenbausiedlung, die die Spielfläche begrenzt. Es beginnt grotesk mit einem Ei und einem Huhn, nein einem Hahn, die sich über die schädlichen Folgen des Rauchens unterhalten. Rößler setzt also von Beginn auf Komödie. Julian Wolff (Reiner Schleberger) hält sich mit Gelegenheitsjobs (Werbeläufer als Hahn) über Wasser, während Mutter Wolffen (Karin Winkler) das Leben ihrer Familie managt. Sie arbeitet in den Häusern der „besseren Gesellschaft“ und ist dank ihrer guten Arbeit überall anerkannt. Ihre ältere Tochter Leontine (Meike Schmidt) arbeitet als Gelegenheitsjobberin an einer Tankstelle und ihre jüngere Schwester Adelheid (Neele Frederike Maak) träumt davon Ornithologin zu werden. Die beiden Töchter der Frau Wolffen stecken in bunten geschmacklosen trendigen Klamotten. Familie Wolffen gehört zur heutigen unteren sozialen Mittelschicht. Alle träumen sie von einem „Luxusleben der Reichen und Schönen“. Zunächst erscheint Frau Wolff etwas einfältig doch schnell merkt man, dass sie alles wohl durchdenkt und dann alles so darstellt, dass sie trotz Diebstählen nie in Verdacht kommt, eine Straftat begangen zu haben. Frau Wolff schlägt sich mit "Bauernschläue" durchs Leben. Einer ihrer Wahlsprüche ist: „Karriere ist kein Plattenbau, sondernd eine Pyramide, nach oben wird es eng“. Als sich die Möglichkeit bietet, mit Markenschuhen, Benzin und einem „neuen Biberpelz“ (BP = Luxuscabrio statt Biberpelz) zu Geld zu kommen, wird die Chance ergriffen. Rößler setzt beim Erzählen auf Tempo, Sprach-, Situations- und Charakterkomik und überdreht heftig bis ins Schrille und Skurrile. Dadurch wird das Stück zu einem Zerrspiegel unserer Zeit und so manches Mal bleibt das Lachen im Halse stecken. Karin Winkler als Mutter Wolffen wird zum Erlebnis dieses Abends. Sie stürzt sich voller Empathie und Euphorie in diese Rolle und es ist eine Freude ihren Gaunereien zuzusehen und zu lauschen. Karin Winkler ist der unangefochtene Star des Abends. Der erste Teil des Abends ist bunt, lebendig, skurril und hat mich gut unterhalten. Der zweite Teil des Abends hat mich dann verloren. Der obrigkeitshörige Amtsvorsteher Wehrhahn (Robin Schneider) und seine Amtsdienerin Mitteldorf (Katrin Schlomm) konnten trotz bester schauspielerischer Leistungen in Bezug auf bornierte „Upper Class“ nicht überzeugend vermitteln, dass Wehrhahn mehr Angst vor den freiheitsliebenden und staatsfeindlichen Gedanken der Gesellschaft hat, als vor den Diebstählen der Frau Wolffen. Schade - hier hat die Regie, meiner Auffassung nach, einiges verschenkt. Hier hätte Gesellschaftskritik an Obrigkeitshörigkeit und politischer Verblendung stärker akzentuiert werden können. Die weiteren Akteure Rahman, der Tankstellenbesitzer (Simon Keel), Dr. Kilic, der Einzelhändler (Christian Hellrigl), Nasir, der Sohn von Dr. Kilic (Max Köni) und „last but not least“ Wulkow, der Taxifahrer (Uwe Kramer) verkörperten die verschiedenen Charaktere typgerecht und wahrten das bunte komödiantische Gepräge dieser Inszenierung. Hauptmanns sozialkritische „Diebskomödie“ zeigt auch heute in aktualisierter Form, auf unterhaltsame Weise, dass es Schläue und Frechheit braucht, um in prekären Zeiten zu überleben. Und es bleibt die Frage: Lässt sich Gut und Böse, Richtig und Falsch, Recht und Unrecht überhaupt noch eindeutig bestimmen in einer Zeit überbordender News and Fake-News?
Leserkritik, Don Giovanni, Weimar, Zerlina: @Me too
Don Giovanni in Weimar – Zerlina: @Me too
Es mag nicht ganz abwegig sein, in Don Giovanni eine Variante von Graf Almaviva in Le nozze di Figaro zu sehen, wodurch zugleich Zerlina – als Pendant zu Susanna – die zentrale weibliche Figur würde. Trotz des von Leporello prahlerisch vorgetragenen unglaublichen Registers an „Eroberungen“ des Don Giovanni, gelingt ihm in der Oper von Mozart und Da Ponte rein gar nichts. Allein im Duettino mit Zerlina bahnt sich ein Liebesabenteuer an: „Andiam, andiam, mio bene, a ristorar le pene d'un innocente amor!” / „Laß uns gehen, laß uns gehen, Geliebte(r), das Weh unschuldiger Liebe zu lindern!“ Dessen Vollendung wird durch den Furor Donna Elviras verhindert: „Fermati, scellerato! Il ciel mi fece udir le tue perfidie. Io sono a tempo di salvar questa misera innocente dal tuo barbaro artiglio!“ – „Halt, Schurke! Der Himmel wollte, dass ich deine Tücken hörte. Ich komme gerade recht, diese unglückliche Unschuld aus deinen schrecklichen Klauen zu retten.”
In Shakespeares As You Like It wird der Wald, die Natur – als Gegenspieler des Hofes - zum Ort „of the very wrath of love“, der „rechten Liebeswut“, wozu die „incontinence before marriage“, die „Unenthaltsamkeit vor dem Ehestande“ gehört. Doch: „Are not these woods / More free from peril than the envious court?”, fragt der Herzog rhetorisch.
Auch Donna Elvira ist Teil einer klerikal-höfischen Gesellschaft, während Zerlina bereits mit ihrem ersten Auftritt das Idealbild einer naturnahen Lebens- und Liebeslust der „Landleute“ verkörpert; „Giovinette, che fate all'amore, non lasciate che passi l'età!“ / „Ihr Mädchen, die ihr mit der Liebe spielt, lasst nicht den Frühling vorübergehen.“ Dies korrespondiert mit der libidinösen Grundhaltung Don Giovannis und weckt sein Begehren.
Der Don Giovanni des DNT Weimar zollt dem Zeitgeist Tribut und kommt als Harvey Weinstein daher. Ein Schurke, aus dessen barbarischen Klauen Zerlina, eine weitere unglückliche Unschuld, gerade noch rechtzeitig gerettet werden kann! Es geht um Aggression, Gewalt, Vergewaltigung, „innocente amor“ ist Euphemismus.
Wir, die Gesellschaft, sind ein in der Zeit schwingendes System. Vor 50 Jahren bewegte sich das Pendel mit der „sexuellen Revolution“ in Richtung permissiver Liberalität: Lasst dem sinnlichen Begehren seinen natürlichen Lauf. Nun, mit der politischen Correctness kommt der Rückschwung in klerikal-höfische Konventionen, werden die Tücken der Wälder, der unvermittelten, unreflektierten, „rohen“ Natur wieder weit negativer gewertet als die von Neid und Doppelsinn dominierten Umgangsformen des Hofes.
Leserkritik: Tankstelle, Berlin
Luis Krummenacher, David Thibaut, Emma Charlott Ulrich, Magdalena Weber: Tankstelle, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Luis Krummenacher, Emma Charlott Ulrich, Magdalena Weber)

(...)

Die Geschichten bleiben Fragment, drehen sich im Kreise, finden keine Realität zum Andocken. Das bringt des Abend immer wieder an den Rand der Beliebigkeit, treibt seine sympathische Sprödigkeit zuweilen in die Nähe der applausheischenden Pose und kreiert vor allem gegen Ende so manche sich nicht mehr füllende Länge. Und doch ist diese trocken absurde Abrechnung mit gesellschaftlichen Lebenslügen und der freiwilligen kollektiven Gefangennahme längst nicht mehr zu haltender Fortschrittsnarrative zwar ein feinhumoriges und anarchisch albernes Dokument des Scheitern, scheitert aber selbst nicht. Weil es uns erzählt, was wir zwar wissen, aber allzu gern verdrängen: von der Sackgasse, in die wir uns verfahren haben und aus der wir nicht mehr rauskommen, ob mit oder ohne Scheibenwischer. Aus der wir uns vielleicht nur noch rauserzählen, rausträumen, rausimaginieren können. Absurd, das alles. Spielen wir weiter.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/12/13/tanke-schon/
Leserkritik: Ein Sportstück, UdK Berlin
Ein Sportstück von Elfriede Jelinek, Ensembleprojekt des 3. Jahrgangs Schauspiel in Kooperation mit den Studiengängen Bühnen- und Kostümbild der UdK Berlin

Die erste halbe Stunde bestreitet Franziskus Claus im Alleingang. Mit Jelinek-Perücke gibt er eine Einführung ins Thema und doziert über den autoritären Rollback anhand von Assad, Putin, Bolsonaro und Kurz. Im Hintergrund haben sich schon seine Kommiliton*innen aufgereiht. Alle stecken in Fatsuits, auf deren Oberfläche die definierten Muskeln und Sehnen austrainierter Leistungssportler zu sehen sind. Die Kostüme der beiden UdK-Studentinnen Viktoria Mechle und Emily Lisa Schumann gehören zum Besten, was in diesem Metier in letzter Zeit auf Berliner Bühnen zu sehen war.



Die nächste Stunde bis zur Pause entwickelt sich zum Jagen, Schreien und Toben. Orli Baruch hat das U.NIT-Theater so umgestaltet, dass das Publikum durch verwinkelte Katakomben auf die Drehbühne geführt und der gesamte Zuschauerraum zur Spielfläche umgestaltet wurde. Das Theater wirkt plötzlich wie eine Turnhalle aus der Schulzeit. Mit ihren Skateboards rasen die jungen Erwachsenen die Rampen hinunter, hetzen sich gegenseitig kreuz und quer, sprechen einzelne Sätze aus Jelineks „Sportstück“ in Wiederholungsschleife. Auch andere Texte von ihr, wie z.B. ihr aktuellstes Stück „Am Königsweg“ fließen in den Abend ein.

Die Spieler*innen sind mit viel Leidenschaft bei der Sache. Dass der Abend dennoch nicht ganz rund ist, sondern wie Barbara Behrendt auf Kulturradio bemängelte, zerfasert, liegt an den Schwierigkeiten der Vorlage. Im Trailer erzählen die UdK-Studierenden, dass sie am liebsten vor Verzweiflung aus dem Fenster springen würden, weil diese Textwüste ohne klare Rollenverteilung und Plot so schwer in den Griff zu bekommen ist.

„Ein Sportstück“ an der UdK bietet unterhaltsame Comedy, inspiriert von Jelinek. Nach der Turn- und Skateshow geht es nach der Pause beim Weißbier mit Parodien von Sportreportern, Franz Beckenbauer und dem Dresdner Pegida/LKA-Hutbürger weiter. Das ist meist amüsant, aber insgesamt etwas zu lang und nicht zwingend genug.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/13/ein-sportstueck/
Leserkritik: Handke- und Stuckrad-Barre-Texte am Thalia Theater Hamburg
„Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke
und
„Panikherz“ von Benjamin von Stuckrad-Barre, in einer Bearbeitung
von Christopher Rüping

Zwei Inszenierungen in politisch konservativem Geist?
Anmerkungen zu den Aufführungen am Thalia Theater Hamburg

Beide Theaterstücke bringen in ihrer Gesamtanlage die notwendigen Voraussetzungen dafür mit, zunächst auf spontane Begeisterung, im Laufe der Zeit voraussichtlich im Zuge mancher auch kritischer Diskussionen weiterhin gleichwohl auf relative Zustimmung und Anerkennung im Kreis der Rezipienten zu stoßen. Die hier aufgeführten Bühnenwerke bieten eine Reihe inhaltlicher Elemente, die in ihrer Machart, zudem in ihrer Präsentation durch die Schauspieler/innen als gelungen bezeichnet werden können. Überlegung und Nachdenklichkeit anregende Aspekte stehen neben solchen, die vielfach unterhaltsam wirken und Spaß bringen, wie dem einen oder anderen Kommentar gerade von jüngeren Zuschauern zu entnehmen ist. Im Zusammenhang von Sinnkonstituierung und umfassendem Ausdrucksgehalt bleiben die beiden Theaterstücke dann aber doch z.T. oberflächlich. Hätte man ihnen insgesamt mehr Ergiebigkeit im Hinblick auf Deutung von „Gesellschaft und Welt“ zumessen wollen, wäre es wohl überaus einträglich gewesen, zumindest gelegentlich die Verankerung menschlichen Denkens und Handelns, menschlichen „Seins“, um es zugespitzt auszudrücken, in gesellschaftlichen Bezugsfeldern – und dies im Hinblick auf Problemorientierung – über Sprache und Handlungsabläufe mit mehr Nachdruck und Entschlossenheit deutlich zu machen. Die relative Vernachlässigung explizit artikulierter Gesellschaftsbezogenheit und Sozialkritik, um es in aller Kürze und zugegebenermaßen ein wenig grober Verallgemeinerung auszudrücken, wirkt in Haltung und Darstellung unpolitisch, was auf stillschweigende Akzeptanz gesellschaftlicher Voraussetzungen und struktureller Gegebenheiten und damit wiederum auf eine durchaus politische, sich nämlich konservativ positionierende Grundhaltung hindeutet – dies jedenfalls hier zumindest in Bezug auf alle Fragen und inhaltlichen Belange, die mit den beiden Bühnenstücken im Zusammenhang stehen.
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Die ausführliche Kommentierung der beiden Theaterstücke durch den Verfasser des hier vorliegenden Resümees erscheint ab Ende Dezember 2018 im Buchhandel (vgl. auch www.michaelpleister.de).

Michael Pleister, 12.12.2018
Leserkritiken: Truth Box/Dock 11, Berlin
Truth Box, Dock 11, Berlin

Ein kleiner, intensiver Abend, der in einer organischen Verbindung von Text, Tanz, Musik und Artistik mir neu zeigt, was Theater kann oder könnte.
Wojtek Klemm (Regie), Albrecht Ziepert (Musik), Johanna Lemke (Tanz), Sascha Krohn (Artistik), Tabea Schreck (Cello) und Meriam Bousselmi (Text) sind A-Klasse-Künstler auf der Höhe ihres Könnens und haben hier frei von Förderung ein kompromissloses Liebhaberprojekt auf die Bühne gestellt, das auch um genau das kreist: den Schöpfungs- und Ausdruckswillen des Individuums, die Erwartungshaltung und die Ignoranz der Anderen. Fantastisch!
Leserkritik: He? She? Me! Free/Schaubühne Berlin
"He? She? Me! Free", Patrick Wengenroth und Ensemble, Studio der Schaubühne

Wengenroths „He? She? Me! Free“, bei dem er wie natürlich wieder live auf der Bühne mit dabei ist und das er wie üblich mit seinem Ensemble entwickelt hat, könnte man als Mix aus folgenden Zutaten beschreiben: eine kleine Prise Gender Studies-Diskurs und Pollesch-Schnipsel, dazu eine Portion pseudo-autobiographischer Anekdoten á la Gorki und schließlich zur Krönung schöne Songs. Zur Klavierbegleitung seines Stamm-Musikers Matze Kloppe glänzen vor allem Eva Meckbach und Ruth Rosenfeld musikalisch.

Die zwei Stunden sind durchaus unterhaltsam. Assoziativ kreisen die Spieler*innen um ihr Thema. Herausragende Höhepunkte bleiben aus dieser Nummernrevue nicht im Gedächtnis, dafür gibt es aber auch keine größeren Durchhänger oder Längen. Die „Evas“ beklagen sich, dass sie in einem Korsett aus Rollenerwartungen eingezwängt und ständig taxiert werden. Ein „Eva – Adam“ (Bernardo Arrias Poras) setzt eine Transgender-Emanzipations-Geschichte als positives Beispiel dagegen.



Als roter Faden ziehen sich Geschichten von Normierung und Einschnürung der Sexualität durch den Abend: Ruth Rosenfeld erzählt davon, wie mühsam sie sich angeblich aus der Enge ihrer jüdisch-orthodoxen Mädchenschule in Brooklyn und einer arrangierten Zwangsehe freikämpfen musste. Ebenso fiktiv sind Eva Meckbachs Schilderungen der zahlreichen Operationen, mit denen sie als angeblich Intersexuelle in eine binäre Geschlechterlogik hineingepresst worden sei.

Damit es bei solch ernsten Themen nicht zu schwermütig wird, folgt gleich danach der nächste Popsong, den das Ensemble schmettert, das mit Gitarren auf Hockern wie um ein Lagerfeuer herumsitzt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/14/he-she-me-free/
Leserkritik: Hool, Berlin
Junges DT – Nach dem Roman von Philipp Winkler: Hool, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Adrian Figueroa)

(...)

Heiko ist gefangen in sich, der aseptische weiße Raum, der sich immer wieder schwärzt und von Störlinien durchzogen ist, ist sein Inneres, ein weißes Blatt, das er nicht ausgemalt bekommt, sondern nur verdunkelt. Bunt ist auschließlich die Vergangenheit. Die verbirgt sich hinter einer vermeintlichen quadratischen weißen Platte an der Rückwand, die sich als Kinderzimmer entpuppt, Ort der Jugendträume Heikos und seiner Freunde. Auch der tödlichen. Denn der Schatten, der über allem schwebt, ist der eines Abwesenden: Joel, Jojos Bruder, talentierter und angehimmelter Nachwuchsfußballer, der sich nach verletzungsbedingtem frühen Karriereende das Leben nahm. Ein Trauma, das sich fortpflanzt und dem zumindest Heiko nicht entkommt.

Und so vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, schleichen die jugendlichen Alter Egos, dargestellt von vier jugendlichen Spielern (Liou Kleemann, Friedrich von Schönfels, Oskar von Schönfels und Loris Sichrovsky) zu ihren älteren Pendents. Die Gegenwart löst sich in Erinnerung und Re-Imagination auf, die Realität spiegelt die Träume und umgekehrt, am Ende wird der Stab weitergegeben an die neue Generation, in der Erinnerung oder der Realität, an die Kinder, die die Schläger einst waren oder jene, die nach ihnen kommen. Denn wie Heiko einst die Fan-Kutte des Alkoholiker-Vaters begehrte, streifen die Jungen nun die Hoodies der Älteren über, ein unseliges Erbe unaufgearbeiteter Vermächtnisse. In dem die Perspektivlosigkeit mit der Ekstase erlebter Gemeinschaft, die seelische Leere mit der Freundschaft, die Wut mit der Lieben oder zumindest der Sehnsucht nach ihr die Hand reicht.

Es ist ein Verdienst des Abends, dass er trotz der etwas holzschnittartigen und klischeelastigen Handlung des Romans (zerrüttete Familienverhältnisse, die Sehnsucht dazuzugehören, Trauma durch jugendlichen Suizid, der eine, der dem Teufelskreis nicht entkommen kann) nicht den Stab bricht über seinen fragmentierten Helden, dass er ihn ernst nimmt und das Glücksgefühl, welches er in der ritualisierten Gewalt findet, zugänglich zu machen sucht. Dass er dabei ein wenig zu Textlastig und statisch gerät und das physische Potenzial seiner Geschichte nicht ausschöpft und damit das Spannungsfeld zwischen seelischer Zerfetzung und körperlicher Entladung nicht vollständig durchschreitet, verringert seine Kraft ein wenig. Und trotzdem bleibt ein intensives innerliches Kammerspiel wiederstreitender Impulse, eine ganz ins Erleben und Erinnern verlagerte gescheiterte Erwachsenwerdung, die zugleich fragt, worin dieses Erwachsensein eigentlich bestünde, ein klaustrophobisches Ringen um ein unmögliches Ich, das sich nur zu finden meint, wenn es zerstört. Ein Abend, der wie das Kinderzimmer, hinter (Milch-)Glas verbleibt und doch in seinen besseren Momenten wirkt wie ein Faustschlag, der nur Zentimeter vor dem Zuschauer*innen-Gesicht gestoppt wird.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/12/18/wie-ein-faustschlag/
Leserkritik: Hool, DT Berlin
"Hool", Box des Deutschen Theaters Berlin

Adrian Figueroa ist auf Berliner Bühnen der Spezialist für junge Männer am Rand der Gesellschaft, die nicht wissen, wohin mit ihrer aufgestauten Wut und überschüssigen Kraft. Vor einem Jahr entwarf er am HAU 3 das Porträt junger Straftäter: „Stress“ wurde dort gerade wiederaufgenommen.

Deshalb ist es eine naheliegende Wahl, dass er für das Deutsche Theater Berlin in der Box Philipp Winklers „Hool“ adaptiert: ein Romandebüt, das 2016 einschlug, mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde und es sofort auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis schaffte. Schon ein Jahr später war „Hool“ 2x auf der Bühne zu sehen, beide Inszenierungen wurden auf Nachtkritik positiv besprochen: Lars-Ole Walburgs Uraufführungs-Ko-Produktion des Schauspiels Hannover mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen und die Kölner Inszenierung von Nuran David Calis.

Im Mittelpunkt des Buchs steht Heiko, der bei den Hooligans von Hannover 96 nach der Ersatzfamilie suchte, die er bei seinem Alkoholiker-Vater und seiner Mutter, die dieses Elend früh hinter sich ließ, vermisste. Figueroa inszeniert Heikos Geschichte als Puzzle mit einem achtfachen Heiko auf sonst fast leerer Bühne. Heiko wird gespielt von vier Kindern des Jungen DT (Liou Kleemann, Loris Sichrovsky sowie Friedrich und Oscar von Schönfels) und vier Erwachsenen. Neben den DT-Ensemble-Mitgliedern Christoph Franken, Jeremy Mockridge und Caner Sunar wurde Sascha Göpel als Gast mit der spannendsten, fußballaffinsten Biographie für „Hool“ verpflichtet: er kickte in den Jugend-Mannschaften von Rot-Weiß Essen und durchlief mehrere DFB-Nachwuchslehrgänge, 2004 durfte er das Idol „Aus dem Hintergrund müsste…“- Helmut Rahn in Sönke Wortmanns Kinohit „Wunder von Bern“ spielen.

Bei Hooligans auf der Bühne vermutet man Schlägereien, harte Wortgefechte, Punchlines und Biergeruch, auf jeden Fall pures Adrenalin. Deshalb ist der Zugang von Figueroa überraschend: wie schon in „Stress“ setzt er vor allem auf lange, sehr ruhig gesprochene Monologe. „Hool“ hat unerwartet viele sehr stille Momente. Im Zentrum steht nicht die Wut von Heiko und seinen Kumpels, die nach und nach entweder die Kurve kriegten oder derart krankenhausreif geschlagen wurden, dass sie sich eines Besseren besannen. Im Mittelpunkt steht die Tristesse von Heikos Leben, aus der er flieht, „die ganze Trostlosigkeit der hier gezeichneten Testosteronwelt“, die Julia Encke bei ihrer FAS-Rezension über eine Lesung aus Philipp Winklers Roman beeindruckte.

Fast wie Fremdkörper wirken deshalb die kurzen Momente, in denen die laute Gewalt in diesen sonst so leisen Abend hineinbricht: die Video-Einspieler von Adrian und Philipp Figueroa, die hektisch im Hintergrund flackern, die kurzen Schlachtrufe, die das Ensemble in seinen schwarzen Hoodies grölt, und die Stand-Up-Einlage von Mockridge, der wie auf Speed einen aufgekratzten Sportreporter parodiert, tagesaktuell und fachkundig die Champions League-Achtelfinal-Auslosung kommentiert und zum einzigen Mal das Publikum einbezieht.

Der hoffnungsvolle Gegenpol zu dieser düsteren Geschichte ist die Schluss-Szene: die Erwachsenen holen die Kinder zurück auf die Bühne, nehmen sie in den Arm, schenken ihnen ihre Hoodies und nehmen sie zum ersten Mal mit ins Stadion. Ein schöner Neubeginn? Oder landen auch die Kinder wie Heiko bei den Hooligans, ihren Kampfhunden und ihrer Perspektivlosigkeit?

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/18/hool-theater-kritik/
"Hool", Junges Deutsches Theater, Berlin: Christoph Franken!
"Hool", Junges Deutsches Theater, Berlin

Ein Abend, der aus meiner Sicht neben Fußball und Holiganismus vor allem das Thema Männlichkeit und Männlichkeitsbilder thematisiert, differenziert, nachvollziehbar und spannend. Bis in die zweite Hälfte hinein ist ein bisschen unklar, warum die Kindheitsebene durch vier "Jungs" dargestellt werden muß, um dann zum Ende hin immer mehr eine wunderbare Berechtigung zu finden.
Bei allem Respekt vor der darstellerischen Leistung aller ist dies aber ein Abend für Christoph Franken: mit welchem Facettenreichtum, welcher (unterdrückter) Wut und großer Fragilität er hier spielt ist bemerkenswert.
Leserkritik: Volksverräter, Berlin
"Volksverräter!!", Volksbühne Berlin, Übernahme einer Koproduktion von Schauspielhaus Bochum und UdK Berlin

Als frei „nach Henrik Ibsen“ kündigte Hermann Schmidt-Rahmer seinen Abend „Volksverräter!!“ an. Schon in der ersten Szene des Abends wird klar, dass man „und nach Hans-Thomas Tillschneider“ hinzufügen sollte.

Tillschneider ist einer der Wortführer des rechtsnationalen Höcke-Flügels, war Sprecher der „Patriotischen Plattform“ innerhalb der AfD und ist seit 2016 Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt. In Theaterkreisen und Feuilletons sorgte er mit seiner Forderung für Wirbel, dass die Bühnen wieder mehr klassische deutsche Stücke spielen sollen, die zur Identifikation einladen. Wer „nichts Sinnvolles“ mache, sondern nur „buntes Agitprop-Repertoire mit Regenbogen-Willkommens-Trallala“ biete, müsse mit einer Streichung der staatlichen Subventionen rechnen.

Man habe sich aufrichtig bemüht, einen Klassiker zu finden, der diesen Anforderungen entspricht und die deutschen Werte zur moralischen Ertüchtigung des Publikums hochleben lässt, sei aber nicht so recht fündig geworden, erzählt treuherzig eine der Spieler*innen der UdK Berlin, mit der das Schauspielhaus Bochum die „Volksverräter!!“ in der vergangenen Spielzeit koproduzierte. Damit ist auch schon der Ton des Abends vorgegeben: Schmidt-Rahmer bietet in seiner „Volksfeind“-Übermalung Politkabarett, das mit Zitaten, Anspielungen und Videoeinspielern gespickt ist.

Schmidt-Rahmer macht die beiden Widersacher*innen zu scharf konturierten Karikaturen: Hier der rechte Verschwörungstheoretiker, der gegen Zensur und unterdrückte Meinungen wettert und betont, dass es „fremde Keime“ sind, die die Stadt bedrohen. Ein wütender Außenseiter, der wie Götz Kubitschek mit Großfamilie auf einem Rittergut lebt. Dort die aalglatte Karrieristin, die alle Techniken bei der berühmten Versammlungsszene alle Tricks aus dem Handbuch der Parteitagsregie beherrscht und Gegenargumente an ihrer Teflon-Schicht abprallen lässt. Sie lebt mit ihrem Mann, einem zauseligen Alt-68er (Jürgen Hartmann), der orientierungslos zwischen Karl Marx und Angela Merkel pendelt, in einer Friedrichshainer Design-Wohnlandschaft.

Der Abend kreist vor allem um die Frage, was ist heute noch „links“ und was ist „rechts“: er führt die Beliebigkeit der Positionen von Regierungsparteien der linken Mitte ebenso vor wie die APO-Strategien, Versammlungen aufzumischen, die von Rechtspopulisten und Identitären erfolgreich kopiert wird.

Der mit drei Stunden etwas zu lange und zu sehr ausfransende Abend entwickelt sich zu einem wilden Mix aus Ibsen-Schnipseln und aktuellen Zitaten, die nach der Pause die Oberhand gewinnen. Gauland, Weidel, Höcke, Jongen: das gesamte Who is Who des Establishments der selbsternannten Alternative für Deutschland ist an diesem Abend vertreten.

Auf der Schlussrunde werfen Schmidt-Rahmer und seine Spieler*innen noch rasanter mit aktuellen Zitaten um sich, so dass einem schon langsam schwindlig werden kann. Der Hass gegen Merkel in Heidenau und ein völlig verunglückter Kommunikations-Versuch zwischen einer Pegida-Aktivistin und dem sächsischen Minister Martin Dulig werden zunächst auf der Bühne in die Handlung hineinmontiert und dann als Video eingespielt. Warum man denn immer nur Videos zeige und nicht schönes, klassisches Theater wie früher spiele, motzt die Wutbürgerin. Früher habe es hier noch mehr Videos gegeben, kontert ihr Mitspieler trocken und angesichts der Castorf-Tradition der Volksbühne völlig wahrheitsgemäß. Eine schöne zusätzliche Pirouette dieser Inszenierung, die seit November 2018 und dem Beginn der Ära Johan Simons am Bochumer Schauspielhaus ins Volksbühnen-Repertoire des Interims-Intendanten Klaus Dörr wanderte. Der Wutbürgerin bleibt dann nur noch ein kleinlautes Naja, so schönes klassisches Theater, wie ganz früher.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/23/volksverraeter-theater-kritik/
Leserkritik: Mythos Django Reinhardt, SHL Schleswig
Silvester 2018 feierte das musikalische Schauspiel „Mythos Django Reinhardt“ von Peter Baumann in der Regie von Intendant Peter Grisebach seine triumphale Uraufführung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Schleswig. Die Band ist mit Weltklasse Musikern besetzt: Martin Weiss (Violine und Gitarre), Gigi Reinhardt (Gitarre), Kai Stemmler (Bass), Kay Franzen (Klavier) und Peter Baumann (Schlagzeug). Peter Baumann erzählt in loser Bilderfolge Episoden aus dem Leben Django Reinhardts (René Rollin) einem der Begründer des europäischen Jazz. Django Reinhardt Sohn einer Manouche-Familie wuchs in einer Wohnwagensiedlung am Stadtrand von Paris auf. Bereits als Zwölfjähriger begann seine Karriere als professioneller Musiker mit dem Akkordeonisten Guérino. 1928 erlitt Django Reinhardt schwere Verletzungen beim Brand seines Wohnwagens. Djangos rechtes Bein war gelähmt und seine linke Hand war verbrannt. Django Reinhardt entwickelte eine virtuose Spieltechnik, bei der er für das Spielen der Melodie lediglich Zeige- und Mittelfinger einsetzte und für Akkorde benutzte er weitgehend den Daumen, da er Ringfinger und kleinen Finger auf Grund der Verbrennungen nur eingeschränkt nutzen konnte. Anfang der 1930er Jahre spielte er in Pariser Cafés und wurde berühmt, durch das legendäre Quintette „Du Hot Club de France“. In Paris bewahrten ihn seine Berühmtheit und die Beliebtheit seiner Musik davor, wie viele seiner Verwandten als Zigeuner im Konzentrationslager zu enden. Schließlich der internationale Ruhm nach Ende des Kriegs im Zusammenspiel mit amerikanischen Jazz-Größen. Das Neue an Reinhardts Musik war die Mischung verschiedener Musikstile: New-Orleans-Jazz der 1920er Jahre, französische Walzer (valses musettes) und traditionelle Sinti Musik waren Grundlage des Zigeuner- oder Gypsy Swing, der neben der jazzgemäßen Rhythmik durch Akkordeffekte und Stimmungen gekennzeichnet ist. Ab 1937war er der beste europäische Jazzmusiker. Diese Lebensgeschichte Django Reinhardts zeichnet Peter Baumann in seinem Stück „Mythos Django Reinhardt“ in Episoden nach. Besonderer Fokus wurde auf die Bedrohung der Nationalsozialisten, die Brandverletzungen, seine eigenwillige Kindheit gekennzeichnet durch Spontanität, seine Begeisterung für Musik und Jazz, seine Unverlässlichkeit, sein Wille zum Erfolg, seine Egomanie in Bezug bester Musiker zu sein und seine Spiel- und Verschwendungssucht gelegt. Django Reinhardt eine schillernde Persönlichkeit mit Höhen und Tiefen aber voller Musik. Diese Rolle verkörpert René Rollin mit allen Höhen und Tiefen dieser Karriere. Die Begeisterung Djangos für die Musik transportiert er voller Empathie und Euphorie über die Bühne, oder sein verbissener Kampf nach den Brandverletzungen wieder ein begnadeter Gitarrist zu werden. Seine Angst vor den Nazis wurde spürbar und auch das Dandytum Djangos und sein Hang zur Verschwendung wurden glaubhaft transportiert. René Rollin überzeugte als Django Reinhardt und seine Erzählungen wurden auf der Bühne zum Leben erweckt. Diese Erzählungen wurden ständig von Musikstücken Django Reinhardts unterbrochen. Diese Band und ihre Musik war der funkelnde Stern des Abends. Martin Weiss und Gigi Reinhardt zwei Virtuosen des Gypsy Swing brillierten mit ihrem Spiel. An diesem Abend wurde Weltklasse Jazz im Sinne Django Reinhardts geboten. Eine Sternstunde für Jazz- und Django Reinhardt Fans. Das virtuose Spiel von Martin Weiss an der Violine und Gitarre waren absolute Weltklasse, wie auch die Gitarrensoli von Gigi Reinhardt. „Mythos Django Reinhardt“ wurde so zu einem umjubelten Triumph und allen Jazz- und Django Reinhardt Fans im Norden kann man nur empfehlen, diese Sternstunde des Gypsy-Jazz nicht zu versäumen; denn diese phänomenalen Jazzmusiker wird man sicher so schnell im Norden Schleswig-Holsteins nicht wieder erleben können.
Leserkritik: Moby Dick, Berlin
"Moby Dick" nach Herman Melville; Regie Anita Vulesica mit Studentinnen der HfS Ernst Busch; Volksbühne/3. Stock

Um einen Abend „nach“ Melville ging es dem rein weiblichen Team, betont schon der Titel des Abends: Uns erwartet also keine Nacherzählung des Roman-Plots, der schon so oft in epischer Länge verfilmt wurde, z.B. von John Huston mit Gregory Peck in der Hauptrolle des Kapitän Ahab, sondern eine postdramatische Performance, die mit Romanmotiven spielt.

Die Aufführung im 3. Stock der Volksbühne, die Vulesica mit fünf Studentinnen der HfS Ernst Busch einstudierte, ist eine ironische, nur 90 Minuten kurze Annäherung an den Klassiker. Während sich das Publikum langsam setzt, stehen die fünf jungen Frauen schon ganz aufgekratzt auf der dunklen Bühne, die einem christlichen Kreuz in Schräglage gleicht, und tuscheln aufgeregt. Ihre Kostüme sind ganz in Weiß: ein androgyner Verschnitt aus der Montur von Schiffsjungen, die ganz unten in der Hierarchie der Walfänger stehen, und Brautkleidern mit üppigen Schleiern und Reifröcken, die während des Abends fallen.

Schnell steigern sich die fünf Spielerinnen in den Wahnsinn und die Raserei der „Pequod“-Besetzung hinein, die dem berühmten weißen Wal Moby Dick hinterherjagen. Selten löst sich eine aus dem Kollektiv, häufig wird chorisch gesprochen. Immer wieder machen sie sich auf die vergebliche Jagd, brüllen „Pull, pull, pull“ und zerren mit vollem Körpereinsatz an den imaginären ausgeworfenen Netzen.

Das Männerbündische der Walfänger, das Jacob Höhne in seiner um den Begriff „toxische Männlichkeit kreisenden Theater RambaZamba-Inszenierung in den Mittelpunkt stellte, spielt bei Vulesica eine geringere Rolle. Die Spielerinnen karikieren ein Saufgelage, das aus der für ihre exzessiven Feiern berüchtigten Kantine der Volksbühne als Video auf die für ein paar Minuten leere Bühne im 3. Stock übertragen wird. Sarah Quarshie darf als Running-gag mit einem schnoddrigen „Kenn ich, ken ich auch“ das „Mansplaining“ veralbern.

In den schönsten Momenten des Abends stellen die Studentinnen ihr überraschendes Gesangs-Talent unter Beweis. Hier ragt vor allem Eva Maria Nicolaus heraus, die 2017 beim Bundeswettbewerb Gesang ausgezeichnet wurde. Beeindruckend sind auch ihre stampfenden Choreographien, die sie mit angeschnallten Holzprothesen als fünffacher Ahab performen.

Etwas zu viel Raum nehmen die Parodien auf die Exkurse ein, die Melville in seinen Roman einstreute: die fünf Spielerinnen brechen immer wieder aus der hektischen Suche nach dem Wal aus und bombardieren das Publikum mit Wikipedia-artigen Infoschnipseln über alles, was wir noch nie über Wale wissen wollten und erst recht nicht zu fragen wagten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/10/moby-dick/
Leserkritik: Der große Kladderadatsch, Berlin
Die Sache mit der glücklosen deutschen Revolution vor mittlerweile hundert-und-einem-Viertel Jahr im November 1918 ist ja noch lange nicht zu Ende verhandelt im Theater; weiter zeigt das Weimarer Nationaltheater eine Fassung von "1918", dem Monumentalwerk von Alfred Döblin, und mit "Karl & Rosa", dem vierten und finalen Band dieses Romans, befasst sich demnächst das Theater in Osnabrück. Das Schauspiel in Magdeburg kündigt derweil (in Koproduktion mit dem Theater "Die Rampe" in Stuttgart) eine Bearbeitung über dieses Material von Felicia Zeller an; in Bielefeld soll der ganze, weit über tausend Seite schwere Roman in Portionen gelesen werden. Und in Berlin zeigt jetzt "Ratten 07" (ja genau: das einst und zu Beginn der Castorf-Zeit an der Volksbühne gegründete Obdachlosentheater, das immer noch und lange schon außerhalb des Hauses aktiv ist!) ein kleines Revolutionsspektakel unter dem Titel "Der große Kladderadatsch". Basis ist hier ein Text von Daniel Anderson, der 1988 das 70jährige Revolutionsjubiläum feiern sollte; Ratten-Chefin Uta Kala hat ihn im privaten Fundus aufgestöbert. Motive sind geblieben - aber Ratten-Arbeiten sind ja vor allem und immer auch Ergebnisse der sehr persönlichen Erfahrungen im Ensemble.
Heinz Kreitzen, mittlerweile über 80 und quasi der Methusalem der Gruppe, sitzt zu Beginn im Zentrum einer starken Alptraum-Fabel - die treusorgende Arbeitermutter hat im dräuenden Steckrübenwinter des letzten Kriegsjahres Pilze gesammelt für zwölf hungrige Mäuler; und nur das jüngste Kind (der alte Heinz, der Revolutionär!) verweigert das Essen. Alle sterben in der Nacht, nur das kluge Kind stirbt nicht. Im magischen Wechselspiel mit dem Alten als Jüngstem im Hause steckt schon der größte Zauber des kleinen Kommentars zur Revolution von damals.
Danach wird mit der historischen Kuriosität gespielt, dass die erste Versammlung der Arbeiter- und Soldaten-Räte im Berliner Zirkus Busch stattfand - prompt sind die Revolutionäre, die Prinzipientreuen und die (natürlich sozialdemokratischen) Verräter, allesamt Clowns. Und das Scheitern des Umbruchs wird zur Farce, in der sich alle blutige Nasen holen.
Ein wenig Geschichtsunterricht wird getrieben - wenn der sozialdemokratische Volksbeauftragte Gustav Noske nach Kiel entsandt wird, um die Revolte dort zu entschärfen; die jüngste Kieler Produktion zum lokalen Drama um Matrosen, Offiziere und Bürger zeigte Noskes Rolle übrigens durchaus differenzierter. In Berlin steht ein jetzt Steckbrief des Politkers vor Heinz Kreitzens Rollstuhl. Schließlich tanzen alle (auch der vierköpfige "Chor von unten", der vorher schon das Moldau-Lied aus Brechts "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" sang) zur heißen Luft des Schlagers "Kauf Dir einen roten Luftballon" mit eben diesen, bis sie platzen. Der Traum vom Umsturz endete ähnlich kläglich.
Wie immer ist mit "Ratten 07" eine wundersam eigenwillige Bande bei der Arbeit zu beobachten. Kleinere historische Irrläufer fallen da kaum ins Gewicht; wie der, das immer nur von Kiel die Rede ist und gar nicht von Wilhelmshaven, wo der Matrosenaufstand ja schon deshalb begann, weil dort die kaiserliche Marine lag. "Feuer aus den Kesseln!", das aufrührerisch-dokumentarische Stück von Ernst Toller, wurde schon ganz früh im vorigen Jahr dort gezeigt, an der Landesbühne Nord.
Natürlich ist "Der große Kladderadatsch" im Blick von "Ratten 07" ein Pamphlet von unten gegen die (übrigens historisch auch nicht sehr glücklichen) Sieger der Geschichte; erst recht am originellen Spielort: im "Museum des Kapitalismus" in Kreuzberg, nicht weit vom Schlesischen Tor, wo im Parterre eines Neubaus die offenkundigen Regeln des Kapitalismus im Geschwindschritt und mit einfachsten Mitteln, aber klassisch klar erläutert werden.
Zu diesem Ort passt die überlebensstarke Kraft von "Ratten 07" ziemlich gut.
Leserkritik: Die Antigone des Sophokles, Berlin
"Die Antigone des Sophokles" von Bertolt Brecht; Regie: Veit Schubert; Studierende des 3. Studienjahrs der HfS Ernst Busch am BE/Kleines Haus

Vermutlich lag es am strengen Blick von Brechts Erben, die darüber wachen, dass sich ja niemand mit zu vielen eigenen Ideen an den Klassikern abarbeitet, dass sich der Abend kaum Freiheiten nimmt. Hier ein paar eingestreute Songs, dort ein paar akrobatische Einlagen beim Abrutschen über die schräge Grabplatte, die anfangs sehr viele Lücken hat und erst nach und nach festzementiert wird. Dieser Vorgang, der den ganzen Abend leitmotivisch durchzieht, bleibt als stärkstes Bild in Erinnerung.

Spannende Fragen hatten sich die Spieler*innen auf der Webseite vorgenommen: Woran glauben wir so sehr, dass wir bestehende Gesetze brechen wollen und müssen? Welche Gesetze und Systeme kann man heute überhaupt noch verletzten in dieser vermeintlich grenzenlosen und verfügbaren Welt? Wie hoch ist der Preis für Freiheit? Und woher eigentlich kommt unser langanhaltendes Bedürfnis nach Heldinnen und Helden? Daraus hätte ein so spielfreudiger Abend entstehen können, wie er einem Ernst Busch-Vorgänger-Jahrgang und Ursula Werner mit Brechts „Mutter“ im Jahr 2016 im Studio der Schaubühne oder den Kommilitoninnen erst vor einigen Tagen mit ihrer sehr freien „Moby Dick“-Annäherung gelungen ist.

Das enge Korsett, in das dieser Brecht-Abend gezwängt ist, lässt die „Antigone des Sophokles“ zu museal wirken. Eingezwängt unter der Grabplatte, die diesen Abend prägte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/12/die-antigone-des-sophokles-von-bertolt-brecht/
Antigone des Sophokles, Berlin: Graustufen
Bertolt Brecht: Die Antigone des Sophokles, Berliner Ensemble (Kleines Haus) (Regie: Veit Schubert)

(...)

Doch Graustufen liegen dem Abend erst recht nicht. Also werden die drei "Alten" zu charakter- und charismafreien Sentenzenaufsagern, geht Ismene in ihrer Uneindeutigkeit unter und bleibt Hämon (bei Skye MacDonald ein zum Outlawtum neigender Vietnam-Soldat, nicht ganz drinnen nicht ganz draußen) ein schwach belichtetes Jüngelchen mit großen Worten und wenig Substanz. Im Gedächtnis bleiben die zwei Figuren, die Schubert etwas außerhalb stellt: der Wächter, dem Enno Trebs zunächst ruppige Bauernschläue und die tapsige Würde eines Unterdrückten verleiht, bevor er seine Figur zum rückgratlosen Opportunisten umkippen lassen muss; vor allem aber der spindeldürre Aniol Kirberg, der den Brechtschen Vergegenwärtigungs-Prolog als Schauerballädchen gibt und als begleitender, ein Echo bildender Bänkelsänger und als subversiver Seher Tiresias wie ein weiser (zu Trebs‘ tumbem) Narr agiert, ironisch, optimistisch dauergrinsend, jugendlich frech. Seiner ist ein fremder, subversiver, die Ordnung aufbrechender Blick, mit dem der Abend zu wenig anzufangen weiß, weswegen er ihn zwischen Comic Relief und reiner Handlungsfunktion in die Ecke stellt.

Aus welcher der Abend auch zu kommen scheint. Es ist, als hätte man ihm im Archiv des Peymannschen BE gefunden, etwas entstaubt und wie ein zu lange im Fundus verborgenes Ausstellungsstück präsentiert. Wiebke Bachmanns Bühne ist eine unschlüssige Mischung aus Erinnerungengen an Karl-Ernst Herrmanns offene Raumandeutungen für Peymanns Inszenierungen und Olaf Altmann rutschige Schrägen, die er für Thalheimer ins „neue“ BE baut. Ein schräges Gerüst, auf dem die Protagonisten balancieren – außer Kreon, der als Machthabender außen steht – balancieren, auch mal unmotiviert entlangkrabbeln und das zum Ende mit quadratischen Platten ausgefüllt wird. Eine schöne Oberfläche und eine geschlossene Gesellschaft als Grab des Menschlichen. So klar, so langweilig. Denn wenig ist viel, als kaum etwas weniger als die Substanz dieses Abends, der sich zwischen pseudo-klassizistischem Ton, platter Metaphorik, simplem Schwarz-Weiß und schalen Hitlerparodien schnell selbst abschafft und am Ende nur noch als launige Lagerfeuer-Unterhaltung des bestens aufgelegten Kirberg taugt. Da kann Hoppes Westentaschen-Arturo-Ui noch so zetern, ernst zu nehmen ist er in keinem Moment. Und das lässt den Abend, bei dem es ja eigentlich um die ganz großen Menschheitsfragen und dazu einige zentrale Themen derzeitiger gesellschaftlicher Diskussionen gehen sollte, gänzlich dort verschwinden, wo er herkommt: in der Belanglosigkeit. War was?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/01/13/aus-dem-fundus/
Antigone des Sophokles, Berlin: Tabori 2006
#476
Wenn Herr Sascha Krieger etwas genauer in seinem Archiv geforscht hätte, so würde er entdecken, daß die letzte Inszenierung von Brechts ANTIGONE DES SOPHOKLES am BE die letzte Inszenierung von George Tabori gewesen ist, Premiere 25.8.2006, 47 Vorstellungen. Es war auch eine Inszenierung zum BRECHT FEST 2006.
Leserkritik: Antigone, DT Berlin / RambaZamba
"Antigone" von Sophokles, Regie: Lilja Rupprecht, Coproduktion DT Berlin/RambaZamba Theater in der DT-Box

Die Spielplangestaltung treibt manchmal skurrile Blüten. Nur einen Tag nach der "Antigone"-Premiere am Berliner Ensemble ist einige Meter weiter in der Box schon die nächste "Antigone" zu erleben, diesmal eine Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit dem inklusiven RambaZamba Theater. Dieser Abend stützt sich nicht auf Brechts Fassung mit ihren schwer zugänglichen, archaischen Hölderlin-Versen, sondern auf die modernere Walter Jens-Übersetzung der Sophokles-Tragödie aus dem antiken Griechenland.

Auffällig ist an beiden Abenden, wie respektvoll-behutsam sie sich dem Stoff nähern. Im Mittelpunkt steht die Werktreue gegenüber dem jahrtausendealten Mythos, am DT erleben wir sogar einen Chor, der jedoch wesentlich diverser zusammengesetzt ist als seine antiken Vorbilder (Frauen und Mäner, mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderung, alt und jung, professionelle Spieler*innen und theaterbegeisterte Bürger*innen).

Lilja Rupprecht, die zuletzt am RambaZamba Theater "Die Frauen vom Meer" inszeniert hat, schaltet der klassischen Tragödie jedoch ein kleines Satyr-Spiel vor und rahmt ihren knapp anderthalbstündigen Abend mit Freddie Mercury-Songs.

"Another One Bites the Dust" schallt es prophetisch aus den Boxen, während das Publikum den Saal betritt. Zwei düstere Gestalten mit schwarzen Vogel-Kostümen ziehen ihre Runden hinter einem Wald aus weißen Vorhangschnüren, schieben sie schließlich zur Seite und erzählen uns als Vorgeschichte vom Fluch, der über der Familie der Labdakiden liegt. Im Comedy-Stil spielen sich Lisa Hrdina (DT) und Jonas Sippel (RambaZamba) die Bälle zu, witzeln über den Ödipus-Komplex und Dr. Freud und bereiten schließlich die Bühne für den ersten Auftritt von Zora Schemm (RambaZamba) als Antigone.

Schon dieser Prolog macht deutlich, worum es diesem Abend geht: Die beiden Häuser wollen sich auf Augenhöhe begegnen. Die Spieler*innen mit Behinderung sind nie nur Anhängsel, sondern übernehmen tragende Rollen innerhalb des konfliktreichen Dramas, auch wenn sie in der Aufregung des Premierenabends mal etwas mehr Unterstützung von der Souffleuse brauchen.

Als schließlich auch Kreons Untergang besiegelt ist und Harder seiner Herrscherwürde beraubt nur noch in Unterhose und mit Sandhäufchen übersät am Boden liegt, hat Jonas Sippel seinen zweiten Comedy-Auftritt. Zu "I want to break free" kommt er für seinen großen Kehraus mit dem Wasserschlauch auf die Bühne, um den ganzen angerichteten Schlamassel aufzuräumen - allerdings ohne Schnurrbart, Staubsauger und Rock aus dem Mercury-Video. Die tragischen Helden sind gestürzt, die Party des gesamten Ensembles kann beginnen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/13/antigone-von-sophokles-deutsches-theater-ramba-zamba-kritik/
Leserkritik: Jutta Wachowiak erzählt ..., Berlin
Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park. Ein Theaterabend von Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Rafael Sanchez)

(...)

Virtuos verwebt der Abend die beiden Handlungsstränge, das Fiktive und das Reale, Geschichte und Dokumentarisches, Spielen und erzählen. Die Grenzen werden brüchig, die Metapher lädt die eigene Geschichte auf und umgekehrt. Das gelingt mal besser, mal weniger, auch weil das gewählte Bild durchaus ein wenig plakativ geraten ist und die Metaphorik schnell erklärt. Daraus entsteht irgendwann eine gewisse Unwucht: Wo die persönlichen Erzählungen fesseln, erblasst die „Jurassic-Park“-Geschichte zunehmend, auch wenn die Gegenüberstellung „Menschenpark“ (=Bundesrepublik) versus „Jurassic Park (=DDR) dem entgegenzuwirken sucht. Auch ist Wachowiak bei aller trockenen Klarsicht nicht ganz dagegen gefeit, sich selbst zu entschuldigen und zu rechtfertigen und sich hin und wieder gar ein bisschen zu verschanzen hinter den üblichen Lebensleistungs- und „Es-war-nicht-alles-schlecht“-Narrativen. Das mag durchaus ironisch intendiert sein, kippt aber ein-, zweimal gefährlich in Richtung apologetisches Opfernarrativ.

Aus dem die Ausnahmeschauspielerin stets schnell herauskommt. Ihre Berliner Direktheit ist eben auch ein gutes Mittel gegen Selbstmitleid. Zumal ihr Selbstironie alles andere als fremd ist. Wenn sie sich vom jungen Souffleur Jan Höft, der ein paar Mal zum Mitspieler wird, zur Intendanz Mythen und Selbstgerechtigkeit aufbrechender Gegenwart, hoch helfen lässt, kichert sie wie das freche, reichlich naive Mädchen, das sie gerade gespielt hatte. Der Drang zu spielen, die Neugier auf das Rätsel Mensch, ist geblieben und es ist ein Verdienst dieses kleinen Abends, dieses in so vielen Facetten auszuspielen. Wachowiak agiert direkt und unmittelbar, baut Distanz auf und wieder ab, abstrahiert und konkretisiert, spielt und ist. Am ende trägt sie Lippenstift auf und verwandelt sich zur Performerin. Unnahbar, eine Projektion, kaum mehr körperlich abwesend. Lohn und Preis eines Lebens auf der Kippe, einer Wanderung auf dem Grat. Diese verführt auch dieser Abend, auch wenn er manchmal abzustürzen droht. Aber er hat ja ein Sicherheitsnetz in den wachen, schelmischen, auch mal wütenden, aber nie resignierenden Augen dieser wunderbaren Schauspielerin, die als Relikt hereinkommt und als pure Gegenwart geht. Schön, dass sie wieder da ist.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/01/17/ich-bin-hier-das-relikt/
Leserkritik: Status quo, Berlin
"status quo", Text: Maja Zade, Regie: Marius von Mayenburg, Schaubühne

Heftigen Gegenwind spürte Thomas Ostermeier auf einem Panel des Theatertreffens 2018. An seiner Schaubühne durften in der vergangenen Spielzeit nur Männer Regie führen, weibliche Handschriften: Fehlanzeige monierten die Aktivistinnen von Pro Quote Regie.

Knapp ein Jahr später stand im Globe die Premiere von „status quo“ an: ein Stück von Maja Zade in der Regie von Marius von Mayenburg. Passgenau zur #metoo-Debatte geht es darin um Alltagssexismus, schmierige Übergriffe und das Reduziertwerden auf Betthäschen und Sexobjekte.

Schaut man sich die beiden Namen an, liegt ein Verdacht nahe: Ist es nur eine Verlegenheitslösung, wenn die langjährige Dramaturgin und ein ebenso langjähriger Hausregisseur hier gemeinsam eine Uraufführung vorstellen dürfen? Ein Schnellschuss unter dem Druck der Aktivistinnen, der offensichtlich beim Intendanten Ostermeier seine Spuren hinterlassen hat?

Nein, „status quo“ ist weit mehr als ein Lückenfüller. Der zweistündige Abend ist eine virtuos komponierte Satire, die den Blickwinkel um 180 Grad dreht. Sabbernde, notgeile, alte Böcke, die junge Mitarbeiterinnen angrabschen, gibt es hier nicht. Ständig in der Gefahr, auf ihr Äußeres reduziert zu werden, sind die jungen Männer, die sich einer Übermacht von sie bedrängenden Frauen in Machtpositionen gegenübersehen.

Zwei tolle Hauptdarsteller*innen spielen diese Umkehrung der oft beklagten Verhältnisse in drei Szenen beispielhaft durch: Moritz Gottwald als „Florian“, der sich dagegen wehrt, dass alle ihn zum „Flo“ verniedlichen und Jule Böwe in der Rolle seiner diversen Chefinnen.

Mit gekonnt gesetzten Schnitten wechseln Zade und von Mayenburg zwischen den drei parallelen Erzählsträngen hin und her. Der schlaksig-unsichere Florian versucht sich als Berufsanfänger in drei verschiedenen Branchen: Erstens in einem Makler-Büro, in dem die Platzhirschkühe ihr Revier arrondiert haben, ihn rumschubsen und auch der Sekretär Manni (Lukas Turtur) bockbissig darauf achtet, dass ihm kein anderer den Rang als Schönling des Büros abläuft. Zweitens in einem Drogeriemarkt, in dem eine mit Fatsuits entstellte Filialleiterin (Jule Böwe) ihren Frust kompensiert und den Azubi Flo zur „Chefinnensache“ erklärt. Wenn neue Pflege-Lotions getestet werden, legt sie persönlich Hand an und weist Flo zurecht, dass er sich nicht so zieren soll.

Drittens ist Flo ein Schauspieler frisch von der Schule, der sich bei einem cholerischen Alphaweibchen (Jule Böwe als regieführende Intendantin) um ein erstes Engagement bemüht. Zwei Jahre zu mickrigem Anfängergehalt, die Auftritte auf der Bühne als Blickfang für die Abonnentinnen und zur Freude der Chefin mit möglichst wenig Textilien, bei den Proben ständig auf der Hut vor dem nächsten Wutausbruch.

Jenny König karikiert in einem Insider-Gag während der Theaterproben-Szene auch Lars Eidinger, Star des Hauses mit Bravo-Poster-Boy-Format, und geht bucklig ausstaffiert wie sein „Richard III.“ von der Hausherrin angefeuert in einer Übergriffsszene auf den Kollegen Flo/Moritz Gottwald los. In den anderen Szenen wechselt sich Jenny König mit Marie Burchard als Partnerin von Flo ab. Jenny König spielt eine von den Rollenerwartungen an die starke, tonangebende Frau überforderte Figur, die Flo linkisch angräbt und mit seinem Gefühlsleben überfordert ist, Marie Burchard sitzt breitbeinig auf der Couch, lässt sich bekochen und das Bier holen und gefällt sich in der Ernäherinnenrolle, die einen Anspruch auf permanente sexuelle Verfügbarkeit von Flo zu haben glaubt.

Mit „status quo“ ist Maja Zade/Marius von Mayenburg eine
unterhaltsame Satire gelungen, die den nötigen Biss hat und ihre Grundidee des Perspektivwechsels über zwei Stunden gekonnt ausarbeitet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/19/status-quo-schaubuhne-theater-kritik/
Zu Leserkritik "Status quo": Schaubühnen-Tradition
#480: Scheint aber hier gar keine Rolle zu spielen. Schade. Dabei ist es doch Schaubühnen-Tradition, dass ein Haus-Dramaturg dort inszeniert wird. Seit Botho Strauß schon! Gibt es da jetzt keine Beiträge oder Presseschau, weil es in diesem Fall eine DramaturgIN ist?

(Werte Jane,

die Premiere war an einem Tag, an dem in deutschsprachigen Theatern sehr viele Premieren gleichzeitig stattfanden. nachtkritik.de kann aber nicht mehr als sechs Premieren gleichzeitig stemmen. An Tagen wie diesen müssen wir also oft schmerzhafte Entscheidungen treffen. Wir schauen sehr oft nach Berlin, sehr oft an die Schaubühne. Am Freitag hatten andere Theater und Orte den Vortritt, darunter drei Häuser, die sonst nicht immer im Fokus stehen, außerdem drei Regisseurinnen und zwei Autorinnen. Wenn Sie daraus dennoch eine Verschwörungstheorie zimmern wollen, steht Ihnen das ntaürlich frei.

Mit freundlichen Grüßen, Georg Kasch / Redaktion
Zu Leserkritik "Status quo": besondere Situation
Nein! - Es hätten ja mehr Leser-Kritiken hier stehen können, lieber Herr Kasch... Außerdem haben Sie selbst ja in der Berliner Morgenpost dazu geschrieben. Auch ohne Nachtkritik. Und es ist m.E. schon eine besondere Situation an diesem Haus, unabhängig von der häufigen Nach-Sicht, wenn also Dramatik von einem/r Haus-Dramaturgen/In inszeniert wird. Das passiert ja im Moment an den anderen Berliner Häusern, wenn ich recht sehe, nicht. - Wenn Sie aus meinem Hinweis trotzdem einen Verschwörungstheoriewillen zimmern wollen, steht Ihnen das natürlich frei...:DD
Die Zofen, Lessingtage HH: Die Zofen
LES BONNES/DIE ZOFEN: Die Compagnie Dumanlé von der Elfenbeinküste präsentierte auf den Lessingtagen in Hamburg als Europapremiere "Die Zofen" von Jean Genet. Das Stück ist ein "3-Personen-Psychodrama", das von Macht, Demütigung und Unterwerfung handelt. Nach Genets Anweisungen beinhaltet das Stück drei Frauenrollen, die von Männern gespielt werden sollen. Souleymane Sow inszeniert seine Zofen aber mit zwei Frauen (Eve Sandrine Guehi und Rebecca Tindwindé Kompaore). Die Zofen Claire und Solange erdrosseln im Rollenspiel ihre Arbeitgeberin. Als sie ihre Chefin in der Realität mit Tee vergiften wollen, scheitert ihr Plan und eine der Schwestern stirbt. Souleymane Sow zeigt wie die Unterdrückten den Aufstand wagen und den Aufstand proben. Es sind die Schauspielerinnen, die mit ihrer Komik und Clownerie auf humorvolle und verstörende Weise die Umkehrung der Verhältnisse im Bewusstsein der Zuschauer aufkeimen lassen. Diese Zofen verkörpern die postkolonialistische und feministische Emanzipation in Afrika, die leider immer noch zu wenig Beachtung findet. Das Bühnenbild ist mit wenigen Mitteln klar gesetzt. Links hängen zwei Schüre mit Damenschuhen von der Decke, rechts steht ein Kleiderständer mit teuren Kleidern. In der Mitte der Bühne steht ein roter Quader auf dem eine Teetasse steht und zwei rote Gummihaushaltshandschuhe, die bereits zu Beginn das abends sein Ziel den Mord deutlich werden lassen. Zu Beginn steht die Zofe Claire in der Bühnenmitte und hält ein kostbares Kleid ihrer Madame mehrere Minuten über den Armen, was die Demütigung der Zofe durch die Herrschaft deutlich macht. Eve Sandrine Guehi (Solange), die Feingliedrige, wird im Spiel zur tyrannisierenden Herrschaft, die ihre Zofe Claire demütigt und terrorisiert durch Beleidigungen und unsinnige Dienstbotengänge. Dieses Spiel spitzt sich zu bis zur Ermordung der Herrin im Rollenspiel. Dieses Rollenspiel der beiden Zofen ist der Versuch durch Überhöhung und Wut, Verzweiflung und Erregung, Stilisierung und Revolte sich von der Unterdrückung und Ausbeutung der Herrschenden zu befreien. Dann wechselt das Rollenspiel Claire wird zur Herrschaft und Solange gibt die Zofe. Wieder geht es um Unterdrückung und Demütigung bis zur Befreiung im rituellen Mord der Herrschaft im Rollenspiel. Geschickt baut die Regie afrikanische Gesänge ein, um die rituelle Bedeutung der Befreiung in der Ermordung der Herrschaft deutlich zu machen. Trotz dieser alptraumhaften Unterdrückung, die auf ihnen lastet, bricht immer wieder Lebensfreude durch, die sich in ausgelassenem Spiel offenbart. Oder wenn die Schauspielerinnen Chorgesänge anstimmen und die Holzquader zu Perkussionsinstrumenten machen, wird die Kraft und der Wille zur Befreiung aus Erniedrigung und Ausbeutung deutlich. Immer mehr verschwimmen Spiel und Realität im Laufe des Abends und die postkolonialistische und feministische Emanzipation in Afrika wird immer deutlicher und gipfelt in der Szene, wenn die Schauspielerinnen mit geballter Faust ihren Widerstand gegen die Ungerechtigkeit der Verhältnisse und die eigene Ohnmacht hinausschreien. In diesem Moment wagen die Machtlosen die Demonstration der Macht, wagen den Aufstand, die Denunziation, den Mord. Schlussendlich reift im sich ständig wiederholenden Spiel der Wille zum Mord an der Herrschaft. Dieser geht sogar so weit, dass man Leben opfern muss um Freiheit zu erlangen. Zum Schluss verschwimmen Grenzen zwischen Spiel und Realität und Claire ermordet ihre Schwester Solange mit vergiftetem Tee. Als sie ihre Tat erkennt, verzweifelt sie an ihrer Tat und schreit ihre Trauer heraus. Genet hat den Unterdrückten in seinen Stücken eine Stimme gegeben. Durch die Besetzung mit zwei Schauspielerinnen wird das Stück nicht nur zum sozialen sondernd auch zum feministischen Emanzipationsstück. Die Herrschaft tritt nicht auf und spiegelt so die Verleugnung existierender Ausbeutung. Genets Zofen wurden so zu einem aktuellen, kraftvollen Theaterabend gegen Unterdrückung und für Emanzipation.
Leserkritik: Serebrennikow, Who is happy in Russia?
"Who is happy in Russia?", Regie: Kirill Serebrennikow, Gogol Center Moskau zu Gast bei den Lessingtagen am Thalia Theater Hamburg

Bei Kirill Serebrennikow, dem russischen Multitalent, der auf der Theaterbühne ebenso reüssiert wie im Kino und der Oper, gleicht sowieso kein Abend dem anderen. In seinem fast vierstündigen Triptychon „Who is happy in Russia?“ ähnelt aber nicht mal ein Teil dem nächsten.

Die erste Sequenz könnte man am ehesten mit den Arbeiten von Nicolas Stemann vergleichen: mit Live-Musik und im semiironischen Stil zwischen Performance und Sprechtheater nähert sich der Prolog Nikolai Nekrasows Poem an, dem der Abend seinen Titel verdankt und das russische Schulkinder auswendig lernen mussten, hierzulande aber kaum bekannt ist. Es erzählt von der Zarenzeit, als die Bauern gegen die Leibeigenschaft aufbegehrten. Sehr plakativ, regelrecht als Wink mit dem Zaunpfahl dominieren rostige Rohre und Stacheldraht auf der Bühne.

Nach der Umbaupause drängt sich ein Frauenchor am Bühnenrand. Im Zentrum der Bühne performen die halbnackten Tänzer eine wunderbar-zappelige Verzweiflungschoreographie mit dem Titel „Drunken Night“, die man am ehesten mit den Inszenierungen von Falk Richter/Nir de Volff vergleichen könnte. Nicht nur, aber ganz besonders im Mittelteil betont Serebrennikow die autoritären Traditionslinien der russischen Geschichte: Weder dem Ende der Leibeigenschaft noch der Oktoberrevolution folgte ein goldenes Zeitalter der Freiheit. Die „Who is happy in Russia?“-Inszenierung des Gogol-Centers studierte Serebrennikow 2015 ein, als sich die Spielräume für Künstler und Intellektuelle in Putins Russland sichtlich verengten. Unter Hausarrest steht Serebrennikow seit 2017.

Der dritte Teil des Abends, „The Feast for All the World“, spielt mit verschiedenen Stilrichtungen und Motiven: Traurige Clowns á la Beckett wechseln sich ab mit Publikums-Mitmachtheater, bei dem Hamburger, die von ihren Glücksmomenten erzählen, gratis Wodka ausgeschenkt bekommen. Der proletarische Schmerz und die unterdrückte Freiheitssehnsucht werden in einer Solonummer von Evgeniya Dobrovolskaya mit solcher Leidensmiene und gebücktem Gang beschworen, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn sich Helene Weigel gleich neben sie beamen und mit ihr gemeinsam den Wagen der Mutter Courage ziehen würde. Mit Hiphop-Beats heizt Alexander Gorchilin ein, feste Größen in Serebrennikows Arbeiten und demnächst als Regie-Debütant mit „Acid“ auf der Berlinale zu Gast.

Die Spieler und Tänzer ziehen mehrere Lagen von T-Shirts über. Auch wenn man die kyrillischen Schriftzeichen nicht entziffern kann, ist die Stoßrichtung der Motive eindeutig: Putin blitzt neben Stalin auf. „KGB is still watching you“ ist kurz zu lesen. Immer wieder leuchtet auch bei den Lessingtagen im Hamburger Thalia Theater der Slogan auf, der natürlich bei keinem Gastspiel des Gogol Centers im Westen seit 2017 fehlen darf: „Free Kirill!“

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/25/who-is-happy-in-russia-serebrennikow-gogol-kritik/
Leserkritik: Who is Happy in Russia? Lessingtage Hamburg
Das Gogol Center Moskau gastierte in Hamburg während der Lessingtage mit dem Stück „Who is Happy in Russia?“ nach Nikolai Nekrasov, dem bedeutendsten russischen Lyriker des Realismus, in der Regie von Kirill Serebrennikov. Ausgangspunkt für diesen Theaterabend ist das Gedicht von Nekrasov „Wer lebt glücklich in Russland?“. Es behandelt soziale Themen, wie das Leben russischer Bauern nach Aufhebung der Leibeigenschaft. „Who is Happy in Russia?“ ist ein Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Die Story ist die Reise russischer Bauern, um nach einem „glücklichen Menschen“ zu suchen. Im Prolog treffen sich Bauern aus verarmten Dörfern mit Namen wie „Flicken“ oder „Missernte“. Jeder von ihnen sieht das Glück mit sozialem Status und Wohlstand verbunden (z.B.: Gutsbesitzer, Beamte, Popen, Kaufleute, Minister, Zar). Auch nach Streit und Schlägerei wurde keine Einigkeit gefunden, wer in Russland glücklich sei. Sie beschließen nicht nach Hause zurückzukehren, bevor sie eine Antwort gefunden haben. Schnell zeigt sich, dass Wohlstand und Glück nicht gleichbedeutend sind. Die Bühne besteht im Hintergrund aus einer Blechmauer mit Stacheldrahtrollen. Davor verläuft eine Pipeline (Gazprom?). Davor Utensilien des täglichen Lebens: Tische, Stühle, Kleiderspinte, Fernsehgeräte, etc. Ein Erzähler führt in die Story ein und die Schauspieler beginnen zu spielen. Nun werden Geschichten des russischen Volkslebens erzählt. Trotz Vielfalt der Geschichten sind sie sich in einem Punkt ähnlich: In Russland lebt niemand glücklich. Zum anderen wird das Spiel immer wieder durch Musik und Gesang unterbrochen. In diesen Momenten hat die Inszenierung ihre emotionalsten und lebendigsten Momente. In diesen Passagen bedient sich die Inszenierung der Volkskunst und Folklore, aus der Motive wie die „Suche nach der Wahrheit” übernommen werden. Im zweiten Akt ist die Bühne leer bis auf ein Seil das vom Bühnenhimmel herabhängt. Die Blechmauer begrenzt die Bühne links. Der zweite Akt ist gekennzeichnet durch chorische Gesänge und Jazzklänge, die die Schauspieler mit einer Tanzperformance begleiten. Auf der leeren Bühne schlagen sie sich um ein Glockenseil, das sie retten soll und stattdessen zur Fessel wird. Starke Bilder über Unterdrückung, Vernichtung, Tod und Kampf um Freiheit. Der dritte Akt beginnt sehr clownesk und ist gespickt mit ironischer Systemkritik. Es erklingen bewegende Pop-Rhythmen und das Publikum wird einbezogen. Wer im Publikum ist ein glücklicher Mensch und warum? Man hatte den Eindruck als wenn nur Russen das Publikum seien. So wurde ein echter Deutscher gesucht, aber keiner gab sich zu erkennen. Dann die Frage nach den Frauen in Russland. „Da ist keine glücklich“. Das geht wieder unter die Haut, wie so vieles an diesem Abend. Zum Ende streifen die Schauspieler T-Shirts über mit systemkritischen Bemerkungen, wie FREE KIRILL. Dort wo der Maulkorb herrscht, bekundet man sein Anliegen schweigend. Kirill Serebrennikov hat lebendig, emotional ergreifend und mit scharfsinniger Ironie die Frage gestellt, warum können wir Russen nicht im Hier und Jetzt glücklich sein. Warum können Russen nicht einmal Russland Russland sein lassen, und Erfüllung im individuellen Leben suchen. Serebrennikov stellt die Frage, ob der Grund für die ewige Fixierung der Russen auf das Jenseits in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens beruht, da die Mehrheit der russischen Gesellschaft nicht nur von der Macht entfremdet ist, sondern auch das Gefühl hat, ihr eigenes Leben nicht selbst bestimmen zu können. In Europa entwickelte sich eine bürgerliche Gesellschaft durch Menschen, in Russland wurde die Bevölkerung ständig von Entscheidungsbefugnissen ferngehalten. So suchte sich die Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart. Serebrennikov fordert auf diesen Weg zu verlassen und die eigene Zukunft aktiv mit zu gestalten. Ein großer Theaterabend. Chapeau. Ein T-Shirt „FREE KIRILL“ sollte man auch haben.
Leserkritik: Being Maria Stuart, Hamburg
Der Abschlussjahrgang Schauspiel der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg in Kooperation mit dem Theater Bremen und der Unterstützung vom Deutschen SchauSpielhaus Hamburg präsentierten im MalerSaal die Abschlussproduktion „Being Maria Stuart“. Sabine Kohlstedt (Bühne und Kostüme) hat mit großen Buchstaben die Worte MARIA BEING STVART im Halbrund auf die leere Bühne gestellt. Daraus werden im Laufe des Spieles Orte und Situationen beschrieben wie z.B.: BAUM, KING, STAR, VERRAT und viele mehr. Diese Idee war originell und sehr effektiv, ein wunderschöner Einfall, der über die gesamte Inszenierung getragen hat. Konsequent fortgeführt wurde diese Idee, indem Utensilien wie BRIEFE und TUCH auch aus Buchstaben bestanden. Friederike Heller stellt in ihrer Inszenierung an Hand Schillers „Maria Stuart“ die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Geschlecht. So beginnt das Stück mit Linda Stockfleth als Schauspielerin vor dem Auftritt mit Fragen nach Geschlecht und Rolle, Selbstverständnis und Selbstbestimmung der Akteure*innen. Es wird bereits im Prolog deutlich, dass es im weiteren Verlauf der Inszenierung um diese Fragen geht. Ausgangspunkt ist die Gefangennahme von Maria Stuart (Adele Vorauer) durch Elisabeth (Linda Stockfleth), da sie einen Anschlag auf sich und den Thron fürchtete. Maria setzt ihre Hoffnung auf Freiheit durch ein persönliches Treffen mit Elisabeth, obwohl ihr Todesurteil bereits beschlossen ist und nur Elisabeths Unterschrift zur Vollstreckung fehlt. Um diese Story entwickelt sich das Spiel um Macht, Intrigen, Rollen- und Selbstverständnis der Spieler*innen. Die männlichen Akteure Simon Braunboeck (Leicester), Christoph Rabeneck (Shrewsbury), Alex Peil (Mortimer) und Niklas Schmidt (Burleigh) buhlen mit allen Mitteln um die Gunst der beiden Frauen. Der Reiz der Inszenierung liegt in der Genderdiskussion Frau/Mann und dem Rollen- und Selbstverständnis der Akteure*innen. So werden Elisabeth und Maria Vertreterinnen eines patriarchalen Machtsystems zu Zielscheiben männlicher und eigener weiblicher Projektionen. Alle müssen sich in dieser Inszenierung immer wieder entscheiden, welche Rolle sie spielen wollen und zwischen Überzeugung, Geschlecht und Rolle wählen. So wird Shrewsbury von Burleigh ständig aufgefordert seine Rolle mit Bart zu spielen, weil er alt ist, was dieser als junger Schauspieler nicht einsehen will. Maria wird erinnert, dass sie einen Monolog nicht als Dialog spielen kann. Linda Stockfleth weigert sich Marias Todesurteil zu unterzeichnen, so dass Burleigh dies übernimmt. Auch diskutieren die Schauspieler*innen die historische Unkorrektheit der schillerschen Dichtung und sein Verhältnis zu Macht- und Genderfragen. Schließlich führt die Genderdiskussion zu dem sprachlichen Auswuchs, dass auf geschlechtsspezifische Bezeichnung verzichtet wird und mit zungenbrecherischen Wortkaskaden, die auf „ex“ enden, die Gender gerechte Sprache ironisiert wird. Außerdem werden Zeitbezüge über Popsongs hergestellt, die den Starrummel unter die Lupe nehmen. Schiller zeigte in „Maria Stuart“ bereits auf, dass der politische Konflikt von erotisch-weiblicher Rivalität eben so wenig zu trennen ist wie von der schauspielerischen Konkurrenz der Darsteller*innen. Diese Aspekte sind in unserer Zeit nach wie vor aktuell und wir stehen im Spannungsfeld von Gender und Macht, sowie von Rollenverständnis und Selbstbestimmung. Die jungen Schauspieler*innen setzten dieses spannende Regiekonzept exzellent um. Sie überzeugten alle durch empathisches, engagiertes Spiel und ihre Spielfreude sprang auf das Publikum über, das am Ende mit starkem Beifall dankte.
Leserkritik: Bunbury (SH-Landestheater)
„Bunbury oder die Bedeutung, ernst zu sein“ von Oscar Wilde hatte am Sonntag am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Schleswig Premiere. Thema dieser Komödie ist der „Bunburyismus“ ein zweifelhafter, wenn auch bisweilen notwendiger Charakterzug. Wer hat nicht seinen eigenen Bunbury, seine kleine Lebenslüge? Faszinierend ist wie Wilde diesen „Bunburyismus“ auf amüsante wie absurde Weise in Worte kleidete. Bunbury ist eine Komödie des Spiels mit Worten, das Wort wird zum Inhalt des Lebens, das Leben zur Konversation. Wilde zeichnet in dieser Komödie ein satirisches Bild der englischen Oberschicht, deren gesellschaftliche Gepflogenheiten und Moralbegriffe er mit intellektuell filigraner Wortgewandtheit ad absurdum führt. Gespielt wird auf einer leeren Schräge, die von fünf Drehtüren begrenzt wird, was dem Wort Raum gibt und nicht vom Wort ablenkt. Die Kostüme sind von gewisser Eleganz und teilweise schriller Farbe als Insignien einer „Upper Class“. Bühne und Kostüme von Lucia Becker liefern einen reizvollen Rahmen für Wildes Komödie, in der die Oberflächlichkeit der Upper Class mittels wilde‘ scher Wortgewandtheit offenbart wird. Diese Aufführung lebt ganz und gar von den Schauspielern*innen bis in die kleinste Rolle. Nenad Subat gibt einen äußerst korrekten Butler, der es glänzend versteht seinen Vorteil zu nutzen (Verzehr der Gurkenschnittchen). Diese Szene ist ein Kabinettstückchen an Komik und sagt mehr aus als so manches Wort. Oder Neele Frederike Maak als Gouvernante, im engen Korsett einer verlogenen Moral, das zur Repräsentation, aber nicht zum Leben taugte. Ihr Leben war eine erotische Liaison mit dem Pastor (Felix Ströbel), eine Ausgeburt christlicher Heuchelei. Doch nun zu den Hauptakteuren*innen. Robin Schneider (Jack/Ernst) und Lukas Heinrich (Algernon/Ernst) zwei Dandys par excellence brillierten in ihren Dialogen, die mit dem Florett und nicht mit dem Degen ausgefochten wurden. Dem setzten die beiden Damen Meike Schmidt (Gwendolen) und Eva Maropoulos (Cecily) noch die Krone auf. Ihr bitterböses vor Liebenswürdigkeit triefendes Wortgemetzel um die Besitzansprüche auf Ernst, war eine grandiose Meisterleistung schauspielerischer Darstellung. Bleibt noch Ingeborg Losch als Lady Bracknell. Hier möchte ich mich den Worten des Intendanten Peter Grisebach anschließen „…, wenn Sie die Bühne betritt wird die Bühne kleiner.“. Dieser Erfolg „Bunburys“ gebührt dem jungen Ensemble und Ingeborg Losch, die Bunbury zum Leben erweckt haben. In Bunbury geht es nicht um den Menschen und seine Taten, sondern um das, was er darüber sagt und wie er sich präsentiert. Das hält Bunbury aktuell. In einer Gesellschaft, in der nach stetiger Selbstdarstellung gefragt wird, erlangt die Darstellung einen deutlich höheren Stellenwert als ihr Inhalt. Solche Fassadenarbeit zugunsten der guten Wirkung hat sich in unsere Zeit gerettet.
Leserkritik: Kanal Banal, Rendsburg
Kanal Banal #3: EIN THEATER IST EIN THEATER IST EIN THEATER! Unter diesem Motto stand gestern Abend „Trash im Theater“. Dieser Abend war konzipiert und realisiert von den Schauspielern*innen Manja Haueis, Neele Frederike Maak, Timon Schleheck und Felix Ströbel. Der Abend geplant im Roten Foyer für 30 Zuschauer (W/D/M) brachte Überraschungen in Hülle und Fülle. War man im Hamlet? Etwas ist faul im (Staate) Theater Rendsburg. Im Roten Foyer wird geprobt und die Zuschauer (W/M/D) stehen vor der Tür und warten auf Einlass. Das Warten will kein Ende nehmen, bis Manja Haueis den Vorschlag macht, Sie könne aus einer Lesung etwas vortragen, die Sie gerade vorbereitet. Als Lesung im Treppenhaus des Theaters. Gespannt lauschen wir der Story über zwei Menschen (W/M) die sich begegnen, sitzend auf den Stufen des Theatertreppenhauses. Die Probe im Roten Foyer nimmt kein Ende. Also geht die Odyssee im Theater an Garderoben vorbei ins Foyer. Dort setzt Manja Haueis ihre Lesung zur Freude der Zuschauer (M/W/D) fort. Wieder kauern alle auf dem Fußboden und lauschen andächtig der humorvollen Liebesbeziehung zweier Menschen (M/W). Dann geht die Reise weiter in den ersten Stock ins große Foyer. Dort erzählt Timon Schleheck über sein Vorsprechen vor 3 Jahren und gibt uns eine beeindruckende Kostprobe. Anschließend lesen Timon Schleheck und Felix Ströbel aus einem neuen Stück und wecken Interesse für die Premiere im März. Nun ist das Publikum (D/W/M) gefragt. Wer möchte erfahren wie es ist Applaus zu empfangen. Applaussalven ergießen sich über die Zuschauer, die sich ins Rampenlicht trauten. Welch ein Spaß. Weiter geht es zur großen Bühne. Neele Frederike Maak rezitiert ihren Monolog im Kostüm einer Ratte vor dem Eisernen Vorhang. „Nachts schlafen die Ratten doch.“ Borchert? So textsicher bin ich nicht. Weiter geht es durch die Katakomben des Theaters auf die große Bühne. Der Eiserne Vorhang hebt sich und eine Person (Neele Frederike Maak) applaudiert den 30 Teilnehmern des Abends. Dann noch ein Abschiedsfoto auf großer Bühne und dieses Theatererlebnis ist zu Ende. Dieser improvisierte Abend war von den Vieren so klug konzipiert, dass es schon eine Weile dauerte bis man das Konzept erkannte. Theater wo man hinblickte und mitten drin. Näher kann man Theater den Zuschauern (W/D/M) kaum bringen. Ein grandioser Abend dank der Kreativität von 4 Schauspielern*innen.
Leserkritik: Orpheus, Hamburg
Michael Pleister
Orpheus
Eine musische Bastardtragödie/ frei nach dem Mythos
Anmerkungen zum Werk, zu seiner Darbietung und zum Rezeptionsverhalten des Publikums heute
Regie: Antú Romero Nunes
Uraufführung/ Premiere 7. September 2018/ Thalia Theater Hamburg


„Girl meets girl. Zwei junge Frauen verlieben sich ineinander und die Götter sehen zu. Die eine ist eine erfolgreiche Sängerin, die andere von Geburt an gehörlos. Dennoch (oder gerade deswegen) lieben sie sich und sind miteinander glücklich.

[…]

Die Götter mischen sich ein, Eurydike muss sterben und Orpheus steht vor dem Nichts. Doch obwohl sie nur ein Mensch ist, ist sie nicht bereit, den Tod zu akzeptieren: Anstatt ihre Geliebte zu Grabe zu tragen, macht sie sich auf, sie aus dem Totenreich zurückzuholen. Und tatsächlich - wie es der Mythos berichtet - darf Orpheus Eurydike unter der Bedingung zurückbringen, sich auf dem Weg hinaus nicht nach ihr umzublicken. Und Eurydike? Angefüllt mit dem Wissen der Totenwelt muss sie sich entscheiden, ob ein vergängliches Leben, das unausweichlich mit Schmerz und Enttäuschung verbunden sein wird, die Rückkehr überhaupt lohnt.

Dies ist der Ausgangspunkt einer Reise, für die Anna Bauer und Johannes Hofmann einen Roadtrip in den Hades komponiert haben.“

[…]

(Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus; https://www.thalia-theater.de/stueck/orpheus-2018)

Die vorliegende Inszenierung des antiken Mythos ist mit Kommentaren und Einschätzungen feuilletonistischer Provenienz bereits hinreichend bedacht. Die damit – um es ein wenig salopp auszudrücken – längst im Umlauf befindlichen zustimmenden wie kritisch-ironischen, scherzhaften sowie satirischen Anmerkungen, Anspielungen und Aspekte werden hier im Wesentlichen nicht noch einmal wiederholt oder mit anderen Worten variiert. Ihnen seien die folgenden Darlegungen hinzugefügt, wobei inhaltliche Ähnlichkeiten oder sinngemäße Übereinstimmungen, sollten sie sich unauffällig eingeschlichen haben, letztlich dann doch nicht auszuschließen sind. Am Ende dieses Beitrages erfolgt eine kleine Zusammenstellung ausgewählter Zitate aus dem Bereich der im Internet dokumentierten Rezensionen und Anmerkungen zum vorliegenden Bühnenwerk.

Unter der Überschrift „Kopfschütteln statt Erkenntnis“ findet sich auf der Webseite des Theaterstückes folgender Kommentar eines Zuschauers:

„Wenn jemand behauptet, moderne Theaterregisseure stünden im Wettbewerb, wer das Publikum am besten enttäuschen kann, so kann er sich bei ‚Orpheus im Thalia Theater‘ eine Bestätigung abholen. Wer die klassische Tragödie nicht kennt, wird sie hier nicht kennenlernen. Wer sie kennt, fragt sich, was war das jetzt. Eine Situation, die an den Theatern Schule macht.“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus/ ausgewählte Kommentare/ Zuschauerbeitrag)

Kenntnisse zum klassischen Mythos zu liefern, wie es in dem hier zitierten Zuschauer-Kommentar auf der Webseite des Theaterstückes als Möglichkeit einer Inszenierung gedanklich-indirekt angeregt wird, dürfte in der Tat weder vorrangige Intention noch angestrebtes Ziel der vorliegenden Bühnenpräsentation sein. Wer in dieser Hinsicht Informationsbedarf hat, sollte die entsprechende Zeit aufbringen und sich mit dem Inhalt des Mythos und seiner Deutung über entsprechende Lektüre im Sinne notwendiger Vorbereitung vertraut machen. Dem auf „Kenntnis“ sowie „Erkenntnis“ bedachten Theaterbesucher - um mit diesen Charakterisierungen noch einmal auf den oben wiedergegebenen, weiter unten fortgesetzten Kommentar eines keinesfalls anonym bleibenden Verfassers anzuspielen – dem an Wissen und Diskurs orientierten Zuschauer also, letztlich aber nicht nur ihm, dürfte eine dem eigentlichen Theaterbesuch vorangehende Beschäftigung mit dem klassischen Mythos auf jeden Fall zugutekommen, eröffnen sich im Vergleich mit der Inszenierung damit doch verstärkt Möglichkeiten, über diverse Aspekte nachzudenken, und dies unter den Bedingungen einer sich rasant verändernden Welt, die wiederum vielfältigen Lebensentwürfen, mannigfachen Chancen der Selbstverwirklichung Raum gibt. In dem unter dem Motto „Kopfschütteln statt Erkenntnis“ aufgeführten Meinungsbeitrag heißt es, wie oben bereits angekündigt, weiter:

„Sinnvermittlung, Anstoß zum Denken, das war früher. Davon wendet sich das Theater ab. Möglicherweise ist die Realität zu kompliziert, für das Theater und auch für die Zuschauer. Denn die klatschen munter Beifall. Ob nur für die Leistung der Schauspieler und das wunderbare Bühnenbild, lässt sich nicht sagen.“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus/ ausgewählte Kommentare/ Zuschauerbeitrag)

In der Rezension eines anderen Verfassers wird ein unzufriedener Theaterbesucher zitiert:

" 'Nix für mich. Das ist ein Stück für junge Leute', grantelte ein betagter Zuschauer kopfschüttelnd beim Verlassen des Gebäudes. Recht hat er. Aber gut abgehangenes Theater für den älteren Zuschauer gibt es ja genug.“ (Kester Schlenz: Beim Zeus - das rockt!/ Stern.de/ 08.09.2018)

Kaum notwendig zu erwähnen, da den Menschen hinlänglich bewusst, dass die Realität im Vergleich mit der Entstehungszeit des Mythos, auch mit der Zeit seiner vielfältigen Verarbeitung in Literatur, Musik und Kunst ein hochdimensioniertes Maß an Komplexität gewonnen hat, in sich um ein Vielfaches komplizierter geworden ist: Unterschiedliche „Stränge“ des menschlichen Lebensvollzugs laufen parallel nebeneinander, auch miteinander oder durcheinander, mannigfache Voraussetzungen, Perspektiven und Chancen haben dem Menschen neue Freiheitsräume eröffnet und zu seiner Selbstbestimmung sowie Selbstverantwortung gleichermaßen beigetragen. Im Zuge einer solchen Entwicklung hat sich aber auch Gegenläufiges, haben sich im Unterschied zu früheren Zeiten andere wirksame, z.T. unbemerkte Zwänge, Systemimperative und Unterwerfungspostulate ins Spiel gebracht, so z.B. Elemente, die – um eine moderne Entwicklung anzudeuten - angesichts einer von gesellschaftspolitischen Herrschaftsträgern selbst mit Macht und Einfluss ausgestatteten Digitalisierung letztlich in Form von Robotern und künstlicher Intelligenz bislang ungeahnte Dimensionen annehmen werden. Die vom Menschen angestoßenen Entwicklungen auf naturwissenschaftlich-technologischem Gebiet werden ihrem Erzeuger vermutlich nicht nur Entlastung und Erleichterung bieten, sondern könnten auf dem Weg weiterer Entdeckungen und Errungenschaften an einen Punkt gelangen, an dem sie in Bereiche der Absurdität vorstoßen und damit in das Gegenteil dessen, wofür man sie geschaffen hat, umschlagen, und dies genau dann, wenn sie dem Menschen aufgrund vermeintlicher Alternativlosigkeit keine Entscheidungsspielräume mehr einräumen, ihn selbst gewissermaßen über Zwang und Machtausübung beherrschen und steuern. In einer Zeit, in der als Folge fortgesetzter Forschung, auch weiterer Einsichten und Erkenntnisse im Bereich der vom Menschen inaugurierten Systeme zwar arbeitsentlastende Perspektiven zunächst noch bei weitgehendem Erhalt oder zumindest sozialverträglichem Abbau von Arbeitsplätzen in den Vordergrund treten, dann aber eben auch infolge stets weitergeführter Technologisierung über den Weg der sogenannten Digitalisierung Zukunftsvisionen der Angst und Bedrohlichkeit angesichts massenhaften Abbaus von Arbeitsstellen Platz greifen und mächtig an Einfluss gewinnen und dabei andere, dem Menschen Entlastung, Emanzipation sowie Freiheit bringende Errungenschaften überschatten und in ihren Auswirkungen begrenzen, - in der Ausprägung einer solchen Entwicklung wird sich das Forschen nach Fluchtwegen verstärkt etablieren, werden Suchbewegungen der Menschen in Richtung Ablenkung, Zerstreuung, Unterhaltung und Belustigung über das in dieser Hinsicht derzeit bereits vorhandene Maß hinausgehend nicht unerheblich an Bedeutung gewinnen, letztlich wohl überall dort, wo dies möglich ist.

Zeitgenössische Entwicklungen – vor allem die Komplexität und Pluralität des Daseins stechen dabei hervor – bleiben nicht ohne Einfluss auf das Bezugsfeld von Literatur, Kunst und Kultur. Durch vielfältige Angebote der Zerstreuung und Ablenkung vor allem in den elektronischen Medien mit ihrer Omnipräsenz, d.h. durch Unterhaltungselektronik in Permanenz geprägt, stellen sich die Interessen und Wünsche des Publikums anders als in wesentlich früheren Zeiten dar, in denen die Menschen einem enormen Zerstreuungs- und Unterhaltungspotential, das sich in der heutigen Welt gerade im Zusammenhang jener mobilen Kommunikationsmedien entfaltet, noch nicht in dem Maße, wie das gegenwärtig der Fall ist, ausgeliefert waren. Die Entwicklung des Hörfunks begann Anfang des 20. Jahrhunderts und so ist die folgende Feststellung, die sich auf der Webseite des Theaterstückes findet, wohl nicht ganz von der Hand zu weisen – es geht dabei noch einmal um den oben erwähnten Kommentar unter „Kopfschütteln statt Erkenntnis“:

„In den zwanziger Jahren soll es ähnlich gewesen sein. Man wollte in Ruhe gelassen werden, suchte Zerstreuung und Belustigung. Vielleicht machen die Theater ja genau das, was das Publikum verlangt?“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus/ ausgewählte Kommentare/ Zuschauerbeitrag)

Gleichwohl: Das hier in Augenschein genommene Werk der Bühnenkultur hat letztlich mehr zu bieten als bloße Unterhaltung. Immerhin geht es um eine Tragödie - so jedenfalls der Titel, und er dürfte trotz allem Entertainment, das in der vorliegenden Inszenierung eine Rolle spielt, wohl durchaus ernst zu nehmen sein.

[…]

Das Theaterstück weist bei aller Eigenwilligkeit der Inszenierung auf den Mythos zurück – angesichts des Titels auch selbstverständlich - , lässt dabei aber Unterschiede deutlich werden und wirft insofern beim interessierten Betrachter während der Aufführung, z.T. aber auch schon vorher Fragen auf: Welche Gründe gibt es beispielsweise für eine Adaptation und Neudeutung klassischer Vorgaben und Stoffe? („Hausregisseur Antú Romero Nunes erzählt den antiken Mythos neu: mit Musik, existentialistischen Texten und Tanz.“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus)) Wird sich Orpheus auch hier in der Neubearbeitung genauso wie in der klassischen Vorgabe nach Eurydike umdrehen? Was hat es überhaupt mit dem Motiv des Sich-Umdrehens auf sich? Darf es abgewandelt werden oder nicht? Es schließen sich Fragen an, die der Webseite des Stückes zu entnehmen sind: „Wie unausweichlich ist das Schicksal? Wie endgültig die Trennung durch den Tod – und was ist das eigentlich, die Unterwelt?“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus)

[…]

Der Phänomenbereich „Sprache“ kommt im vorliegenden Theaterstück durchaus zu kurz, obwohl Sprache in der menschlichen Gesellschaft bekanntlich das wichtigste Medium darstellt, das der Vermittlung von „Information“, „Sinn“ und „Bedeutung“ zur Verfügung steht. Dies gilt nicht zuletzt für die Gegenwart des ausgehenden zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert, für das Heute also, in dem Sprache über elektronische Kommunikationswege vielfältige Verbreitung findet, in Bildungs- und Kulturinstitutionen als ein auf Kommunikation und Dokumentation bezogenes System der Erfassung, Darstellung, Erklärung sowie Deutung hochkomplexer Bezugsfelder der Lebensrealität dient und sich in dieser Funktion auch als alternativlos erweisen dürfte. Sprache und Schrift werden im Zuge der Digitalisierung verstärkt in technische Apparaturen integriert und insofern auch zukünftig – soweit absehbar - keinesfalls überflüssig sein. Der verbale Ausdruck ist auch im Theaterstück, um das es hier geht, nicht völlig ausgespart, Sprache ist auch hier zu vernehmen, vorwiegend an einigen Stellen in Form monologisierend vorgetragener gehaltvoller Texte u.a. von Friedrich Schiller und Friedrich Nietzsche. Wünschenswert wäre insgesamt eine Präsentation von Sprache in Form von Dialogen, von Rede und Gegenrede, Argument und Widerspruch - an sich ein integraler Bestandteil europäischer Bühnenkultur, überhaupt der Theaterwelt schlechthin.

[…]

Die weitgehende Reduzierung des Handlungsgeschehens auf Bewegung und Musik lässt die Vermutung entstehen, dass hier wohl doch einem Zeitgeist in die Hände gespielt wird, der sich im Allgemeinen, ohne dass die folgenden Aspekte in ihrer Gesamtheit auf das vorliegende Theaterstück gleich zutreffen müssten, über Unterhaltung, Ablenkung, Rezipientenfreundlichkeit, intellektuelle Reduzierung und Hinwendung zum Emotionalen – wie eingangs bereits angedeutet – definiert und damit einen größeren Publikumskreis anzusprechen und zu mobilisieren sich in der Lage sieht.

Wenn Sprache als wichtigstes Medium zwischenmenschlicher Verständigung nicht im Zentrum kultureller Darbietung, hier der sich gerade zuvörderst durch Sprechen und Sprache auszeichnenden Gattung „Schauspiel“, steht und sich infolgedessen Handlungsspielräume, gewissermaßen Zonen einer subtil inhaltlich-sprachlichen Unbestimmtheit und Diffusion entwickeln, dann dürfte das Publikum, dessen Urteil letztlich relevant ist und das sich im Hinblick auf das Spannungsfeld von Kritik und Zustimmung im Idealfall zu positionieren alle Chancen hat, gerade intellektuell im Hinblick auf kritisches Denken ganz besonders gefordert sein.

[…]

Erst über die Korrelation von Werk und Rezipient werden Sinn und Bedeutungsrelevanz belastbar konstituiert und insofern ist im vorliegenden Fall angesichts sprachlicher Desiderata des in Rede stehenden Schauspiels der Zuschauer in besonderem Maße aufgerufen, die emotionale Komponente, die der Inszenierung innewohnt, wohl zu erfassen und entsprechend zu würdigen, gleichwohl im Hinblick auf Interpretation und Beurteilung des Stückes Positionen zu formulieren, die auch intellektuell nachvollziehbar sind. Um es kurz zu sagen: Der Rezipient dürfte hier an der Konstituierung von Sinnstrukturen in besonderem Maße beteiligt sein. Dazu wird wohl auch gehören, das dargebotene Stück nicht unter dem Akzent eines Entwurfes zu deuten, der als Ersatz für den klassischen Mythos gedacht sein könnte, sich vielmehr dem Angebot der Inszenierung zu nähern, das Stück als Adaptation und damit als Erweiterung, als Variante mit eigenem Bedeutungshorizont zu verstehen.

Die kurzgefassten Verlautbarungen zur vorliegenden Inszenierung, wie sie der Webseite des Bühnenstückes unter der Rubrik „Pressestimmen“ zu entnehmen sind, fallen fast ausnahmslos positiv aus. Einige Beispiele seien an dieser Stelle wiedergegeben:

„Antú Nunes versetzt sein Publikum in den Begeisterungsrausch, er entwickelt fast meditative Bilder mit traumhaftem Sog. Dazu kommt ein Soundtrack, der von Johannes Hofmann und Anna Bauer kongenial komponiert und auf die Inszenierung gelegt wurde.“ (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus/ Pressestimmen zu Orpheus/ Stefanie Maeck, Szene Hamburg, Oktober 2018)

„Ein glanzvoller Start in die Saison, in der das Theater sein 175. Jubiläum feiern wird" (Thalia Theater/ Webseite/ Orpheus/ Pressestimmen zu Orpheus/ Annette Stiekele, Hamburger Abendblatt, 10.09.2018)

[…]

Ein abschließendes Urteil, wie es auf „Zeit online“ nachzulesen ist, nimmt sich dagegen deutlich kritischer aus:

„Nunes will die Zuschauer nicht unbedingt zum Denken bringen, sondern sie 'im Fühlen trainieren', erklärt er im Programmheft. Also schüttet er sie zu, mit allen Mitteln der Kunst: Tanz, Pantomime, Clownerie, Kindertheater, Zauberkastenmagie, Anleihen aus dem Cirque du Soleil, aus Zombie- und Horrorfilmen, mit einer Menge Nebel, Musik und noch mal Musik. Doch hinter all diesen Effekten offenbart sich eine gähnende inhaltliche Leere. Und man begreift: Nunes will mit seiner Orpheus - Bearbeitung nicht politisch sein, nicht kritisch, nicht streitbar, intellektuell oder gar innovativ. Nunes will einfach nur spielen.“ (Katrin Ullmann: Er will doch nur spielen/ Zeit online/ 16.09.2018)

[…]

Ein Gesamturteil, das dem hier kommentierten Bühnenwerk aufgrund der unterschiedlichen Elemente und Aspekte, die es zum Tragen kommen lässt, eine gewisse Ambivalenz zuschreibt, wird dem Erscheinungsbild des Stückes, seiner Ausstrahlung und Wirkung wohl am ehesten gerecht:

„Dieser 'Orpheus' will ein schwelgerisches Zauberstück und zugleich eine philosophische Denkaufgabe sein.
[…]
Plötzlich merkt der Zuschauer: Es mag aussehen wie ein verfrühtes Weihnachtsmärchen, was der Regisseur Nunes da auf der Thalia-Bühne angerichtet hat - in Wahrheit ist es gedacht als tiefschürfender Essay über das Wesen der Schönheit, die Unabwendbarkeit des Todes und die Liebessucht des Menschen.
[…]
(Wolfgang Höbel: Die größte Frauenliebe aller Zeiten/ Spiegel online/ 08.09.2018)

Und zu guter Letzt zeigt sich – ein wenig verklausuliert - die angesprochene Ambivalenz in einem schlichten Satz, der eine abschließende Wertung beinhaltet:

„Wirklich bei sich ist diese Inszenierung über Glück und Elend der Liebe nur dann, wenn keine klugen Denkersätze aufgesagt werden, sondern sich der Regisseur ganz auf die eigenen Bildideen verlässt.“ (Wolfgang Höbel: Die größte Frauenliebe aller Zeiten/ Spiegel online/ 08.09.2018)

Vollständige Fassung des Kommentars siehe unter http://www.michaelpleister.de/resources/Orpheus.pdf


Norderstedt, d. 31.01.2019
Leserkritik: Mörder Ahoi!, SH-Landestheater
Klaus Gehre inszenierte für das Schleswig-Holsteinische Landestheater in Rendsburg das Stück „Mörder Ahoi!“ nach Motiven des gleichnamigen Films. Für die Kostüme war Simone Fröhlich und für die musikalische Gestaltung: Michael Lohmann verantwortlich. Miss Marple erbt das Mandat in der „Stiftung zur Besserung der Jugend“. Auf der Kuratoriumssitzung stirbt ein Vorstandsmitglied nach einer Prise Schnupftabak. Miss Marple glaubt an keinen natürlichen Tod. Als Krimi-Leserin erkennt sie, dass der Mord der Story „Die Todesbüchse“ entspricht. Auf der „Battledore“ ein Schiff, für schwer erziehbare Jugendliche sucht sie nach dem Mordmotiv. Miss Marple ist nicht gern gesehen an Bord, da die Angestellten des Schiffes kleine Eigenarten und Geheimnisse haben, die sie ungern Preis geben. Schnell erkennt sie, dass die Jugendlichen eine eingespielte Diebesbande sind. Im Verlauf der Ermittlung kommt es zu weiteren Todesfällen auf der „Battledore“. Erst als Miss Marple das Motiv der Morde anhand der Zahlen, und der an Bord befindlichen Jugendlichen vergleicht, wird der Fall klar. Hier wurden immer zu viele Jugendliche in Rechnung gestellt und so hohe Finanzierungskosten in die eigene Tasche. Miss Marple stellt dem Täter eine Falle und überführt Breeze-Connington des Mordes. Soweit die Story doch nun zur Inszenierung. Die Rückseite der Bühne ist eine riesige Leinwand, ein Hauptakteur. Der Rest der Bühne ähnelt einem Filmstudio mit Camcordern, Requisiten wie z.B.: Segelschiffsmodel, Bücher in einem Regal, eine Plastikwanne mit Wasser, Schuhe, eine Türklinke und vieles mehr. Die Bühne ist Spielfläche und Produktionsstätte für filmische Bilderstürme auf der Großleinwand – Produktionsprozess und filmisches Ergebnis bleiben transparent. Die Bühne erinnert an Bühnen von Stehmann. Dann beginnt das Spiel und sofort wird deutlich, dass Film auf der Leinwand eines der wesentlichen Stilmittel dieser Inszenierung ist. Eigentlich nichts Neues, da Regisseure wie z.B.: Castorf, Richter und Stehmann mit diesem Medium ständig arbeiten. Doch Klaus Gehre geht weiter. Seine Videoeinspielungen werden zu eigenen Kunstwerken, durch Überblendung mehrerer Aufnahmen. In seinen Videoeinspielungen steckt viel Kreativität und Eigenleben. Sie allein sind schon einen Besuch dieser Aufführung wert. Er geht in seinen Videoeinspielungen auch über Großaufnahmen des Gesichts zur besseren Wahrnehmung der Gestik, wie oft bei Castorf gesehen, hinaus, indem er bis auf das einzelne Auge, die Nase, den Mund und Zunge fokussiert, wodurch dadaistische Bilder entstehen. Auch gelingt es ihm über Videoeinspielung surreale Bühnenbilder zu schaffen, die das Spiel der Akteure genial verstärken. Er beschränkt sich auf eine Schauspielerin (Katrin Schlomm, die in der Rolle der Miss Marple begeisterte) und zwei Schauspieler (Simon Keel: Mr. Jim Stringer / Captain Rhumstone / Stimme der Anderen und Christian Hellrigl: Commander Connington / Oberinspektor Creddock / Stimme der Anderen, die beide durch differenziertes und komödiantisches Spiel überzeugten). Die vielen anderen sind: Miss Fanbraid, Hausmutter Erster Klasse; Shirley, Hausmutter Zweiter Klasse; Oberleutnant Compton; Unterleutnant Humbert; Mr. Folly Hardwicke und werden von Babypuppen verkörpert. All diese Elemente verschmelzen zu einem gemeinsamen Ganzen. „Mörder Ahoi“ ist eine multimediale Performance, die den Betrachter auf eine Reise entführt, die uns Wissen und Wahrnehmung unserer Welt hinterfragen lässt. Diese Inszenierung verführt den Zuschauer (w/d/m) zu kindlichem Staunen und sinnlich-theatraler Verunsicherung in Bezug auf Realität und Irrationalität. Diese Form des Theaters überschreitet Grenzen in neue Dimensionen des Sehens und Erlebens. Ein grandioser Theaterabend, den ich in dieser Konsequenz und Kreativität der Bilder noch nicht gesehen habe. Chapeau vor diesem multimedialen Theaterzauberer.
Leserkritik: Zwölf, Hamburg
Das Eisenhans-Theater präsentierte in Kooperation mit dem Thalia Theater und Unterstützung der Hamburger Kulturbehörde ihr Projekt „Zwölf“ während der Lessingtage in der Gaußstraße. Das Theater Eisenhans gibt jungen theaterbegeisterten Menschen mit und ohne Behinderung einen kreativen Raum zum Theaterspielen. Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen sowie Menschen ohne Behinderung sind gleichermaßen in die Stücke integriert und stehen als Schauspieler*innen auf der Bühne. Das Projekt „Zwölf“ befasst sich mit den Metamorphosen (Bücher der Verwandlungen) des römischen Dichters Ovid. Verwandlungen bzw. Veränderungen finden sich überall in unserem Leben und sie sind letztendlich die einzige Konstante in unserem Leben. Dieses Thema machen Eisenhans-Darsteller*innen zum Thema ihres Projektes. Aus den 250 Sagen des Ovid wurden 12 Geschichten ausgewählt wie z.B.: die lykischen Bauern, Daedalus und Ikarus, Orpheus und Eurydike, Apoll und Daphne, Pygmalion und andere. An 12 Tischen präsentierten die Darsteller*innen jeweils 6 Zuschauern ihre Geschichten innerhalb von 8 Minuten und dann wechselte man den Tisch, so dass man in den Genuss von 6 Geschichten kam. Zunächst wurde die Geschichte erzählt „Orpheus und Eurydike“ und dann hatte das Publikum die Aufgabe die Frage zu beantworten „Wollen Sie ewig leben? Warum?“. Ich fand es überraschend, dass alle Teilnehmer an diesem Gespräch nicht ewig leben wollten. „Pygmalion“ ein weiteres Beispiel. Nach der Erzählung sollten wir aus einem Klumpen Knetgummi unseren idealen Mann bzw. unsere ideale Frau formen. Die Ergebnisse waren zum Teil abenteuerlich. „Die lykischen Bauern“ konfrontierte uns mit den Fragen, wie wir Wasser sparen können und wie wir Wasser sinnvoll nutzen würden. Über diese Konfrontation mit 12 Geschichten aus Ovids „Metamorphosen“ kamen wir mit den Akteuren*innen in rege Diskussion und zu interessanten Aspekten. „Zwölf“ war eine anregende, lebendige Performance zum Thema Veränderungen, die einen nach 75 Minuten menschlich bereichert nach Hause entließ. Dank den Darstellern*innen der Gruppe Eisenhans, die mit Engagement und Empathie uns ihre Geschichten nahegebracht hatten. Katja Meier hatte eine kommunikative, interaktive Präsentation gewählt, die Langeweile nie aufkommen ließ. Nicht zu vergessen die Projektberatung von Herbert Enge, der wie immer mit Begeisterung solche Projekte unterstützt und fördert. Dank für dieses tolle Projekt von dem sich die meisten Zuschauer nur schwer trennen konnten, da noch lange und intensiv diskutiert wurde.
Leserkritik: Drei Schwestern, Berlin
"Drei Schwestern", Regie: Timofej Kuljabin
Gastspiel "Krasnyi Fackel" ("Rote Fackel") Theater Nowosibirsk, a Deutschen Theater Berlin,
in russischer Gebärdensprache

Einige Wochen nach Karin Henkels auf 90 Minuten gekürztem „Drei Schwestern“-Best-of mit Travestie-Nummern und großem Angela Winkler-Solo ist in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nun auch der komplette Tschechow-Klassiker mit mehr als 4 Stunden Länge zu erleben.

Der russische Regie-Jungstar Timofej Kuljabin gastiert an diesem Wochenende mit seiner „Drei Schwestern“-Inszenierung vom „Krasnyi Fackel“ („Rote Fackel“) Theater Nowosibirsk in Berlin und reist demnächst nach Zürich weiter.

Am Bühnenbild von Oleg Golowko hätte Peter Stein seine helle Freude. Die Wohnstube der Familie Prosorow ist so naturalistisch eingerichtet, dass nur noch der Birkenwald fehlt, um die Nostalgie perfekt zu machen.

Das Drama entfaltet sich mit all den berühmten Sentenzen und mit zwei Gegenpolen im Zentrum: Daria Jemeljanowa als Weltschmerz ausstrahlende, nur kurz aufblühende Mascha, die mit ihrer Trillerpfeife ein strenges Regiment führt, und Linda Ahmetzjanowa als quecksilbrige Irina, die optisch und auch in ihrer Spielweise etwas an Kathrin Angerer erinnert und sich ebenso sehr nach den Videos von Miley Cyrus wie nach Moskau sehnt.

Bemerkenswert ist, dass der Regisseur fast komplett auf das gesprochene Wort verzichtet. Die Spieler*innen verständigen sich in russischer Gebärdensprache, die Galina Nischuk mit ihnen einstudiert hat. Ihre Dialoge werden auf Deutsch und Englisch an die Bühnenrückwand projiziert. Sein Ziel, dass der Tschechow-Klassiker damit eine höhere Dringlichkeit bekommt, hat Kuljabin aus meiner Sicht nicht erreicht. Langatmig statt melancholisch zieht sich der Abend, schon nach der ersten von drei Pausen bröckelt die Besucher*innenzahl sichtlich.

https://daskulturblog.com/2019/02/02/drei-schwestern-aus-nowosibirsk/
Leserkritiken: Drei Schwestern, Timofej Kuljabin
"Drei Schwestern", Regie: Timofej Kuljabin, Gastspiel am DT, Berlin

Ich finde ja eher bemerkenswert, daß die vorherige Leserkritik fast vollständig ignoriert, was das Bemerkenswerte an der Inszenierungsentscheidung für Gebärdensprache ist: ein Gewinn an theatralen Optionen. Die Schauspieler verlieren die Chance, über Sprache zu erzählen, bekommen aber zusätzliche Darstellungsmöglichkeiten, eine fast tänzerische Körperlichkeit, mimische Emotionalität fast wie in der Oper, die trotzdem nicht falsch wirkt, währenddessen die Übertitel zuverlässig den Tschechow'schen Text abspulen. Darüber hinaus gibt es einen Focus auf die Soundgestaltung, die besonders in der Nachtszene in der von Handydisplays erleuchteten Dunkelheit besticht: die leisesten und lautesten Geräusche erzählen Teile der Geschichte, im Dunkeln hört man besser.
Und daß das Bühnenbild 'realistisch' sei, ist völlig falsch. Stühle sind Stühle, Tische sind Tische, aber das war's dann auch schon. Das ganze Haus auf der Bühne, Wände "Dogville"-mäßig aufgemalt, was wiederum ermöglicht, unterschiedliche Handlungen gleichzeitig stattfinden zu lassen, die während die Aufmerksamkeit nicht durch den gesprochenen Text, sondern durch die Bewegungen geführt wird. Total interessant!
Dem Schauspieler Wilfried Elste zum 80. Geburtstag
Der Schauspieler Peter Danzeisen (https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Danzeisen) grüßt den Kollegen Wilfried Elste zum 80. Geburtstag. Zu seiner hier publizierten Rede auf Wilfried Elste
(https://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_Elste) anlässlich von dessen 40. Bühnenjubiläum und der Ernnennung zum Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen Frankfurt im Jahr 2013 schreibt Danzeisen an nachtkritik.de: "Anlässlich der 'Rentnerdebatte' erscheint es sinnvoll, Theaterleben nicht erst im Nachruf zu kommunizieren. So hätten Interessierte noch die Möglichkeit was von Überlebenden der Mitbestimmung zu erfahren.
Mit herzlichen Grüßen
Peter Danzeisen"


Grüße aus dem Früher

Lieber Elste, lieber Wilfried

Als Du 1972 in Frankfurt angefangen hast, stand hier auf einer vor den Fenstern angebrachten Plane in großen Lettern geschrieben: „WIR FANGEN AN“. Der Satz sollte markieren: Das ALTE wird über- wunden. Das NEUE kommt in die Stadt.

Die Plane hat die GOLDWOLKEN von Zoltán Kemény für die Außenstehenden verdeckt. Das hat die Frankfurterinnen und Frankfurter damals aber so was von aufgeregt. Sie hatten ganz vergessen, dass sie sich schon bei der Installation der GOLDWOLKEN so was von aufgeregt hatten. Aber das waren andere, die sich vor fünfzig Jahren, 1963, aufgeregt hatten. „So was gehört da nicht hin. So ein Prunk.“ Oder so ähnlich. Und dann eben 1972 das Gegenteil: „Wir sehen die GOLDWOLKEN nicht mehr.“

Auch die Bühnenhandwerker haben sich 1972 wegen der Plane erregt. Sie forderten die Teilnahme an einer Vollversammlung. Da ging‘s dann aber los. „Wir fangen NICHT an. Wir waren schon IMMER da. Wir machen EINFACH weiter.“

Dieses immer wieder neu anfangen, hat Wilfried in unserer Stadt erlebt. Er ist geblieben und hat da- mit etwas vom Ensembledenken, dessentwegen er in den Spielkörper der Stadt gekommen ist, darin bewahrt. Dieser Ensembleteilkörper, Zitat: „Ein Mann von kräftiger Statur und großer Bühnenprä- senz“, entspringt der Liebe der Bäuerin und des Kunstmalers im schlesischen Nowa Karczma, dem damaligen Neu Kretscham, 17 Kilometer östlich von Görlitz. Eine friedliche Landschaft, wäre da nicht dieses törichte, sinnwidrige Schlachten.

Drei Mal geflohen. Hunderte von Kilometern Flucht im Pferdewagen. Bomben, Entbehrung, Angst, Not. Nichts darf mit, nicht ein Foto als Erinnerung, die wunderbaren, eigenen Pferde werden von den
„Russen“ konfisziert und gegen alte Klepper ausgetauscht. Dann Ankunft in Bad Sachsa. Warum ge- rade dort im Harz, diesem 1905 zum Kurort gekürten Städtchen. Es wird seine Gründe dafür geben. Nach der Improvisation auf der Flucht ein erster Neuanfang. Und Glück gehabt. Zuerst amerikanische Besatzungszone, sie ziehen ab. Die sowjetische Armee übernimmt, zieht aber nicht ein. Gebiets- tausch. Die sowjetische Armee erhält den Ostteil des Landkreises Blanken und die Engländer Bad Sachsa und Umgebung. Ein Tausch Bergbau gegen Kurort, ein Ost-West-Deal.

Später dann noch einmal eine Familienumsiedlung ins 128 km entfernte Hannover. Der Vater hat endlich wieder Arbeit als Grafiker. Der Sohn: Schule, Tischlerlehre, Schauspielschule, heimlich die Aufnahmeprüfung, das Geld für das Studium mit Jobs während des Studiums erarbeitet. Zwei Schwestern. Eine macht auch die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. „Lassen sie das mal ih- ren Bruder machen.“, hört sie.

Sie studiert Theologie, wird Pastorin und bleibt so in der Familientradition. Die Familie Elste ist den Franckeschen Stiftungen, dem humanistischen Sozial- und Bildungswerk verbunden, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts vom Theologen August Hermann Francke gegründet wurde. Nächstenliebe, un- mittelbar praktiziert, ist einer der Grundsteine dieses Schulgedankens. Das ist noch so ein Hinter- grund, der sich in Wilfried irgendwie eingenistet hat.

Und Lernschritte sind eingekörpert. Der berühmte Rennert wird in Stuttgart Regie führen. Wilfried stellt sich ihm in Hamburg für den Andres in Büchners Woyzeck vor. Die Unterhaltung nach dem

Vorsprechen ist herzlich. Herr Rennert nickt immer wieder. Wilfried fragt: „Herr Rennert, mir hat man gesagt, wenn Sie nicken, sei ich engagiert. Sie haben schon mehrfach genickt. Habe ich das rich- tig verstanden?" Ein kleines Staunen. Der Andres ist besetzt. Die Proben beginnen. Wilfried versucht zu verstehen, was von ihm gewünscht wird, bis Rennert sagt: „Wissen Sie was, Sie spielen, was Sie meinen und ich sage Ihnen, was Sie weglassen.“

Jetzt kann raus, was drinnen ist. Und das ist so reich. So warm und voller Liebe und Zuneigung. Und das macht nicht Halt beim Schauspielen. Es scheint eine unversiegbare Quelle entstanden zu sein. Und das mischt sich hundertprozentig ein in die gemeinsamen Aufgaben, jenseits von vertraglichen Pflichten, in Ensembleversammlungen, im Betriebsrat. Immer im Hinterkopf, Zitat Wilfried, „Für den Einen ist etwas wunderbar und für den Anderen schrecklich.“ Das Ganze ist im Kleinen und im Klei- nen ist das Ganze.

Beim Spielen ist das Gegenargument stets auch enthalten. Nur ein kleines Beispiel: Im Don Carlos von Werner Schröter steht die kräftige Statur einer wunderschönen Frau gegenüber. Der Mann lässt, die Münder sind ungefähr 15 Zentimeter übereinander, Zitat Wilfried, „Spucke in den Mund fallen“. Ein intimer Vorgang, groß, erschreckend. Das sanfte, zärtliche der Handlung bewegt.

Du warst dabei, als in Die Tage der Commune, einer Ensembleproduktion unter der Obhut vom ge- liebten Peter Palitzsch, bei der Diskussion der Kommunarden, ob sie sich bewaffnen sollten, die Aus- einandersetzung ins Publikum übergesprungen ist. Die Schauspielerinnen und die Schauspieler auf der Bühne haben den Zuschauenden nur noch zugeschaut, wie sie sich aufs Heftigste gestritten hat- ten, ob Pazifismus ein mögliches Lebensprinzip sein kann. Das Ende des Stückes hat eine Antwort ge- geben.

Wilfried wollte ja eigentlich Dompteur werden. Tischler lernte er nur, weil ihm sehr und bestimmt nahe gelegt wurde, einen anständigen Beruf zu erlernen. Im Sturm, einer Adaption des shakespeare- schen Stückes für Kinder im Zirkuszelt, stand er dann aber doch als Prospero in der Manege und diri- gierte den Sturm. Es waren vier Lipizzaner im Trockeneis-Nebel.

In Drei Schwestern stand diese „Bühnenpräsenz“ mit einem Kinderwagen alleine auf der Bühne. Alle anderen Figuren sprachen zuvor davon, dass es Zeit sei zu gehen oder aufzubrechen. Wilfried Elste schaukelt den Kinderwagen, zieht die Taschenuhr, öffnet den Deckel, schaut auf die Uhr: „Wie die Zeit vergeht.“

Und, und, und ….

So viel enthält der Ensembleteilkörper Wilfried Elste. All das ermöglicht ihm seine Verdienste. Mögen die GOLDWOLKEN Dich und Deine Familie beschützen.

PD.

Jetzt ist er achtzig Jahre alt geworden.
Wilfried Elste zum 80. Geburtstag: wunderbare Palitzsch-Jahre
Sie haben ja so recht, lieber Peter Danzeisen: es erscheint nicht nur sinnvoll, Theaterleben nicht erst im Nachruf zu kommunizieren, sondern es ist auch eine Notwendigkeit des Respekts und der menschlichen Zuwendung. Ich erinnere mich an Wilfried Elste im Zusammenhang mit den wunderbaren Palitzsch-Jahren in Stuttgart. Noch heute sehe ich seinen massiven, leicht nach vorne geneigten Körper vor mir, höre ich seine raue Stimme. Er war einer der profilierten Schauspieler neben Roggisch und Buhre, neben Hoger und Schwarz, neben Mahnke und Heerdegen, neben Just und Höper, neben Costa und Hallwachs. Vielleicht muss man das miterlebt haben, auch die theaterpolitische Euphorie jener Jahre, um die Trauer darüber zu verstehen, was verloren zu gehen droht. Elstes Kasimir bleibt eine unauslöschliche Erinnerung. Ich habe in dem halben seither vergangenen Jahrhundert keinen glaubwürdigeren gesehen.
Leserkritik: Antwort an Peter Danzeisen
Barlachs ARMER VETTER wäre ohne Wilfried 1975 auch nicht geworden, was er wurde. (Ohne Peter D. auch nicht!)
Dem Schauspieler Wilfried Elste zum 80. Geburtstag: Individualist im Ensemble
... was für wunderbare Erinnerungen! An Wilfried Elste, den ich in meiner kurzen Giessener Studienzeit von dort aus und auch danach immer mal wieder in Frankfurt spielen sah, in eindrucksvoller Balance aus Kraft und Verletzbarkeit und beispielhaft für die Energie, die echte Individualisten im Ensemble ausstrahlen können; manchmal sehe ich Elste als Zuschauer in Frankfurter Premieren, und auch in dieser Rolle ist er Teil vom Haus. Erinnerungen aber auch an Peter Danzeisen, den Erinnerer, der in Jürgen Flimms Thalia-Truppe zu den prägenden Persönlichkeiten meiner frühen Hamburger Zeit gehört hat. Besten Dank allerseits!
Leserkritik: Lucia di Lammermoor, Berlin
Lucia di Lammermoor - Schöne Stimmen beim verstiefelten Kater
Mein Enkelsohn wächst zweisprachig auf und so hatte er mit Vier im Deutschen einige niedliche Spezialausdrücke, er sprach von Gewachsenen statt Erwachsenen und auch vom „verstiefelten“ Kater.
Schlecht vorbereitet staunte ich am 15.02.2019 in der Deutschen Oper nicht schlecht, als sich der Vorhang in die dürftig beleuchtete Pappmache-Kulisse der Lucia di Lammermoor von Filippo Sanjust hob und zahlreiche männliche Darsteller in den Kostümen des verstiefelten Katers meist nur herumstanden. Allerdings war hier nichts ironisch gemeint.
Im Vergleich zum Beispiel mit der legendären RING-Inszenierung von Götz Friedrich 1984 muss diese Lucia di Lammermoor ja bereits bei der Uraufführung 1980 überholt und verstaubt gewirkt haben.
Immerhin konnten schöne Stimmen, allen voran Rocio Perez als Lucia, und virtuose Ochrester-Solisten, allen voran die Flöte, mit dem Abend versöhnen.
Aber täusche ich mich, oder gibt es nicht wieder Sympathien für genau solche Inszenierungen, auch von kulturpolitischer Seite? Vielleicht meldet sich ja ein Bekenner mit seiner Ansicht zu Wort.
Leserkritik: Benvolio + Mercutio, Volksbühne Berlin
Leserkritik: "Benvolio + Mercutio. Du bist mein Lieblingsort auf der ganzen Welt, Babe!" von Zelal Yesilyurt nach William Shakespeares Romeo und Julia, P14 Jugendtheater, Volksbühne, 3. Stock

Ganz wie zu Shakespeares Zeiten werden hier alle Rollen von Männern gespielt, nur Isi Thiele schmuggelt sich mit ihrer Volksbühnen-typischen Live-Kamera hin und wieder dazwischen. Dafür besetzen Frauen alle Positionen hinter der Bühne: Charlotte Brandhorst ist die Dramaturgin, Fanni Rau verantwortet das Bühnenbild, Zelal Yesiyurt, die selbst aus der „P14“-Gruppe hervorging, führt Regie, kümmerte sich um die Maske und entwarf mit Selma Schulte-Frohlinde die Kostüme, die phantasievoll mit Geschlechter-Stereotypen spielen. Luis Huayana spielt den Romeo mit Drei-Tage-Bart-Flaum und breitem Kreuz im rückenfreien, weißen Marilyn Monroe-Abendkleid.

Dieser Romeo liebt natürlich nicht ganz konventionell seine Julia, sondern einen Giulio (Anh Kiet Le). In der Shakespeare-Übermalung der experimentierfreudigen „P14“-Truppe im 3. Stock der Volksbühne ist das berühmteste Paar der Literaturgeschichte aber nur ein Nebenstrang.

Im Zentrum steht die unglückliche Liebe von Benvolio (Milan Herms) und Mercutio (Ben Engelgeer), die zueinander finden und sich doch verlieren. In der Shakespeare-Forschung wird seit längerem diskutiert, ob es sich bei diesen beiden Nebenfiguren nicht um ein schwules Paar handelt.

Im Stil eines antiken Chors mischen sich Eros (Emil Heusinger), Agape (Julian Winterstein), Ludus (Luis Krummenacher) und Pragma (Pepe Röpnack) kommentierend in die Handlung ein. Der Tonfall des 100 Minuten kurzen Abends schwankt zwischen jugendlicher Alltagssprache und philosophisch angehauchtem Pollesch-Light.

Die Grundidee, den Shakespeare-Klassiker mit einer queeren Lesart von sehr jungen Spielern auf die Bühne zu bringen, sorgt für einen unterhaltsamen Abend mit nur wenigen Längen in der zweiten Hälfte.

„Wenn Sie eines aus diesem Abend mitnehmen sollten, liebes Publikum, dann ist es dies: Lieben Sie. Lieben Sie hart. Lieben Sie sanft. Lieben Sie ehrlich. Lieben Sie bedingungslos. Lieben Sie radikal. Lieben Sie sich selbst. Lieben Sie die Natur. Lieben Sie Kind und Kegel. Lieben Sie einfach. Es gibt keine andere Tugend als die Liebe. Liebe ist hardcore“, geben uns die 12 jungen Männer mit auf den Weg.

https://daskulturblog.com/2019/02/22/benvolio-mercutio-p14-volksbuhne-kritik/
Leserkritik: Fabian, Berlin
Leserkritik: "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" nach dem Roman von Erich Kästner. Regie: Alexander Riemenschneider. Deutsches Theater Berlin/Box

Überraschend an dieser neuen Inszenierung von Alexander Riemenschneider sind die grellen Farben. Die Box des Deutschen Theaters Berlin ist ganz in knalliges Orange getaucht, auf der Rückwand hat Johanna Pfau Wortfetzen aus Comics wie „AUTSCH“ und „YEAH“ angebracht.

Das ist ein deutlicher Kontrast zu seinen beiden letzten Abenden in der Box: Beim minimalistischen „Transit“ saß Thorsten Hierse auf einem schlichten Stuhl, Wiebke Mollenhauer huschte schemenhaft über die Bühne. Melancholisch-leise war auch die Grundstimmung in „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, damals zitierte Riemenschneider das traditionelle japanische Nō-Theater.

Comichaft wie die Bühnen-Rückwand sind diesmal auch die Kostüme der drei Spieler*innen: Thorsten Hierse, Božidar Kocevski und Birgit Unterweger sehen mit ihrem Zebrastreifen-Look und ihren dicken Augenringen aus Glitzer-Makeup aus wie traurige Clowns. Während Hierse spricht, gestikulieren die anderen beiden überdeutlich mit schlenkernden Armen und weit aufgerissenen Augen und Mündern.

Eine Konstante in Riemenschneiders Inszenierungen ist, dass sie vom Livemusiker Tobias Vethake untermalt werden. Der Soundteppich tröpfelt im Hintergrund mit und schwillt immer dann an, wenn die Hauptfigur Jakob Fabian, ein promovierter Germanist, der sich als Werbetexter durchschlägt, rastlos durch das Berlin der ihrem Untergang entgegentaumelnden Weimarer Republik driftet.

Erich Kästner schrieb seinen Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ als Appell an seine Zeitgenoss*innen, die auf dem Vulkan tanzten und taumelten. Mit seiner Mahnung konnte er bekanntlich wenig ausrichten: Die Demokratie ging unter und „Fabian“ gehörte zu den ersten von den Nazis verbrannten Büchern.

Desillusioniert wird auch die Roman-Figur: Fabian (Hierse) darf nur kurz vom Glück mit Cornelia (Unterweger) träumen. Die Comic-Ästhetik im Hintergrund weicht für einige Szenen einem ironischen Kitsch-Overkill aus blauem Himmel und buntem Konfettiregen. Nach zwei Schicksalsschlägen zieht sich Fabian von Berlin nach Dresden zurück: seine Freundin verkauft sich für ihre Filmkarriere auf der Besetzungscouch, sein Freund Labude (Kocevski) begeht Suizid, da er auf den bösen Scherz eines Uni-Assistenten hereinfällt, dass seine herausragende Habilitation angeblich völlig misslungen ist. Mit Fabians Ertrinken beim Versuch, ein Kind zu retten, enden sowohl Erich Kästners Roman als auch die solide Adaption in der Box des Deutschen Theaters.

https://daskulturblog.com/2019/02/23/fabian-die-geschichte-eines-moralisten-deutsches-theater-kritik/
Leserkritik: Fabian, Berlin
Nach Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Alexander Riemenschneider)

(...)

Knallig orange ist die kleine Bühne auf der Bühne, versehen mit allerlei angepappten Karton-Requisiten und Comic-Sprech- (bzw. Denk-)Blasen, die nacheinander einbezogen werden in den Tanz am Abgrund, der schnell zu einem rauschhaften Ritt in den Untergang wird. Die drei Spieler*innen – Thorsten Hierse, der sich mehrheitlich der Titelfigur widmet, sowie Birgit Unterweger und Božidar Kocevski – wechseln zwischen dritter Person, Ich-Erzählung und Spielszenen, Musiker Tobias Vethake liefert einen hypnotischen und antreibenden Elektronik-Soundtrack dazu. Der „Gang vor die Hunde“, der Titel der Urversion, ist ein Treibenlassen, ein Auf-der-Schnelle-Treten, das oft in groteske Verzerrungen mit surrealistischen und expressionistischen Anleihen, in Verzögerungen und pantomimische Abstraktionen kippt. Die Figuren treiben und mäandern wehrlos und handlungsfrei in ein selbstgeschaffenes Inferno. Der Hedonismus ist eine Suizidwaffe, die Selbstverwirklichung Illusion und – wie die „Requisiten“ des Abends – Attrappe. Das Leben, das Fabian, sein Freund Labude, die angebetete Cornelia oder Bordell-Gründerung Irene Moll leben, ist kein echtes und ein zufälliges. „Es starben und lebten die verkehrten“, lamentiert Fabian gegen Ende und liegt doch falsch. Längst gibt es keine Richtigen und Verkehrten mehr, sind alle verkehrt oder richtig, weil die Welt jegliche Haltung verloren hat.

Und so lässt sie sich nur noch mit Verfremdung fassen, mit falschen Schubladen und fehlgeleiteten Genrezuweisungen: als Cartoon-Satire, Comic-Tragödie, Horror-Farce. Riemenschneider bebildert den Stillstand, das Nirgendwo, die Beliebigkeit. Da stehlt Lessing neben „Wow“-Sprechblasen, ist der Himmel Kitsch-Kulisse und das Glück ausgeschnittene Pappe. Der selbstgewählte Untergang durch Untätigkeit, wegschauen und nichtsmeinende Ersatzhandlungen wird bei Riemenschneder zum manischen Rennen, ohne Fortukommen, das Taumeln von einem Nachtschuppen, einem Ort des Verdrängens zum Nächsten zur wilden Collage, welche die existenzielle Langeweile nicht verbergen kann. Die ständigen Ebenenwechsel zwischen Draufsicht, Innensicht und Spiel tun ein Übriges, die Fragilität dieses falschen Lebens im falschen spürbar zu machen. Einfühlung steht neben Brechtscher Verfremdung, heiße Körperlichkeit neben kühler Analyse.

Hier ist nichts mit sich selbst in reinem, jede Einheit verloren, alles zerrissen. Ich und Welt und Moral und Handlung. Der Rausch, der Taumel, der die Kästnersche Gesellschaft erfasst hat, wird von Riemenschneider dargestellt und zugleich dekonstruiert, seziert, in seinen Bestandteilen ausgestellt. Der Abend begibt sich ins Innere des Vulkans und sieht von außen darauf, sucht Nähe und findet Distanz, abstrahiert, verzerrt, verfremdet und landet genau dadurch im Herzen der Fabianschen Krise, drin in der Leere, der Verzweiflung, der Handlungsunfähigkeit, mitten im Herzen einer suizidalen Gesellschaft. Wer hierin die Gegenwart erkennen will, kann das tun, Riemenschneider öffnet dem Zuschauer diese Perspektive, aber forciert sie nicht. Und so bleibt diese Welt fremd, wo sie familiär wirkt – und umgekehrt. Ob der Abend eine Mahnung sein kann, sei dahingestellt. Eine hochpräzise Reduktion von Kästners verzweifeltem Appell, die den Kern offenlegt und zugleich nüchtern reflektiert und ebenso die künstlerischen Mittel, die sie nutzt, thematisiert und in all ihren Grenzen sichtbar macht, ist er allemal. Unterhaltsam und bitter, rauschhaft und nüchtern, warm und distanziert. Zwielichtig im allerbesten Sinne.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/02/24/theater-im-zwielicht/
Die Ratten, Meiningen: Leserkritik
Gerhart Hauptmann
DIE RATTEN
Meininger Staatstheater
Premiere 15. Februar 2019

Allem voran: es ist kein Theaterabend der irgendwelche Sehgewohnheiten eines „klassischen“ Gerhart-Hauptmann-Abends bedient. Umso mehr bietet die Inszenierung alles, was ein Theater-Hauptmann-Abend heute braucht.
Maria Victoria Linke (Regie) versucht erst gar nicht den Zuschauer über eine Betroffenheitsdramaturgie durch den Abend zu führen, indem sie anhand einer vermeintlichen Hauptfigur, im Falle dieses Stückes wäre das wohl Frau John (großartig Anja Lenßen), in den Vordergrund rückt.
Vielmehr steht jede Figur für sich. Realistisch, grotesk, absurd sind die Spielweisen der einzelnen Darsteller, die dort aufeinanderprallen, wo das eigene Leid die Hauptrolle spielt. Denn alle in dieser Mietskaserne sind Opfer ihrer eigenen Geschichte, an der sie sich abarbeiten - wie am hervorragenden Bühnenbild von Jan Freese. Die daraus entstehenden komischen, slapstickhaften Situationen zeigen die Figuren in ihrer ganzen Tragik, wenn sie trotz aller Bemühungen einander, und auch sich selbst, seltsam fremd bleiben. In den surrealistischen Bilder der Inszenierung muten sie dann wie Überbleibsel einer sich in Auflösung befindenden Welt an.
Linke legt sich nicht fest und überlässt es dem Zuschauer zu entscheiden, wem hier größeres Leid zugefügt wird, bzw. wer sich hier selbst größeres Leid zufügt. Damit transportiert sie ein soziales Drama des vergangenen Jahrhunderts in die Welt der Singularitäten des 21. Jahrhunderts.
Es gibt noch vieles Gutes über diesen Theaterabend zu sagen. Z.B. über die Musik von Johannes Mittel, über die Kostüme von Daria Kornysheva, aber um es kurz zu machen:
Ein toller Theaterabend, der bekam was er verdient: lang anhaltenden, zustimmenden Applaus bei der Premiere.

Stefanie Witzlsperger
Jürgen Esser
Leserkritik: Maria, Hamburg
Michael Pleister

„Maria“ von Simon Stephens

(Deutsch von Barbara Christ)

Eine Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Reflexionen zum Werk im Kontext ausgewählter Erläuterungen und Kritiken

Regie: Sebastian Nübling

Uraufführung 19. Januar 2019, Thalia Theater

[…]

Der Zuschauer wird hier am Beispiel eines individuellen Schicksals in das Leben und damit in Gegebenheiten, Probleme und Konfliktfelder der modernen Welt versetzt, in der sich bekanntermaßen technisch/ technologische Entwicklungen rasant vollziehen, in der auf der anderen Seite Verlorenheit und Isolation des Einzelnen längst zu den konkreten Erscheinungsformen der Lebensrealität gehören, sich auf dem Wege der Digitalisierung „Errungenschaften“, die das Individuum gerade auch zukünftig in vielerlei Hinsicht abkömmlich, besser gesagt: überflüssig machen, zu konstitutiven Bestandteilen menschlicher Gesellschaften, jedenfalls soweit absehbar, auswachsen.

In der Theaterkritik heißt es zu dem hier in Rede stehenden Bühnenwerk zunächst einmal unter Bezugnahme auf „Mensch und System“:

„Mittels Laster werden für Amazon Pakete ausgeliefert, und zwar von schlecht bezahlten Paketboten. In dieser gesellschaftlichen Schicht, also tief im Prekariat, ist denn auch die Geschichte der Titelfigur 'Maria' angesiedelt.“ (Stefan Grund: 'Maria' durch ein Dornwald ging/ Welt (online)/ 21.01.2019)

[…]

„Das ist Marias Welt: der seelenlose, mörderische Turbo-Kapitalismus der Gegenwart. Alles ist Ware und jederzeit zu haben – nur menschliche Nähe nicht mehr.“ (Michael Laages: Miniaturen eines trüben Alltags/ Die deutsche Bühne (online)/ 20.01.2019)

Das Handlungsgeschehen macht deutlich, wie sich Freiheit mit sozialer Unsicherheit und Einsamkeit allzu schnell verbindet und insofern hohe Anforderungen gerade an denjenigen stellt, der durch ungünstige Voraussetzungen ökonomischer und sozialer wie häufig in der Folge auch psychischer Art benachteiligt, gleichwohl das Leben zu
bewältigen angehalten ist. Insofern sollte – wie oben mit anderen Worten bereits
erwähnt, und darüber wird es einen allgemeinen Konsens geben - Marias Suche nicht nur als individuelles Schicksal gedeutet werden, sondern als eine Form der Existenz von verallgemeinerungsfähigem Charakter mit Bezug auf all diejenigen, die aufgrund mangelnder sozialökonomischer Stabilität zu den Leidensgenossen gehören, um es ein wenig umgangssprachlich auszudrücken, zu einer gesellschaftlichen Schicht, die keinesfalls immer und überall hinreichend im Fokus politischer Aufmerksamkeit steht, um es vorsichtig zu sagen. Die „Suche nach etwas Unbestimmbarem“ (Thalia Theater/ Webseite/ Maria) ließe sich deuten als Suche nach sozialem Halt, nach Sicherheit, letztlich vermutlich nach dem im Alltagsverständnis viel beschworenen sogenannten Glück. Dafür ist eine Eigenleistung in die Waagschale zu werfen, ein eigener Posten sozusagen, der häufig schwer wiegt und von manchem kaum zu erbringen ist, weil Voraussetzungen bezüglich materieller Grundlagen und Bildung nicht in dem Maße vorhanden sind, wie sie im Sinne von Existenzerleichterung und Wegweisung für ein würdiges Leben notwendig und wünschenswert wären.
[…]
Mancher Aspekt, der bei genauerem Hinschauen oder Zuhören, vielleicht auch nur mit etwas mehr Phantasie in Zielrichtung auf Relevantes, gar Existentielles zu verstehen oder zu deuten wäre, steht neben Kontingentem, Trivialem und Banalem. Heterogenes und Disparates prägen das Bild der Zeitverhältnisse, von einem Kaleidoskop der zeitgenössischen Realität – wohl gemerkt in einem nicht verharmlosenden Sinne - ließe sich hier sprechen. Dazu noch einmal ein etwas längerer Abschnitt aus dem Bereich der Theaterkritik:

„Ein Lastwagen hat übrigens Marias Mutter totgefahren; dieser Baustein in der Stephens-Fabel mag die Initialzündung für das starke Bild in Sebastian Nüblings Inszenierung gegeben haben. Und Brummi wird zur Wunderkiste; weil er ununterbrochen rotiert auf der Drehbühne, können auf der jeweils publikumsabgewandten Seite hinter den Planen des Gefährts gebrauchte Requisiten weggeräumt und neue hinzugefügt werden. Auf der Laderampe wie im Führerhäuschen gibt’s zudem auch Raum für Intimes. So erhält das Mosaik aus Szenen ein wirklich hohes Tempo, und Maria bleibt immer unterwegs – im Fitnesscenter, wo die Hochschwangere zunächst noch einen regulären Billigst-Job als Reinigungskraft hat, oder im Supermarkt am anderen Ende der Stadt, wo Papa an einer von acht Kassen arbeitet und sein vorgesetzter Sklaventreiber die Sekunden von Papas Rauchpause wie im Countdown runterzählt. Den verschwundenen eigenen Bruder sucht Maria auch, und sie findet ihn später, als das Kind schon da ist – das Wiedersehen bringt aber auch keine echte Beruhigung ins haltlose Leben. Einem jungen Seemann, der dem späteren Bruder sehr ähnlich sieht, würde das Mädchen vielleicht ganz gerne folgen; aber auch das hat keine Zukunft. Und Oma stirbt am Schluss – am Tag darauf wird Maria 19.“ (Michael Laages: Miniaturen eines trüben Alltags/ Die deutsche Bühne (online)/ 20.01.2019)

[…]

Berufe im sogenannten prekären Bereich, die Kommerzialisierung der - zugespitzt ausgedrückt - „Lebenstotalität“, die Deklassierung des Menschen, vor allem seine Reduzierung auf Funktionsfähigkeit, die Notwendigkeit von Gelderwerb gerade unter den Konditionen schwieriger ökonomischer wie sozialer Verhältnisse, auch unter den Bedingungen schwerer Arbeitsumstände, all dies steht im weitesten Sinne für den Lebenskampf der Benachteiligten, der Unterprivilegierten, d.h. derjenigen, deren Lebenschancen im Hinblick auf materiellen Wohlstand eingeschränkt sind, und dies nicht nur individuell verantwortet, sondern zumeist systembedingt. Die Vermarktung macht selbst vor Zuwendung und Lebensbeistand, einer Verhaltensform, die im Alltagsdeutsch landläufig mit der Formulierung „jemandem Gesellschaft leisten“ bezeichnet wird, nicht halt. Die entsprechende Textstelle auf der Webseite des Stückes sei hier noch einmal dargeboten:

„Sie verkauft Nähe im Internet, dezidiert ‚No Sex‘. Von zuhause aus, mit der Webcam, unterhält sie sich mit einsamen Menschen in der Ferne, zahlbar pro Minute.“ (Thalia Theater/ Webseite/ Maria)

[…]

Und was bleibt von dem hier besprochenen Bühnenwerk?

Das Monologisieren der Hauptperson am Schluss dreht sich ein wenig im Kreis um die Gesamtproblematik des Schauspiels: Hier werden vermeidbare Längen sichtbar. Auch die Zwiegespräche im Verlauf des Stückes erfahren kritische Anmerkungen im Feuilleton. So stoßen sie in einer Rezension bei „nachtkritik.de“ auf Skepsis:

„Es mag der Realität hübsch abgelauscht sein, aber die zumeist nur von zwei Personen geführten Dialoge des Stücks sind eher langatmig banal denn erhellend pointiert. Teilweise unangenehm klischeehaft. Werden auch nicht zu brodelnd(en) Szenen verdichtet, sondern zerfließen. Vitalitätsfunken schlagen nur Maries unverstellt leidenschaftliche Suche nach Haltepunkten – und Oma (Barbara Nüsse).“ (Jens Fischer: Unter Marginalisierten/ nachtkritik.de/ 19.01.2019)

[…]

Das Schauspiel zeigt in der Perspektive eine gewisse Ambivalenz. Leben und Tod stehen ziemlich unvermittelt nebeneinander:

„Und als die Großmutter stirbt, bekommt Ria einen paradoxen Lachanfall, der so schnell nicht zu stoppen ist.“ (Thalia Theater/ Maria/ Programmheft S. 13)

In der Bezugnahme auf die „letzten Dinge“, wie es auf der Webseite des Stückes heißt, verharrt das vorliegende Bühnenwerk offensichtlich im Unspezifischen und Allgemeinen. Ob damit eine gewisse Ablenkung von den lebensrelevanten Fragen und Aspekten zur Bewältigung der Herausforderungen im Hier und Jetzt verbunden ist, wäre durchaus denkbar. Die Dehnung des Geschehens vor allem am Schluss, ohne dass sie letztlich dem Zuschauer durch Neues oder Bemerkenswertes, durch gedanklich Anregendes, gar Bewegendes eine relative Horizonterweiterung in Aussicht stellt, erweist sich als Schwäche. Auch in einer der hier berücksichtigten Theaterkritiken wird dem Stück eine gewisse Perspektivlosigkeit indirekt zugesprochen:

„Es (das Stück, d. Verf.) hat ja außer Marias ewiger Suche ohnehin keinen starken dramatischen Kern und bleibt an der trüben Oberfläche der Welt, wie sie ist.“ (Michael Laages: Miniaturen eines trüben Alltags/ Die deutsche Bühne (online)/ 20.01.2019)

Recht simpel dürfte sich das eigentliche vom Rezipienten zu erschließende Fazit ausnehmen: Der Zuschauer muss eine Perspektive selbst konstituieren, dafür mag das Theaterstück manche Anhaltspunkte liefern. Einmal abgesehen von impliziter Sozialkritik zeigt es unter dem Akzent von Analyse und Interpretation relative Offenheit, und so obwaltet letztlich, was die Sinnstrukturen des Bühnenwerkes anbelangt, die oben angesprochene, sich auf Leben und Tod beziehende Ambivalenz, die sinngemäß auch dem Text zur Erläuterung des Stückes im Programmheft zu entnehmen ist:

„Dass Ria die Hölderlin-Zeile ‚Man kann auch in die Höhe fallen‘ aus eigener Lektüre-Erfahrung kennt, ist eher unwahrscheinlich. Zu Beginn des Stücks erzählt sie dem Arzt, der sie entbinden soll, von einem Traum: ‚I feel like I’m going to fall upwards. Step of the edge of a tall building and fall upwards into the sky and keep falling into the universe just keep going forever.‘ Wenn so ‚Sterben‘ ginge, wäre es sicher nicht die schlechteste Art. Und als Bild für ‚Leben‘ taugt es auch: KEEP GOING!“ (Thalia Theater/ Maria/ Programmheft S. 13)

Die Leistung der Schauspieler wird im Feuilleton zu Recht mit Lob bedacht:

„Barbara Nüsse, die Thalia-Doyenne, ist ein echtes Ereignis neben der unbändigen Lisa Hagmeister in der Titelpartie sowie Thomas Niehaus, Tim Porath, Sylvana Seddig und Jirka Zett in ungezählten weiteren Rollen.“ (Michael Laages: Miniaturen eines trüben Alltags/ Die deutsche Bühne (online)/ 20.01.2019)

Der vollständige Kommentar zum vorliegenden Theaterstück findet sich hier:

http://www.michaelpleister.de/resources/Maria+Thalia+online+und+Druck.pdf

Norderstedt, im Februar 2019
Leserkritik: Bruno Ganz-Retrospektive, Schaubühne
Zum Tod von Bruno Ganz würdigt die Schaubühne ihr langjähriges Ensemble-Mitglied mit einer Veranstaltungsreihe. Er war eine der tragenden Säulen der Ära Peter Stein, in der sich die Schaubühne, die damals noch am Halleschen Ufer in Kreuzberg residierte, zum angesagtesten Theater der 1970er und frühen 1980er Jahre entwickelte.

Eine kleine Filmreihe aus ARD/ZDF-Theatertreffen-Mitschnitten bekannter Inszenierungen im kleinen Studio der Schaubühne bietet den Nachgeborenen die Chance, sich ein eigenes Bild von den damaligen Inszenierungen zu machen, die wir nur aus Theater-Geschichtsbüchern und schwärmenden Erzählungen kennen. Leider nutzten nur wenige Jüngere diese Gelegenheit, die Generation 60 plus blieb weitgehend unter sich und nahm auf dem Weg in die nicht barrierefreie Spielstätte manche Strapaze auf sich.

„Die Bakchen“ von Klaus Michael Grüber waren ein besonderes Erlebnis. Auch in der 45 Jahre alten Aufnahme, die zwangsläufig weit vom heutigen technischen Standard entfernt ist, lässt sich erahnen, was für ein aufregendes, radikales, größenwahnsinniges Unterfangen dieses „Antiken-Projekt“ gewesen ist, das Stein und Grüber in einem Pavillon der Messehallen von Berlin (West) stemmten. Die Kostüme, das Bühnenbild und vor allem das Spiel mit dem Licht kommen in der mitgeschnittenen Konserve aus dem Archiv nicht 100% zur Geltung, aber dass dieser Abend „bemerkenswert“ ist, wie die Definition einer Einladung zum Theatertreffen lautet, liegt auf der Hand. Viel Prominenz bis in Nebenrollen von Edith Clever über Otto Sander bis Angela Winkler trägt diesen mehr als dreistündigen „Bakchen“-Abend.

Die Verse werden passagenweise auf Altgriechisch deklamiert, weihevoll steht der Text im Zentrum des Abends. Regie-Team und Ensemble nehmen sich alle Zeit der Welt und zwingen das Publikum, sich auf das entschleunigte Tempo, fast wie in Zeitlupe, einzulassen. Viel Prominenz bis in Nebenrollen von Edith Clever über Otto Sander bis Angela Winkler trägt diesen mehr als dreistündigen „Bakchen“-Abend.Bruno Ganz, damals erst 32 Jahre jung und bereits ein Bühnenstar, beeindruckt mit seiner Präsenz als Pentheus.

Zu dem Zeitpunkt hatte er schon eine beachtliche Karriere hinter sich: Als „Torquato Tasso“ wurde er Ende der 1960er Jahre in Bremen bekannt. Peter Stein holte ihn nach Berlin, wo er mit „Prinz von Homburg“ und „Peer Gynt“ große Erfolge feierte. Diese Inszenierungen stehen am 9. und 10. März zum Abschluss der Reihe auf dem Programm, davor präsentiert die Schaubühne am 6. März gemeinsam mit der Regina Ziegler Filmproduktion im Kino Filmkunst 66 die „Sommergäste“-Verfilmung.

Als zweite Aufzeichnung des vergangenen Wochenendes lief am Sonntag Peter Steins „Der Park“ (Premiere im November 1984, eingeladen zum Theatertreffen 1985): Botho Strauß war der Autor der sehr im Zeitgeist der 1980er Jahre verhafteten und heute fast vergessenen Überschreibung von Shakespeares Sommernachtstraum. Auch hier ballen sich große Namen: Bruno Ganz spielt an der Seite von Jutta Lampe, Corinna Kirchhoff, Udo Samel, Peter Simonischek, als Gast Walter Schmidinger.

Dieser Aufführung ist anzumerken, dass sie schon aus der Abenddämmerung der Ära Stein stammt. Vieles wirkt nicht mehr so frisch wie bei „Die Bakchen“, sondern manieriert. Ganz hatte das Ensemble bereits 1976 verlassen, konzentrierte sich vor allem auf den Film, kehrte aber regelmäßig als Gast ans Haus zurück. In „Der Park“ konnte aber auch Bruno Ganz nicht komplett überzeugen. Als Eindruck bleibt: Hier spielt Bruno Ganz, längst ein Großschauspieler und Superstar seiner Zunft, Bruno Ganz, wie er den Oberon mimt. Auch der Strauß-Text wirkt 35 Jahre nach seinem Erscheinen befremdlich: Exzessiv verwendet eine Rassistin das „N“-Wort, die Dialoge plätschern ansonsten gemächlich und banal dahin.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/02/27/bruno-ganz-in-die-bakchen-und-der-park-retrospektive-der-schaubuhne/
Leserkritik: Lampenfieber, SH-Landestheater Rendsburg
Der Serienevent KANAL BANAL ein Trash-Theaterabend im Roten Foyer des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Rendsburg ging am 28. Februar für 30 Zuschauer (m/w/d) in eine neue Runde zum Thema LAMPENFIEBER! Lampenfieber eine Anspannung, Nervosität und/oder Stress vor einem öffentlichen Auftritt, wie beispielsweise eine Prüfung, ein Vorstellungsgespräch, eine Rede oder einem Bühnenauftritt. Lorenz Baumgarten stellte sich dem Thema „LAMPENFIEBER!“ natürlich mit Lampenfieber in einer 60minütigen One-Man-Show. Der Abend beginnt, der Schauspieler betritt die Bühne und schweigt. Unsichere Blicke machen die Runde und dann verlässt er fluchtartig die Bühne – LAMPENFIEBER!? Zurück kehrt er mit einer Gitarre und beginnt mit dem Song „I Wanna Be Your Dog“ der amerikanischen Rockband The Stooges aus dem Jahr 1969. Der Liedtext ruft Gefühle verdeckter Lust und Selbstverachtung hervor. Damit ist das Spannungsfeld zwischen Lust und Angst am Spiel abgesteckt. Nun kommt eine Textrolle ins Spiel. Sie wird entrollt und ist meterlang gefüllt mit Ängsten eines Schauspielers. Angst und bange kann einem werden vor dieser Fülle an Lampenfieber. Lorenz Baumgarten nimmt seine Zuschauer*innen mit auf eine Höllenfahrt durch die Alpträume und Ängste eines Schauspielers vor dem Versagen auf der Bühne. Dies beginnt mit der Berufswahl und endet mit der Angst vor der Altersversorgung. Doch schnell wird deutlich, dass all die Ängste etwas Menschliches allzu Menschliches haben und man im Grunde über sie schmunzeln und lachen kann, wenn man nicht in der momentanen Angst gefangen ist. Immer wieder kommt es zu lustigen Anekdoten, die das Schauspielerleben spannend machen und zeigen das in jedem Scheitern eine Chance steckt. Kurzweilig ist dieser Abend voller Ängste und man beginnt sich ein wenig nach dem Lampenfieber zu sehnen, da die Überwindung dieser Ängste letztendlich Lebensfreude ist, wenn man diese Hürde Lampenfieber überwunden hat. Lampenfieber ein Garant des Erfolges auf der Bühne? Ja - Lampenfieber führt zur richtigen Spannung und Konzentration. Richtig dosiert, wirkt es wie Hirndoping. Würde es fehlen, wäre vielleicht mancher Schauspieler gar nicht in der Lage, seinen Part zu meistern und all sein Können zu präsentieren. 60 Minuten Ängste eines Schauspielers vor der Bühne wirken wie ein Elixier für die eigenen Ängste und ihre Bewältigung. Nach 60 Minuten Applaus – Erleichterung beim Schauspieler, der Abend ist gelaufen und sogar eine Zugabe ist fällig. Nun bleibt nur noch die Angst vor der Kritik. Was solls! Soll der Kritiker doch selbst auf der Bühne stehen und diesen Abend wuppen. Schließen wir mit Puck: „… Da ich Puck und ehrlich bin, nehmen wir euren Dank jetzt hin, wenn wir bösen Schlangenzischen damit glücklich könn' entwischen. Sonst will Puck ein Lügner sein! Nun gut Nacht! - Doch haltet ein: Klatscht erst Beifall unserm Stück! Dann bringt Puck euch nichts als Glück“.
Leserkritik: "Ich ist ein anderer..."/Schaubühne Berlin
"Ich ist ein anderer dieses wir bin nicht eine Pfeife (Metaware)", Performance von Mark Waschke, Schaubühne/Globe

Hinter diesem monströs langen, nach Pollesch klingenden Titel verbirgt sich ein Projekt von Schaubühnen- und Tatort-Star Mark Waschke, das als „Lecture Performance“ firmiert. Carolin Emcke hat ihn mit ihrer feministischen Lesung „Ja heißt ja…“ inspiriert, dass er dieses Format auch mal ausprobieren möchte, erzählt Waschke, als er mit dem Schrubben der Globe-Bühne fertig ist.

Eine theoriegesättigte, mit allen Diskurswassern gewaschene Lecture, wie sie Emcke bot, hat Waschke allerdings nicht im Sinn. Stattdessen entwickeln sich die 90 Minuten zu einer charmanten Plauderei, die vom Hölzchen aufs Stöckchen springt. Typisch für Waschke ist, dass er ganz ungeschützt über sein Privatleben, seine erotischen Phantasien und auch über seine Trennung spricht. Im Stil des Gorki Theaters einige Kilometer östlich bleibt auch bei ihm offen, wie viel davon wahr ist und was einfach nur gut erfunden oder einer Laune des Augenblicks entsprungen ist. Ebenfalls typisch für Waschke ist, dass er das Publikum anspricht und mit ihm flirtet: von den Zuschauerinnen in der ersten Reihe über langjährige Weggefährten bis zur taz-Kritikerin und Frau Schitthelm, der Gattin des langjährigen Schaubühnen-Direktors, wird hier fast jeder*r mal angesprochen.

Kleine Musik- und Gesangseinlagen (begleitet von Oliver Urbanski) lockern den launigen Abend auf. Mit Vorliebe arbeitet sich Waschke allerdings an seinem Schauspielerkollegen Lars Eidinger ab. Mehrfach teilt er Seitenhiebe gegen Eidinger aus, der zeitgleich einige Meter weiter bei seiner „Hamlet“-Show auf der Bühne steht. Mal ging es um seine Angewohnheit, flüchtenden Zuschauer*innen hinterherzurufen, mal um sein Selfie mit der Bundeskanzlerin, die vor kurzem bei der „Richard III.“-Inszenierung zu Gast war. Für Insider*innen unterhaltsam wird es auch, wenn er über das Studium an der HfS Ernst Busch in einem Jahrgang voller zukünftiger Stars oder über die Anfangszeit der Ära Ostermeier spricht, als zur Jahrtausendwende ein Clique Dreißigjähriger das Theater von Peter Stein und Andrea Breth entstaubte.

Die Performance „Ich ist ein anderer…“ ist dank des sympathischen Plaudertons von Waschke kurzweilig, aber streckenweise doch etwas banal. Die 90 Minuten ziehen sich in die Länge, straffe 45-60 Minuten wären eine bessere Lösung gewesen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/03/ich-ist-ein-anderer-mark-waschke-schaubuhne-kritik/
Leserkritik: Allee der Kosmonauten, Berlin
"Allee der Kosmonauten", Sasha Waltz & Guests, Jubiläums-Gastspiel an der Volksbühne

Kurz vor der Uraufführung von „rauschen“ gab es an diesem Wochenende die seltene Gelegenheit, ein Frühwerk der Choreographin Sasha Waltz zu erleben. „Allee der Kosmonauten“ feierte an diesem Wochenende die 150. Jubiläums-Aufführung bei einem Gastspiel an der Volksbühne.

Im September 1996 hatte diese Choreographie ihre Premiere: Berlin-Mitte war damals noch Großbaustelle mit unzähligen Freiräumen. Einen davon nutzte eine Gruppe um die damals 33jährige Sasha Waltz: sie gründeten im ehemaligen Handwerksvereinshaus die Sophiensaele, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer festen Größe der freien Szene entwickelten. „Allee der Kosmonauten“ war die Eröffnungspremiere der neuen Spielstätte und bescherte Waltz prompt eine Einladung zum Theatertreffen 1997.

Dass dieses mit bescheidenem Etat entwickelte Frühwerk weit von der Opulenz der jüngsten Arbeiten der mittlerweile international gefragten Star-Choreographin entfernt ist, ist selbstverständlich. Heute arbeitet Waltz bei „Exodos“ oder „Kreatur“ mit gefragten Modedesignern, großem Ensemble aus bekannten Namen und mit raffinierten Sound- und Lichteffekten. Aber auch mit einem abgewohnten Sofa, einem Akkordeon und sechs Tänzer*innen konnte Waltz damals eine überzeugende Arbeit entwickeln.

An der Inszenierung „Allee der Kosmonauten“ – benannt nach einer großen Verbindungsstraße zwischen Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf – fällt die Verspieltheit auf. Fast wie im Musikkabarett mixt Waltz verschiedene Stilrichtungen von berühmter Filmmusik über Klassik bis zum Schlager, der in diesem Drei-Generationen-Plattenbau-Haushalt besonders gerne gehört wird. Der feine Humor, der genaue Blick auf Alltagssituationen und das präzise Timing der Pointen erinnern an Christoph Marthaler, der in jenem Jahr mit zwei Inszenierungen zum Theatertreffen eingeladen war und stilprägend wirkte.

In Erinnerung bleibt vor allem, wie schlafwandlerisch-geschickt die Tänzer*innen dem Holzbrett ausweichen, das ein Kollege gedankenlos mit sich herumschleppt. Aus der Ur-Besetzung sind nur noch Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola und Takako Suzuki dabei. Er und seine Mitspieler*innen beherrschen die ungelenken, staksigen Bewegungen perfekt: Oft wirken sie wie Zombies, eingefroren, roboterhaft und minimalistisch, bis sich die aufgestaute Energie der Frustrierten, die auf engem Raum aufeinanderhocken, wieder Bahn bricht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/03/allee-der-kosmonauten-sasha-waltz-kritik/
Leserkritik: Keine Lieder, SH-Landestheater
Am Schleswig-Holsteinischen Landestheater wurde das Jugendstück (FSK: ab 14 Jahren) von Christina Kettering „Keine Lieder“, das 2018 den niederländisch-deutschen Kinder- und Jugendtheaterpreis „Kaas & Kappes“ erhalten hatte, uraufgeführt. Ihr Stück handelt von zerbrechlichen Freundschaften, von erster Liebe und erotischer Faszination, vom Verlust der Unschuld und der Angst vor dem Unbekannten. Linda, Marc und Ella verbringen ihre Wochenenden in einer leerstehenden Farbenfabrik. Fern von Eltern und Schule feiern sie ihre Freundschaft, die nie zu enden scheint. Sie leben in einem eigenen Kosmos (Freundschaftslabor), in den nichts eindringen kann. Bis Adrian auftaucht. Er drängt sich mit Gedichten und klugen Sprüchen in die Gruppe und bringt das Freundschaftsgefüge ins Wanken. Ella und Linda erliegen Adrians Charme und Marc wird gemobbt und ausgegrenzt. Oder ist er nur eifersüchtig, weil er nicht mehr im Mittelpunkt steht? Die Beziehungsgefüge verschieben sich und die Freunde werden vor die Frage gestellt, wie sie sich Mobbing und Gewalt gegenüber verhalten – als Opfer, Täter und Zuschauer. Regisseur André Becker und Bühnenbildnerin Julia Scheeler zeigen auf der Bühne (Ein Podest markiert die Fabrikhalle und unterschiedliche, leere Metallrechtecke schaffen zusätzliche Spielebenen. Als Kontrast zum tristen Bühnenbild tragen die Akteure (w/m) kräftige Farben. Jede Farbe, die eine der drei Akteure (w/m) trägt, ist im Kostüm der jeweils anderen wiederzufinden und schafft somit eine Verbindung untereinander), dass die drei Freunde*innen einen in sich geschlossenen Kosmos bilden, eine Einheit, in die Adrian eindringt. Adrian taucht aber nie auf. Alles über Adrian erfährt der Zuschauer aus den Berichten der drei Akteure, die sich teilweise in ihrer Wahrnehmung widersprechen. Sie erzählen aus ihrer Perspektive, was gerade geschieht, oder schlüpfen in Adrians Rolle und zeigen, wie sie Adrian wahrnehmen. Das Stück beginnt mit einem Lied indem deutlich wird, dass sich alles verändern wird und es endet mit der Frage „Wollt ihr das?“, die verzweifelt ins Publikum geschrien wird. Der Anfang ist direkt, konfrontativ ans Publikum gerichtet. Danach beginnt es mit einem harmonischen Freundschaftsidyll – abhängen, chillen, labern und Witze reißen. Langsam beginnen die Akteure (w/m) von sich und dem Zerfall ihrer Freundschaft zu erzählen. Als Gegenpol zum Erzählen setzt Becker auf starke emotionale Aktionen, die unvermittelt, direkt auf das Publikum prallen und das Erzählte wirkungsstark bebildern. Die Szenen über Mobbing, Aggression, Gewalt, Verzweiflung und Bedrohung kommen ungeschönt, unvermittelt und direkt über die Rampe. Ihnen kann man sich nicht entziehen. Sie machen betroffen und Mobbing wird selbst beim Zuschauer körperlich erfahrbar. Dies ist der Besetzung mit Kimberly Krall als Ella, Lucie Gieseler als Linda und Tino Frers als Marc zu verdanken. Ein Glücksgriff, da sie sich trauen in den gespielten Szenen alle Gefühle direkt und konfrontativ über die Rampe zu bringen. Diese drei jungen Schauspieler*innen, die ihre Ausbildung 2018 in Hamburg beendet hatten, spielen sich die Seele aus dem Leib und erwecken die Story zu unmittelbarem Leben. Zwei starke Szenen, die ins Mark treffen seien noch erwähnen. Marc wird von Adrian und Ella gequält und misshandelt. Während dieser Erzählung schüttet Tino Frers Unmengen Wasser in sich hinein und man wird an Waterboarding, eine der grausamsten Foltermethoden erinnert. Danach sitzen die Drei an der Rampe und vergleichen das Mobbing mit dem Krieg und dem Töten von Menschen und stellen die Frage nach Schuldigen: Täter, Opfer - Zuschauer? Diese Erfahrungen haben Verletzungen erzeugt und die Freundschaft zerstört. Man geht auseinander, aber das Leben wird weitergehen und man wird sich wieder in Beziehungen einlassen. Ein starkes Stück klug inszeniert mit überzeugenden Akteuren, um Mobbing den Kampf mit Mitteln des Theaters anzusagen. Man wünscht diesem Stück eine weite Verbreitung in der Theaterlandschaft.
Leserkritik: Rauschen, Berlin
"rauschen", Sasha Waltz & Guests, Volksbühne

Wie Roboter zucken die Tänzer*innen in den ersten Szenen von „rauschen“, der mit Spannung erwarteten Choreographie von Sasha Waltz an der Volksbühne. Sie zeichnet das dystopische Bild von vereinzelten Individuen, die nicht mehr miteinander in Kontakt treten können. Die Satzfetzen klingen blechern wie bei Siri. Störgeräusche aus dem Großstadtlärm sorgen für ein beunruhigendes Hintergrundrauschen.

Das Eröffnungsbild kontrastiert Waltz mit der weihevoll-archaischen Stimmung ihres Schlussbildes: eine Gemeinschaft halbnackter Tänzer*innen zelebriert den Weg zurück zur Natur und ein Leben in Harmonie.

Zwischen diesen beiden Polen entwickelte Waltz eine Choreographie, die zwar mit tollen Kostümen (Bernd Skodzig) und raffinierten Lichteffekten (David Finn) aufwartet, ganz so, wie wir es von Sasha Waltz gewohnt sind. Dennoch wird ihr neuer Abend kein so rauschhaftes Glückserlebnis wie ihre letzte Arbeit „Exodos“ im vergangenen Sommer.

Ihre Digitalisierungs-Dystopie bleibt ähnlich wie der Versuch von Kay Voges, die „Parallelwelt“ auszuloten, zu sehr papierne Kopfgeburt. Immer wieder gelingen Waltz auch an diesem Abend eindrucksvolle Bilder, aber insgesamt wirken die Szenen zu beliebig.


Untermalt von „Beatles“-Songs zieht sich vor allem die erste Hälfte der zwei Stunden zu sehr in die Länge, bevor sich Waltz im Schlussteil auf ihre Stärken besinnt: die Szenen wirken nun stringenter und ausgefeilter, der Abend wird nicht nur optimistischer, sondern auch witziger.

Leider endet „rauschen“ etwas unvermittelt mit der plakativen Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung von Dystopie und Sehnsucht nach einem archaischen Idyll. Aus der Reibung zwischen diesen beiden Polen hätte noch ein interessanterer, weniger plakativer Spannungsbogen entstehen können.

https://daskulturblog.com/2019/03/12/rauschen-sasha-waltz-volksbuhne-kritik/
Leserkritik: Indianer, Rendsburg
(SH-Landestheater; dt. EA)
Im Rahmen des NORD Theater- und Literaturfestivals 2019 hatte Tore Renberg´s (Norwegen) Schauspiel „Indianer“ in der Übersetzung von Elke Ranzinger seine deutschsprachige Erstaufführung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg. Die Uraufführung hatte am 6. Mai 2017 im Rogaland Teater in Stavanger stattgefunden. Das Stück „Indianer“ spielt im Heute und erzählt von einer verdrängten Familientragödie. Die Ausstattung von Lucia Becker setzt erste Akzente. An der Bühnendecke hängen Kinderstühle mit der Sitzfläche zum Boden. Die Bühnendecke eine auf dem Kopf stehende Kinderwelt. Sonst ist die Bühne leer. Zu Beginn des Stückes nimmt Henriette (Katrin Schlomm) einzelne Stühle von der Decke und hängt sie aneinander, so dass eine Verbindung zum Boden der Bühne entsteht. Es wird eine Verbindung zwischen zwei Welten geschaffen, der realen Welt und Henriettes Realität. Die Dramaturgie des Stückes ist die schrittweise Aufklärung des Geheimnisses um die Familientragödie. Dieser Stückkonstruktion folgt Kathrin Mayr konsequent und setzt in ihrer Regie auf eine empfindsame, mitfühlende Zeichnung der einzelnen Charaktere. Das Stück beginnt mit den Geburtstagsvorbereitungen für Henriettes Sohn Daniel. Er tritt im ersten Teil des Stückes noch real auf, doch im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass er nur in Henriettes Welt existiert. Katrin Schlomm als Henriette gibt eine Frau, die den Tod ihres Sohnes nicht ertragen kann und so seit 3 Jahren in einer eigenen Welt mit Daniel lebt. Vater Carl Henrik Brede genannt „CH“ (René Rollin) ist ein erfolgreicher, realistischer Geschäftsmann, der diese „Schein“-Welt seiner Frau endgültig beenden möchte. Johannes „Johs“ Brede (Reiner Schleberger) ist CH´s älterer Bruder und geistig etwas zurückgeblieben aber eine herzensgute Seele. Seine Freundin Irene Nilssen (Manja Haueis) ist eine lebendige, warmherzige etwas naive junge Frau, die durch ihre unbekümmerte kindliche Direktheit immer wieder verblüfft und überrascht. Die Haushälterin Mabel Salvesen (Heidi Züger) ist die gute Seele, die durch konsequente Organisation des Haushalts ein geregeltes Leben ermöglicht. Katrin Schlomm zeichnet überzeugend eine Mutter, die den Tod ihres Sohnes nicht verarbeitet hat und mit ihm in einer labilen „Schein“-Welt lebt. Sehr empfindsam wird Henriette in ihrem Leid gezeichnet. Johs, eine schlichte, herzensgute Seele ist emotional eine starke Persönlichkeit, der es wagt die Henriettes „Schein“-Welt zu benennen. Reiner Schleberger zeichnet Johs sehr feinfühlig in seiner geistigen Behinderung und rührend stark im Versuch einen Neubeginn für Henriette und CH zu arrangieren. Irene von Manja Haueis dargestellt, ist ein Vulkan an Lebensfreude, Unbekümmertheit und verblüffender Direktheit, die einfach überwältigt. CH (René Rollin) der Realist erscheint zunächst kühl und distanziert, doch im Laufe des Stückes wird deutlich, wie auch er unter diesem Leben leidet und seine Frau für sich zurückgewinnen möchte. Indianer eine Metapher? Eine Weisheit der Dakota-Indianer besagt: „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab!” Das tote Pferd eine Metapher dafür, dem Unausweichlichen doch irgendwie ausweichen zu wollen? Viel zu oft bleibt man im Sattel, obwohl das Pferd uns keinen Meter weiterträgt. Dreimal erhält der Namensgeber des Stückes herausragende Bedeutung. Henriette sagt zu Daniel mein Indianer und er erwidert: “Ich bin kein Indianer“. Henriette zielt mit gespanntem Bogen auf Johs, der mit ausgebreiteten Armen vor ihr steht und sie fragt: “Spielen wir diesmal bis zum Ende?“. Zum Schluss erscheint Johs in der Rolle Daniels als Indianer und bitte seine Eltern ihn gehen zulassen, damit sie ihr Leben neu beginnen können. Doch im letzten Bild steht Henriette wieder an der Rampe und wendet sich sehnsuchtsvoll an Daniel. Kathrin Mayr setzt auf die sympathische Zeichnung der Schwächeren im Familienverbund und ihre emotionale Kraft und Weisheit des Herzens, dem Leben zumindest eine Chance geben zu wollen.
Leserkritik: Der Sturm, Kempten, sensationell
Die Intendantin und Regisseurin des Theater in Kempten (T:K) Silvia Armbruster ist ein Glücksfall für die Stadt und das Allgäu. Seit 3 1/2 Jahren fegt sie mit einem winzig kleinen Team und einem Mini-Ensemble über die drei Spielstätten dieses Theaters (die „Theaterwerkstatt“ hat sie als dritten Spielort selbst eröffnet) und wirbelt ordentlich Staub auf in der 70.000-Einwohner-Allgäu-Metropole. Armbruster hat zuvor jahrelang an mittleren und größeren Häusern in München, Wien, Stuttgart, Braunschweig, Mainz, Bremen, Ingolstadt, u.a. inszeniert und seit 1998 mit Gleichgesinnten das freie Theaterkollektiv „Theater Wahlverwandte“ ins Leben gerufen. Nun leitet sie das architektonisch sehr schöne, vor 12 Jahren renovierte 550-Plätze Theater der Stadt Kempten.

Vorige Woche hatte sie Premiere mit Shakespeares „Der Sturm“ in einer selbst erstellten Fassung für zwei Schauspieler (Hans Piesbergen und Sebastian Strehler) und eine Schauspielerin und Artistin (Corinne Steudler). Die Länge der Inszenierung : 75 Minuten. Auf den Kern des komplexen Stücks reduziert sind das die Themen Hass und Vergebung. Die Zuschauer sitzen auf einer Tribüne hinter dem Vorhang. Mit dem Sturm im Stück öffnet sich der Vorhang und der Zuschauerraum wird zur prachtvollen Kulisse. Prospero (Hans Piesbergen) ist ein schreibender Regisseur, das Theater wird zu seiner Insel und die Theatermittel sind seine magischen Kräfte, der rappende Antipode Caliban (Sebastian Strehler) und Ariel (als Tuchakrobatin in schwindelerregender Höhe agierend: Corinne Steudler) sind Teile seiner Phantasie / seines Theaters. Ein Hochkonzentrat aus Bildern, aus Witz und Ironie und mit sehr viel Nachdenklichkeit. Näher kann man die Besucher mit Stück und Aufführung nicht einbinden.

Nach der Premiere sagte ein völlig glücklicher Thetaerbesucher zu Armbruster : “Was machen Sie mit uns?“. Gibt es ein schöneres Kompliment für die Funktionalität eines Theaters?

Kurz gesagt: eine Sensation!
Leserkritik: Stories, Kassel, frenetischer Jubel
STORIES von Nina Raine / Deutschsprachige Erstaufführung am Staatstheater Kassel.

Caroline Dietrich ist ein Ereignis! Sie ist Anna, die Hauptfigur in Nina Raines neuem Stück STORIES in der schnellen und witzigen Inszenierung von Maik Priebe. Wie diese Anna auf der Suche nach einem geeigneten Samenspender in immer absurdere Situationen gerät, wie Caroline Dietrich alle diese Situationen meistert, wie schnell sie Tonfälle und Gesten den neuen Situationen angleicht, wie unaufwendig diese Schauspielerin den Abend dominiert, ist erstaunlich. Dabei kann sie sich auf Konstantin Marsch verlassen, der sechs Rollen stemmen muss und dabei von der geschmackvollen Ausstattung von Susanne Maier-Staufen profitiert. Und wenn dann Jürgen Wink als Dad seine Pointen knochentrocken in den Saal schickt, kennt das Gejohle und Gekicher keine Grenzen mehr. Etwas konstruiert dagegen aber wirkt, dass Nina Raine ans Ende auch noch eine Szene setzt, die zeigen soll, dass Leben und Sterben nah beieinanderliegen. Dass dieser Komödie mit dieser etwas profanen Erkenntnis aber noch ein großer berührender Moment gelingt, zeigt die Szene zwischen Anna und der sterbenden Natascha. Eva Maria Keller und Caroline Dietrich liefern ein Kabinettstück an intensivem Kammerspiel. So gelingt diese doch arg konstruierte Szene eben doch und gliedert sich unverzichtbar in diesen mit frenetischem Jubel aufgenommenen Premierenabend in Kassel.
Leserkritik: Moby Dick, Berlin
Nach Herman Melville: Moby Dick, Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Anita Vulesica)

(...)

Anita Vulesicas Moby Dick ist ein rhythmischer, energiereicher Ritt durch die Abgründe menschlichen, ja, männlichen Machtstrebens, der vom Kleinen ins Große führt und wieder zurück, den Sog, den reiz und die Unentrinnbarkeit totalitärer Systeme und Ideologien ebenso streift wie die philosophische Überhöhung des Menschen als Gottersatz und sehr konkrete patriarchale Unterdrückungsmuster. Die Jagd nach dem Wal ist dabei zugleich kaltes Machtstreben wie vorbewusster Instinktrausch. Vulesica und ihr Ensemble legen Fährten, die in unterschiedliche Richtungen führen und denen sich folgen lässt – oder auch nicht. Dabei verliert sich der Abend zuweilen in selbstverliebten und die Spannung deutlich verringernden satirischen Abschweifungen – die lange Live-Video-Passage ist so störend wie unnötig – scheint die Regisseurin mitunter Angst vor der Kraft des Chors zu haben, wodurch dieser – ambig zwischen individueller und zwangskollektivierter Stimme pendelnd – immer mehr in den Hintergrund tritt und der Abend mit zunehmender Dauer stärker in statisches Erzähltheater abgleitet. Und doch ist dieser Ritt auf dem riesigen schiefen Marmorkreuz (Bühne: Anna Brandstätter) ein assoziationsreicher, in seinen besseren Momenten hoch physischer Ausflug in existenzieller Gefilde, in denen sich die Frage nach der Kontrollierbarkeit menschlicher Gewalt und menschlich-männlicher Machtausübung zu stellen vermag, wo „Was ist der Wal?“ und „Was ist der Mensch?“ zusammenfallen und es vielleicht keine Antwort gibt. Und das wäre womöglich das Beängstigendste.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/20/was-ist-der-wal/
Leserkritik: Abschaffung des Dunkels, Berlin
Junges DT – Nach dem Roman von Peter Høeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Nora Schlocker)

(...)

Eigentlich müsste hier jede*r der 15 Spieler*innen einzeln gewürdigt werden, wie sie die Brüche und unüberschreitbaren Schwellen , die Zersplitterungen und momentane Versuche der Zusammenfügung durch die stille, flüchtige Kraft der Liebe in und zwischen sich spür- und sichtbar machen, ist atemberaubend. Neben dem bereits erwähnten Jona Gaensslen ist sicher auch Christian Grygoryev, einer der Peters, zu nennen, eine nuancierte Studie in subkutan aufkeimender Rebellion. Ebenso Amelie Paneru, die erste Katharina, kontrolliert, willensstark und sich zunehmend im Zweifel verlierend, oder Mustafa Eren Özdilberler, der ältere August, ein verloren gegen sich und die Welt Wütender, voller Energie, die sich in Verzweiflung entlädt. Und dann wären da noch Rio Reisener, noch ein Peter, mit hoher physischer Präsenz, ein nicht totzukriegender Hoffnungsverfolger, Leni van der Waydbrink, die eindrucksvoll den teuflischen Plan ins Positive umzudeuten sucht und die Zuschauer*innen beinahe überzeugt. Dass hier mehr männliche als weibliche Namen auftauchen, hat mit dem einzigen kleinen Vorwurf zu tun, den man dem Abend machen kann: dass er – zum Teil sicher der Erzählperspektive der Vorlage geschuldet – den Fokus sehr viel stärker auf die männlichen Protagonisten Peter und August lenkt, wodurch die Figur der Katharina vergleichsweise blass bleibt.

Am Ende dann immerhin ein Hoffnungsschimmer: Peter, nun wieder zusammengefügt, eins, de-normiert, Leo Domogalski in heutiger Kleidung, der sich seine Identität zurückerobert. Doch wirkt dieser Schluss flacher, blasser als das Vorangegangene, als traute er sich selbst nicht recht. Eine andere Zukunft ist aber zumindest denkbar, ausgestellt im Foyer, wo auf mehreren Bildschirmen Christoph Franken als erwachsener Peter mit dem eigenen Sohn auf ganz ungeordnete, unkontrollierte, freie Weise interagiert. Doch auch hier sind die Wände weiß, das alles verschlingende „Licht der Aufmerksamkeit“ nicht seiner überwachenden Zweitbedeutung beraubt, wartend auf seine Chance zuzuschlagen. Dem Jungen DT, das die Aufführungen erst ab 16 Jahren empfehlt, ist ein erstaunlich düsterer, ungeheuer vielschichtige und klaustrophobisch intensiver Abend gelungen, der die Unterdrückung des menschlichen Dunkels durch das normierende Licht bis in den Zuschauerraum spürbar macht, dessen luftleere Stille die Atemluft abschnürt, der Denkräume öffnet, die Schwarz und weiß verschwimmen lassen, der zur Reflexion aufruft über gute Absicht und fatale Wirkung, Hell und Dunkel, Gemeinschaft und Individuum. In den das helle dunkel wird und das Dunkle hell. Theater halt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/22/im-licht-der-aufmerksamkeit/
Leserkritik: Granma, Berlin
Leserkritik: "Granma Posaunen aus Havanna / Metales de Cuba", eine dokumentarische Zeitreise von Rimini Protokoll, Premiere der Koproduktion am Gorki Theater

Die Revolution frisst ihre Kinder“, lautet ein geflügeltes Wort aus Georg Büchners „Dantons Tod“. Bei weitem nicht so blutig wie unter der Guillotine der Französischen Revolution ging es heute bei der Premiere von „Granma – Posaunen aus Havanna“ zu. Aber auch hier fällt die Bilanz der Revolution ernüchternd aus. Die hochfliegenden Träume von Commandante Ché Guevara, dessen ikonisches Poster auch an diesem Abend im Gorki Theater nicht fehlen darf, und seinen Mitstreitern platzten schnell.

Davon erzählen die Dokumentartheater-Experten von „Rimini Protokoll“ mit gewohnt akribischer Recherche. Ihr Kniff ist, dass diesmal nicht die mittlerweile betagten, oft schon verstorbenen Zeitzeugen zu Wort kommen, sondern vier Thirtysomethings aus der Enkelgeneration.

Milagro Álvarez Leliebre, Daniel Cruces-Pérez, Christian Paneque Moreda und Diana Sainz Mena nehmen uns mit auf eine Zeitreise und berichten davon, wie ihre Großeltern die Aufbruchstimmung der Revolution und die spätere Erstarrung der Ein-Parteien-Diktatur bis hin zum rapiden ökonomischen Verfall nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und dem Embargo der USA erlebten.

Ausgerechnet nach Guantánamo, das damals noch ein unbekannter US-Militärstützpunkt auf Kuba war und nicht das Gefängnis für „feindliche Kombattanten“, die im Anti-Terrorkampf ohne fairen Prozess interniert wurden, floh Nidia, wie ihre Enkelin Milagro in einer der ersten Szenen des Abends berichtet. Die folgende Stunde schwelgt nostalgisch in den Erinnerungen an die Frühphase der Revolution, bevor sich in der zweiten Hälfte mehr und mehr Ernüchterung breit macht: Stellvertretend dafür steht beispielsweise das Schicksal von Daniels Großvater, ein ehemaliger Minister und Parlamentspräsident, der in Ungnade fiel, als Botschafter in Bulgarien auf das Abstellgleis geriet, bevor er schließlich als Müllmann zurück nach Kuba ging. Milagro, deren Großmutter als Sklavin auf Jamaika geboren wurde und nach Kuba floh, zieht das ernüchterte Fazit, dass sie auch heute noch wegen ihrer schwarzen Hautfarbe diskriminiert wird.

Der Abend endet mit dem ernüchterten Blick der vier Protagonist*innen auf die Großleinwand, auf der Bilder von der Rennstrecke flimmern, die schon zu Zeiten des Diktators Batista für die Formel 1 genutzt wurde. Autos brettern an einer unwirtlichen Trabantensiedlung vorbei. Der Traum von einem „neuen Menschen“ ist auf der planierten Straße krachend zerschellt, stattdessen winkte Hollywood erfolgreich mit dem Angebot, hier Szenen seines Popcorn-Kino-Blockbusters „Fast and Furious“ zu drehen. Die vier träumen zwar von einer besseren Zukunft und einem neuen Anlauf für eine gerechtere Welt. Ihre Ideen bleiben aber vage, die Hoffnung ist mehr Autosuggestion als faktenbasiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/21/granma-posaunen-aus-havanna-rimini-protokoll-kritik/
Leserkritik: Posaunen aus Kuba, Gorki Theater, Berlin
Rimini Protokoll (Stefan Kaegi): Granma. Posaunen aus Kuba, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Stefan Kaegi)

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Immer wieder spiegeln die Jungen die Alten, in nachgestellten Fotoposen, oder agieren mit den weit entfernten, tanzen oder singen mit den Abwesenden. So ergibt sich ein differenzierteres Bild, wird die Weltpolitik heruntergeholt auf die Ebene persönlicher, privater Leben. Die Träume, die geplatzten, wie die überlebenden, die wachsenden Zweifel, die nicht ausschaltbare Wirklichkeit – sie wachsen in privaten Miniaturen zu universeller Größe heran. Dabei emanzipieren sich die Spieler*innen: der alles in Frage stellende Christian, der pragmatische Skeptiker Daniel (wunderbar, als er erzählt wie er die Familie der eigentlich verachteten, in Miami lebenden Mutter, nutzt, um Amazon-Lieferungen zu empfangen), die distanziert scharfsichtige Diana, die ob des nie gelösten Rassismus-Problems wütende und doch an die Revolution glaubende, ja ihre Weiterführung befürwortende Milagro. Da fächert sich das eindimensionale – je nach Standpunkt romantisierende oder verdammende – westliche Kuba-Bild auf, gewinnt es Facetten, die sich auch mal widersprechen, scheint die neue Generation als eine im Kern hoffnungsvolle und doch heterogene auf, eine, die mehr fordert als Rituale einer sich feiernden musealen Revolution, eine, die in der Gegenwart ankommt.

Es ist diese persönliche, individuelle, spielerische Ebene, welche die stärksten Momente des Abends produziert, wenn sich die vier Spieler*innen hinein begeben in die Konkretheit eines widersprüchlichen Gesellschaftsexperiments, hinter die Fassade der Legendenbildung treten, die früheren Generationen und sich selbst befragen. Doch das Seminar-artige setting kommt ihnen immer wieder in die Quere. Meilensteine und historische Ereignisse müssen abgearbeitet, das große Bild ausgebreitet werden. Dazu gilt es, den Ton leicht zu halten und alibihafte Publikumsansprachen einzufügen – wir sind schließlich bei Rimini-Protokoll. Und so verfliegt die Intensität oft immer dann, wenn es in die Tiefe zu gehen droht, versagt das simplistisch lineare Erzählschema darin, dem Persönlichen Raum zu lassen, Fährten zu folgen, Brüchen auf den Grund zu gehen. Themen wie der auch in Kuba allgegenwärtige systemische Rassismus werden bestenfalls gestreift und verlieren sich in Skizzenhaftigkeit. Am Ende belässt es Kaegi bei einem besseren Dia-Vortrag, der immer wieder tiefer schürfende Detailblicke ermöglicht, sich insgesamt aber zu sehr zwischen dokumentarischer Strenge und unterhaltsamer Nummernrevue verliert. Ein Angebot weiter zu graben, nicht mehr, nicht weniger.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/23/die-stunde-der-mikrobrigade/
Leserkritik: Volksverräter!!, Bochum
Nach Henrik Ibsen: Volksverräter!!, Schauspielhaus Bochum / Volksbühne Berlin (Regie: Hermann Schmidt-Rahmer)

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Spätestens jetzt purzeln linksliberale Gewissheiten fröhlich durch- und ineinander, rutscht der Boden unter den krisensicheren Gewissheiten der Zuschauer*innen weg. Hier gibt es kein Gut und Böse und gibt es doch. Denn natürlich steht die Gefahr rechts. Was aber, wenn der Rechte auch Recht hat, wenn sich seine „Wahrheiten“ nicht als Lüge abtun lassen? Die Hilflosigkeit reflexhafter Diskreditierungen unbequemer Tatsachen lässt sich tagtäglich in sozialen und sonstigen Medien beobachten: Wenn der Mob auch Falten auf seiner Seite hat, zeigt sich die demokratische Mehrheit oft kraft-und hilflos, ergeht sich in Spitzfindigkeiten und moralischer Akrobatik, statt selbstbewusst einzugestehen, dass es auch unbequeme Teile der Wirklichkeit gibt und diese trotzdem, Hass, Hetze, Ausgrenzung und totalitäre Fantasien nicht rechtfertigen.

Stattdessen zieht man sich zurück in einen Kokon aus Leugnung und Selbstbeschuldigung. Bei Schmidt-Rahmer geschieht das in wahnwitzigen an „Neue Musik“ gemahnenden Opernarien und -rezitativen, totale Entfremdung, auch von der Wirklichkeit. Volksverräter!! begibt sich in Gefilde, die viele Theatermacher*innen in den letzten Jahren aufgesucht haben, aber er geht die entscheidenden Schritte weiter: Er spielt beide Narrative, das demokratische wie das rechtsextreme durch, treibt sie in Bereiche des Grotesken, in denen die Wirklichkeit mit erschreckender Brutalität aufscheint und in denen sich die Frage moralischer Relativierung akut stellt. wenn die „Eliten“ selbst Dreck am Stecken haben, sie ihre vermeintlichen Ideale so sehr verraten, haben die „Rechten“ nicht eben auch, nun ja, Recht? Steckt in all der Hetze, all dem Hass nicht auch ein bisschen verständliche Wut, legitime Empörung? Hermann Schmidt-Rahmers Ibsen-Neudeutung entschuldigt nicht, nein, sie bejaht diese Frage keineswegs, denn auch das wäre ja Teil des neurechten Narrativs.

Aber sie stellt sie, zeigt etwa in einer Hovstadt-Rede, wie leicht sich vermeintlich legitime Kritik in genozidale Vernichtungsnarrative überführen lässt, wie fragil demokratische Gewissheiten sind, wenn die „Elite“ sich eben nicht als moralisch einwandfrei erweist, wie einfach sich da ansetzen und das ganze Konstrukt einreißen lässt. Da ist es nur folgerichtig, dass am Ende Stockmann die Macht übernimmt. Trotzdem enttäuscht der Schluss mit seinen überzeichneten Trump-Anspielungen. Nein, will man da dem Regisseur zurufen: Das Problem ist nicht, dass die Populisten, sind sie an der Macht, ihre Versprechen nicht halten, sondern, dass sie sie halten, dass sie umsetzen, was sie zuvor androhten. Da macht Schmidt-Rahmer es sich – und uns – ein bisschen zu einfach, ganz anders als den vorangegangenen gut zweieinhalb Stunden. Vielleicht hat die Wirklichkeit, etwa in Trumps Amerika oder Salvinis Italien, die Inszenierung, die 2017 in Bochum Premiere feierte, schon überholt. Was sie über unsere Wirklichkeit zu sagen hat, bleibt aber hochaktuell und ebenso brisant. Und unfassbar unterhaltsam ist der spielfreudige, wahnwitzig theatrale und genrezerfetzende Abend ohnehin.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/25/noch-ein-wenig-braune-sose/
Leserkritik: Kanal Banal, Rendsburg
Kanal Banal #5 in der Spielzeit 2018/19 am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg geht in die fünfte Runde. Erneut ein Trash-Theaterabend für dreißig Theaterbesessene, die ohne Theaterluft nicht leben können. Diese kleine besessene Theatergemeinde trifft sich im „Roten Foyer“ bei geistigen Getränken, um die Theatergötter zu beschwören. Heute Abend wird der Schauspieldirektor den Schauspieler Reiner Schleberger interviewen und uns ein wenig am Leben Reiner Schlebergers teilhaben lassen. Erste Panne: der Schauspieldirektor muss seine Zwillinge hüten und wird nicht kommen, schickt aber einen Schauspieler als Ersatz. Jetzt gilt es die Wartezeit zu überbrücken. Reiner Schleberger zieht alte Theaterkritiken aus seiner Tasche und beginnt zu lesen. Oh Schreck es sind fürchterliche Verrisse und es entsteht der Eindruck, dass dem Publikum damals ein Schlafmittel statt einer packenden Inszenierung geboten wurde. Die Verrisse sind so grotesk, dass es die ersten Lacher gibt. Kritiker kochen ihr Süppchen eben auch nur mit Wasser. Dann platzt Robin Schneider (Jungschauspieler) in die Runde. Er wird das Interview anstatt des Schauspieldirektors führen. Jung, dynamisch geht er mit seinen Fragen auf seinen erfahrenen Kollegen los. Geburt – Kindheit – Schule – Schauspielschule. Reiner Schleberger pariert alle Fragen und gewährt Einblick in sein Schauspielerleben. Gebannt lauschen wir Theatersüchtigen, um nicht zu verpassen, was wir in unserem gutbürgerlichen Leben verpasst haben. Weiter geht es mit Arbeit in freien Theatergruppen, erstem Engagement an einem Haus, Theaterwechsel und die Zeit am Schleswig-Holsteinischen Landestheater. So mancher Einblick wird uns Theaterbesessenen gewährt und es gibt eine Menge Lacher in unserer Runde. Haben wir soviel Spannendes verpasst in unserem Leben? Doch dann geht es um Gagen – Geld – und der Abend wird hitzig. Robin Schneider redet sich in Rage und vergisst seine Rolle als Interviewer. Wieso verdienst Du mehr als ich? Das Rededuell wird immer hitziger bis Reiner Schleberger seinen jungen Kollegen vor die Tür bittet. Ja, da hat Robin wohl die Grenzen des guten Geschmacks überschritten. Sie kehren zurück und das Interview wird zunächst in moderatem Ton fortgesetzt. Doch dann, der Ton wird schärfer, der Abend scheint zu eskalieren. Das Publikum wird nervös und die Ersten überlegen den Abend zu verlassen. Dann platzt die Bombe und sie schütten sich ihre gefüllten Biergläser ins Gesicht. Entsetzen im Publikum. Werden sie jetzt handgreiflich? Sie gehen aufeinander zu und …..umarmen und verbeugen sich. Der Abend ist zu Ende und Reiner Schleberger hat wie ein Magier sein Publikum verzaubert mit Geschichten aus seinem Leben am Theater. Auch dieses Interview war Theater auf dem Theater. Dann durften wir unerfahrenen Zauberlehrlinge aus den Niederungen des Zuschauerraumes noch Fragen stellen. Wie lernt man Text? Welches waren die schlimmsten Pannen auf der Bühne? Und vieles mehr. Theatertrunken verließen wir das Rote Foyer nach gut zwei Stunden und die Droge Theater wirkte noch nach bis spät in die Nacht und wir träumten von unseren Theatergöttern Reiner und Robin. In vier Wochen können wir Süchtigen wieder träumen beim Kanal Banal #6.
Leserkritik: Verirrten sich im Wald/DT Berlin
"Verirrten sich Wald", Box des Deutschen Theaters Berlin, Regie: Robert Lehniger. Inszenierung des Jungen DT mit den CyberRäubern

„Was wäre, wenn…?“ ist die Leitfrage des Abends, der schnell bei Quantenphysik und Parallelwelt-Gedankenspielen landet, die Kay Voges schon zu Beginn der Spielzeit in seiner Inszenierung für Berliner Ensemble und Schauspiel Dortmund beschäftigten. Was wäre, wenn nicht die Hexe die Kinder mästen und braten möchte, sondern Hänsel und Gretel zu Kannibalen würden?

Unter der Regie von Robert Lehniger entwickelten die Schüler*innen eine von Fantasy-Motiven inspirierte Tour rund um das an Bert Neumanns Bühnenbildern erinnernde Holzhaus im Zentrum, das für allerlei Video-Projektionen genutzt wird. Der Clou der Inszenierung sind allerdings die Virtual und Augmented Reality Brillen, die quer durch die Publikumsreihen gegeben werden und die eindrucksvollsten Szenen bieten.

Hier zeigt sich leider die Crux des Abends: die beiden verschiedenen Theaterwelten sind in der kurzen Stunde noch zu wenig verzahnt. Zu sehr laufen das engagierte Spiel des DT-Nachwuchses, die von drei älteren Laien unterstützt werden, und die technischen Avantgarde-Experimente der CyberRäuber nebeneinander her. Der Abend „Verirrten sich im Wald“ kommt noch nicht über ein erstes Beschnuppern und Herantasten hinaus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/30/verirrten-sich-im-wald-deutsches-theater-kritik/
Leserkritiken: Verirrten sich... / DT Berlin
Junges DT – Nach Hänsel und Gretel der Gebrüder Grimm: Verirrten sich im Wald. Eine Stückentwicklung von Robert Lehniger mit Virtual und Augmented Reality der CyberRäuber, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Robert Lehniger)

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Es ist gerade die VR-Ebene, die Musterbildungen versucht, etwa wenn aus vereinzelten Lichtpunkten langsam ein Wald entsteht und dieser später wieder sich in geometrische Formen auflöst. Hier versucht die virtuelle der physischen Realität ein Koordinatensystem zu geben, das diese nicht zu erkennen vermag, weil die Nahdistanz nicht erlaubt, es zu sehen. Doch auch für den Zuschauer ist dieser distanzierte Blick nur ein Zufälliger: gewinnen kann ihn nur, wer die Brille zum richtigen Zeitpunkt aufsetzen kann. Anderenfalls bekommt er andere Fragmente von Geschichten zu sehen, die Raum und Zeit testen, dem Bühnengeschehen aber nichts hinzufügen. So bleibt die Spurensuche ein Puzzle, in dem die meisten Teile fehlen. Und die Frage bleibt, ob es Muster, die sich entdecken lassen, überhaupt gibt, ob nicht Zufall und Beliebigkeit Anfang, Mitte und Ende dieser oder unserer Geschichten bestimmen. Die Vielzahl der Möglichkeiten: Ist sie eine Chance weiterzudenken, Denken, Fühlen und menschliches Potenzial zu öffnen, oder führt sie direkt ins Trauma, in die Orientierungslosigkeit ins sich Verirren im realen, digitalen, nicht mehr zu durchdringenden Wald.

Verirren sich im Wald tut gut daran, den Versuch, diese Fragen zu beantworten, zu unterlassen. Vielleicht stellt er sie nicht einmal, sondern wirft sie nur Brotkrumen gleich den Spurensuchern hin, die sie womöglich übersehen. Bildstark ist der Abend, intensiv gespielt auch und in seiner Vielzahl von Geschichten- und Sinnangeboten überaus dicht. Und vermag es doch nicht recht, die unterschiedlichen realitätsebenen zusammenzufügen zu einem gemeinsamen Erleben. So bleiben VR und AR optionale Erweiterungen, das Bühnengeschehen das Hauptgericht, für sich durchaus sättigend. Auch verzettelt sich der Abend, seine Zeitreise- und Parallelwelten-Sketche, komplett mit wissenschaftlicher Erklärung, wirken überflüssig, als traute man dem Erzählungsmosaik nicht ganz, als glaubte man, noch etwas „Größeres“ hinzufügen zu müssen. Das braucht es gar nicht, das lückenreiche Puzzlespiel reicht völlig aus, den alleinigen Wahrheitsanspruch etablierter Narrative aller Art in Frage zu stellen, anzuregen darüber hinaus zu denken, sie als Ausgangs-, nicht als Endpunkt anzusehen. Anregend ist der Abend allemal, unfertig ebenso und ratlos allemal. Eine gute Voraussetzung, auf die Suche zu gehen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/31/was-ware-wenn/
Leserkritik: Rainer Gratzke oder ... /Schauspielhaus Hamburg
Jens Rachut die Hamburger Punk-Diva inszenierte im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg sein Stück „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“ (UA). Der fragmentarisch gebaute Text erinnert an Songtexte, Gedichte und Gedankenfetzen, die sich zu einer Story zusammenfügen. Rainer Gratzke (Josef Ostendorf) ist todkrank und voller Metastasen. Er erwartet sein Ende in einem abgewrackten Sterbehospiz, das von merkwürdigen Gestalten bevölkert wird: Schwester Winter (Gala Othero Winter), Pfleger Bobby (Jens Rachut), James (Jonas Landerschier) und Wandstrom-Kampfgeist (Emanuel Bettencourt). Er schaut aus seinem Zimmer auf einen Verladebahnhof mit Güterwaggons voller Neuwagen. Er hat gerade seinen tödlichen Cocktail geschluckt und es bleibt ihm noch eine Stunde. Nach einer Stunde ist alles vorbei „Dann kommen die Schrapper und reißen das hier weg. Der letzte Erlöste. Gratuliere, Herr Gratzke! Also, der Letzte macht das Licht aus und auch die ganzen Dimmer.“ Es ist der surreale Trip eines sterbenden Patienten in seiner letzten Stunde. Jens Rachut schafft mit seiner Regie den Alptraum eines Sterbenden. In diesem Setting wird die Bühne durch Videoeinspielungen surrealer Wunderheiler und menschenleerer Güterbahnhöfe zur düsteren Magie, der sich auflösenden Realität. Die bitter-süßen Chansons „Zwiebelringe“ und „Analoge Sägewerke“ schaffen morbide Stimmungen, die zum Thema Sterben und Tod passen. Faszinierend wie Josef Ostendorf und Gala Othero Winter diese schrulligen, skurrilen Texte voller bitterem Humor zum Leben erwecken. Sie geben den skurrilen fragmentarischen Textbausteinen ihre Kraft. Der Sterbende streift in den letzten sechzig Minuten seines Lebens so manches Thema (Medizin, Politik, Religion) in knappen, fragmentarischen Gedankenfetzen „Wenn Gott den Mumm hat, soll er reinkommen und gegen mich antreten. Jeder ein offenes Stromkabel und dann mal sehen, wer zuerst auf den Boden ascht!“. Restringierter Sprachcode als Mittel, die Angst vor dem Sterben doch zu verbalisieren. Der Abend bleibt ein Fragment mit eigenwilliger Schrulligkeit zum Thema Sterben und Tod. Eine Art Punkdrama, welches das morbide Thema des Sterbens rotzig angeht und in seiner Gesamtheit den Eindruck abgründiger Schönheit hinterlässt. Ein skurriler Totentanz über das Sterben dahin gerotzt, voller surrealer Bilder in deren Mitte das Sterben unausweichliche Realität bleibt.
Leserkritik: Fioronis Turandot, Berlin
Die Macht ist kalt – Fioronis Turandot
Diese durchaus umstrittene Inszenierung ist – aus meiner Sicht zu recht – seit mehr als 10 Jahren im Programm der Deutschen Oper Berlin. Wenn das 19. Jahrhundert noch vom Glauben an große Gefühle beseelt schien, wird hier die totale Inszenierung, die Instrumentalisierung der Gefühle durch das Machtstreben im 20. Jahrhundert vorgeführt. Wie bei Heiner Müllers Macbeth: „Bedeckt Euch, Lady, denn die Macht ist kalt.“ Da passt auch die missmutige Ausstrahlung der opulent debütierenden Anna Smirnova sehr gut.
Leserkritiken, Romeo und Julia, Berlin: Liebe ist hardcore
Zelal Yesilyurt nach William Shakespeares Romeo und Julia: Benvolio + Mercutio. Du bist mein Lieblingsort auf der ganzen Welt, Babe!, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Zelal Yesilyurt)

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Was am Ende droht, führt der vierköpfige Freundeschor vor, der sich in kleinlichen Beziehungsvivisektionen verliert, sich gegenseitig das Erstarren in Routinen vorwirft, um am Ende kleinlaut in den gemeinschaftlichen Schoß zurückzukehren. Denn die Alternative ist noch unerträglicher: Der Prinz (Leander Dörr) und Tybalt (Finn Michelis) erweisen sich nur deshalb als entweder narzisstische oder gewalttätige Jammerlappen, weil ihnen die Liebe fehlt, die sie – vielleicht – bei einander finden. Und die natürlich auch den Titelfiguren entgleitet. Der Versuch, den Rausch festzuhalten, endet in der Trennung: Mercutio wird Verona zu klein, zu kalt, zu feindselig. Während seine Polkappen schmelzen und Menschen leiden, habe er kein Anrecht auf Glück, meint er und müsse fort. Spielerisch und mit leichter Hand hält hier die sich eben nicht ausblenden lassende Welt Einzug, werden aktuelle Diskursbällchen im Assoziationspingpong hin und her gespielt. Eine Intervention findet statt, Motivationsphrasen werden ausgekippt, eine sehr heutige Selbstoptimierungs- und Effizienzideologie lustvoll persifliert. Da mutiert Pater Lorenzo (Caspar Unterweger) Aufrechterhalter traditioneller Moral zum Drogendealer – nüchtern lassen sich konservative Lebensmodelle nicht mehr ertragen.

Am Ende stecken alle drin im Dilemma, den eigenen Weg finden zu wollen – und sollen – und doch hineinzupassen in das, was ihnen als Realität verkauft wird. Alle sind lächerlich und albern, alle authentisch und ehrlich. Der Weg zum Glück führt über die Lächerlichkeit. Mercutios Flucht scheitert, Benvolio gefällt sich in der Rolle des verlassenen Opfers, Egos erlauben eine Wiederannäherung erst, als es zu spät ist und ein Shakespearescher Plot-Twist zitiert ist. Wobei sich überhaupt die Ebenen mischen: Jugendsprachliche Drastik steht neben Shakespeare-Monologen und leicht Pollesch-gefärbten (wir sind schließlich bei P14) Diskursfetzen. Alles fließt und taumelt und hüpft lustvoll in einander, wie in einem Labor werden die Stufen junger Verliebtheit und durchs Erwachsenwerden verursachter Korruption analysiert und rollen doch in eins: in Verwirrung und Neugier, in unschuldig verruchtes Ausprobieren und narzisstisch bedingte Glücksverweigerung. Das Ich steht im Weg und ist doch der einzig begehbare Pfad. Am Schluss steht der Chor (Emil Heusinger, Luis Krummenacher, Pepe Röpnack und Julian Winterstein), an der Rampe und fordert das Publikum auf zu lieben: „Lieben Sie! Lieben Sie hart! Lieben Sie sanft! Lieben Sie ehrlich! Lieben Sie bedingungslos! Lieben Sie radikal!“ Denn: „Liebe ist hardcore.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/04/04/liebe-ist-hardcore/
Leserkritiken: Ghalia (Gastspiel + Workshop aus Beirut), Hamburg
Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg zeigte vom 04. bis 06.04.2019 das arabische Theaterstück „Ghalia“. Das Stück ist eine Koproduktion des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg mit dem Theaterkollektiv suite42 aus Berlin und der Zoukak Theatre Company aus Beirut. Es entstand im Rahmen des Förderprogramms Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes und unter dem Titel »Cursed to live in interesting times«. Diese Kooperation geht über zwei Jahre, in denen in Deutschland und im Libanon Inszenierungen entstehen, die als Gastspiele in allen drei Städten gezeigt werden. Thema dieser Kooperation sind drastische Veränderungen, die sich derzeit in der arabischen Welt und in Europa vollziehen. Im Fokus stehen dabei Positionen und Perspektiven junger Generationen. Das Stück „Ghalia“ der Zoukak Theatre Company aus Beirut thematisiert die Flucht einer jungen schwangeren Frau vor ihrer Familie aus dem Libanon, um in Europa neu zu beginnen. Ihre Flucht ist eine Reise ins Nirgendwo durch eine Welt im Umbruch im Rahmen der Globalisierung. Ghalia begegnet unterschiedlichsten Menschen – Frauen und Männern – die sie mit positiven jedoch meist negativen Erfahrungen vertraut machen. Eine junge Frau wird konfrontiert mit Gewalt, Sexualität, Macht, Religion und ihrem Traum einer besseren Welt in Europa. Ihr Leidensweg, der mit den Veränderungen in der arabischen Welt verknüpft ist, macht die Wandlung dieser Region und Gesellschaft für den Zuschauer erfahrbar. Die Bühne von Hussein Baydoun besteht aus Drahtzäunen und Ventilatoren, die deutlich machen, dass trotz aller Globalisierung unsere Welt aus Mauern besteht, die die Menschen auf der Schattenseite des Lebens draußen halten sollen. Ghalia ist lebendiges, spannendes Erzähltheater, das in kollektiven Arbeitsmethoden entwickelt wird. Dieses Theater lebt durch seine Musikalität (Percussion: Simona Abdallah; Violine: Layale Chaker), die das Bühnengeschehen mit starken Emotionen auflädt. Gesang und Tanz sind weitere starke Elemente, die die Story sinnlich erfahrbar machen. Der Wechsel im Spiel zwischen dem unbezwingbaren Willen ihr Ziel zu erreichen und der ständigen Gewalt, die ihr angetan wird, schafft eine Betroffenheit beim Zuschauer, die unaufhaltsam unter die Haut dringt. Dieser Theaterabend berührt und macht deutlich in welchem goldenen Käfig wir Westeuropäer sitzen und wie wir ihn mit Mauern gegen die Eindringline schützen wollen. Es wird Zeit, dass wir erkennen, dass der Ausbeutungsgedanke der Globalisierung nur in den Ruin der gesamten Menschheit führen kann. Zoukak (Autorin: Maya Zbib; Regie: Omar Abi Azar; Schauspieler*innen: Lamia Abi Azar, Rym Mroueh, Junaid Sarieddine, Raeda Taha, Maya Zbib) hat eine emotionale Geschichte wirksam auf die Bühne gebracht und beim Publikum eine Betroffenheit erzeugt, indem die Wandlung dieser Region und der Gesellschaft über die Geschichte der Flucht von Ghalia emotional erfahrbar wurde. Es war ein starker Theaterabend der einige emotionale Einblicke in die arabische Welt ermöglichte.

Die Zoukak Theatre Company aus Beirut veranstaltete am Samstag den 6.4.2019 in Kooperation mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg einen vier stündigen Workshop als Ergänzung zu ihrer Produktion „Ghalia“, um den Teilnehmern einen tieferen Einblick in die Produktionsformen der Zoukak Theatre Company zu gewähren. Ihre Stücke werden im Kollektiv erarbeitet und entstehen während der Proben. Ihr Fokus liegt auf der Entwicklung ihrer Inhalte aus persönlichen, mythologischen und politischen Ereignissen, die in theatrale Ereignisse durch Bewegung im Raum umgesetzt werden. Die Workshop-Teilnehmer*innen setzten sich mit ähnlichen Situationen auseinander wie die Charaktere in »Ghalia« und entwickelten dazu eigene kleine Szenen. Die Workshop-Teilnehmer*innen wurden ständig animiert, sich in der gegenwärtigen gesellschaftlich-politischen Situation zu reflektieren, und dadurch den eigenen Handlungsspielraum zu realisieren und zu erweitern. Ziel war die Möglichkeit der persönlichen Rebellion gegen die Unverrückbarkeit des Status Quo für sich zu realisieren. Zunächst wurden Lockerungsübungen gemacht, bevor wir körperlich den Raum erfahren sollten. Dann sollten wir einzelne Elemente wie gehen, laufen, fangen und werfen ausprobieren und für uns als Bewegung fixieren. Vor allem sollten wir alles sehr konzentriert und mit Körperspannung ausführen. Anschließend sollten wir uns mit einem für uns wichtigen Archetypus identifizieren und dies in unsere Bewegungen integrieren. Schließlich sollten wir dies noch verbinden mit persönlichen Lebensereignissen und deren Bezug zu geschichtlichen und politischen Ereignissen herstellen. Wir erhielten also eine gute Ahnung von der Arbeitsweise der Company Zoukak und der zuvor gesehene Theaterabend „Ghalia“ erschloss sich auf noch intensivere Weise. Diese Form eines Theatererlebnisses mittels Aufführung und Workshop war grandios, da das Gesehene durch persönliche, körperliche Erfahrung auf interessante Weise erweitert wurde. Es sollte mehr von solchen Theaterformen geben, da sie neue Erfahrungshorizonte schaffen. Dank der Zoukak Theatre Company und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg für dieses gelungene Experiment.
Leserkritik: Der Zwerg, Deutsche Oper Berlin
Zwergenunterwürfigkeit
Es wäre entschieden zu kurz gesprungen, „Turandot“ als „Fieberkurve“ der „toxischen Beziehung zwischen Giacomo Puccini und Rose Ader zu interpretieren, so wie es in der Inszenierung „Der Zwerg“ von Tobias Kratzer geschieht, die die Beziehung des Komponisten Alexander von Zemlinsky zu Alma Schindler „vom sexualpathologischen Standpunkte“ her beleuchtet.
Dabei fehlt es der Musik nicht an drohender Düsterkeit, wie auch der vorgeschalteten „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene“ von Arnold Schönberg, die „einen emotionalen Verlauf, keine konkrete Handlung“ beschreibt: „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“. Die Begleitmusik ist mit reichlich 8 Minuten gleich lang wie „Ein Überlebender aus Warschau“.
Für Mächtige – und die spanische Infantin ist mit 18 Jahren schon mächtig – sind alle Untertanen Zwerge, keinesfalls nur die von einem Sultan geschenkten. Sie sollten diese Perspektive nicht mit Zwergenunterwürfigkeit spiegeln. In der Tat sollten sie dagegen kämpfen, wenn ihnen das „Spiegelbild“ des hässlischen jüdischen Zwerges, des „jüdischen Feiglings“ (Alma Schindler 1901) entgegen gehalten wird. Insofern hätte die Inszenierung eine deutlich andere Dimensionierung verdient. „Tod durch Erkenntnis“, durch Verinnerlichung des Bildes vom hässlichen Zwerg, vom Tier? In der Geschichte des 20. Jahrhunderts drohte auch jenen, die sich im Schutze des liebenden Blickes eines diktatorischen Machthabers wähnten, eine durchaus erhebliche Todesgefahr, wenngleich mit geringerer Konsequenz im Vergleich zu denen, auf die das mächtige Auge in unerbittlich strafendem Zorn fiel.
Leserkritiken: Status Quo/Schaubühne Berlin
Maja Zade: status quo, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Marius von Mayenburg)

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Zade pflügt sich voller Detailverliebtheit durch ein Geschlechterrollen-Klischee nach dem anderen. Nur eben umgekehrt: Frauen sind machtbewusst, berechnend, autoritär, patronisierend, Männer emotional, geschwätzig, unsicher, stets darauf bedacht zu gefallen. Wenn der Mann gut kocht, bekommt er von der Partnerin schon mal ein „Braver Junge!“ serviert, verweigert er sich dem Beischlaf – Kopfschmerzen! – ist schnell Schluss mit lustig. Von Mayenburg tut gut daran, das alles mit leichter Hand zu inszenieren. Magda Willi hat ihm dazu eine hübsch kitschige und nicht störende Bühne gebaut, eine Art braun verholzte Schrankwand mit regenbogenbunten Streifenvorhängen, domestizierte Spießigkeit, die Vielfalt und Offenheit nur als alibimäßiges Dekor kennt. Er lässt die Szenen ineinander laufen, deutlich machend, dass auf allen Ebenen die gleichen Gesetze herrschen, Individualität nur so weit möglich ist, wie sie das System nicht stört. Hinten heraus purzeln mitunter Gottwald die verschiedenen Florians ineinander, eine Identitäts-Verunsicherung, die beiläufig daher kommt, aber stärker wirkt, weil wahrhaftiger ist als all die paradierten Klischees.

Denn der Clou des Stücks ist auch seine Schwäche, die Umkehrung der Geschlechterverhältnisse sein einziger Inhalt. So verkehrt, besticht das alltägliche durch seine Absurdität, seine dreiste Selbstverständlichkeit, seine Arroganz der Privilegierten. Aber das läuft sich eben auch recht schnell tot. Man, pardon, frau hat bald begriffen, wie die Häsin läuft, freut sich über die mit mittlerem Tempo und komödiantischem Gestus – wobei vor allem Böwe karikieren und überzeichnen darf, dass es eine Lust ist – voregebrachten Momente des Wiedererkennens, die meist so nett boulevardesk aufbereitet sind, dass sie nicht wehtun. Selbst intensivere Augenblicke – wenn sich Azubi-Florian auf dem Klo versteckt oder Immobilien-Flo seine Beziehung verändert, werden rasch weggelacht, Gottwalds Song-Einlagen, mit todtraurigem Blick vorgetragene Klischeelieder weiblicher Hingabe, berühren, wenn, dann nur kurz. Die frische Beziehung des Azubi-Florians ist denn auch nur eine nette umgedrehte Beziehungsmachtstudie, der man allerdings wahnsinnig gern zusieht, weil Jenny König die Alpha-Frau mit einer virtuosen Unnachgiebigkeit auf die Bretter nagelt, dass es eine Lust ist.

Nur zwei Momente durchbrechen den Wohlfühl-Kokon des Abends: einmal, wenn Böwes Daniela den Azubi unter dem Vorwand, eine Lotion auszuprobieren und seine Entspannungen zu lösen, nötigt, sein Hemd auszuziehen – was der Schauspieler-Flo im Übrigen ständig tut, sich seines Kapitals als Sexobjekt wohlbewusst und das sexistische Spiel zum eigenen Vorteil mitspielend – und den wehrlos Erstarrten nach allen Regeln des Missbrauchs begrabscht. Der ohnmächtige Schrecken, die verzweifelte Resignation in Moritz Gottwalds Blick wird frau nicht so leicht los. Und dann der Schluss. Da bleibt Gottwald zurück, ein Ausbruchsversuch gescheitert, ein Häufchen Hilflosigkeit, singt „What’s Going On?“, geht ab, vermutlich um sich weiter irgendwie durchzuquälen, denn die Dinge sind halt, wie sie sind. Da spürt frau ganz kurz, was systemischer Sexismus mit Menschen tut, wie er sie verformt, einhegt, bricht. Da wirkt die Geschlechterumkehrung plötzlich in brutalster augenöffnender Weise, wo sie sonst viel zu oft witzig harmloses Spiel bleibt, auch weil weder Zade noch von Mayenburg besonders bemüht scheinen, die Stück-Prämisse weiterzuentwickeln. So bleibt der Abend Skizze, Komfortzonen-Komödie und viel zu langer Sketch. Brav halt – wie sein Protagonist.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/04/17/braver-junge/
Leserkritik: Der nackte Wahnsinn/RambaZamba Berlin
"Der nackte Wahnsinn" von Michael Frayn, Regie: Jacob Höhne, Theater RambaZamba

acob Höhne, Intendant des Theaters RambaZamba, persifliert in seiner jüngsten Regiearbeit das Boulevardtheater mit seinem charakteristischen „Tür auf – Tür zu“-Klipp-Klapp-Mechanismus: In der ersten Szene des mit drei Stunden etwas lang geratenen Abends verstecken sich alle Spieler*innen hinter Türen, die sie aus den Angeln gehoben haben, und führen damit eine absurde Ballett-Choreographie auf.

Als endlich eine ordentliche Formation gefunden ist, nimmt Sebastian Urbanski als Regisseur des Stücks im Stück das Ruder in die Hand. Er steckt mit einer mäßig talentierten Truppe, die ihn schier zur Verzweiflung bringt, mitten in der Generalprobe für ein neues Stück. Da sich sogar die Theatertreffen-Jury angesagt hat, steht ihm der Schweiß auf der Stirn.

Aber es misslingt in dieser Generalprobe alles: schiefe Töne, verpasste Einsätze, nicht mal das Klebeband, mit dem Urbanski ein Schild auf seinem Klappstuhl befestigen möchte, will halten. So weit, so bekannt der Plot der Komödie „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, die in den 1980er Jahren ein großer Hit war.

Die zweite Hälfte ist voller satirischer Seitenhiebe auf den Kunstbetrieb: die jähzornig-aufbrausende Intendantin (Franziska Kleinert), der selbstverliebt irgendwelche Anekdoten von sich gebende Gaststar (Matthias Mosbach), die tränenüberströmte Muse, die sich zurückgesetzt fühlt, Gags über Provinz- und Regietheater lockern den Abend auf.

https://daskulturblog.com/2019/04/17/der-nackte-wahnsinn-theater-rambazamba-kritik/
Leserkritik: No Sex, München
"No Sex", Toshiki Okada, Münchner Kammerspiele

„Was sind denn das für welche?“ Das fragt sich nicht nur Annette Paulmann als Putzfrau, sondern auch das Kammerspiele-Publikum: vier verkrampfte junge Männer bewegen sich storchenhaft und mit absurden Verrenkungen durch eine Karaoke-Bar. Die schrägen Vögel (gespielt von Thomas Hauser, Christian Löber, Benjamin Radjaipour, Franz Rogowski) sprechen sich gegenseitig nur mit Pflanzen-Namen an und sind auch sonst nicht ganz von dieser Welt. Abwechselnd treten sie ans Mikro und versuchen sich an Popklassikern wie „Like a virgin“ von Madonna oder „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana. Genauso ungelenk wie die vier Jungs sind auch die Übersetzungen der Song-Texte, über die sie anschließend im hochgestochenen Pollesch-Stil diskutieren.

Besonders verwunderlich ist für dieses Quartett, dass in diesen Songs so viel von großen Gefühlen, Liebe und Sex die Rede ist. Damit können sie gar nichts anfangen. Mit großen Augen und jugendlicher Naivität rätseln sie über die Texte.

Toshiki Okada porträtiert in „No Sex“, seiner dritten Regie-Arbeit an den Münchner Kammerspielen, eine junge Generation in Japan, die einschlägigen, im Programmheft zitierten Studien erstaunlich zölibatär und lustfeindlich lebt und damit die Probleme einer ohnehin überalterten Gesellschaft verschärft.

Der Witz dieser Inszenierung, die zwischen Musik-Comedy, Pollesch-Anklängen und Generationsporträt in keine Schublade passt, liegt im Aufeinanderprallen der Welten und Generationen in der zweiten Hälfte. Als Paulmann nostalgisch von früheren, freizügigeren Zeiten schwärmt und die Karaoke-Bar mit Donna Summer aufmischt, tauen auch die vier trübsinnigen Zimmerpflanzen langsam auf. Benjamin Radjaipour verrenkt sich noch mehr, als Paulmann mit ihrem flirten will. Als Mutigster traut sich nur Thomas Hauser einen zarten Kuss.

Die verunsicherten Vier kommen kurz ins Grübeln, ob sie ihre Keuschheits-Grundsätze doch aufgeben, entscheiden sich aber dann im Chor doch dafür, bei ihrem Weg zu bleiben: Andere machen es, aber wir machen es nicht. Stefan Märki, wie Annette Paulmann ein Vertreter der früheren Kammerspiele-Ära, fragt sich als Inhaber der Bar, was er denn nun von diesen ungewöhnlichen Jungs halten soll: Sind sie nur besonders verstockte junge Männer, die sich in ihrer eigenen Welt eingesponnen haben und irgendwann doch noch im Leben und ihren Körpern ankommen werden? Oder sind sie ein subversiver „Cluster“, wie sie sich selbst nennen, der bewusst Normen und Wertvorstellungen in Frage stellt?

Die Theatertreffen-Jury hatte „No Sex“, das vor einem Jahr an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, zwar auf dem Schirm, entschied sich dann aber statt dieser ungewöhnlichen, Lilienthals Eigenwilligkeit pflegenden Inszenierung doch lieber für manch Bewährtes und viele alte Bekannte, die im Mai in Berlin zu erleben sein werden.

https://daskulturblog.com/2019/04/19/no-sex-muenchner-kammerspiele-theater-kritik/
Leserkritik: Kanal Banal, Rendsburg
KANAL BANAL #6: RATEN! Ein neuer Trash-Theaterabend im Roten Foyer des SH-Landestheaters für 30 Theaterbesessene. Dieser Abend wurde geschrieben, inszeniert und gespielt von Neele Frederike Maak, Timon Schleheck und Robin Schneider. RATEN! Ein Rätselabend? Ein Hörspiel! Ein Krimi! Ein Krimi-Hörspiel!!! Es geht um vier tote Huren und die Frage, ob sie Opfer von Mordanschlägen sind. Dieser Hörspielkrimi lebt von drei Elementen: 1. Schaffung der Geräuschkulisse mittels der Stimmen der Darsteller*in, 2. Lokal- und Theaterkolorit und 3. humoreskes Talent der drei Darsteller*in. Viele Ensemblemitglieder, Personen des Leitungsteams und weitere Personen des künstlerischen Apparates wurden mit liebevollen, ironischen Seitenhieben im Hörspielgeschehen bedacht. Sie waren das Salz in der Suppe und Ursache für so manchen herzhaften, wissenden Lacher im Publikum. Die drei Darsteller*in durften in die vielfältigsten Rollen schlüpfen und diese voller Humor mit Leben füllen. Dabei gab es ständig überraschende Momente für die Zuschauer, indem Neele Frederike Maak Männerrollen sprach und Timon Schleheck die weiblichen Parts übernahm. Im Hörspiel wurden mehrfach Hörspieltrailer eingebaut, die auf die nächste Premiere „Schade, dass Sie eine Hure war!“ hinwiesen. Theater wirbt für Theater im Theater – welch ein Multiplikator. Spielfreude pur machte den Abend zu einem kurzweiligen, gelungenen Event, der 34 Minuten dauerte. Welch Irrtum - es waren eine Stunde und 14 Minuten. So kurzweilig kann Theater sein, dass man die Zeit vergisst. Kanal Banal war wieder ein begeisternder Theatertrashabend.
Leserkritik: Jugend ohne Gott, Berlin
Jugend ohne Gott, ein Projekt von Nurkan Erpulat und Ensemble nach dem Roman von Ödön von Horváth, Bühnenfassung von Tina Müller: Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Nurkan Erpulat)

(...)Die Jugend, das wird schnell klar, befindet sich in einer permanenten Druckkammer, von allen Seiten stürmen die Forderungen der Älteren auf sie ein. Rechts, links, alles irgendwie egal. Der rassistische Vater oder der „Peer Pressure“ von Fridays for Future: Beides erscheint hier als Manipulationsversuche, als Einschnürungsrituale freien Denkens, Lebens und Atmens. Passend zu seiner ästhetisch erzählerischen, zuweilen an Hilflosigkeit grenzenden Beliebigkeit gefällt sich der Abend schnell in einer alles andere als unbedenklichen Relativierungsspirale, in der bald jedes Wertemuster gleich obsolet wirkt, rechte Hetze und Gleichberechtigungs-Rhetorik eigentlich und irgendwie und sowieso das Gleiche seien.

Der Abend will, indem er die erzählerische Brille umdreht, den bei Horváth namenlosen und auch hier nur durch Initialen bezeichneten Jugendlichen eine Stimme geben. Doch wenn sie ertönt, ist wenig mehr zu hören als apologetisches Gejammer und Opferstilisierung, wie man es sonst nur von den „Großen“ kennt. In einer Zeit, in der Jugendliche in Massen ihre politische Kraft entdecken und einfordern gehört zu werden, machen Müller und Erpulat sie zu leicht manipulierbaren verzogenen Gören. kein Wunder, dass am Ende natürlich dem Lehrer wieder die Bühne gehört, er (Denis Geyersbach) einen ellenlangen Selbstrechtfertigungsmonolog herunterspulen darf, der dann auch noch schnell die Handlung zu Ende erzählt, die dem Abend bei allem effekthascherischen Einsatz aufwändiger Theatermittel von der Stange auch noch entglitten war.

Statt Gesellschaftsporträt gibt es Haltungsverweigerung, statt Kriminalhandlung narzisstische Nabelschau, statt atmosphärischer Dichte spannungsfreie Rezitation. So sehr betrachtet der Abend seine Thematik von allen Seiten, dass statt kaleidoskopischer Auffächerung das entstehende Bild am Ende in verschwommener Konturlosigkeit verschwindet. Aiusgerechnet das Maxim Gorki Theater geht auf seiner großen Bühne in die aus Renovierungsgründen verlängerte Sommerpauser mit einem Theater ohne Haltung, einem, das alles verwirft und letztlich nicht nur eine Jugend ohne Gott zeigt sondern eine Welt, nein, ein Theater, das die Negierung in einen fast göttlichen Status erhebt. Da kann auch das starke Ensemble junger Spieler*innen, darunter Mitglieder des aktuellen Abschlussjahrgangs der HfS „Ernst Busch“, allen voran Theo Trebs (bald Ensemble-Mitglied der Volksbühne), Tiffany Köberich und Felix Kammerer, wenig ausrichten. Es ist ein Abend, der sehr genau weiß, was er nicht will. Und dort stehen bleibt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/04/27/theater-ohne-haltung/
Tartuffe (3sat Theatertreffen 2019): Super
3sat startete seine Reihe „Starke Stücke“ zum Berliner Theatertreffen mit „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ des Theaters Basel. Peter Lichts deftige Molière-Überschreibung wurde von Claudia Bauer trashig in Szene gesetzt. Aus Molière wurde ein Licht/Bauer, der vom Publikum die Bereitschaft fordert, sich auf diese Sichtweise einzulassen. Ist diese Hürde genommen, dann kann man sich diesem dadaistischen Nonsens nicht verschließen. Claudia Bauer inszeniert diesen hintersinnigen Spaß mit Lust an Wortspielen und überzeichneten Bildern und platziert so schrill und plakativ ihre Gesellschaftskritik. Sie knüpft sich den Kapitalismus vor, der in einem uferlosen Wortspiel verebbt. Sie ziehen einander gegenseitig über den Tisch in ihren Worttriaden und dieser Tisch ist lang. Die Schauspieler*innen glänzen, durch die Beherrschung des Textes und die Geschwindigkeit mit der sie die Textmassen wie Getriebene auf das Publikum schleudern, mit fulminanter Gestik und Mimik, die vom Kamerateam grandios eingefangen wurde. Dieser "Tartuffe" ist mutig und schrill, ein Zerrspiegel auf unsere Zeit und mit dem Potential zum "Kultstück“ für ein junges Publikum. Super, dass sat3 sich mit so einer Herausforderung einem breiteren Publikum stellt. Theater ist lebendig und heutig und hebt sich wohltuend von dem ewigen Serienschmalz des Fernsehens ab. Erste Theater beginnen auch mit Livestream-Übertragungen ihrer Produktionen, was das Medienangebot auf interessante Weise bereichert. Theater ist lebendig und sollte sich über die digitalen Medien verbreiten, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Hoffentlich erkennen die Theater diese Chance und erschließen sich so neue und breitere Publikumsschichten.
Leserkritik: Schade, das sie eine Hure war / LT Schleswig
„Schade, dass Sie eine Hure war“ oder es muss nicht immer Shakespeare sein. Am Sonntag hatte die letzte Schauspielinszenierung des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters dieser Spielzeit Premiere. John Fords Inzest-Tragödie zeigt in prallen, sinnlichen, grotesk-grausamen Bildern die Macht der Liebe gegenüber einer verkommenen Gesellschaft auf. Ford behandelt moralische und emotionale Extreme, die er in dramaturgisch und psychologisch effektvolle Konstellationen kleidet. Die Intensität auswegloser menschlicher Leidenschaften und die dekadent-morbide Grundstimmung des Stückes machen es interessant für unsere Zeit. Er bricht in seinem Drama das Schweigen über ein sittlich verpöntes Tabu: die inzestuöse Geschwisterliebe – und stellt sie in ihrer Zartheit in drastischen Gegensatz zu der Doppelmoral einer verkommenen Gesellschaft. Ford zog in diesem Drama alle Register des elisabethanischen Schauerdramas, charakterisiert durch Überhöhungen, Absurditäten und abgrundtiefe Emotionalität. Fords glühende Beschwörung verbotener Liebe in einer korrupten Gesellschaft ist ein Gegenentwurf zu Shakespeares "Romeo und Julia". Er greift Shakespeares Figurenkonstellation auf und verkehrt ein Detail ins Gegenteil: Bei ihm sind die Liebenden, Geschwister und nicht aus verfeindeten Elternhäusern. Bei Shakespeare versöhnen sich die verfeindeten Häuser am Ende, bei Ford bleibt ein zynisches Schlusswort über einer schönen Frauenleiche „Schade, dass Sie eine Hure war“. Blutschande duldet eben keinerlei Versöhnung, nicht mal in einer verkommenen Gesellschaft mit perfider Doppelmoral. Fords Blick auf die Moral seiner Epoche war erbarmungslos, wenn nicht sogar böse. Wolfram Apprich inszeniert das Stück in der kraftvollen Übersetzung von B. K. Tragelehn, die dem Original folgt. Er stellt die Macht der Liebe, Momente, in denen sich die Zeit aufhebt, in denen es nur den Augenblick gibt oder die Unendlichkeit, in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Der Tabubruch intimer Geschwisterliebe wird so zur Anteilnahme an der bedingungslosen Liebe der Beiden. Diese bedingungslose passionierte Selbsthingabe der Liebenden treibt sie jedoch in den Abgrund. Gespielt wird auf enger, niedriger, gruftartiger Bühne (Mirjam Benker), die sich trichterförmig zum Publikum öffnet, in zeitlos, modernen Kostümen. Christoph Coburgers Musik deutet mit ihrem treibenden, teils düsteren Charakter auf das ausweglose Ende dieser Tragödie hin. Die Regie konzentriert sich auf die Dialoge und Tableaus, die zu den stärksten Eindrücken der Inszenierung zählen. Giovanni (Felix Ströbel) und Annabella (Beatrice Boca), die liebenden Geschwister, suchen in brüchiger und stammelnder, von Vers in Prosa kippender Sprache nach Worten für das Unerhörte ihrer Leidenschaft und schwanken dabei zwischen Verstummen und exaltiertem Wortschwall im Gefühlsausbruch. Georg Bonn ist der von Eifersucht und Rache getriebene Soranzo. Christian Hellrigl als Vasques überzeugt mit listiger, verschlagener Schmeichelei, hingegen Robin Schneider als Bergetto mit einfältiger Dümmlichkeit. Nenad Subat besticht mit seiner konzentriert, kontrollierten Spielweise als Richardetto. Manja Haueis als Hippolita verleiht dieser Figur alle Facetten schmeichelnder Liebenswürdigkeit und abgrundtiefem Hass. Uwe Kramer (Florio), René Rollin (Donado), Timon Schleheck (Bonaventura), Neele Frederike Maak (Philotis) und last but not least Karin Winkler (Putana) ergänzen das hervorragende Ensemble. Diese unerschütterliche Revolte zweier Liebender in einer verkommenen Gesellschaft voller Doppelmoral, Mord und Intrigen lässt uns eine Idee von Freiheit erahnen, in der bedingungslosen Liebe zweier Individuen. Die perfekte Dialogregie und die bildgewaltigen Tableaus gaben diesem Abend seine Ausstrahlung und Kraft und es bedurfte keiner Effekthascherei, um das Grauen dieser morbiden Gesellschaft lebendig werden zu lassen.
Leser*innenkritik: Für immer schön, Fürth
Als Cookie Close am Samstagabend vor den Vorhang des Fürther Stadttheaters tritt, einen ihrer Highheels auszieht und umdreht, klatscht Blut auf die Vorderbühne. Egal, denn für die mobile Kosmetikverkäuferin ist ebenso „Showtime“ wie für die Schauspielerin Judith van der Werff.
Der Vorhang hebt sich und gibt eine Welt frei, die ein einziges Überdimensionales Billboard im Nebel als Spielfläche bietet. Im Laufe des Abends werden sich hier auf Cookies Klingeln hin Türen öffnen und schließen, etwas zu verkaufen wird ihr nicht gelingen.
Die Welt, die Maik Priebe gemeinsam mit seiner langjährigen Ausstatterin Susanne Maier-Staufen und den Schauspielern des Abends gemeinsam entworfen hat, ist eine kalte und grausame. Cookie zerstört das Leben jeder Person, die in ihr Leben tritt. Sie verführt den minderjährigen Dan, hängt ihm und ihrer ehemaligen Schülerin Heather (Sunna Hettinger) ein Kind an, und treibt ihn in den Verzweiflungstod (alle drei unterschiedlichen Einblicke in Dans Leben souverän von Boris Keil gespielt). Nicola Lembach brilliert in zwei Nebenrollen als alte Freundin, der Cookie Close den Mann genommen hat, und als wehrhafte Amerikanerin des Mittleren Westens natürlich mit Schusswaffe.
Als Cookie Close in der zweiten, im Gegensatz zur komödiantischen ersten Hälfte, in der zweiten, tragischeren, in antiker Tradition blind wird, und trotzdem weiter versucht nicht Kosmetik, sondern „Schönheit“ oder gar „Wahrheit“ auch an zwei Männer (schillernd durch Willi Wang) zu verkaufen, wird spätestens auch der eigene Preis für das Leben, das sie führt, deutlich, sie schleift die Leiche ihrer Tochter, ihrem rührend unbeholfen geliebten „Küken“ (eine entwaffnende Judith Florence Erhardt) hinter sich her, deren erschreckend drastisch inszenierter Erhängungstod für Cookie nur eine „Prüfung des Universums“ wird, zu denen sie jeden Tag ja sagt. „Das Absurde befreit nicht, es bindet“, hat Camus gesagt, und Cookie zeigt es. Bildgewaltig wird der Abend vor allem in den Szenen, deren Brutalität die Ausmaße einer Griechischen Tragödie annimmt: Das Blut fließt in Strömen, die Figuren nehmen es realistisch, nicht naturalistisch hin. Überhaupt werden an diesem Abend von der Regie alle Figuren ernst genommen, es gibt keinen Moment von Zynismus, der leicht bei der Hand gewesen wäre, aber Cookie (deren Schauspielerin Judith van der Werff den Abend nicht nur mühelos trägt, sondern Cookies Schmerzen zulässt und zeigt) lebt in einer Welt, in der der Kapitalismus zur Ersatzreligion wurde, es ihre Überlebensstrategie, zu lächeln, auch wenn sie am Ende alles verliert.
Leserkritik: A invenção da maldade und Furía, HAU
Marcelo Evelin / Demolition Incorporada: "A invenção da maldade / Die Erfindung der Boshaftigkeit" und Lia Rodrigues: "Fúria / Wut", HAU

Opposition und Kunstszene Brasiliens sind in Unruhe. Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro, einem misogynen, homophoben, rassistischen und die Militärdiktatur verherrlichenden Demagogen vom rechten Rand, befürchten sie Schreckliches.

In dieser Woche sind zwei neue Choreographien im Hebbel am Ufer zu sehen, die unabhängig voneinander entstanden sind, aber sehr gut miteinander korrespondieren. Beide knapp einstündigen Arbeiten verbindet ihre aufgewühlte Energie, mit der sie von düsteren Zukunftsaussichten, Gewaltausbrüchen und der Bedrohung humanistischer Errungenschaften erzählen.

Sowohl „A invenção de maldade“ („Die Erfindung der Boshaftigkeit“) von Marcelo Evelin/Demolition Incorporada als auch „Furía“ („Wut“) von Lia Rodrigues kommen fast ohne Worte bis auf Murmeln und tranceartige Beschwörungsformeln aus. Sie überzeugen durch starke Bilder, Sinnlichkeit und Energie, unverzichtbare Elemente lebendigen, zeitgenössischen Theaters und Tanzes. Eine Adrenalinspritze wie diese Gastspiele im Hebbel am Ufer würde auch der 10er-Auswahl des Theatertreffens sehr gut tun, die bisher mit vielen alten Bekannten aus dem Theaterbetrieb, banalen Soap-Kopien, langatmigen Promi-Slapsticks und Nebelwand-Spielereien von Marthaler-Epigonen im Dornröschenschlaf vor sich hin dämmert.

Evelin, der 1986 nach Europa zog und erst seit 2006 wieder in Brasilien lebt und arbeitet, beginnt seine „Erfindung der Boshaftigkeit“ mit wie zu Salzsäulen erstarrten Tänzer*innen. Im Mittelpunkt steht eine hexenartige Figur, die mit ihrer Wünschelrute den Kreis mehrfach abschreitet, bis das Ensemble zum Leben erweckt wird. Sie versammeln sich zu einem exorzistischen Ritual: Beigleitet von Percussion-Beats und Klangschalen an der Decke springen sie um einen Scheiterhaufen. Anspielungen auf Hexenwahn und Verfolgung im Mittelalter sind in dieser Choreographie allgegenwärtig, die in ein Knäuel übereinander herfallender Körper mündet.

Das Knäuel der Tänzer*innen wogt über die Bühne, verhakt sich unter wütenden Schreien immer wieder neu ineinander und ist zu friedlichem Zusammenleben längst nicht mehr in der Lage. Als „Aufschrei der Körperlichkeit“ bezeichnet der Programmzettel diese pessimistischen Szenen und Bilder treffend.

Einen Schritt weiter geht Lia Rodrigues in „Furía“: hier liegt bereits alles in Trümmern und Fetzen. Ein Trauermarsch bahnt sich seinen Weg über Gerümpel, Säcke und Stoffberge. Immer wieder scheren einzelne Ensemble-Mitglieder aus und deuten Gewalt und Demütigungen an. Sie zerren sich gegenseitig über die Bühne, benutzen sich als Last- und Reittiere, während die Prozession unbeirrt weiterzieht, in die sie sich später einreihen.

Es ist den Tänzer*innen hoch anzurechnen, dass sie sich von der Zuschauerin am rechten Rand der ersten Reihe nicht aus der Konzentration bringen lassen, die mehrfach mit hell erleuchtetem Display rücksichtslos filmt. Die Choreographie endet mit Protestplakaten gegen Polizeigewalt und staatliche Willkür, die das Ensemble zum Schlussapplaus hochhält.

Heute Abend wird das doppelte Gastspiel mit einer simultan Portugiesisch/Deutsch übersetzten Diskussion zum Thema „Brasilien: Die Entstehung eines neuen Widerstands“ abgeschlossen.

https://daskulturblog.com/2019/05/08/a-invencao-de-maldade-furia-tanz-aus-brasilien-hebbel-am-ufer-kritik/
Leserkritik: Erniedrigte + Beleidigte, 3sat / Dresden
3sat zeigt als zweites Stück vom Theatertreffen 2019 in Berlin Dostojewskis Erstlingsroman „Erniedrigte und Beleidigte“ des Staatsschauspiels Dresden in der Regie von Sebastian Hartmann. Hartmann macht aus diesem Roman eine theatrale Performance aus Choreographie, Malerei, Musik, Spiel, Sprache und Videoinstallation. Hartmann schafft ein multimediales Kunstwerk, indem es ihm um den „emotionalen Sound“ des Romans geht. Ruhelose, gehetzte Menschen bevölkern die Bühne, auf der Suche nach Liebe und sich selbst in einer aus den Fugen geratenen Welt. Dieses Theater sprengt Konventionen. Es ist verrückt und wild und ganz dem „emotionalen Sound“ einer fiebrigen Unruhe und Getriebenheit verschrieben. Eine Droge, wenn man sich diesem Sound öffnet und dieser Aufgeregtheit und Getriebenheit der Akteure (w/d/m) folgt. Die TV-Regie versteht es ausgezeichnet durch Großaufnahmen die Mimik der Akteure einzufangen und deren Ruhelosigkeit und Angst gefühlsmäßig erfahrbar zu machen. Hier leistet die TV-Regie das, was sonst nur den Theaterzuschauern in den ersten Reihen möglich ist. Tilo Baumgärtels Bildinstallation wird in ihrer beeindruckenden Mächtigkeit allerdings durch die TV-Regie nicht in ihrer überwältigen Bildgewaltigkeit eingefangen. Das Ensemble (Luise Aschenbrenner, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi und Viktor Tremmel) ist phänomenal und geht an die Grenzen des Machbaren. Hartmann liefert mit seiner Dostojewski Bearbeitung einen 165minütigen Bilderrausch, der die Aufgeregtheit eines nervösen Zeitalters emotional erfahrbar macht. Ein beeindruckender Theaterabend, der einen verwirrt zurücklässt und zum Nachdenken anregt. Schon im „Tartuffe“ der ersten 3sat Theateraufzeichnung war die Geschwindigkeit mit der die Textmassen, wie von Getriebenen, auf das Publikum geschleudert wurden, ein Charakteristikum der Inszenierung. Noch eindringlicher ist diese Getriebenheit bei Hartmann erfahrbar und Spiegel eines nervösen, unruhigen Zeitalters in dem wir existieren. Somit ist ein Grundelement beider Inszenierungen die Getriebenheit unseres Zeitalters, die kaum Zeit zum Nachdenken lässt.
Leserkritik: 9 Tage wach, Berlin: wenn die Beats krachen
"9 Tage wach", Neuköllner Oper, von John von Düffel nach dem Bestseller von Eric Stehfest, Regie: Fabian Gerhardt

Der Abend ist dann am stärksten, wenn die Beats krachen und die fünf Spieler*innen die starken Songs mit prägnanten Texten performen, die Christopher Verworner und Claas Matti Krause für diesen Drogen-Trip geschrieben haben. Dabei werden sie live von sieben Musiker*innen angebracht, die unter der schrägen Bühne kauern.

Der Sprechtheater-Anteil dieses Abends leidet darunter, dass er allzu beliebig und sprunghaft im Zick-Zack hin und herspringt. Alle fünf Spieler*innen teilen sich die Rolle von Eric, übernehmen im nächsten Moment aber schon wieder Nebenrollen wie den Part seiner Freundin, seiner Kommilitonen oder seiner Freundin. Wann immer der Text dominiert, droht der Abend den Faden und sein Publikum zu verlieren.

Erst wenn für kurze Zeit die Musik des VKKO und die Choreographien von Lilit Hakobyan den Ton angeben, kommt „9 Tage wach“ wieder bei sich an. Eindringlich wird dann erlebbar, wie der Drogenkonsument die Kontrolle über sich zu verlieren drohte, aber irgendwie doch noch die Kurve kriegte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/05/19/9-tage-wach-neukollner-oper-kritik/
Leserkritik: A. Liddell, The Scarlett Letter
"The Scarlett Letter", Angélica Liddell, Deutschland-Premiere, Maifestspiele Wiesbaden

Wie von der spanischen Performerin Angélica Liddell gewohnt, ist auch ihr neues Stück „The Scarlett Letter“ ein ebenso assoziativer wie radikaler Abend. Sie bedient sich sehr frei bei Motiven des gleichnamigen Romans von Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1850 über eine Ehebrecherin, die in ihrer puritanischen Gesellschaft ausgegrenzt wird und ein rotes „A“ auf der Brust tragen muss. Dieses „A“ prangt an diesem Abend auch auf Liddells Kostüm. Sie umkreist den Buchstaben in ihren eingestreuten Monologen. Er steht nicht nur für „Adultery“, sondern auch für „Artist“, „Angel“ oder „Angélica“.

Als Aufschrei gegen Prüderie ist dieser Abend angelegt. Das gesellschaftliche Klima wird vergiftet, gesellschaftliche Freiräume werden zugemauert. Wen sie dafür als Hauptschuldige ausmacht, ist überraschend: In den umstrittensten Passagen des polarisierenden, knapp zwei Stunden kurzen Abends rechnet sie mit den „Männerhasserinnen“ ab. Frustrierte Frauen über 40 sind ihr Haupt-Angriffsziel. Als radikale Vorkämpferin gegen „Metoo“ fordert sie, dass Frauen in eine dienende Rolle zurückkehren und den Männern die Füße küssen sollen. Dafür wird sie aus guten Gründen sicher keine Mehrheiten bekommen.

Trotz aller Polemik ist „The Scarlett Letter“, das als Deutschland-Premiere bei den Maifestspielen in Wiesbaden zu sehen war, ein zum Nachdenken über Prüderie und Freiräume anregender, bildstarker Abend, bei der Liddell als Zeremonienmeisterin und Matriarchin eine nackte Männer-Gruppe dirigiert. In den stillen Momenten jenseits ihrer Pamphlete spielt sie mit Ritualen des Katholizismus, steckt ihre Mitstreiter in Kutten, die sowohl an Mönche als auch auf den Ku-Klux-Klan anspielen und lässt sie Aufgaben absolvieren.

Eine typische Liddell-Idee ist es, Foucault-Texte aus den 1970ern mit der Sommerhit-Eintagsfliege „Dragostea din tei“ (2004) zu kontrastieren. Diese Szene steht symptomatisch für ihren assoziativen Stil, unterschiedlichste Einflüsse zu mixen und den Geschmack des Publikums zu provozieren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/05/24/the-scarlett-letter-angelica-liddell-kritik/
Leserkritiken: Who is happy in Russia/DT Berlin
Autorentheatertage 2019 / Radar Ost – Kirill Serebrennikov nach einem Gedicht von Nikolai Nekrasov: Who Is Happy in Russia, Gogol Center, Moskau (Regie: Kirill Serebrennikov)

(...)

Der Schlussteil ist der eklektischste. Zunächst holt ein zirzensisches Rumpfensemble die Frage nach dem Glück in die Manege, macht sie zur Clownsnummer, bevor sie ganz ins Hier und Jetzt birst: Mit einem Eimer Wodka bewaffnet ziehen Spieler und eine dolmetschende Zuschauer durch die Reihen und fragen Zuschauer*innen, ob sie glücklich sind. Wer bejaht und einen überzeugenden Grund nennt, bekommt Wodka, so manche*r geht jedoch leer aus. Der parodistisch satirische Tonfall ironisiert schön die oft allzu seichte Glücksideologie unserer Zeit, bevor das Unglück wieder hereinbricht. In einem letzten Schwenk ins naturalistische Drama kommt die Tragödin Evgenya Dobrovolskaya zum Zuge, die zunächst lächelnd später, in kalter Wut vom Schicksal einer Bauersfrau zwischen Gewalt, Unterdrückung, Tod und Kälte erzählt, vom Tod des Ersten, der Versklavung des zweiten Kindes, dem Ausgeliefertsein einer totalitären, misogynen Gesellschaft. Hier verschiebt sich der Fokus vom leidenden und leiden schaffenden Mann hin an den Rand, die zuvor verstummten, auf Rollenklischees, in bunte Kostüme gepressten Frauen. „Unter den Frauen findet ihr keine, die glücklich ist“, sagt sie. Dazu bedient sie zwölf Männer an einer Tafel, die Abendmahls-Referenz ist nicht zu übersehen.

Nur gibt es hier, an diesem langen, zersplitterten Abend keine Erlösung, keine Reinwaschung von Sünden, kein Heilsversprechen. Die Vergangenheit ist in vollster Kontrolle, das Jetzt hat sich abgewandt und blickt nur ein ein verklärtes Gestern voller Bilder und Geschichten, Klischees und Rollenmustern, Tableaux und Choreografien vorgeschriebener kollektiver Erinnerung. Deren Anarchie immer auch Affirmation ist, den Konsens ankratzt, um ihn aufrecht zu erhalten. Und den dessen Darstellung auf der Bühne wiederum bloßstellt als totalitäres Korsett, in dem Gedanken eingesperrt sind wie Menschen. Serebrennikovs spielerisch schelmische, fies leichtfüßige Bestandsaufnahme seines Landes ist kein Panorama, sondern eher ein brüchiges Mosaik, in dem so mancher Stein fehlt, das Bild unvollständig bleibt, mal klarer ist, mal gebrochener, verzerrter, ein Stückwerk von Theater über ein Stückwerk von Land, in dem Ideologie Macht ist, Gestern Heute, Pessimismus Hoffnung. Ein wilder, subkutan anarchischer Trip, der in Sicherheit wiegt, wo er in die Magengrube schlägt, der freundlich lächelt, wenn er am Abgrund taumelt. Ein Abend, der nicht in Putins Russland spielt und natürlich immer auch – aber nicht nur – dieses meint. Weil sie zusammengehören: Nekrasovs und Serebrennikovs, das zaristische, das heutige, das sowjetische – eine Kontinuität der Herrschaft durch Verblendung, der Verelendung durch die Mär von der russischen Größe. Eine Orwellsche Dystopie als größenwahnsinniger Zirkus. Theater halt.

Komplette Rezension:https://stagescreen.wordpress.com/2019/05/26/im-zirkus-des-grosenwahns/
Leserkritik: Dreigroschenoper, Senftenberg
In der Inszenierung von Intendant Manuel Soubeyrand wird Brechts „Dreigroschenoper“ zu einer zirzensischen musikalischen Revue, der gesellschaftskritische Anspruch Brechts keineswegs unter den Tisch gekehrt. Es gibt die Gegensätze zwischen arm und reich und das Zusammenspiel von Verbrechen und Ordnungsmacht. Die Zuschauer werden von Anfang an mit in das bunte mit hineingenommen. Wenn sie in das Rund des Amphitheaters kommen grinst ihnen vom Vorhang ein böses Clownsgesicht entgegen. (Bühnenbild und Kostüme Barbara Fumian, ganz großartig). Bettler, Schuhputzer, Kartenspieler wuseln durch die Bankreihen und sprechen die Zuschauer an. Auf der Bühne steht ein Conférencier (Sebastian Volk) und erklärt, wie man richtig applaudiert, für jeden Anlass einen speziellen Beifall. Und das wird auch geübt. Dann geht es richtig los. Die Band mit dem musikalischen Leiter Benjamin Rietz kommt und Publikum applaudiert glücklich. Und das zu Recht. Denn sie spielt hervorragend und trifft genau der Sound des Komponisten Kurt Weill. Alle Songs werden mit reißend interpretiert. Dazu kommt dann noch das sängerische und komödiantische Talent der Spieler. Allen vor an Aline Bucher als Polly. Mit ihrer ausdrucksstarken Stimme gibt sie der Polly ein ganzen eigenen Charakter. Ihr Geliebter, der Chef des Verbrechers Clans Macheath, (Tom Bartels) steht ihr keineswegs nach. Die beiden heiraten gegen Willen von Pollys Vater dem Bettlerkönig Peacham (Erik Brünner, auch großartiges sängerisches und schauspielerisches Talent). Auch Hanka Mark als Frau Peacham zeigt wieder einmal, dass sie klasse Darstellerin ist. Daniel Borgwardt als Polizeichef Tiger Brown gibt seiner Figur einen ganz eigenwilligen Charakter. Anja Kunzmann ist seine Tochter Luzy. Es ist köstlich, wenn sie sich Polly wegen Macheath streitet. Auch die anderen Darsteller, die unterschiedlichen Rollen zu sehen sind (Huren, Polizisten, Entertainer) sind hervorragende Darsteller und Sänger. Herausragend sind Mirko Warnatz, Esra Maria Kreder und Catharina Struwe. Am Ende jubelnder, frenetischer Applaus, der nicht enden will. Das Publikum ist glücklich.
Leserkritik: Drei auf einen Streich, SH Landestheater
DREI AUF EINEN STREICH! Das Schleswig-Holsteinische Landestheater präsentierte seine theaterpädagogischen Jugendclubergebnisse der Spielzeit 2018/19. „FÜR IMMER UND WENIG“ Theaterjugendclub Schleswig (23. Mai), „VORSPIEL“ Theaterjugendclub Rendsburg (24. Mai) und „ROMEO UND JULIA“ Theaterjugendclub Flensburg (28. Mai). Diese pädagogischen Theaterjugendclubprojekte werden immer gemeinsam im Laufe einer Spielzeit von den 3 Theaterpädagogen (w/d/m) und jeweils einem Schauspieler (w/d/m) und einem BUFTI (w/d/m) mit den theaterbegeisterten Jugendlichen entwickelt. Diese Präsentationen sind somit immer Eigenproduktionen aus der Feder der Jugendlichen mit Unterstützung und Anleitung der Theaterschaffenden. Diese Spielzeit war das Thema „LIEBE“. Drei Jugendclubs haben sich diesem Thema auf ihre eigene Weise genähert. „FÜR IMMER UND WENIG“ hatte das ewige Thema Liebe, dem sich die Jugendlichen mit Fakten, Texten, Liedern, Musik und Tanz näherten. Ein Kaleidoskop der Liebe mit lustigen und ernsten Momenten unterhaltsam dargeboten. Es folgte „VORSPIEL“ eine Spielsoftware, die vom Publikum bedient werden musste, damit der Abend in Gang kam. Punkte sammeln und herausfinden, ob die Spielentscheidungen Glück oder Unglück in die Welt der Liebe bringen. „VORSPIEL“ war ein Feuerwerk an Ideen zum Thema Liebe, das in 70 Minuten wie im Traum verging. Last but not least „ROMEO UND JULIA“ ein Abend, der das Positive im Leben sucht und dazu gehört die Liebe. Thema des Abends „Liebe ist ROT von Liebknecht bis Brot“. Diese Inszenierung bot sozialkritische Momente, die gut zum Thema Freundschaft und Liebe passten. Beeindruckend war, wie sich die 3 Jugendclubs auf unterschiedliche Weise dem Thema „LIEBE“ genähert hatten. Liebe in und kurz nach der Pubertät, ein spannendes Thema mit all seinem „WENN“ und „ABER“. Alle Projekte lebten von der Spielfreude der Jugendlichen und den originellen Ideen, die sie zum Thema „LIEBE“ hatten. Es war faszinierend zu sehen, wie viel Kreativität in den Jugendlichen steckt und wie lebendig und berührend Theater sein kann. Diese theaterpädagogische Arbeit eines Theaters mit Jugendlichen kann man gar nicht hoch genug einschätzen; denn Theater wird nur überleben in einer digitalen Zeit, wenn man die Jugend für die imaginäre Kraft des Theaters begeistert. Die Theaterpädagogen (w/d/m) haben mit den Jugendlichen spannendes, lebendiges Theater auf die Bühne gebracht und gezeigt, dass das oft tot gesagte Theater lebt. Nur mit dieser Basisarbeit bei der Jugend wird Theater auch in Zukunft selbst aus ländlichen Räumen und Kleinstädten nicht weg zu denken sein. Es lebe das Theater dank begeisterter Jugendlicher und dem Willen des Theaters diese Kräfte zu fördern.
Leserkritiken: Radar Ost, DT Berlin
Im Zentrum von „Radar Ost“ 2019 stand eindeutig „Who is happy in Russia?“: beide Vorstellungen des Gastspiels vom Gogol Center waren ausverkauft. Der sehr lange Abend hat zwar nicht die Qualität des Meisterwerks „Machine Müller“, ist aber immer noch ein sehenswerter Abend des russischen Starregisseurs Kirill Serebrennikow. Der Stilmix drohte sich zu verzetteln und ist an einigen Stellen ungewohnt plakativ geraten. Als künstlerisches Manifest gegen die autoritäre Bedrohung und für die Freiheit ist der Abend hochaktuell.

Mit dem Rollback in postsowjetischen Staaten beschäftigte sich auch die kafkaeske Parabel „Der Mann von Podolsk“. Dmitiri Danilows Stück wurde 2017 im Teatr.doc uraufgeführt, neben dem Gogol Center die wohl wichtigste Spielstätte der Putin-kritischen, unabhängigen Moskauer Theaterlandschaft. Zu „Radar Ost“ war jedoch die Inszenierung des Belarusian State Youth Theatre aus Minsk eingeladen.

Der Abend ist als politisches Thesentheater und Kommentar zur aktuellen Situation interessant: Nikolai wird eines Morgens verhaftet und wird auf der Wache mehreren bohrenden Verhören unterzogen. Das von einer Frau angeführte Befragungs-Team ist besonders übergriffig: Hier kreuzen sich klassische Polizeistaatsmethoden mit neoliberalen Glücksversprechen. Die Polizisten sind keine „stereotyp-brutalen Bullen“, wie das Programmheft richtig feststellte, sondern sehen Nikolai als Therapie-Versuchskaninchen. Im Plauderton über Gott und die Welt, Amsterdam und die „Einstürzenden Neubauten“ geben sie sich weltoffen und ermuntern ihn dazu, zu sich selbst zu finden.

Künstlerisch kommt die Inszenierung aus Minsk aber nicht über recht langweiliges, verkopftes Thesentheater hinaus. Wesentlich lebendiger ging es anschließend nebenan in der Box bei „TseSho (What’s that?)“ vom CCA Dakh Theater aus Kiew. Vier junge Frauen mit Zipfelmützen, Latzhosen und Quoten-Mann rockten die überfüllte kleinste Spielstätte mit einer Konzert-Show mit kleinen Performance-Einlagen und Video-Berieselung. Sie wurden vom Publikum für ihren Auftritt gefeiert, der so disparat war, wie angekündigt: „Folksongs, Kinderreime, traditionelle und zeitgenössische Poesie, eigene Texte, Weltnachrichten, Beiträge von Facebook, Erinnerungen und Träume“ wechselten sich ab. Ein roter Faden war weit und breit nicht zu erkennen, stattdessen experimentierten die ukrainischen Gäste munter vor sich hin.

Leider nur 17 Gäste kamen am Tag davor in die Box, als Ádám Császi, der auch mit seiner Theaterarbeit „Gypsy Hungarian“ bei „Radar Ost“ zu Gast war, seinen Debütfilm „Sturmland“ präsentierte. Diese beklemmende Coming-out-Geschichte über den Fußballer Szabi (András Sütö), der in seinem deutschen Verein gemobbt wird und zurück nach Ungarn geht, war einer der Höhepunkte im Panorama der Berlinale 2014 und überzeugt auch beim zweiten Ansehen fünf Jahre später. Mit kargen Worten und in grau verhangenen Bildern entfaltet sich eine dramatische Dreiecks-Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.

Die beste Nachricht des „Radar Ost“-Festivals war, dass in den kommenden Spielzeiten osteuropäische Regisseur*innen auch fürs Repertoire des Deutschen Theaters und nicht nur in der Nische eines Gastspiel-Wochenendes inszenieren werden. Das spannendste Projekt ist Kirill Serebrennikows Plan, seine „Decamerone“-Inszenierung nachzuholen, die schon für 2017 angekündigt war, aber wegen seines Moskauer Hausarrests verschoben werden musste. Hoffentlich durchkreuzen Politik und Justiz nicht auch den zweiten Anlauf. Mit der Polin Ewelina Marciniak holt das DT noch eine weitere Regisseurin an Bord, die für phantasievolles, aufregendes Theater steht. Im „Radar Ost“-Programmheft wurde ihre Arbeitsweise, die mich beim Freiburger „Sommernachtstraum“ begeistert hat, sehr anschaulich beschrieben.

https://daskulturblog.com/2019/05/29/radar-ost-2019-deutsches-theater-festival-kritik/
Leserkritik: Gefälsche Predigt, ATT Berlin
"Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben" von Boris Nikitin und Malte Scholz; Autorentheatertage-Gastspiel des Staatstheaters Nürnberg

Mit einer Predigt hat das Nürnberger Gastspiel mit dem langen Titel erstaunlich wenig zu tun. Bei der Arbeit von Boris Nikitin, der vor allem in der freien Szene unterwegs ist, und Malte Scholz handelt es sich um eine wortreiche, sehr textlastige Performance, die um den Tod und das Sterben kreist.

Aufhänger für die von Malte Scholz mit der sonoren Stimme eines Entertainers vorgetragenen, manchmal zu philosophisch-raunenden Textmasse sind Gedanken von Aristoteles und eine dazu passende Stelle aus Heiner Müllers „Der Auftrag“: „Ihr habt das Sterben verlernt, deswegen seid ihr zu keiner Revolution mehr fähig.“

Aufgelockert durch sehr schön vorgetragene Songs des Gospelchos Nürnberg und des Veitsbronner Gospelchors „Voices“ kämpft sich Scholz durch langsatmige Monologe, die vor allem um das Sterben seines Vaters kreisen, der an ALS litt und binnen Monaten komplett bewegungsunfähig wurde, seine ursprüngliche Patientenverfügung aber mehrfach änderte. Dazwischen schieben sich Gespräche mit Sterbehilfe-Vereinen in der Schweiz und Theater-Betriebs-Geplauder von Scholz mit seinem Kollegen Yascha Finn Nolting, der ihn am Klavier begleitet.

Der Seelenstriptease von Scholz, bei dem wie so oft in der Schwebe bleibt, wie viel fiktional oder autobiographisch ist, mündet in einen Striptease, an dessen Ende der Performer nackt am Boden liegt, während lange Kamerafahrten durch triste Krankenhaus-Sterbeflure über die Leinwand flimmern.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/02/auffuhrung-einer-gefalschten-predigt-uber-das-sterben-kritik/
Hexenjagd, Hamburg: im Kontext gesellschaftlicher Systemimperative
„Hexenjagd“ von Arthur Miller

(Deutsch von Hannelene Limpach und Dietrich Hilsdorf, Mitarbeit: Alexander F. Hoffmann)

Regie: Stefan Pucher
Premiere 29. September 2018, Thalia Theater

Das vorliegende Theaterstück im Kontext gesellschaftlicher Systemimperative des 21. Jahrhunderts
- Ein Deutungsversuch -

„In Salem verstehen die Leute keinen Spaß. Als Pastor Parris heimlich junge Mädchen beim kultischen Tanzen im Wald beobachtet und einige von ihnen tags darauf in eine merkwürdige Trance verfallen, ist die Sache klar: Hier geht es mit dem Teufel zu. Das ist die Stunde der Fanatiker, und davon gibt es im puritanischen Salem jede Menge. Vor allem, wenn neben religiösen auch ökonomische und erotische Interessen ins Spiel kommen. Die Gruppe junger Mädchen, angeführt von Abigail Williams, ist scheinbar im Verbund mit einer höheren Macht. Sie verbreiten Hysterie mit ihrer Behauptung, Hexen erkennen zu können. Das Klima in Salem verändert sich in irrem Tempo. Nachbarn beschuldigen Nachbarn. Es kommt zu Verfolgungen, zur Hexenjagd. Die Obrigkeit schreitet zur Tat, ein Gericht wird eingesetzt. Nur wer zugibt, mit dem Teufel im Bund zu sein, kann sich vor dem Galgen retten.
Sind die Salemer noch bei Verstand? Was soll diese Auslöschungsdemonstration? Sie lieben, sie hassen, sie denunzieren – um möglichst großen Nutzen zu erzielen. Der ganze Irrsinn endet mit der Lynchjustiz an vielen unbequemen Bewohnern Salems.
[…]“

(Thalia Theater/ Webseite/ Hexenjagd/ https://www.thalia-theater.de/stueck/hexenjagd-2018/ letzter Abruf: 03.06.2019)

Über das in Rede stehende Theaterstück ist im Feuilleton bereits manches geschrieben worden, hier sei auf die relevanten Publikationsorgane unter dem Link https://www.google.de/search?source=hp&ei=LVCqXMeBKYTGwAK_rI2gCw&q=hexenjagd+thalia+theater&oq=Hexenjagd&gs_l=psy-ab.1.0.0l10.71826.75432..77790...0.0..0.80.410.9......0....1..gws-wiz.....0..0i131.K-Gx90KLEa8 (letzter Abruf: 03.06.2019) hingewiesen.

Wiederholungen dessen, was es dort zu lesen gibt, werden im vorliegenden Kommentar, einmal abgesehen von wörtlich zitierten Textbelegen, tunlichst vermieden, soweit dies möglich ist. Dagegen könnten sich manche ergänzende Aspekte, wenngleich ebenfalls vermutlich nicht ganz unbekannt, in den folgenden Zusammenhängen als durchaus aufschlussreich, zumindest – so wäre zu hoffen – als diskutabel erweisen.

In einem Zeitalter, zu dessen „Markenkern“ ein hoher Grad an technologischem Fortschritt gehört, das in manchen Breiten der Welt auch in den Bereichen u.a. von Politik, Philosophie, Kultur und Geisteswissenschaft einen ausdifferenzierten zivilisatorischen Standard von hervorragender Qualität aufweist, was Recherche, Denkkategorien, Interpretation und Schlussfolgerungen, im Übrigen auch was soziale wie ethische Einstellungen - man denke an Weltoffenheit, Pluralismus, Problembewusstsein und damit in Verbindung stehende Toleranz - anbelangt, in einem so zu verstehenden Abschnitt menschheitsgeschichtlicher Entwicklung wirkt ein Bühnenstück, wie es derzeit am Thalia Theater in Hamburg aufgeführt wird, ein Stück, in dem Mythisches, Kultisches, Fanatisches und Teuflisches eine Rolle spielen, in dem „Rache, Hass, Betrug, Skrupellosigkeit, Verschwörung, Angst, Fanatismus, Aberglaube, Paranoia, Dummheit, Eitelkeit […]“ sich „in hemmungsloser Brüllerei und Ausbrüchen kreischender Massenhysterie und Ohnmachtsanfällen“ (Monika Nellissen: Hexenjagd: So schlicht, so gut/ Welt (online)/ 01.10.2018/
https://www.welt.de/print/welt_kompakt/hamburg/article181721666/Hexenjagd-So-schlicht-so-gut.html/ letzter Abruf: 03.06.2019) entladen, - in der modernen Zeit des 21. Jahrhunderts wirkt ein Schauspiel wie das hier dargebotene, das sich auf zurückliegende, genauer gesagt mittelalterlich/ frühneuzeitliche Erscheinungsformen der Gesellschaft kapriziert, von Arthur Miller unter dem Eindruck der Kommunistenverfolgung in den USA zur Zeit des damaligen Senators McCarthy geschrieben wurde, fremdartig, höchst unheimlich, für manch einen vielleicht sogar angenehm-unheimlich, wenn „unheimlich“ hier in verharmlosender Weise mit „spannend“ sowie „schließlich überwunden und letztlich ungefährlich“ identifiziert wird. Letzteres jedoch wäre wohl schnell zu relativieren, dürfte sich vielleicht sogar verbieten, denn bei genauerer Beobachtung, differenzierter Wahrnehmung und einer damit verbundenen Ansprechbarkeit wird wohl nicht ganz von der Hand zu weisen sein, dass derzeit ein allgemeines Gefühl diffusen Bedrohtseins von durchaus aktuellem Charakter sich bei einem Teil der Bevölkerung einzustellen bereits am Werke ist. Rechts- und Linksradikalismus „siedeln“ an den Rändern der Gesellschaft – derzeit liegt der Schwerpunkt, was Menschenfeindlichkeit und Demokratiegefährdung anbelangt, auf dem Aktionsfeld von Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, Bewegungen, die sich in Europa bekanntlich ausgebreitet, dabei in den vergangenen Jahren in der Bevölkerung an Aufmerksamkeit gewonnen haben, in Parlamenten präsent sind, autoritäre Strukturen und Prozesse in Gesellschaft und Staat zu befördern beabsichtigen, gesellschaftliche Eliten in der Regel verbal bekämpfen und insofern alles in allem eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das jeweilige Gemeinwesen, letztlich für die menschliche Gemeinschaft grenzüberschreitend und global darstellen.

Das vorliegende Theaterstück lässt, was die Lebensrealität angeht, eine gewisse, wenngleich eigenwillige Übertragbarkeit auf andere, will sagen heutige Zeitverhältnisse zu. Darauf wird im weiteren Verlauf der Darlegungen noch eingegangen.

Der vollständige Kommentar findet sich hier: http://www.michaelpleister.de/9.html

Michael Pleister, im Juni 2019
Leserkritik, Geisterseher, Thalia Hamburg: magisch
Geisterseher eine Sternstunde des Theaters. Antú Romero Nunes, Paul Schröder und Jirka Zett erschaffen einen Abend voller Magie. Theater ein Fest der Kreativität und Freude. Ein Rausch für die Sinne. Eine leere Bühne, Licht, Ton, Nebel- und Windmaschine, zwei Schauspieler und ein Regisseur verzaubern das Publikum für 2 Stunden mit Magie. Nunes wählte als Grundlage für diesen Abend Schillers „Der Geisterseher“. Der Text ist eine Art Polit- Mystery-Thriller mit Elementen der Trivialliteratur und philosophischen Dialogen. Schiller erzählt in „Der Geisterseher“ wie eine jesuitische Geheimgesellschaft mittels einer Intrige, den protestantischen Prinzen zum Katholizismus bekehrt und ihm seine Herrschaft in seiner Heimat sichern will, um dort ihre eigenen Machtinteressen auszubauen. Am Schicksal des Prinzen werden Schillers zentrale Konflikte zwischen Leidenschaft und Sittlichkeit, Neigung und Pflicht deutlich. Dies dient Nunes um Theater dem Zuschauer emotional erfahrbar zu machen. Jirka Zett ist der zunächst zurückhaltende, schüchterne und versponnene Prinz. Paul Schröder, sein Gegenpart, ein Magier, der verzaubern und blenden will. Die beiden Schauspieler umkreisen und belauern einander, sie reizen sich gegenseitig bis aufs Blut und torpedieren sich ständig mit kleinen Hinterhältigkeiten, die das Gegenüber spielerisch lösen soll. Dem Regisseur und den beiden Schauspielern gelingt es ein Feuerwerk der Illusion abzufeuern, dass man nur mit weitaufgerissenen Kinderaugen bestaunen kann. Diese Wiederaufnahme einer der ersten erfolgreichen Inszenierungen Nunes zeigt, dass Theater außer kreativer Ideen und begnadeter Schauspieler - voller Spiellust - nichts bedarf, um das Publikum zu verzaubern. Paul Schröder zaubert im blauen Nebel eine herrliche, zirzensische Zaubernummer, die aber unmittelbar nach ihrem Ende als billiger Trick enttarnt wird. Oder wenn mittels Windmaschine und farbiger Plastiktüten ein Wirbel von farbiger Lebensfreude auf die Bühne gezaubert wird, entfaltet das Theater seine magische Kraft der Illusion und das Kopfkino kennt keine Grenzen mehr. Doch immer wieder machen die Schauspieler deutlich, dass es nur Spiel ist, was vor unseren Augen entsteht, aber die Kraft zu verzaubern hat. Zum Schluss durchbricht die Inszenierung nochmals die Barriere zum Publikum, indem die beiden Darsteller über den Schluss streiten, bevor es zu einem gewaltigen Schlussbild mit grünen Laserstrahlen im Nebel und den Worten „Dienen wir nicht einem höheren Zweck? Aber auch als mitdenkendes, mitbefragtes Wesen.“ kommt. Ein magischer, grandioser Theaterabend dank zweier furios aufspielender Schauspieler und einer Funken sprühenden Regie. Bravissimo – Chapeau.
Leserkritik: Arbeitstreffen Kinder- + Jugendtheater in BaWü
Arbeitstreffen der Kinder- und Jugendtheater in Baden-Württemberg – Trends und Themen

Zwölf Tage liegen zwischen dem Ende von „Augenblickmal!“, dem „Festival des Theaters für junges Publikum“ in Berlin und dem Arbeitstreffen der baden-württembergischen Kinder- und Jugendtheater während des 24. Baden-Württembergischen Theatertreffens in Baden-Baden. Für Berlin wählt ein fünfköpfiges Kuratorium jeweils fünf „interessante“ Inszenierungen für Kinder, bzw. Jugendliche aus. Dabei ist deren Aufgabe weniger, im „Mainstream“ herum zu stochern, sondern neue spannende Entwicklungen heraus zu filtern, die es zu promoten gilt. Von der Konzeption her ist durchaus gewollt, kulturpolitische Impulse zu setzen, zumal sich hier nationale und internationale Theatermacher, Studenten, kurz: ein interessiertes Fachpublikum trifft. Entsprechend sind die Begleitveranstaltungen ausgerichtet, die die vom Kuratorium gesetzten Schwerpunkte vertiefen und handhabbar machen wollen.

„Augenblickmal!“ ist ein Festival, eine Schau, die künftige Themen zu besetzen versucht, wie in der Vergangenheit das Theater für die Allerkleinsten oder den Stellenwert der kulturellen Bildung für die Szene. Die Begegnung baden-württembergischer Kinder- und Jugendtheater hingegen ist ein Arbeitstreffen. Seit 1981 findet es gemeinsam mit dem alle zwei Jahre durchgeführten „Baden-Württembergischen Theatertagen“ an wechselnden Orten statt, in den Zwischenjahren ist es Teil des internationalen Festivals „Schöne Aussicht“ in Stuttgart. Eine Jury fährt dann durch Baden-Württemberg, um eine Auswahl zu treffen. Denn längst ist die Szene im Ländle zwar nicht unüberschaubar geworden, aber seitdem sich der Ausrichter, der Arbeitskreis baden-württembergischer Kinder- und Jugendtheater (künftig: AK), sich auch der freien Szene geöffnet hat, hat sich die Anzahl der Mitglieder auf 16 erhöht (es begann einmal mit 6), plus einem Nicht-Vollmitglied. Selbst bei einem normalen Treffen können nicht mehr wie in der Vergangenheit alle Ensembles ihre Aufführungen zeigen. Aber hierfür gibt es keine Jury, sondern ein rollierendes System: Die Gruppen, die beim letzten Treffen vor zwei Jahren in Ulm mit einer Aufführung dabei waren, hatten für eine Teilnahme in Baden-Baden nur die Chance über ein Verlosungsverfahren. Da hatten das Junge Nationaltheater Mannheim, das Junge Staatstheater Karlsruhe oder das Theater im Marienbad kein Losglück…

Zum Konzept dieses Arbeitstreffens gehört seit Anbeginn, dass alle Ensembles für die Zeit des Treffens vor Ort sind, um gemeinsam die Aufführungen zu besuchen und zu diskutieren, sich in Workshops gegenseitig kennen zu lernen und zugleich fortzubilden, sowie in Berufsgruppen (Schauspieler, Dramaturgen, Theaterpädagogen, Regieassistenten) sich auszutauschen. In Stuttgart werden die internationalen Kinder- und Jugendtheaterinszenierungen, bei den BaWü-Treffen die Stücke aus den Abendspielplänen angesehen und in den Diskurs einbezogen. Dies Konzept hat sich in der Vergangenheit bewährt, wenn auch stets mit neuen Diskursformen experimentiert wurde. Wie diese basisdemokratische Strategie sich in Zukunft entwickelt, da nicht alle Gruppen vollzählig dabei sein können, dürfte eine spannende Frage werden. In Baden-Baden jedenfalls funktionierte das Programm gut, zumal das veranstaltende Theater Baden-Baden die Aktivitäten der Kinder- und Jugendtheater auf ein Gelände konzentrieren konnte, der Cité, den ehemaligen Kasernen der Franzosen. Mensa, Workshop-, Diskussionsräume wie die Aufführungsstätte lagen nahe beieinander, ein Festival der kurzen Wege und der vielen Gespräche. Allerdings auch um den Preis, dass man fast unter sich blieb.

Während „Augenblickmal!“ kulturpolitische Impulse auszusenden versucht und den Mainstream wie der Teufel das Weihwasser meidet, gibt es für ein Arbeitstreffen eine solche Zentrierung nicht, erst recht nicht, wenn kein Kuratorium vorab ein ästhetisches Konzept vorzugeben versucht. Um es vorwegzunehmen: „Mainstream“ gab es in Baden-Baden dennoch nicht zu sehen, keine Produktionen, die sich der „Zerstreuung“ ihres Publikums andienen, sondern sich an den Lehrsatz von Brecht hielten: „Das Theater braucht keinen anderen Ausweis als den Spaß“. Und den Spaß, der sich mit dem Spaß am forschenden Lernen verbindet – auch auffällig: die Angst davor, „pädagogisch“ zu sein, ist verschwunden -, den gab es in Baden-Baden reichlich. „Nina und Paul“ von Thilo Reffert z.B., von Anne Wittmiß am JES Stuttgart inszeniert explodierte in der Werkstatt der Louis-Lepoix-Schule (Bühnenmaler und -plastiker) förmlich. Das Publikum saß mitten im Raum, der durch Drachenköpfe und andere Utensilien eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlte. Anna-Lena Hitzfeld und Sebastian Brummer schafften sich immer neue Wege bei der Erzählung ihrer Geschichte des Kennenlernens zweier junger Menschen in der Abschlussklasse der Grundschule durch das Publikum. Das vermittelte den hohen Reiz des Improvisatorischen, der sich gekonnt mit dem Komödiantischen verband und dennoch beim Publikum tiefe Emotionen auszulösen vermochte. Auch in dem Mobbingstück „Die Geschichte von Lena“ von Michael Ramlose und Kira Elhauge gelingt es Diana Wolf und Philipp Dürschmied ein komödiantisches Feuerwerk zu entfachen. Dabei verschwindet das ernste Thema keineswegs, sondern, indem sich Autoren und die Inszenierung von Anne Klöcker und Winfried Tobias am Theater Aalen in die Perspektive des Mädchens und ihren Erfahrungshorizont einlassen, bleibt auch der pädagogische Zeigefinger weitgehend unterdrückt, bzw. wird es in der dem Stück sofort folgenden theaterpädagogischen Aufbereitung erst wieder hervor geholt.
„Nina und Paul“ ist aus der Perspektive der beiden jungen Menschen erzählt, man divergiert in der Erzählung leicht in den Fakten. Mit zwei „unzuverlässigen Erzählern“ ist es komplexer als „Lena“, wo nur eine Ansicht zur Anschauung kommt. Beide Stücke stehen in Gefahr, wenn die Figuren nicht in ihrem So-Sein ernstgenommen werden, dass diese verlacht werden. Trotz ihres hohen Spieltempos und der ausgeprägten Komödiantik, die sich in der Lust der Spielerinnen und Spieler zeigt, verwandelt sich in beiden Aufführungen das befreite Lachen des Publikums nicht in Hohn über die Bedürfnisse der spielenden „Kinder“, sondern setzt sich empathisch um: das Publikum fühlt lachend und weinend mit. Das Spiel selbst wird zum triumphalen Markenzeichen und gerade, weil gespielt wird, braucht es keine dezidierte moralische Ausrichtung. Die starken Geschichten, die erzählt werden, müssen nicht in Handlungsanweisungen für das Publikum enden, sie stehen für sich. Und sie brauchen nicht einmal ein Bühnenbild, sie nutzen den Raum, wie er sich gerade anbietet.

Natürlich lässt sich ein solches Spiel auch in einer Szene entwickeln, in der die Bühne geradezu zugemüllt ist, wie in „Zonka und Schlurch“ von Finn-Ole Heinrich und Dita Zipfel. Ein schräges Stück, dass die Autoren zusammen mit der Jungen Württembergischen Landesbühne Esslingen innerhalb von „Nah dran!“ entwickelt haben. Erzählt wird die Geschichte von zwei aussortierten künstlichen Intelligenzen, die auf der Flucht vor den Menschen sich ganz tief in die Erde eingegraben haben und Maschinen basteln, die ihrer Intelligenz folgen sollen. Daniel Großkämpfer und Julian Häuser spielen das mit großer Lust und Komödiantik. Und dann landet doch noch ein Mensch bei ihnen, ein Schröder, den Sabine Christiane Dotzer mit wunderbarem Slapstick groß vorführt. Was Heinrich/Zipfel hier zeigen, erscheint auf den ersten Blick als bloße Blödelei, auch sprachlich in einem deformierten Hamburgisch, aber erzählt wird eine Hommage an die Freundschaft, jenseits aller moralischen Belehrungen, wenn durchaus auch jede Dreierkonstellation die Probe auf eine Freundschaft ist…

Erstaunliche Beobachtung ist, dass in dem Moment, wo der Prozess des Spielens durch Formalisierungen gebannt wird, pädagogische Anweisungen sich vordrängen. Am deutlichsten war das in „Miyu Unsahiro“ von Flo Staffelmayr, von Nora Bussenius am jungen theater heidelberg inszeniert, zu sehen. Eine Geschichte über Leistungsdruck von jungen Menschen, die, um diesen zu entkommen, sich in eine Computerspielwelt der großen Meister flüchten, bis es dann doch ein gutes Ende in der Wirklichkeit gibt. Also eine Geschichte, die durchaus vielen jungen Menschen hierzulande auf den Nägeln brennt. Aber Staffelmayr ist das zu nah, er greift daher auf den „Verfremdungseffekt“ zurück. Parabelhaft verlegt er die Handlung in ein Japanambiente, das Sebastian Ellrich sehr ästhetisch in Schwarz-Weiß-Kombinationen ausstattet. Bild wie die geschminkten Gesichter zitieren allerdings nur abstrahierende Momente, die eher dem Bereich des Mangas und des Anime zuzuordnen sind als dem No-Spiel. Das hat einen hohen formalen Reiz, paradoxerweise aber erweist sich in dieser Künstlichkeit nicht nur, wie schwach der Text ist, sondern auch wie holzhammerhaft pädagogisch. Trotz der Verfremdung sind Figuren und Handlung schnell durchschaubar, so dass Längen entstehen. Das ist schade für das Ensemble, dass diese fremdgemachte Welt lebendig machen soll und dabei doch als Objekte durch eine streng formalisiere Inszenierung geführt werden. Immerhin gelingt es den Spielern, Präsenz zu zeigen.

„Die Kuh Rosemarie“ von Andri Beyeler ist sprachlich ein präzis durchrhythmisiertes Stück. Was aber passiert, wenn es in Show-Ambiente verlegt wird, mit pinkem Licht, die literarische Sprache in Songs übersetzt wird oder gar eigene neu hinzugedichtet werden und zum Schluss hin aus moralischen Bedenken – die Afrikabilder seien zu klischeehaft, so das Team von der Jungen Bühne Ulm um deren Leiter Sven Wisser – der Text stark eingestrichen wird? Es gaukelt Unterhaltung vor und wirkt dabei wie ein pädagogisierendes Lehrstück. Dem Team zu Gute zu halten ist, dass es für diese Gruppe ein Experiment ist, vier Darstellerinnen und Darsteller arbeiten ohne Regisseur - was man merkt. Sie versuchen, basisdemokratisch eine Arbeitsgrundlage zu finden und handeln von Szene zu Szene Lösungen neu aus. So kann man dieses Experiment auch als „work in progress“ verstehen, wenn die Anregungen aus dem Aufführungsgespräch angenommen werden können, könnte es noch spannend werden.

Wie wichtig eine konsequente Regie für die Ausformung einer Ästhetik sein kann, zeigte Joerg Bitterich von der Jungen Badischen Landesbühne Bruchsal mit „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“ von Finn-Ole Heinrich und Dita Zipfel. Mit nur drei Schauspielern und den Flachrequisiten von Georg Burger entwickelt der Regisseur mit hohem Spieltempo eine comichafte Version dieses Stoffes, der davon erzählt, wie Maulina mit der neuen Situation, aus ihrem Paradies heraus genommen zu werden und zu begreifen, wie krank ihre Mutter ist, umgehen muss. Auch hier wird die Geschichte aus der Perspektive des Mädchens erzählt, ist ganz und gar auf ihren Erfahrungsraum beschränkt. So wird es möglich, dass das junge Publikum voll in die Geschichte eingesogen wird und unaufdringlich dem Lernprozess Maulinas als spielerischen Handlungen nachvollziehen kann. Mit hohem komödiantischem Einsatz erzählen Yasmin Vanessa Münter, Norhild Reinicke und Frederik Kienle diese Geschichte, die hier in die Nähe eines Comic-Strips kommt, der den Schwerpunkt auf die Aktionen legt und nicht auf die Entwicklungen von deren Motiven.
Nicht nur auf Grund seiner Zweisprachigkeit – Deutsch und Französisch – fällt „Die Geschichte von Petit Pierre“ auf, die Suzanne Lebeau nach einer wahren Biografie, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seinen Weltkriegen verbindet, erzählt. Es ist die Geschichte eines missgestalteten Menschen, der als Behinderter abgestempelt, sich in seine eigene Welt zurückzieht, wobei am Ende ein großes Karussell entsteht. Der Text von Lebeau und die Inszenierung von Maxime Pacaud am Baal Novo Theater Eurodistrict Offenburg leiden unter der Schwierigkeit, dass Pierre sich selbst nicht artikuliert – man gewisser Weise nicht in ihn hinein sehen kann – sondern er allein in äußeren Aktionen erscheint. Dass die Aufführung Pierre in der Perspektive der Gesellschaft mit allen Vorurteilen der vergangenen Jahrzehnte gegen Behinderte aufzeigt und dazu noch Klischeebilder im Spiel erzeugt werden, stieß auf heftige Kritik und ließ vergessen, dass Horst Kiss und Jean-Michel Räber ein intensives Spiel mit Objekten entwickelten.

Wenn denn eindeutig der Schwerpunkt bei den Mitgliedsbühnen des AK auf den diesjährigen Baden-Württembergischen Theatertagen auf das Kindertheater lag und keine Parität von Produktionen für Jugendliche angestrebt wurde – wie in Berlin -, so entspricht das in etwa dem tatsächlichen Spielplangebot der Ensembles im Ländle: im Durchschnitt stehen drei Kinder-, ein bis zwei Jugendstücke gegenüber. Hinzu kommt, dass sich oft auch in den Abendspielplänen der Bühnen Angebote für Jugendliche verbergen. So konnte man vom Theater Pforzheim „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury sehen, eindeutig hin auf Jugendliche konzipiert oder auch die Rap-Oper „Der Fluch der Tantaliden“ vom Nationaltheater Mannheim war sehr auf die Rezeptionsgewohnheiten junger Menschen zugeschnitten. So gab es nur drei Jugendstücke durch Mitgliedsbühnen des AK zu sehen, alle drei als künstlerisches Experiment angekündigt. Was bei „Andorra“ von Max Frisch erstaunt. Am Jungen Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen/Reutlingen inszeniert Fanny Brunner ein Vorspiel, in dem nicht nur Max Frisch selbst auftritt, sondern eine Diskussion geführt wird, als ob diese Aufführung nicht für Jugendliche, sondern für ein Abonnentenpublikum gemacht sei. Das Vorspiel bricht ab und aus einer Dekonstruktion des Textes heraus entsteht ein formal betonte Produktion. Da die fünf Spielerinnen und Spieler ständig die Rollen wechseln, was eigentlich eine Verschärfung des politischen Inhalts bedeutet, weil jede und jeder Andri sein kann, werden dennoch zur besseren Orientierung Pappkameraden mit den Gesichtern der Mitwirkenden auf- und abgetragen. Sobald das Prinzip durchschaut ist, wird es langweilig, aber es wird bis zum Ende durchgezogen.

Darüber hinaus werden Songs eingesetzt, die weniger die Handlungen kommentieren, sondern Atmosphäre erzeugen. Wie aber die Aufführung wirklich funktioniert, ist schwer zu beurteilen, wenn man in der 2. Loge ganz oben sitzt und doch spürt, dass da eine Inszenierung ist, die versucht, sich ganz nah am Publikum zu verorten.
Zu den Abithemen in Baden-Württemberg gehört „Der goldene Topf“ von E.T.A. Hoffmann, deshalb findet der Text sich auf vielen Spielplänen im Ländle. Das gastgebende Theater Baden-Baden zeigt die Geschichte des Anselmus in der Regie von Nicola May als eine, in der sich in zwei Welten bewegt wird. Der Student muss sich entscheiden, ob er in der Virtual Reality mit Serpentina leben oder in einer bürgerlichen Wirklichkeit mit Veronika sich einrichten möchte. Ein Teil der Zuschauer wird zunächst in einem Raum geführt, in dem ihnen eine Cyber-Brille aufgesetzt wird, mit der ein gezeichneten Video von Sebastian Ganz betrachtet werden kann, das die Vorgeschichte des Archivarius Lindhorst als Salamanderkönig erzählt. Dann wird das Publikum in ein vornehm (groß)bürgerliches Zimmer geführt, wo die Figuren in historischen Kostümen die (Männlichkeits)Rituale im Salon ausüben. Dabei wird immer wieder in einem zweiten fast kahlen Raum hin- und hergeswitscht, der mit Videos die virtuelle Welt andeutet. Das Publikum folgt den Spielern, aber, man kann auch aus dem einen Raum den anderen beobachten, so ganz lässt sich das Vorspiel nicht integrieren. Cyber bleibt Cyber und die alte Geschichte alt, aber man wird durch die Komödiantik der Spieler mitgerissen.

Und das „klassische“ Jugendtheater? Geschichten von jungen Menschen, die von den Erwachsenen allein in ihren Nöten gelassen werden, wo sexuelle Nöte und die Suche nach Identität die Welt so fremd erscheinen lassen, dass man am liebsten Amok laufen möchte? Nach dem Roman von Mikael Niemi hat Stefan Eberle am Jungen Theater Konstanz „Erschieß die Apfelsine“ in drei Abteilungen entwickelt, die scheiternde erste Liebe, das gewählte Anderssein und die Freundschaft zu Palle. Sein Hass auf die Welt macht ihn zum Lyriker, aber seine Mutter verbrennt die Gedichte… Auch hier wird konsequent aus der Perspektive des Jungen erzählt, zu dem das Publikum einen stark empathischen Zug entwickeln kann. Das ständige Zurückgestoßenwerden, überhaupt die Erfahrung der Enge lässt ihn nicht unterkriegen, sondern er rennt dagegen an. Am Ende dann, wenn Palle und er in der Schule einen Amoklauf planen, das Publikum erfährt, dass Palle Eltern und Hund umgebracht hat, überschlägt sich die Handlung in Volten. Mit einer Fülle von Einfällen, Musik und Videofilmen erzählt Eberle die Geschichte, so dass der kritische Betrachter manchmal das Gefühl hat: Da hat einer Angst, dass es dem Publikum langweilig werden könnte und haut atemlos die nächste szenische Idee drauf. Das ist schade, denn diese Inszenierung hat dann ihre Höhepunkte, wenn sie ihren Akteuren den Raum gibt durch zu atmen.

Die Bilanz, die man aus dem Arbeitstreffen in Baden-Baden, ziehen könnte, ist: überall dort, wo alle Mittel auf das Spielen selbst konzentriert werden, entsteht ein wundervolles Theater, improvisatorisch, von der Liebe zum Publikum getragen, komödiantisch und frech und voller Empathie. Weil die Geschichten aus der Perspektive der handelnden Kinder und Jugendlichen erzählen werden, gibt es auch ein stärkeres Identifikationsangebot für die jungen Menschen und eines, das auf eine explizit formulierte moralische Anweisung verzichten kann, weil man den Erfahrungsprozess der Heldin, des Helden mit erfahren kann.

Juni 2019 / Manfred Jahnke
Arbeitstreffen Kinder- + Jugendtheater, BaWü: schön
Schön, auf dieser Seite mal was zu lesen über die innovative Sparte Theater für ein junges Publikum. Schade, dass die Redaktion es unter Leserkritik versteckt...
Leserkritik: Pugs in love, Gorki Theater, Berlin
Festival "Pugs in love", Gorki Theater

Tobias Herzberg verabschiedete sich vom Studio Я des Gorki Theaters mit einer Neuauflage des „Pugs in Love“-Festivals, bevor er zur neuen Spielzeit das Kasino des Burgtheaters übernehmen wird. Passend zum Jubiläum „50 Jahre Stonewall“ standen die vier Tage ganz im Zeichen der Erinnerung an Wegmarken der queeren Geschichte. So wurden beispielsweise ab 16 Uhr an drei Nachmittagen mehrere „Sideways“-Touren von Zeitzeug*innen durch Schöneberg und Prenzlauer Berg angeboten.

Ein Höhepunkt des Festivals war die „W(a)rm Holes“-Produktion. Yoni Leyser, von dem zuletzt der Film „Desire will set you free“ zu sehen war, brachte für sein Theaterdebüt im Studio Я charismatische Künstler*innen der queeren Berliner Szene aus verschiedenen Generationen zusammen. Den Abend tragen vor allem zwei Performer*innen: Der brasilianische Tänzer Jair Luna, der zuletzt mit einem Solo am Ballhaus Naunynstraße zu sehen war, eröffnet die einstündige Stückentwicklung mit einer tollen Choreographie, die den mühsamen Weg schwuler Emanzipation symbolisiert. Er kämpft sich durch die Stoffbahnen (Bühne/Video: Shahrzad Rahmani und Camille Lacadee) in die Freiheit und startet eine Party im Berliner Nachtleben, der sich auch die anderen vier anschließen.

Der skizzenhafte Abend „W(a)rm Holes“ lebt außerdem vom Charme und den Lebensweisheiten von Zazie de Paris, die 1975 nach Schöneberg kam und eine der Travestie-Pionier*innen war. Einem größeren Publikum wurde sie als Fanny im Frankfurter „Tatort“ bekannt. Sie erzählt sehr authentisch von den Leiden des kleinen Serge, der auf dem Fußballplatz sofort das Weite suchte und heimlich Ballett-Unterricht nahm und von den traurigen Momenten an den Sterbebetten auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise.

Im Kasino des Burgtheaters Wien könnte eine spannende Mischung entstehen, wenn Tobias Herzbergs queere Performances auf die Experimentierfreude des Marstall-Teams treffen, das der Intendant Martin Kušej aus München mitbringt. Es ist zu hoffen, dass wir davon auch einiges als Gastspiele an Herzbergs alter Wirkungsstätte im Studio Я erleben können.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/16/pugs-in-love-gorki-theater-queer-festival/
Leserkritik: Peter Hacks, Der Frieden, Theater Freiberg
Die Exekution des Friedens

„Der Frieden“, eine Komödie von Peter Hacks nach Aristophanes, interpretiert vom Theater Freiberg. Zur Premiere vom 11.5.2019. Peter Grandt (Grandt liest Hacks: https://grandtliesthacks.wordpress.com )

Er werde nicht aufgeführt, sondern exekutiert, so der Dichter Peter Hacks. Das er auch mit dieser Äußerung ins Schwarze trifft, kann man nun im Freiberger Theater besichtigen. Die Inszenierung gleicht einer Hinrichtung mit Ansage:

Verpassen Sie nicht, wie Peter Hacks schreibt, „dieses schöne Theaterstück, um das es wahrhaft schade wäre“.

Mit diesem Original-Satz, der hier aber tatsächlich höhnisch gemeint ist, endet der Werbezettel, den das Mittelsächsische Theater verteilt. Auch mit Szenenfotos und Programmheft erweckt es zunächst den Anschein, man werde den Hacks spielen. Mit dem Auftritt des Chorführers, also mit der allerersten Sekunde, wird klar, daß man unberechtigten Hoffnungen nachhing. Statt der Komödie gibt’s die übliche Kirchenpredigt. Wer da nun immer schuldig zu sprechen ist, der Witz des Stückes wurde weder gespielt noch begriffen.

Der Hierokles kriegt bei Hacks jedenfalls eine Standpauke von weiteren zweieinhalb Seiten, die hat die Kirchenpartei fürsorglich zensiert, den Hierokles ganz zu streichen scheute sie sich aber doch.

Michael Berger spricht den Hermes und den Hierokles auf wohltuende Weise. Auch Anton Andreew (Erster Sklave) legt sich mit hörbarer Freude auf die Schwingen der kraftstrotzenden Hacksschen Texte, die jeden Schauspieler stützen und tragen, die gestützt und getragen sein wollen. Hingegen muß Ralph Sählbrandt seine Rolle auf eine Weise anlegen, wie die Kapitalisten sich den Anführer des Chores wünschen: gebückt, blind, verkrüppelt, fußlahm. Die Lenzwonne (Susanna Voß) läßt die Regie einer Nackttänzerin gleich durch die Szenerie wirbeln, vorgehabte Sinnlichkeit wird zum Soft-Porno. Der Waffenkrämer stapft mit rotem Schlips und Aktenkoffer durchs alte Griechenland, er führt Hochglanz-Prospekte seiner Waren mitsich, solche Vergröberungen sind keine Verbesserungen zu einer Lanze. Das poetische Vermögen und das Textverständnis der zuständigen Theatermacher erhellt auch dieses Detail: Statt an seinen Harnisch zu klopfen – der Panzer sei im Kriege zehn Mienen wert gewesen – zeigt der Waffenkrämer in Freiberg einen kleinen Spielzeug-Panzer aus seinem Aktenkoffer vor.

Für die nicht vorhandene, nur zweckmäßig eingerichtete Bühne zeichnet Peter Groß, die Musik von Andre Asriel ist wundervoll.

Das Publikum sitzt gebannt und versucht die Hacksschen Texte zu verfolgen, obwohl das Haus sie mit sakraler Musik zersägen läßt, um das Ohr abzulenken. Die Monologe, die der Intendant Ralf-Peter Schulze eigenmächtig in das Stück einfügen lies, bringen die Meinung des Dichters aus dem Stück und die Langweile und die Einfalt der Zensoren herein: Nicht die Angriffskrieger, nicht die Diktatoren der menschenverachtenden Wirtschaftsblockaden, nicht die industriemäßigen Pluralisierer des Volkswillens seien Verbrecher, bloß die Menschheit insgesamt wäre schlecht. Dieses Meinungsdiktat ist ekelhafteste Zersetzung, der Autor jedenfalls wirft diese Haltung dem Hierokles vor die Füße.

Diese eigenmächtigen und durch nichts zu rechtfertigenden Einschübe haben demnach einen Sinn, sie vernichten die Aussage des Stückes und sie vernichten insbesondere auch den Charakter der Komödie. Sie erfüllen den Tatbestand der Zensur.

Der andere eigenmächtige Einschub betrifft die Friedensgöttin Eirene, die kommt bei Hacks nur als Statuette, als von Menschen gemachter, anbetungswürdiger Plan vor, leibhaftig tritt der Frieden nicht auf. Mit diesem Handstrich ist der seitenlange Vortrag im Stück enthalten, den Eirene in Freiberg leibhaftig predigt. Noch im Finale verweigert sie sich der schlechten Menschheit. Das aber ist weder der Geist des äußerst geschickten Bearbeiters Hacks, noch die Intention des Aristophanes. Hacksens Lesetext zum Frieden wurde im Programmheft abgedruckt, das Theater hat Kenntnis davon, es hat nur nicht die Absicht ihn zu spielen. Dem Rechteverwalter wird empfohlen, die Spielgenehmigung zu entziehen.

Der Frieden wurde 1962/63 in Berlin uraufgeführt, die stehende Orvation soll 45 Minuten gedauert haben, das Stück war über ein Jahr lang ein Kassenschlager. Der Inszenierung in Freiberg ist ein solcher Erfolg nicht vergönnt. Chor und Chorführer stehen heute geschlagen, der Waffenkrämer und der Hierokles des vormittelalterlichen Freiberg salutieren: Mission erfüllt, Frieden exekutiert.

Europa steht unter Dauerbeschuß, die unsoziale Marktwirtschaft bekämpft die soziale Marktwirtschaft. Die CDU plakatiert: „Frieden ist nicht selbstverständlich“ und in ihrer Kopflosigkeit erinnert sie an die Honecker-Regierung, die drei Jahre vor ihrem Untergang verzweifelt ähnlich eindringliche Äußerungen tat. Gewinnmaximierung ist erst zu Ende, wenn man sie abstellt, wußte man, bevor freies Geld freie Schulen einrichtete. Der Rezensent hat ein Problem: Wie trifft man die, die man im öffentlichen Raum nicht trifft? Nach dem artigen Premierenapplaus nicken sich zwei Herren im Parkett zu. Sie gehören eher in den Rotary Club denn ins Theaterumfeld, sie fallen auf, weil sich einzig auf ihren Gesichtern Zufriedenheit spiegelt. Sie tätscheln sich die Schulter und sagen im Hinausgehen: Na bitte…

Der Kapitalismus hat so einiges „überwunden“, die linke Idee der Menschlichkeit, den Zusammenhalt und den Mehrheitswillen des Volkes, den Knigge, die Rechtschreibung, die Grundsätze der Erziehung, die Zensuren, das Vermögen ein Fest zu feiern, den Leistungsgedanken, die Kunst, (der 1. Mai und die Nationalhymne sollen auch bald überwunden sein, hört man), nicht zuletzt den Frieden. Wer dafür die Theaterleute schelten wollte, würde größtenteils in eine Falle tappen, vor der uns Erich Kästner bewahrte, indem er analysierte: Die Kapitalisten sorgen, daß sich die Verlierer immer gegenseitig die Köpfe einschlagen und so kommt, daß die Köpfe der wirklich Schuldigen stets oben bleiben.

„Der Frieden“ enthält den Auftrag, die Gesellschaft hinter einem lohnenden Ziel zu einen. Die Inszenierung in Freiberg verfehlt diesen Auftrag, es ist Vorsatz zu unterstellen. („Der Frieden“ gehörte nach Berlin.) Diese Kunsteunuchen sollen uns ein Theater geben, wir inszenieren ihnen den Frieden – und durchaus mit der Freiberger Truppe – daß er einen Siegeszug durch die ganze Welt antritt.


Nachsatz zur Premierenfeier

Die Vereinzelung der Gesellschaft schlug sich auch in der anschließenden Premierenfeier nieder. Keiner, der das Wort ergriff, keiner der die Theaterleute mit den Theaterfreunden in eine Verbindung setzen wollte. Man schwieg sich an und wartete geduldig, bis die Leute wieder gegangen waren. Demokratische Gesprächskultur eben. Ein runder Tisch kam nicht zustande, Sprachlosigkeit wurde zelebriert, eben das Gegenteil des Volkswillens. Die Zuständigen machen ihren Job nicht, sie breiten notfalls verlogen die Arme aus und sagen: macht doch ihr, es hindert euch keiner. Das Volk hingegen hat ein Recht auf einen 8-Stunden-Tag, auf Zuständigkeiten und Leistung.
Leserkritik: volto umano, Halle Tanzbühne Berlin
"volto umano", cie. toula limnaios, Halle Tanzbühne Berlin

Ähnlich düster wie José Saramago und Kay Voges in „Die Stadt der Blinden“ blickt auch die Choreographin Toula Limnaios auf die Welt. In „volto umano – Das menschliche Gesicht“, ihrer Arbeit vom Juni 2018, die an diesem Wochenende zum vorerst letzten Mal in der Halle Tanzbühne Berlin lief, befasst sie sich mit Gewalt, Unterdrückung und Zurichtung.

Als die ersten Tänzer*innen aus dem riesigen Altkleider-Stapel ausbrechen, der im Hintergrund der Bühne aufgetürmt ist, setzt sich ein Hauen, Treten und Stechen in Gang. Von Beginn tragen sie schwarze Halsbänder: Priscilla Fiunda führt die anderen Performer*innen in einer Szene, die an Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ erinnernden Szene, an Hundeleinen über die Bühne, bevor sie kurz danach selbst an den Haaren gezerrt wird.

„volto umano“ ist ein in seiner Konsequenz überzeugender, zutiefst pessimistischer Abend aus kleinen Szenen: Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Tänzer*innen sich gegenseitig zum Objekt machen, ist in aller Brutalität spürbar, auch wenn sie tänzerisch sublimiert ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/16/volto-umano-halle-tanzbuhne-berlin-kritik/
Leserkritik "Der Friede": Lichtjahre her
# 548

Was für eine herausragende Rezension der Aufführung von „Der Friede" von Peter Hacks @ Peter Grandt. Sie berührt heikle Punkte.

Offensichtlich gibt es keine Instanz, die darüber wacht, ob dem Autor und seinem geistigen Eigentum, dem Werk, hinreichend Genüge getan wird. Unter der Bedingung der „künstlerischen Freiheit“ ist scheinbar alles möglich. Sinn- und textentstellende Einschübe und willkürliche Streichungen ganzer Passagen, wie Sie sagen, Bühnenbild- und Kostümverfremdungen sowieso, das kann alles einer höheren, besseren Vision geopfert werden (nur welcher?).

Es ist schon klar, dass Streichungen im Originaltext oft nicht zu vermeiden sind, aber wer befindet darüber, welche Kürzung zulässig ist und welche nicht, ich finde ebenfalls, dass hier letztlich Zensur waltet. Das Bedenkliche ist, dass die absolute Verfügungsgewalt der Kunstausführenden über das zunächst einmal rein ideelle Kunstwerk vor niemandem gerechtfertigt werden muss, ist sie erst einmal erteilt (oder doch?)

Wie ist es möglich, dass ein Stück, das 1962/63 bei seiner Uraufführung in Berlin die Zuschauer zu stehenden Ovationen bewegte und lange ein Kassenschlager war, heute nicht ansatzweise Glücksgefühle auslöst im Publikum, nur Sprachlosigkeit? Und wieso hält man die Geduld und Kritiklosigkeit der Rezipienten gegenüber den Kunstschaffenden offenbar für unendlich?

Sie sagen, Herr Grandt: „ „Der Frieden“ enthält den Auftrag, die Gesellschaft hinter einem lohnenden Ziel zu vereinen.“ Was für ein nobles Ansinnen. Davon sind wir ja wirklich Lichtjahre entfernt.

Viele Grüße!
Leserkritik "Der Friede": Schuld und Bühne
# 550
@ nachtkritik.de,
meine letzte Betreffzeile "Schuld und Bühne" war schon absichtlich so gewählt. Ich finde tatsächlich, dass Theater etwas mit Schuld zu tun hat, nicht nur mit Schuldzuweisung und Anprangern von Missständen, wofür Theater sich ganz selbstverständlich zuständig und berechtigt sieht, nein auch mit einer Bringschuld des Theaters selbst. Und so habe ich auch den Beitrag von Peter Grandt, # 548, verstanden.

In eine ähnliche Richtung zielte neulich ein Kommentar von Thomas Rothschild, aus dem hervorging, dass die Streichung von Unliebsamem sich nicht nur auf einzelne Passagen beziehen kann, sondern auf ganze Stücke:

https://rp-online.de/kultur/der-fall-dieter-forte-ein-skandal_aid-38608469

Das sind deutliche Züge von Autokratismus, die einmal besprochen gehören (und wo wenn nicht bei nachtkritik.de).
Leserkritik: Medea und Jason, Hamburg
„Medea und Jason“ nach Franz Grillparzer

Premiere 20. Oktober 2018, Thalia Theater

Das Theaterstück am Thalia Theater Hamburg unter der Regie von Jette Steckel. Ein Angelpunkt für Anschlussreflexionen: „Schuld“, „Fluchtbewegung“ und „Integration“

„Ihr Mythos lebt seit der Antike. Bis in die Gegenwart wird er immer wieder neu überschrieben. Es ist Medeas Ende, das sie berühmt gemacht hat: die monströse Verzweiflungstat, der Mord an ihren eigenen Kindern. Wie jedes grausame Ende einer Geschichte hat auch dieses eine Vorgeschichte. 'Wann hört das auf?' – 'Wann hat es angefangen?', fragen sich Medea und Jason immer wieder, als sie sich in einer letzten langen Begegnung gegenüberstehen.
'Kolchis. Wilde Gegend' – so beginnt der Dramatiker Franz Grillparzer seine Trilogie der Medea. Hier, am Ufer des Schwarzen Meeres, landet der griechische Held Phryxus. Sein Schiff hat ein goldenes Vlies zum Segel, ein geheimnisvolles Widderfell. Aietes, der König von Kolchis, erschlägt seinen Gast und raubt das goldene Vlies. Die junge Medea ist Zeugin des Mordes. Jahre später erreichen die Argonauten aus Griechenland Kolchis und fordern das goldene Vlies zurück. König Aietes plant, ihren Anführer Jason zu vergiften. Doch Medea rettet den Fremden, in den sie sich verliebt, opfert ihm Vater und Bruder und flieht mit ihm. Nach langer Irrfahrt, in Jasons Heimat Iolkos, nicht willkommen geheißen, gelangen sie nach Korinth und bitten um Asyl. Kinder sind inzwischen geboren, doch die Liebe ist erloschen. Medea bleibt hier eine Fremde. Jason geht eine Beziehung zur jungen Königstochter Kreusa ein, Medea gibt er preis. Entwurzelt, den Verrat nicht verwindend, holt sie zur Rache aus und bekennt: 'Man hat mich bös genannt, ich war es nicht: Allein ich fühle, dass man’s werden kann.' […]“ (Programmheft, einführender Text)

„Wann hat es angefangen?“, wie in den Ausführungen oben formuliert wird, - diese Wortfolge zielt nicht nur auf einen zeitlichen Aspekt, sondern ist in entsprechenden Zusammenhängen vor allem als Suche nach Bedingungen und Ursachen, darüber hinaus nach Schuld und Versagen zu deuten. Die genannte Frage setzt ein gewisses Problembewusstsein voraus, das sich im Zeitalter der Moderne, wie zu erwarten ist, sicherlich eingestellt hat. So treten doch bei näherem Hinschauen Abläufe von Handlungen sprachlicher wie auch real-konkreter Art gerade unter dem Akzent der oben gestellten, auf die Unterscheidung von Ursache und Wirkung ausgerichteten
Frage („Wann hat es angefangen?“), überdies im Kontext einer sich in Rasanz und Vielfalt ergehenden Gegenwart zumeist nicht so klar zutage, wie man es sich häufig in einer Art Unbefangenheit zunächst vorstellen mag. Dagegen ist die eigentliche Problemorientierung - hier nicht zu verwechseln mit Problembewusstsein - im Hinblick auf Handlungselemente, die miteinander verknüpft sind und unter dem Akzent von „Schuld und Versagen“ sowie von „Ursache und Folge“ stehen, im vorliegenden Theaterstück durchaus angelegt. Schon der auf das Bühnengeschehen vorbereitende Text im Programmheft dürfte den Zuschauer implizit auf Derartiges einstimmen, und zwar mit folgenden Zeilen:

„Regisseurin Jette Steckel erzählt in konzentrierter Konstellation Medeas tragische Geschichte als eine Kette von Gewalterfahrungen, Rechtsbrüchen, Verrat und Ausgrenzung. […]“ (Programmheft, einführender Text)

Deutlicher noch, was die Suche nach „Schuld und Ursache“ anbelangt, sind Aussagen und Fragen, wie sie in einem Textabschnitt aus dem Feuilleton formuliert werden:

„Sie hat für Jason ihre Familie geopfert, als sie ihm half, den Schatz, das goldene Vlies, ein geheimnisvolles Widderfell, in seinen Besitz zu bringen. 'Das alles tat ich nur für Dich', sagt sie. Hat er sie geliebt? Oder hat er sie nur für seine Karriere benutzt? Und sie? Brauchte sie ihn, um sich an ihrem Vater zu rächen?“ (Heide Soltau: 'Medea und Jason': Abgründe im Thalia Theater/ NDR.de/ 21.10.2018/ letzter Abruf: 16.06.2019)

Unter beiläufigem Hinweis auf partielles Desinteresse von Außenstehenden an bereits abgeschlossenen Eskalationsprozessen im Zusammenhang menschlicher Beziehungskonflikte heißt es in der Theaterkritik bezeichnenderweise:

„Es ist wie so oft, wenn Beziehungen zerbrechen: Außenstehende interessiert es im Nachhinein ja meist herzlich wenig, wie genau es zur Eskalation kam, an welchem Punkt wer was falsch gemacht hat und wo welche anderen Leute noch im Einzelnen ihren Beitrag zur gefühlt großen Katastrophe geleistet haben, wer woran welche Schuld trägt. In dieser Inszenierung müssen wir da aber leider durch: […].“ (Stefan Schmidt: Im Tunnel am Ende der Liebe/ nachtkritik.de/ 20.10.2018/ letzter Abruf: 16.06.2019)

Die Frage nach der Ursache eines Problems, das sich gerade mit Bezug auf Heutiges bei genauerer Betrachtung vielfach als Konglomerat einer Reihe von Beiträgen verschiedener in den entsprechenden Sachverhalt involvierter Menschen erweist, ganz abgesehen von ausschließlich sachbezogenen Aspekten, impliziert zumeist ein moralisierendes Element. Es wird in der Regel ein Versagen konstatiert, das man
häufig schnell einem Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen anzulasten willens ist, letztlich mit der Intention, Schuld von sich selbst überzeugend abweisen zu können, zumindest gegenüber möglichen Vorwürfen besser, vielleicht sogar hinreichend gewappnet zu sein. Das Bestreben, den Ursachen einer Problemkonstellation auf den Grund zu gehen, beinhaltet in der Regel auch den Wunsch, eine angemessene Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, soweit dies vorliegt, aktivieren zu können, einerseits um einem verinnerlichten Moral- bzw. Rechtsempfinden Genüge zu leisten, andererseits z.T. auch, wie oben angedeutet, um sich selbst aus dem Bannkreis von Verdächtigungen, potentieller „Mittäterschaft“ zu befreien, und dies bekanntermaßen zuvörderst über das Bestreben, die Suche nach relevanten Ursachen durch eigene Mitwirkung bewusst dorthin zu lenken, wo man vermeintlich selbst nicht zur Verantwortung gezogen werden kann oder möchte. Das Problem von Schuld und Versagen gibt einen Hinweis auf die Interpunktion (Watzlawick/ Schulz von Thun) menschlichen Verhaltens, auf die Frage von Ursache und Wirkung und kann insofern in Erfahrungszeiträumen welchen Zuschnitts auch immer z.T. weit zurückverfolgt werden: Jedes Verhalten hat Gründe, die wiederum selbst auf anderen Kausalitäten basieren. Dabei ist das Verhältnis von Ursache und Folge häufig auch kreisförmig oder korrelativ angelegt. Zudem sind die Dimensionen solcher Interpunktionen im Verlauf einer Ereignisreihe keinesfalls immer gleich, heben sich doch Handlungen von Relevanz in positiver wie negativer Ausrichtung und damit auch Möglichkeiten des Erfolges sowie Gefahren des Versagens in einer Kette von Interpunktionen, also in relativer Kontinuität von Ursache und Wirkung, stärker heraus als Geschehnisse von eher untergeordneter Bedeutung. Diese Feinheiten der Unterscheidung nehmen sich wie selbstverständlich aus; ob sie in der Lebensrealität hinreichend wahrgenommen werden, bleibt fraglich.

Auf die Worte ihrer Gesprächspartnerin „Am Ende tötet Medea ihre beiden Kinder …“ (Programmheft, S. 17) antwortet die Regisseurin:

„Ich habe ein impulsives Verständnisgefühl für die Tat. Medea ist für mich keine feindliche Figur, sondern es gibt irrational die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie sie zu dem Punkt kommt. Ich verstehe den Mord der Medea weniger als Rache-, eher als einen Liebesakt, der für sie nicht unbedingt etwas Brutales hat, sondern etwas Erlösendes. Eben weil sie ihren Kindern dieses Leben nicht zumuten will.[…]“ (Programmheft, S. 17)

Der von der Regisseurin abgegebene Kommentar zur Hauptfigur des Stückes zeigt bei genauerer Betrachtung eine gewisse Ambivalenz, und so bleibt der Aspekt von „Schuld oder Entlastung“ hier unverhohlen mit Bezug auf Medeas grausige Tat am Schluss des Stückes durchaus aktuell und provoziert unterschiedliche Einschätzungen.

Der vollständige Kommentar findet sich hier: http://www.michaelpleister.de/resources/Medea+odt+home+und+Druck.pdf

Michael Pleister, im Juni 2019
Leserkritik: Drachenherz, Berlin
"Drachenherz. Kein Platz für Helden" von Wolfgang Böhmer und Peter Lund. Koproduktion Neuköllner Oper mit UdK Berlin und Theater Chemnitz

Freitag nach eins wissen die Jungs um Günni (Florian Heinke) nichts mit sich anzufangen und auch nicht wohin mit ihrer überschüssigen Energie: Der junge Tunesier Nasir (Tristan Giovanoli), den sie als „Abi-Ali“ verspotten und dem sie sich weit unterlegen fühlen, da er das Gymnasium besucht, ist das perfekte Opfer zum Geld-Abziehen.

Der Minderwertigkeitskomplex der Gang wird noch dadurch geschürt, dass plötzlich der blonde Modellathlet Fred auftaucht, der Jenny (Nicola Kripylo), der Schwester des Gangleaders, den Kopf verdreht und die anderen Jungs mit seinem sehr definierten Sixpack neidisch macht. Dieser Jung-Siegfried wird von Denis Riffel mit Irokesenschnitt verkörpert, dem man seine Trainingseinheiten als ehemaliger Taekwondo-Kämpfer deutlich ansieht.

Aber auch das restliche Ensemble dieses starken UdK-Jahrgangs muss sich nicht verstecken, weder athletisch noch tänzerisch. Das große Plus von „Drachenherz“ ist seine überschießende Energie. Es ist eine Freude, dem talentierten Nachwuchs dabei zuzuschauen, wie sie sich in Breakdance- und Hiphop-Choreographien austoben, die sie mit ihrem Professor Peter Lund und Neva Howard einstudieren. Es macht ihnen sichtlich Spaß, sich in ihre Rollen zu werfen, und diese Freude am Spiel überträgt sich auch aufs Publikum.

Der Abend lebt vom Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Charaktere: Als Gegenpol zum Kraftsportler Fred tritt „Brüning“ (Florentine Beyer) auf, die sich als einzige Frau in der Männer-Clique durchbeißen muss und die Jungs zum Schwanzvergleich antreten lässt. „Baktus“ und „Tropi“ (Karim Plett und Timo Stacey) sorgen mit ihrem komischen Talent in dieser sehr freien Bearbeitung der Nibelungensaga für die lustigen Momente.

Für die Neuköllner Oper sind die jährlichen Neuproduktionen, die Peter Lund jeweils mit dem 3. Studienjahr der UdK einstudiert, eine feste Tradition. Diesmal kam das Theater Chemnitz als Kooperationspartner hinzu. Dort hatte „Drachenherz“ schon im März Premiere.

Die Performance der jungen Energiebündel ist in „Drachenherz“ sehr gelungen. Der Plot, den Lund nach den Nibelungen rund um die Themen Freundschaft, Verrat und Fremdenhass gegen Woda (Ngako Keuni) schrieb, ist diesmal nicht so stringent wie seine Vorgänger-Arbeiten. „Kopfkino“ oder „Welcome to Hell“ waren inhaltlich fokussierter, „Drachenherz“ wirkt dagegen überfrachteter und an einigen Stellen so, als ob Peter Lund unbedingt noch weitere Motivstränge in den zweieinhalbstündigen Abend unterbringen wollte.

Der weniger stringente rote Faden ließ den Schauspieler*innen diesmal größere Freiräume, ihr Können in Soli, tollen Gruppen-Tanzszenen und einer sehr präzise einstudierten Chornummer vor der Pause zu zeigen. Trotz der inhaltlichen Schwächen ist „Drachenherz“ ein unterhaltsamer Abend mit „Agilität, Körperpower und Bums“, wie Kulturradio treffend zusammenfasste.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/20/drachenherz-neukollner-oper-kritik/
Leserkritiken: Die Alleinseglerin, Ballhaus Ost Berlin
Jan Koslowski, Thilo Fischer: Die Alleinseglerin segelt allein!, Ballhaus Ost (Regie: Hannah Dörr und Jan Koslowski)

(...) Realistisch ist hier eh nichts. Die Bühne (Ausstattung: Wieland Schönfelder) ist ein wildes Mosaik aus billigen Kulissenteilen, ein bisschen Holz- , ein wenig Maueranmutung, ein paar Intérieurskizzen, dazu weitere Räume zweidimensional auf Schwarz-weiß-Fototapeten, das Boot eine Miniatur, der Spielstil irgendwo zwischen überzeichnetem Laientheater und grotesker Farce. Leonie Jennings Regisseurin ist eine ständig überforderte Cholerikerin, „Herr Hupe“ ein abgeklärter Pragmatiker, die Spielerinnen Egomanen unterschiedlicher narzisstischer Härtefallgrade. Die Videowand ist fast im Dauereinsatz, schließlich geht es hier um Film, also wird gefilmt. Zum metatheatralen Dauerfeuer tritt ein meta-filmisches und da wird es langsam für die Zuschauer*in anstrengend.

Denn auch thematisch und diskursiv wird hier behandelt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist: Frauenbilder und patriarchale Sichtweisen, die Rolle der Kunst und jene der Frau in der DDR, Film als Kommerz, Realismus auf Bühne und Leinwand, Familie und Beziehung, das Genieklischee des einsames „Künstlers“ und viele, vieles, ermüdend vieles mehr. Das macht Spaß anzusehen, weil sich die Spieler*innen mit uneitelster Lust in ihre Rollen, die Rollen, die diese spielen und jene, die wiederum diese übernehmen werfen, in vielschichtigen Identitätsverknotungen, die das vermeintlich reine Spiel so lange dekonstruieren, bis es wieder da ist. Damit es wieder in der Lächerlichkeit verschwindet. Was dabei untergeht, ist die Frage, wohin das will. Geht es um einen neuen Blick auf künstlerischen Freiraum und seine Fragilität in einer Zensurgesellschaft? Auf die Evolution und Stagnation von Frauenbildern? Oder ist das primär eine Film- und Theatersatire? Anstatt dass sich die unterschiedlichen Bruch- und Versatzstücke motivischer, thematischer und diskursiver Art gegenseitig befruchten, beißen sie einander in den Schwanz, wenn sie nicht gerade dabei sind, sich in einer Art Wettrennen um die Zuschauer*innen-Gunst gegenseitig aus der Kurve zu treten.

So steigert sich die wilde Spielschleife des Abends in einen immer irrwitzigeren Beliebigkeitsstrudel, werden Topoi wie Blicklenkung durch die Kamera und die damit verbundene Manipulation des Sehens dargestellter Welt in Gag-Gewittern ebenso verzwergt wie alles andere. Viel wird angesprochen – Ästhetisches, Politisches, Persönliches – und hektisch weggehechelt, weil immer die nächste Szene wartet, der nächste Effekt, die nächste Sensation. Da ist der Abend dann wieder ziemlich nah beim Film und seiner Industrie, zumindest deren stereotypischer Betrachtung, die dann im Gegensatz zu allem anderen tendenziell eher für bare Münze genommen wird. Das emanzipatorische Grundbild der Alleinseglerin ist da schon lange vergessen, alle anderen diskursiven Ansätze schlingern hilflos herum, bevor sie wie die Heldin des DEFA-Films auf einer Sandbank stranden, weil der gedankliche Ozean im Effekthagel längst ausgetrocknet ist – und nein, auch dieses Bild ist nicht schiefer als so manches an diesem Abend. Der unterhält, selten langweilt und ein wenig ratlos zurücklässt, nicht hinterlassen, woran sich die Zuschauer*in weiterdenkend abstoßen kann. Stattdessen jagt er so lange die Stöckchen, die er sich selbst zuwirft, bis ihm hechelnd die Puste ausgeht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/23/im-falschen-film/
Leserkritik: The Present is not enough, Berlin
Festival "The Present is not enough", Hebbel am Ufer

Eine tolle Idee war es, Künstler*innen und Performer*innen zu bitten, ihre "Manifestos for a queer future" zu skizzieren. Aus den 270 Einsendungen wurden 26 ausgewählt, die an drei Abenden im HAU 2 präsentiert wurden. Daraus entstand ein sehr diverser Reigen kurzer Miniaturen: interessante kleine Schlaglichter, die unverbunden nebeneinander stehen.

Manchmal handelte es sich um Ausschnitte längerer Arbeiten, die bereits am HAU zu sehen waren, wie von Ian Kaler und Jeremy Wade. In den meisten Fällen waren es aber neue Ansätze. Candice Nembhard reflektierte in einer Mischung aus Spoken Word-Performance auf der Bühne und Kurzfilm-Video im Hintergrund über ihre Gefühle beim Aufwachen nach einer Liebesnacht. Während "The Morning after lov" bereits sehr präzise gearbeitet und rundgeschliffen war, hatten die meisten anderen Projekte noch Werkstattcharakter.

Der Bogen war weit gespannt: Eine Gruppe junger Partygänger feierte ihre Freiheit und ihre zum Teil in blaue Farbe getauchten Körper zu Technoklängen und Stroboskop-Licht. Dieser bunte Farbtupfer war unterhaltsam und brachte etwas Berghain-Flair ans Hallesche Ufer, hallte aber ansonsten kaum nach. Jair Luna, der in der Berliner Tanz-Szene durch mehrere Projekte z.B. im Ballhaus Naunynstraße auffiel und vor wenigen Tagen auch beim Gorki-Festival dabei war, präsentierte eine ästhetische Choreographie im Halbdunkel, bei dem er Kerzenwachs auf seinen Körper tropfen ließ.

Zum Abschluss dieser Revue, von der Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung schwärmte. machte sich das Kollektiv "Cointreau On Ice" in ihrer "Laudatio" subversiv über die Rituale von Oscar-Verleihungen und ähnlichen Events lustig.

Aus Südafrika war die Choreographin Mamela Nyamza mit ihrer Performance "Black Privilege" beim Festival zu Gast. Ihr geht es in dieser knappen Stunde um die geplatzten Hoffnungen nach dem Ende des Apartheid-Systems. Als schwarze Königin lässt sie sich von ihrem Zeremonienmeister über ein Schachbrettmuster tragen. Würdevoll thront sie weit über dem Publikum, das hinter einer roten Absperrung sitzt.

Recht bald wird die Performerin auf einem Power Plate auf ihrem Thron durchgeschüttelt. Sie hat sichtlich Mühe, die Balance zu halten, klammert sich schmerzverzerrt fest.

Am Ende liegt Nyamza am Boden, kriecht über das Schachbrettmuster und folgt den monotonen Befehlen einer blechernen Navi-Stimme. Das Publikum wird, noch während die gestürzte schwarze Königin kriecht, vom strengen Zeremonienmeister mit großer Bestimmtheit aus dem Saal gescheucht.

Die fast wortlose Performance spielt mit rätselhaften Bildern und Motiven, die mythische Anklänge haben. Erst aus dem Begleittext auf dem Abendzettel wird die gesellschaftspolitische Botschaft deutlich, die Nyamza senden will.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/27/the-present-is-not-enough-hebbel-am-ufer-festival/
Leserkritik: Trüffel Trüffel Trüffel, München: charmant
"Trüffel Trüffel Trüffel", Lustspiel von Eugène Labiche, Regie: Felix Rothenhäusler; Kammer 2, München

Die Hochstapler*innen prahlen und lügen, dass sich die Balken unter dem Teppich biegen und sie eigentlich rot vor Scham anlaufen müssten.

Annette Paulmann spielt Hubert Malingear als Klischee eines kleinen Angestellten kurz vor der Rente: mit Walross-Schnauzer, aufgeklebten Haarfransen, die strähnig über der Glatze liegen, mit Wohlstandsplautze und sehr ehrpusselig. Angetrieben wird er von seiner Frau Ermelinde: Nils Kahnwald im geblümten Kleid und dick aufgetragenem Rouge kokettiert mit den angeblichen Erfolgen von Mann und Tochter und steigert sich in derartige Wahngebilde hinein, dass ihrem Hubert angst und bange wird.

Auf der Gegenseite steht Herbert (Gast Marie Rosa Tietjen mit Fatsuit aufgepolstert) unter dem Pantoffel von Emilia-Amalia (Wiebke Puls), die ihn um mehrere Köpfe überragt und sagt, wo es lang geht. Aus Prestigegründen muss unbedingt eine Loge in der Oper gebucht werden, obwohl dort eh nur „Rigoletto“ läuft, wie alle vier stöhnen. Nicht vorhandene Kammerdiener und Zofen müssen gerufen und ein Delikatessen-Catering mit Trüffel und Champagner bestellt werden.

Am Ende haben sich beide Paare gründlich verspekuliert. In ihrer Euphorie haben sie sich bei der Mitgift in schwindelerregende Höhen hochgepokert und wären nun ruiniert, wenn nicht Onkel Robert einspringen würde. Das schwarze Schaf der Familie (Thomas Hauser mit überdimensionalen Ohrringen), das den Ratinois so peinlich war, dass er nicht zum Abendessen kommen sollte, rettet die Situation als „Deus ex machina“.

Das selten gespielte „Trüffel Trüffel Trüffel“ von Eugène Labiche, der nach seinen großen Erfolgen zur letzten Jahrhundertwende heute nur noch ein Nischendasein im Edel-Boulevard fristet, ist eine „charmante Arabeske“, wie Robert Braunmüller in der Abendzeitung nach der Premiere 2017 treffend schrieb. In den Münchner Kammerspielen ist dieses Schauspielfest nur noch einmal zu erleben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/07/02/truffel-truffel-truffel-munchner-kammerspiele-theater-kritik/
Leserkritik: Kurze Interviews ..., Volkstheater München
"Kurze Interviews mit fiesen Männern" nach David Foster Wallace, Münchner Volkstheater, Regie: Abdullah Kenan Karaca

Fies sind die drei jungen Männer auf der Bühne vor allem zu einander: Silas Breiding, Jakob Immervoll und Jonathan Müller lassen keine Gelegenheit aus, sich in die Brustwarzen zu kneifen, in die Eier zu treten und sich mit pubertären Machtspielchen gegenseitig zu demütigen.

Das Männerbild, das Hausregisseur Abdullah Kenan Karaca und die drei Jungs auf der Kleinen Bühne des Münchner Volkstheaters vorführen, ist sehr eindimensional: wir erleben drei schwanzgesteuerte, pubertäre Typen, die sich mit homoerotischen Ritualen vergnügen, laszive Balztänze aufführen und Zoten reißen.

Zur Ruhe kommt das Trio, das knapp zwei Stunden lang über eine schmale Gitterfläche zwischen den Zuschauertribünen tigert, nur bei den drei längeren Monologen: Silas Breiding steigert sich bei seiner Masturbationsphantasie in eine aberwitzig-furiose physikalische Grübelei hinein, wie er die Zeit anhalten und die Naturgesetze des Universums außer Kraft setzen kann. Beklommenheit macht sich im Publikum breit, als Jakob Immervoll die letzte Erzählung aus dem „Kurze Interviews mit fiesen Männern“-Band aufgreift, der im Herbst 2002 einer der Hits der Saison war: Er sinniert darüber, wie sich eine Frau fühlen muss, die eine Gruppenvergewaltigung hinter sich hat. Auch seine beiden Mitspieler gehen spürbar auf Distanz, wenn er sich fragt, ob es nicht auch etwas Befreiendes habe, so ein furchtbares Erlebnis überstanden zu haben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/07/10/kurze-interviews-mit-fiesen-mannern-munchner-volkstheater-kritik/
Leserkritiken, Zuhause bin ich Darling, Berlin: harmlos
Laura Wade: Zuhause bin ich Darling, Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater (Regie: Philippe Besson)

(...) Die Absurdität des anachronistischen Lebensentwurfs in Zeiten von Smartphone und Internet lässt sich im zunehmend verkrampfenden und verzweifelnden Enthusiasmus von Judith Richters Mimik und Gestik noch eher ablesen als in der allzu vorsichtigen Regie Bessons, die oft jeglichen Sinn für Timing vermissen lässt und den Zuschauer bald einlullt in einem harmlosen Geplätscher, das zuweilen humorvolle Stachel setzt, aber wenig Dynamik versprüht. Was auch die Konfliktlinien einebnet. Die vor allem dann hereinkommen, wenn Sketchup-Ikone Beatrice Richter, die nicht nur Judys Mutter spielt, sondern im „echten Leben“ auch di der Judy-Darstellerin ist, auftritt. Trocken reißt sie Judys Fassaden herunter, verteidigt in einer ehrlich sachlichen Rede die Errungenschaften weiblicher Befreiung und ist der authentisch ruhende Gegenpol all dieser Künstlichkeit. Damit erreicht sie auch deutlich mehr komödiantisches Potenzial als all der sich schnell totlaufenden Fünfziger-Mummenschanz – und eine Gegenreaktion der zerrissenen Judy, die Judith Richter mindestens auf Augenhöhe mit ihrer Mutter spielt.

Leider vertrauen weder Stück noch Inszenierung auf diesen Kernkonflikt, den Spalt zwischen den Generationen, so oft Grund oder zumindest Auslöser gesellschaftlicher Verwerfungen, spielen, spülen ihn schnell weg zugunsten anderer. Den zwischen den Eheleuten, denn es ist natürlich der Mann, der lange vor der Frau die Vernunftfeindlichkeit des Arrangements erkennt, der Patriarch als Befreier. Oder die spät eingezogene #MeToo-Ebene, um den sexistisch übergriffigen „netten Freund“ Marcus (Dietrich), die in ärgerlichster Weise aufgesetzt und damit regelrecht missbräuchlich der wichtigsten Gesellschaftlichen Debatte der letzten zwei Jahre gegenüber wirkt. Vollends plakativ dann die Diskrepanz zwischen Nostalgie und wertefreier (Post)Moderne, verkörpert von Johnnys Chefin Alex (Natalie Mukherjee), auch dies ein gern genommenes Erklärungsmuster für aktuelle Populismen, hier jedoch mit der Lebendigkeit und Subtilität einer Vorabend-Seifenoper – ohne deren Hang zur Dramatisierung – vorgeführt. So plätschert der Abend vor allem nach der Pause zunehmend mechanisch vor sich hin, wirken die Handlungsumschwünge mit jedem Mal weniger aus Geschichte und Figuren heraus motiviert, sondern einzig und allein darauf ausgerichtet, ein irgendwie gutes, aufbauendes Ende zu finden. Der Abend profitiert vom nuancierten, dreidimensionalen Spiel aller Darsteller*innen, zu dem Regie und letztlich auch der text zu wenig hinzufügen. So entsteht ein netter Abend, der keinem wehtut, aber es weder wagt, Boulevardkomödie noch tiefergehende Gesellschaftssatire zu sein und sich als viel zu langer Sketch (im Sinne von Skizze) verliert.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/08/07/metoo-auf-dem-nierentisch/
Leserkritik: #BerlinBerlin
#BerlinBerlin, Theater Strahl

Passend zum Jahrestag des Mauerbaus startete das Theater Strahl mit der Wiederaufnahme von „#BerlinBerlin“ in der Halle Ostkreuz in seine neue Spielzeit: das Stück erzählt das Schicksal einer fiktiven Familie zwischen Mauerbau und Mauerfall.

Ungewöhnlich ist die Entstehungsgeschichte des Abends: vier Autor*innen mit ganz unterschiedlichem biographischem Hintergrund entwickelten die Geschichte in einem „kollektiven Schreibprozess“. Günter Jankowiak und Jörg Steinberg, der auch Regie führt, erlebten den Kalten Krieg und das geteilte Berlin bewusst mit, der eine im West-Teil der Stadt, der andere in Ost-Berlin. Uta Bierbaum wuchs in Osnabrück auf und war im Jahr des Mauerfalls noch ein Kind, Sina Ahlers wurde als Jüngste des Quartetts erst im wiedervereinigten Deutschland geboren.

Hauptfigur Ingo (Justus Verdenhalven) wird am Tag des Mauerbaus in einer Ost-Berliner Klinik geboren und lernt erst kurz vor dem Mauerfall seine Halbschwester kennen. Sein Vater Klaus (Raphael Zari) schaffte den Sprung in den Westen und ließ seine Frau (Josephine Lange) mit dem Baby sitzen. Stattdessen baute er sich in West-Berlin eine neue Familie mit Frau (Beate Fischer) und zwei Töchtern auf und entwickelte sich zum „Kommunistenfresser“. Allergisch reagiert er auf linke Bewegungen wie die Kinderläden oder die Hausbesetzer-Szene, der sich seine ältere Tochter (Sarah Schulze Tenberge) anschließt.

Die Handlung wird streng chronologisch erzählt, switcht aber dabei ständig zwischen den beiden Familien in Ost und West hin und her. Das sechsköpfige Ensemble hat alle Hände voll zu tun, da sie nicht nur häufig die Rollen wechseln, sondern als Live-Band mit markanten, zeittypischen Songs wie „The times they are a changin“ oder „Sag mir, wo Du stehst“) auch für die musikalische Untermalung sorgen.

Zielgruppe von #BerlinBerlin, das mit Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Stiftung Berliner Mauer entstand, sind vor allem Jugendliche, die auf erfreulich undidaktische Art in einer auf knap zwei Stunden komprimierten Familiensaga in die Geschichte der deutschen Teilung eintauchen können.

Die Berliner Morgenpost war von dem Abend, der im März 2018 Premiere hatte, so begeistert, dass sie ihm den Friedrich Luft-Preis als beste Inszenierung der vergangenen Spielzeit verlieh, den sich das Theater Strahl mit der P14-Opern-Produktion „Drei Milliarden Schwestern“ teilte. Als absoluten Höhepunkt der Berliner Spielzeit würde ich es nicht bewerten, aber sympathisches Jugendtheater ist #BerlinBerlin allemal. Vor allem in der zweiten Hälfte nach der Pause sind die Szenen sehr gut und ohne Brüche gebaut.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/08/14/berlinberlin-theater-strahl-kritik/
Leserkritik: "Ça ira" in Paris
Joél Pommerat beweist nicht nur neuerlich eine souveräne Frische im Umgang mit den Mitteln des Theaters. „Ça ira“ zeigt auch ein unabhängiges, kühnes Geschichtsverständnis jenseits gängiger Narrative.

Seit seiner Entstehung 2015 erwies sich das Stück als Publikumsmagnet. Es wurde bereits „in fünfzig Städten auf drei Kontinenten“ gespielt, vor „insgesamt gut 175.000 Zuschauern!“. Man darf also auch im deutschsprachigen Raum auf die Umsetzung des Stückes hoffen, vor allem aber auf eine Befruchtung des Pommerat´schen Theater-Geistes auf die hiesige Situation.

Siehe:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/a-ira-in-paris-rauschhafter-ringkampf-der-ideen-16328480.html
Leserkritik: Mummy Brown, Kampnagel, Sommerfestival
Mummy Brown von Susie Wang ist für mich das bisher interessanteste Theatererlebnis auf dem diesjährigen Kampnagel Sommerfestival in Hamburg. Mummy Brown ist der zweite Teil einer Trilogie über das Verhältnis der Menschen zur Natur, mit dem Fokus auf den weiblichen Körper. Die norwegische Gruppe Susie Wang besteht teilweise aus Mitgliedern der Baktruppen, die mit der lustvollen Zerstörung der meisten Bühnen-Standards zur Entstehung des postdramatischen Theaters wesentlich beigetragen haben. Dieser dunkle und heitere Theaterabend ist eine super-groteske Story. Mummy Brown ist mit das eigenwilligste und exzellenteste an Theaterstücken, was ich in letzter Zeit gesehen habe. Susie Wangs Inszenierungen zeichnen sich für mich durch meditative Ruhe aus, die ständig von mysteriösen, bedrohlichen und beängstigenden Momenten durchbrochen wird. Ihre Inszenierungen erfordern genaues Beobachten um Veränderungen auf der Bühne zu registrieren, wie das sich plötzlich drehende Ei oder der sich bewegende Penis im Wasserglas. Die Bühne ist zunächst dunkel und erhellt sich langsam. Es ist ein Raum in einem Museum mit mysteriösen Ausstellungsstücken, die Phantasien entfachen können und einem schwarzen Loch im Boden. Es beginnt alles normal und harmlos. Besucher betrachten die Objekte und die Aufseherin ermuntert die Besucher diese zu berühren und somit zu erleben. In diese Alltäglichkeit eines Museumsbesuches schleichen sich erste mysteriöse Ereignisse ein. Eine Besucherin im weißen Tennisdress hinterlässt auf einer Bank, auf der sie längere Zeit gesessen hat, nach dem Aufstehen einen Blutfleck und auch ihr Rock ist blutig. Die Aufseherin versucht ohne Erfolg das Blut auf der Bank zu entfernen. Schließlich verdeckt sie den Blutfleck (Erstes Bild des Rorschach-Tests) mit weißem Papier. Eine hochschwangere Besucherin fällt schließlich bäuchlings auf das Loch. Die Aufseherin versucht sie zu befreien. Nun wird es blutig und mysteriös. Die Frau verliert ihren Embryo im schwarzen Loch und ist nur noch über die Nabelschnur mit ihm verbunden. Die Museumswärterin versucht dies zu vertuschen, doch ein weiterer Besucher entdeckt die Nabelschnur und die Frau. Unsere Phantasie lässt uns an ein geborenes Monster denken, das am Ende der Nabelschnur im dunklen Loch des Bodens hängt. Noch blutiger wird es als dem Mann beim Rettungsversuch des Monsters? Der Penis abgebissen wird. Die Frau stirbt, dem Mann wird der Penis unter Schmerzen von der Museumswärterin angenäht bevor sie beide den Raum verlassen. Blutige Horrorimaginationen wechseln mit alltäglichen Geschehnissen ab. Susie Wang nimmt die Macht der Imagination seriös. So bekommt sie ihre Kraft und ermöglicht es dem Betrachter, das menschliche Leben aus dieser Perspektive zu betrachten. Diese mysteriösen und grotesken Geschichten ermöglichen es dem Betrachter andere Ebenen des Geschauten zu erleben, als die rein intellektuellen Geschehnisse. Susie Wangs Inszenierungen sind Spiel, das zu aufmerksamen Beobachten auffordert, um kleine Veränderungen zu registrieren und durch überraschende Horrormomente in andere Gefilde der Wahrnehmung zu entführen, um aber immer wieder auf den Boden unprätentiöser, alltäglicher Dinge zurück zu kehren.
Leserkritik: Soul Kitchen (SH-Landestheater, Premiere)
„Soul Kitchen“ hat ein Herz für Verlierer und Randfiguren der Gesellschaft. Diese Konstellation wäre Stoff für ein Sozialdrama. Doch als Komödie verteidigt Akin seine Figuren gegen die scheinbare Unvermeidlichkeit, dass im Kapitalismus immer der Stärkste gewinnt. Fatih Akins Kinohit „Soul Kitchen“ aus dem Jahre 2009 ist ein modernes Märchen, das Lust auf Leben macht, mit allen Höhen und Tiefen. Dieser Kinohit wurde nun von Henning Bock als „sozialkritische“ Komödie mit Musik (Musikalische Leitung: Matthäus Winnitzki) zum Start der Schauspielsaison auf die Bühne des SH-Landestheaters gebracht. Das schlichte Bühnenbild von Stephan Testi, eine marode Werkshalle, schafft auf ideale Weise eine Spielstätte für die zahlreichen Spielorte. Durch schnelle, originelle Umbauten mit Musik sind diese so lückenlos in das Spiel integriert, dass dies eine Glanzleistung der Inszenierung und Bühne ist. Henning Bock folgt der Story des Films: Im Leben des Kneipiers Zinos (Simon Keel) läuft nahezu alles schief: Seine Freundin Nadine (Meike Schmidt) zieht nach Shanghai, er erleidet einen Bandscheibenvorfall und besitzt keine Krankenversicherung, sein kleinkrimineller Bruder Illias (Christian Hellrigl) nistet sich bei ihm ein und der neue Koch Shayn (Lukas Heinrich) erprobt exotische Gerichte. Zinos versucht, alle Probleme zu lösen und sein Laden „Soul Kitchen“ wird unerwartet zum beliebten Szenetreff, dank einer Band, die den Laden zum Proben nutzt und der extraordinären Speisekarte. Zinos scheint nun auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Doch sein ehemaliger Schulfreund Neumann (Reiner Schleberger), ein windiger Immobilienmakler, will das „Soul Kitchen“ kaufen und abreißen, um das Grundstück gewinnbringend zu verscherbeln. Doch Zinos lässt sich nicht unterkriegen. „Soul Kitchen“ ist auch eine Hommage an Hamburg und seine Bewohner, einer multinationalen Gesellschaft. Dies wird deutlich, wenn z.B. „La Paloma“ von den Akteuren multilingual gesungen wird. Die Musik wirkt oft ironisierend auf das Geschehen, was kritische Distanz schafft und der Inszenierung einen besonderen Reiz verleiht. Musik ist das Geheimnis dieser Inszenierung, die ihr wunderbare Emotionalität verleiht. Auch der restringierte Sprachcode der „Underdogs“ unterstützt das Wilhelmsburger Lokalkolorit. Weiterhin lebt die Regie von vielen kleinen Ideen (einfrieren von Bewegungen, gedeckte Tische auf denen alles befestigt ist, und vieles mehr), die immer wieder überraschen und einen schmunzeln lassen. Das Herrliche an dieser Inszenierung sind aber die Charaktere, die so ungeschliffen und geradeaus ins Leben stolpern, dass man sie wegen ihrer Schwächen liebt. Es sind kernige, kantige Originale wie: Neumann und Sokrates (Reiner Schleberger); Anna, Tanja und Frau Meyer vom Gesundheitsamt (Katrin Schlomm); Shayn und Knochenbrecher-Kemal (Lukas Heinrich); Frau Schuster vom Finanzamt, Oma, Dr. Schlecht, Polizistin und Richterin (Karin Winkler) sowie Jung, Max und Ziege (Robin Schneider), die dem Abend durch ihre Spielfreude Leben einhauchen. Besonders beeindruckend waren die schauspielerischen Leistungen von Simon Keel (Zinos), Christian Hellrigl (Illias) und Kimberly Krall (Lucia). Gesanglich beeindruckte Meike Schmidt mit ihrem ersten Solo, dem schönsten musikalischen Moment des Abends. Lukas Heinrich als Shayn singt gefühlvoll und Kimberly Krall als ständig fluchende Kellnerin Lucia, liefert einen weiteren musikalischen Leckerbissen. „Soul Kitchen“ nahm im Laufe des Abends Tempo auf und hatte am Ende das Publikum gefangen. Erneut eine konsequente, ideenreiche, intelligente Inszenierung von Henning Bock von Glückssuchern im modernen, weltoffenen Hamburg mit überzeugender Live-Musik (Sven Kerschek; Claas Ueberschär; Konrad Ullrich; Matthäus Winnitzki) in der Herkunft und Milieuunterschiede keine Rolle spielen, wenn man sich hilft, achtet und respektiert. „Soul Kitchen“ ein Stück für junge Leute und alle, die junggeblieben sind. Beste Unterhaltung ohne kitschig zu sein.
Leserkritik, Human Condition, Berlin: Kopien
"The Human Condition" nach Hannah Arendt von Patrick Wengenroth und Ensemble im Studio der Schaubühne

Ganz entspannt schlendern sie mit Camping-Klappstühlen auf die leergeeräumte Studiobühne. In ersten Slapstick-Spielereien rempeln sie sich gegenseitig an. Bald nimmt Florian Anderer das Heft des Handelns in die Hand: er setzt zu einem Monolog an, verheddert sich in seinem Klappstuhl und legt sein virtuoses Kabinettstückchen über das Anfangen so gekonnt hin, wie wir das aus zahlreichen Auftritten von ihm gewohnt sind. Seine Mitstreiter*innen Iris Becher, Ruth Rosenfeld, der wie üblich mitspielende Regisseur Patrick Wengenroth und sein Stamm-Musiker Matze Kloppe haben ihre Stühle mittlerweile umgedreht, kehren dem Publikum den Rücken zu und schauen ihrem Kollegen ebenfalls amüsiert zu.

Ein echtes Fritsch-Intro im Studio der Studiobühne! Wir erleben allerdings nicht das Original, sondern nach „Prometheus“ innerhalb weniger Wochen schon die zweite Kopie. Erschwerend kommt hinzu: Mit „Null“ hat Herbert Fritsch im Frühjahr 2018 ein paar Meter weiter eine sehr facettenreiche, schillernde Nummernrevue über das Anfangen und Scheitern hingelegt, so dass dieser Auftakt erst recht epigonal und wie eine Kopie-Fingerübung wirkt.

Der etwas mehr als zweistündige Abend lässt Meister Fritsch dann auch sehr schnell links liegen und widmet sich nun einem weiteren Säulenheiligen aus alten Castorf-Volksbühnen-Zeiten. Sie nehmen sich „Vita activa“, die deutsche Übersetzung von Hannah Arendts Hauptwerk „The Human Condition“, vor und schleudern sich die Diskurs-Schnipsel gegenseitig an den Kopf. Aberwitzige, temporeiche Dialoge, große Augen, viele „Hä“s: das bewährte Pollesch-Rezept wird kopiert.

Der Charme, der Patrick Wengenroths bisherige Arbeiten auszeichnete, die sich in „Thisisitgirl„, „Love hurts in Tinder times“ oder „He? She? Me! Free“ ironisch und unterhaltsam mit Genderfragen auseinandersetzte, fehlt diesmal über weite Strecken.

Zwischen den Kopien der Regie-Größen und Interview-Reenactments der politischen Theoretikerin bleibt wenig Raum für das Authentische und Überraschende. Zum Glück blitzt das zwischendurch doch manchmal auf. Prompt gibt es Szenen-Applaus für Ruth Rosenfeld und ihr „I´ll be your mirror“ von Nico oder für das narzisstische Deutsch-Pop-Solo, mit dem Florian Anderer sein Spiegelbild mit laszivem Hüftkreisen anschmachtet.
Schaubuehne am Lehniner Platz, ‘’THE HUMAN CONDITION”, Realisation: Patrick Wengenroth, Buehne: Mascha Mazur, Kostueme: Ulrike Gutbrod, Musik: Matze Kloppe. Mit: Iris Becher, Ruth Rosenfeld, Florian Anderer und Patrick Wengenroth.

Ebenfalls erst in der zweiten Hälfte schlüpfen sie in Hochleistungssportler-Trikots, die mit Sponsoren-Logos beklebt scheinen, die sich auf den zweiten Blick als Schlüsselbegriffe aus Arendts Werk herausstellen.

Der Abend plätschert langsam aus, als sich Patrick Wengenroth in seiner Verzweiflung über die von Arendt schon in den 1950er Jahren gegeißelte Konsumgesellschaft, die weit von ihrem Ideal einer deliberativen Demokratie wie auf der Agora von Athen entfernt ist, theatralisch zu Boden sinken lässt und Matze Kloppe über der Frage reesigniert, wie der Abend ein besseres Ende bekommen könnte.

„The Human Condition“ umkreist das Werk einer wichtigen, vor den Nazis in die USA geflohenen politischen Denkerin, nimmt dabei einige unterhaltsame Abzweigungen, kommt aber oft nicht richtig vom Fleck.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/01/the-human-condition-nach-hannah-arendt-schaubuhne-theater-kritik/
Leserkritik: Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park, DT
Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park, Deutsches Theater Berlin/Box

Wer eine Nacherzählung von Steven Spielbergs Blockbuster aus dem Jahr 1993 erwartet, ist auf einer falschen Fährte.

Kleine Schnipsel aus dem Filmplot streut Jutta Wachowiak in ihren Solo-Abend zwar ein, den sie mit Eberhard Petschina und Rafael Sanchez entwickelte. So referiert sie z.B. über den Schauspieler John Hammond, der die menschliche Hauptrolle zwischen all den Raptoren und dem Tyrannosaurus Rex, unterbricht sich aber selbst mit einem süffisanten „Aber das wissen Sie ja alles. Sie haben schließlich vorbereitet.“

Mindestens so wichtig für den nur 75 Minuten kurzen Abend sind jedoch zwei andere Quellen: Stefan Heyms Rede bei der Großkundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, als er darüber jubelte, dass endlich ein „Fenster aufgestoßen“ worden sei. In seinem Optimismus hoffte er auf einen Dritten Weg, der Schluss mache mit dem Mief und den Phrasen der Parteibürokratie.

Der zweite zentrale Text ist Schillers Drama „Maria Stuart“. Die Titelrolle in der Inszenierung von Thomas Langhoff gehörte zu den berühmtesten Auftritten von Jutta Wachowiak während ihrer Glanzzeit am Deutschen Theater Berlin. Von ihrer Cousine wurde sie schon zu DDR-Zeiten auf die Sätze angesprochen: „Laß mich der neuen Freiheit genießen, Laß mich ein Kind sein, sei es mit! Und auf dem grünen Teppich der Wiesen prüfen den leichten, geflügelten Schritt. Bin ich dem finstern Gefängnis entstiegen…“ Diese Sätze aus der Weimarer Klassik bargen offensichtlich einen ungeheuren Sprengstoff für das SED-Regime, das die ganze Republik mit einem Spitzelnetz überzog und die Grenzen mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl sicherte.

Als sie ein Jahrzehnt später immer noch mit dieser Paraderolle auf der Bühne stand, war die Mauer gefallen, die erste Euphorie aber bereits verflogen. Bei den Schiller-Sätzen hatte sie ein sehr beklommenes Gefühl, erinnert sich Jutta Wachowiak in ihrem „Jurassic Park“-Solo. Sie fühlte sich fremd im eigenen Land. Ihr Renommee schwand schnell, viele Pfeile und den Vorwurf zog sie auf sich, zu lange mitgemacht zu haben. Am eigenen Haus war sie zwar unkündbar, wurde aber mehr und mehr ins Abseits gedrängt und seltener besetzt.

Keineswegs larmoyant, sondern für ihre 78 Jahre erstaunlich energiegeladen legt Jutta Wachowiak ein Solo hin, das vor allem für Zeitzeugen interessant ist, die miterlebt haben, worüber sie sprach. Für ein jüngeres Publikum ist es schwieriger, ihre Erinnerungen in den jeweiligen Kontext einzuordnen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/03/jutta-wachowiak-erzahlt-jurassic-park-deutsches-theater-kritik/
Leserkritiken: Der zerbrochne Krug, Rendsburg
Am Samstag hatte Kleists „Der zerbrochene Krug“ in der Inszenierung des Schauspieldirektors Wolfram Apprich am SH-Landestheater in Rendsburg Premiere. 1808 war das Stück in Weimar unter Goethes Regie uraufgeführt und ein riesiger Theaterskandal. Kleist warf Goethe Sabotage an seinem Stück vor. Kleists Werke stießen bei den meisten seiner Zeitgenossen auf Unverständnis, während er heute als „Mythos der Moderne“ gilt. »Der zerbrochene Krug« in Blankversen, dem Dramenstil der Weimarer Klassik, geschrieben, wird konterkariert, indem der Sinn des Blankverses parodistisch vorgeführt wird, durch derbe Flüche, Wortspiele, Zwei- und Mehrdeutigkeiten sowie obszöne Anspielungen. Das Ideal der Weimarer Klassik wurde so ad absurdum geführt. Kleists Komödie ist eine Kritik am Rechtswesen und der Gesellschaft. Er stellt die Unzulänglichkeit des Einzelnen und der Gesellschaft an den Pranger. Symbolische Gegenstände - Perücke und Krug - verkörpern marode Zustände seiner Zeit. Die verlorene Perücke als Metapher für verlorene Macht des Richters, ein drastisches Bild für die korrupten Zustände. Der zerbrochene Krug als Metapher für die zerbrochene, in Scherben liegende Welt. Die schrittweise Entzauberung des schrulligen Rechtsverdrehers Adams als Erpresser von sexuellen Gefälligkeiten liefert oberflächlich die Spannung für diese Justizposse. Doch dahinter lauert eine dunkle Parabel über Machtmissbrauch, Ohnmacht der Chancenlosen und einen gedehnten Wahrheitsbegriff. Dieser Story folgt Apprich in seiner Inszenierung. M. Benkers Bühne ein schlichter Gerichtssaal mit einer Glaswand an der Raumrückwand. Hinter der Glaswand sitzen Menschen unserer Zeit, die das Geschehen stumm und handlungsunfähig verfolgen, während die Akteure in historisch angelehnten Kostümen agieren. Die Zeiten sind unterschiedlich, die Zustände erschreckend vergleichbar und der Bürger erscheint machtlos. Das Stück beginnt mit einem starken apokalyptischen Bild: Adam liegt verängstigt auf der Kanzel, Nebelschwaden erfüllen den Raum, der von weißem Gegenlicht erleuchtet wird, so dass nur Konturen sichtbar sind, begleitet von düsteren, schweren Klängen (Musik: Christoph Coburger), die die Inszenierung immer wieder emotional untermalen. Dieses Entrée in den Abend ist wie eine düstere Prophezeiung. Uwe Kramer gibt einen faszinierenden Dorfrichter Adam, der durch die gelungene Maske, clowneske Züge erhält. Adam versucht mit allen ihm zur Verfügung stehen Mitteln seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Dieser clowneske Adam ist eine raffiniert-witzige Abrechnung mit einem korrupten Justizwesen. Der lüsterne Adam hat seine Macht missbraucht um Eve, Marthe Rulls Tochter (Lucie Gieseler) sexuell gefügig zu machen. Er hat ihr versprochen ihren Verlobten Rupprecht, Eves (Timon Schleheck) vor einem militärischen Todeseinsatz zu bewahren, wenn sie seine sexuellen Begierden erhört. Felix Ströbel als Schreiber Licht ist der Speichellecker par excellence, der die Position Adams einnehmen möchte. René Rollin als Gerichtsrat Walter ist nur bemüht jegliche Schande und Entlarvung vom korrupten Justizsystem abzuwenden. Doch auch er ist voller sexueller Begierde nach Eve, was in seinem lüsternen Kuss deutlich wird. Der Abend schließt wie begonnen mit einem großen Bild und Monolog von Eve, die nochmals deutlich macht, dass die da oben davonkommen, egal wie offensichtlich und groß ihr Vergehen ist. Recht ist eben nicht gleich Gerechtigkeit und somit kein Happy End in Sicht. Da bleibt nur der Weg in eine andere „Neue Welt“, die getragen wird von „Utopien für Realisten“ (R. Bregman). Wolfram Apprich hat diese dunkle Parabel über Machtmissbrauch, Ohnmacht von Chancenlosen und einem gedehnten Wahrheitsbegriff, wie mit einem Skalpell, achtsam aus der Justizposse herausgeschält und deutlich gemacht, dass sich Zeiten ändern, Machtstrukturen aber wie Atavismen uns anhängen. Das Ensemble hat erneut bewiesen, wie wichtig ihm aktuelles, kritisches Theater ist. Möge dieser Geist erhalten bleiben.
Leserkritik, Untenrum, S-H Landestheater: Sexualität & Freiheit
Freitag der 13. Wiederaufnahme des Mehrgenerationentheaterprojektes „UNTENRUM“ des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Kooperation mit der Europa-Universität Flensburg auf der Kleinen Bühne in Flensburg. „UNTENRUM“ ist nicht ttt - Titel, Thesen, Temperamente - aber das neue Fernsehmagazin vvv - Verehrt, Verachtet, Vagina. Es beinhaltet die Themen Menstruation, Pornografie, Liebe, Lust und Feminismus. Ungeniert, klischeefrei, wissend, weltoffen, altersübergreifend, schonungslos, selbstbewusst, ungezwungen, tabufrei, fragend, komfortzonenausweitend und humorvoll. Dieser Abend entstand unter der Leitung der beiden Theaterpädagoginnen Claudia Schmidt und Janina Wolf mit 16 theaterbegeisterten Laiendarstellern*innen im Alter zwischen 16 und 73 Jahren. Dieser Abend ist eine Gemeinschaftsproduktion aller Beteiligten. Eine Moderatorin begrüßt das Publikum und die Show beginnt mit „I am what I am“. Zwei Frauen betreten tanzend, die in violettes Licht getauchte Bühne. Sie tragen Kleider in rosa und lila, die auf der Vorderseite jeweils eine große aufgenähte Vagina tragen. Die eine tanzt selbstbewusst, die andere schüchtern. Was für ein Entre. Es folgt das „Nein Sagen“ in Bezug auf sexuellen Missbrauch und Gewalt und man ist betroffen, über das entwürdigende, pornografische Verhältnis zur Sexualität. Anschließend beginnt die Story „M.I.L.F.“, die den Abend mit 4 Episoden durchzieht, zu den Themen Pornografie und erste Liebe. Hier wechselt Pornografie mit romantischer erster Liebe. Mit der Castingshow folgt wieder ein „amüsanter Part“ zur Sexualität, der sich gegen menschenverachtende Castingshows wendet. Dann der Monolog einer älteren Frau über eine enttäuschte Liebe und die Grausamkeit ihres Liebhabers. Im Lyrikwettbewerb wird es wieder lebendig von Poetry bis zur Ballade geht es um Sexualität, Freiheit und Vagina bis hin zur „Vaginale“. Dann geht es um Fakten zur Menstruation mit Tanz und Musik, obwohl sie ein Leid für die Frau ist. Auch ein runder Tisch zur Genderdiskussion fehlt nicht, bei dem zum Schluss „DIVERSE Säfte“ angeboten werden. Zwei starke Bilder seien noch erwähnt „Der Ursprung der Welt“ als Butoh und die Zeremonie der Genitalverstümmelung. Alle Laiendarsteller*innen spielen voller Enthusiasmus und Empowerment. Man merkt, wie sie sich für diese Themen engagieren und wie sie das Publikum für diesen Abend gewinnen wollen. Dieser Abend hat es aber auch in sich und wenn es im ersten Moment so scheint, dies sei ein Abend für die Frau, dann kann ich nur sagen „NEIN“. Es ist vor allem ein Abend für den Mann, der eine Menge erfahren kann. Dieser Abend ist gelungen bis in die kleinste Szene, voller Ernsthaftigkeit, Humor und dem Willen zur Selbstbestimmung der Frau in allen Lebensbereichen. Was Theaterpädagoginnen hier mit Laien realisiert haben ist beachtlich und es zeigt erneut, welchen Sinn Einrichtungen wie Bürgerbühnen an Theatern haben. Dort lebt Theater nochmals auf einer weiteren Ebene und gerade in der sogenannten kulturellen Provinz ist dieses Angebot ein Geschenk für alle Teilnehmer. Dank den Intendanten und Theatern, die diese Form der Mehrarbeit auf sich nehmen und Theater für Begeisterte noch lebendiger machen. Möge diese Tradition der Jugendclubs, Mehrgenerations- und Emigrantenprojekten am Schleswig-Holsteinischen Landestheater weiter gedeihen und den Landstrich zwischen den Meeren weiterhin kulturell bereichern.
Leserbeitrag: Theaterpreis für Robin Schneider
Lieber Robin Schneider, seit 2 Spielzeiten rockst Du „die Bretter, die die Welt bedeuten“ am Schleswig-Holsteinischen Landestheater so grandios und überzeugend, dass die Schleswiger Theaterfreunde, Dir den Theaterpreis 2018/19 überreichen. 2016 hast Du Deine 3jährige Schauspielausbildung an der Fritz-Kirchhoff-Schule „Der Kreis“ in Berlin beendet. Der Kreis hatte namhafte Schüler wie: Günther Pfitzmann, Jürgen Roland, Rolf Zacher, Friederike Kempter in seinen Reihen. Schon während Deiner Ausbildung hast Du mit Klaus Hoser als Regieassistent im Theaterforum Kreuzberg und an der Vagantenbühne Berlin, deren Schwerpunkte zeitgenössische Dramatik und moderne Klassiker sind, zusammengearbeitet. Außerdem trats Du während Deiner Ausbildung bereits im ACUD Theater Berlin und im renommierten Kinder- und Jugendtheater GRIPS in Berlin auf. Auch der Film hatte Dich während Deiner Ausbildung entdeckt. So hattest Du 2015/16 bereits die Hauptrollen in den Kurzspielfilmen: „Helping Belts“ und „Die Köche des Uli Römmler“ Wettbewerbsbeiträgen des 48 Hour Film Projekts Berlin. Auslandsaufenthalte in den USA und Australien lassen vermuten, dass dort Film-Castings auf Dich warteten; denn Ähnlichkeiten mit James Dean und dem jungen Marlon Brando lassen sich nicht leugnen, wenn man sich Deine Agenturfotos anschaut. Eine Besonderheit Deiner Schauspielausbildung scheint Deine Ausbildung mit der Meisner Technik zu sein, die man Deinem Spiel anmerkt. Die Meisner Technik hat Dich trainiert Deine Intuitionen wahrzunehmen, auf diese zu vertrauen und sich zu erlauben diesen auf der Bühne voll und ganz zu folgen. Damit kommst Du einem Deiner Idole Lars Eidinger recht nahe, den Du, wegen seiner Tabubrüche und Grenzüberschreitungen, auch wenn sie mit Netz und doppeltem Boden geschehen, schätzt. Denke ich an Kanal Banal: im Wortgefecht platzte die Bombe, Robin und Reiner schütten sich ihre gefüllten Biergläser ins Gesicht. Entsetzen im Publikum. Werden sie jetzt handgreiflich? Sie gehen aufeinander zu ……. umarmen und verbeugen sich. Der Abend ist zu Ende. 2017 begeisterte Du, das Publikum und die Presse bei den Schlossfestspielen Ribbeck in „ROMEO & JULIA“. Die Presse schrieb: „Robin Schneider als Benvolio agierte mit Spielfreude frisch, frei, fröhlich, fesch und frivol – das brachte Schwung in das Stück“. Seit 2017/2018 bist Du festes Ensemblemitglied am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, in der oft so fälschlich verpönten Provinz. Doch an dieser Bühne haben Schauspieler*innen wie Miriam Maertens, Rainer Bock, Axel Prahl und andere ihre Karriere begonnen. Seitdem hat man Dich in vielen Stücken und Rollen gesehen, in denen Du uns, das Publikum begeistertes. Du spieltest in: Schade das Sie eine Hure war; Shakespeare in Love; Bunbury; Kanal Banal; Mein Freund Harvey; Was der Butler sah; Alle da und Soul Kitchen. Immer, wenn Du auf der Bühne stehst, springt der Funke ins Publikum, durch Deine komödiantische, leicht frivole mit Grenzüberschreitungen spielende, immer emotional glaubhafte Spielweise. Auszeichnen tut Dich und das Ensemble auch Euer Mut mit dem Ihr Euch gegen eine Personalie „Schauspieldirektor“ gewandt habt, da Euch dessen Konzept nicht überzeugt hatte, um engagiertes, modernes „Volkstheater“ auf die Bühne zu bringen. Abschließend „Alle da!“ ein Klassenzimmerstück, mit dem Du uns erfreuen willst. In der Nachtkritik hieß es: „A. Becker hat eine emotional aufwühlende, mitreißende Inszenierung geschaffen, die durch brillantes Spiel von Robin Schneider zu einem Feuerwerk an Spielfreude wurde“. Lieber Robin herzlichen Glückwunsch zum Theaterpreis der Schleswiger Theaterfreunde für Deine herausragenden Leistungen. Für Deine Karriere wünschen wir Dir alles Gute und wenn Du erst auf dem Walk of Fame verewigt oder Schauspieler an der Burg bist, dann möge Dich unser Preis daran erinnern, dass wir damals schon an Dich geglaubt haben.
Leserkritik, Mütter und Söhne, Berlin: vieles angerissen
Mütter und Söhne von Karen Breece, Berliner Ensemble/Neues Haus

Die US-amerikanische Regisseurin Karen Beece machte sich in ihrem mehrfach erprobten Stil an die Dokumentar-Theater-Arbeit und führte Interviews mit Neonazis, Identitären, Aussteigern, dem Verein Gegen das Vergessen – Für Demokratie e.V. sowie mehreren Antifa-Gruppen. Leider gelang es ihr nicht, die O-Töne zu einem interessanten Theaterabend zu verdichten. Vieles wird angerissen, der Abend bleibt jedoch stets an der Oberfläche und liefert keine Erklärungsansätze.

Den fehlenden inhaltlichen Tiefgang können die fünf Spieler*innen Laura Balzer, Nico Holonics, Bettina Hoppe, Corinna Kirchhoff und Oliver Kraushaar durch Schreiduelle nicht kompensieren. Kirchhoff gibt mehrmals die verzweifelte Mutter, die ratlos vor den Gewaltausbrüchen und Morddrohungen ihres Sohnes (Holonics) kapituliert und von ihm über die Drehbühne gehetzt wird, die mit vielen umgeworfenen Stühlen übersät ist. Statt der erhofften emotionalen Eindringlichkeit wirken diese Szenen oft nur unfreiwillig komisch und banal wie eine Soap, zudem fallen viele Texthänger unangenehm auf.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/20/muetter-und-soehne-berliner-ensemble-kritik/
Leserkritik: Mütter und Söhne, Berliner Ensemble
Karen Breece: Mütter und Söhne, Berliner Ensemble (Neues Haus) (Regie: Karen Breece)

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Die Sympathien sind klar verteilt: Die Frauen sind vielschichtig, zerrissen, mitfühlend – Kirchhoff in der empathisch ratlosen, etwas pathetisch aufgeladenen, Hoffe in der etwas wütenderen Variante – die „Jungs“ tumbe Hassmaschinen und zugleich arme Würstchen mit verschränkten Armen, Holonics pubertär hibbelig, aber zumindest mit einer Andeutung perfider Gefährlichkeit, Kraushaar grimmig drein- und gern an allen vorbeiblickend, menschgewordener Trotz. Balzer steht dazwischen, freundlich auch den direktesten sexistischen Anwurf weglächelnd, joviales Marketinggesicht der rechten „Kümmerer“. Zu Beginn reminisziert Kirchhoff, was für ein sensibles Kind der spätere Nazi-Sohn denn gewesen sei, das Narrativ der Unverständlichkeit, wie aus einem „lieben Jungen“ ein hasserfüllter Menschenverachter werden könnte, etablierend. Und ähnlich stereotyp geht es weiter. Die Hilflosigkeit der liebenden, wenn auch zuweilen überforderten Mutter (Väter kommen natürlich bestenfalls am Rande vor), die Nazi-Clique als manipulative Ersatzfamilie, die Unsicherheiten, Lernschwächen, Ängste kompensiert, Jung-Nazis sind ja bekanntlich immer „Loser“, die sich aufgefangen fühlen vom braunen Sumpf – man kennt das. Weitgehend von der Rampe erzählt, nur fragmentarisch spielerisch angereichert wird von der Radikalisierung und Brutalisierung erzählt, Videoblogschnipsel liefern den reichlich vereinfachten ideologischen Unterbau, Gewaltdrohungen gegen die eigenen Mütter den notwendigen Schockeffekt.

Wie stets üblich, wird die Diskrepanz zwischen dem erbarmungslosen Schläger und de eigentlich hilflosen Jungen exzessiv beleuchtet – der Nazi-Nachwuchs trinkt warmen Kakao aus de4 Hitlertasse! Und weil man ja Hoffnung braucht, entpuppen sich die erzählten Geschichten am ende auch noch als Aussteigerstories. Zuvor waren die leeren Stuhlkreise auf Eva Veronica Borns Bühne von den Nazis ordentlich durcheinandergestoßen worden, jetzt darf das Publikum – schließlich geht uns das alles an, wir sind ja als Gesellschaft verantwortlich – die Reihen in eine neue Ordnung bringen und sie selbst befüllen. Wie sind a bekanntlich viele – oder was auch immer das sagen sol. Viel Effekt herrscht hier, es wird gebrüllt und gefilmt und in Megafone gesprochen – doch am Ende ist es ernst und still. Die Vernunft siegt, alles ist in bester Ordnung, die Wunden nicht verheilt, aber geschlossen. Viel Luft steckt in diesem Abend, heiße vor allem, eine fast zweistündige Aneinanderreihung gängiger Erklärungsmuster mit der Komplexität eines Aufklärungsartikels in der Bravo. Breece ist es gelungen, die Unerklärlichkeit und Unerträglichkeit der Radikalisierung eines Kindes herunterzubrechen auf ein paar Schockmomente, pseudo-investigative oberflächliche Einblicksfetzen in Identitäre Bewegung und Co. und unterkomplexe Erklärungsstereotype aus den Achtzigern. Am Ende sind alle geläutert und wir gehen mit dem guten Gefühl, eh immer auf der richtigen Seite zu stehen nach Hause. So viel thematische Relevanz war selten – so wenig wirkliche Gegenwart auch.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/09/23/kapitulation-der-gegenwart/
Leserkritik: Stadt unter Einfluss, HAU Berlin
"Stadt unter Einfluss - das Musical zur Wohnungsfrage" von Christiane Roesinger, HAU 1

Schon 2018 thematisierte das HAU die Probleme von Gentrifizierung und Entmietung im „Oratorium“ von She She Pop. Annette Gröschners Text über ihre Erfahrungen im Prenzlauer Berg waren das Herzstück eines Abends, der zwar zum Theatertreffen eingeladen war, aber zu viele Facetten der wachsenden sozialen Ungleichheit zu unfokussiert bearbeiten wollte.

Zum Spielzeitauftakt widmet das HAU den Mieter*innenprotesten nun ein ganzes Festival und landete mit dem Auftragswerk „Stadt unter Einfluss“ einen Volltreffer. Christiane Roesinger erarbeitete mit Andreas Spechtl, weiteren Musiker*innen und Initiativen aus Kreuzberg und Neukölln einen Abend, der es schafft, die brisanten Probleme ebenso ernsthaft wie unterhaltsam zu beschreiben.

Leicht hätte der Versuch, sich dem aktuellen Thema mit Laiendarsteller*innen zu widmen, als bemühtes Agitprop-Theater schiefgehen können. Aber Christiane Roesinger gelingt es, die Balance zu wahren. „Stadt unter Einfluss“ argumentiert in seiner Kritik messerscharf und mit dem nötigen Biss. Meist in wunderbar unterhaltsamen Songs, die ironisch auf Schlager von Helene Fischer bis Matthias Reim oder die Arbeiterkampf-Liedertradition und Brechts Lehrstücke anspielen. Die authentischen kurzen Erfahrungsberichten einzelner Aktivist*innen sind in die Musical-Handlung geschickt eingebunden und sind deshalb zwar eindringlich, aber nie plakativ mit dem Holzhammer.

In seiner aufklärerischen Mission und in seiner Wut über die Zustände verliert „Stadt unter Einfluss“ glücklicherweise nie die nötige Selbstironie und Reflexion. Der Abend adressiert seine Botschaft sehr klar, adressieren, driftet aber nie in verbissenes Eiferertum ab. Er informiert nicht nur, sondern unterhält auch glänzend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/27/stadt-unter-einfluss-hebbel-am-ufer-kritik/
Leserkritik: Der Hals der Giraffe, Deutsches Theater Berlin
Nach dem Roman von Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe, Deutsche Theater (Box), Berlin (Regie: Philipp Arnold)

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Ohnehin interessiert sich der Abend eher für den menschenfeindlichen Biologismus, der reichlich plakativ mit Masken – der einer ausgestorbenen Seekuh und jener einer Fledermaus, die ins Schlafzimmer eindringt – oder einem Hirschgeweih illustriert wird, Schülerin Erika weird gar durch ein den Kopf ersetzendes Büschel gleichnamiger Pflanze charakterisiert. Das will sagen: Inge Lohmark sieht ihre Umwelt nicht als Menschen, sondern als Biologie, als naturwissenschaftlich untersuchbare Prozesse. Und das verzwergt den Abend, weil sie seine Geschichte auf diese eine Ebene reduziert. Dabei ist Schalanskys Roman auch als Porträt der Nachwendezeit verfasst, am Beispiel einer Aus-der-Zeit-Fallenden, die sich nicht mit der Zeit zu ändern vermag und zugleich vom Neuen vergessen wird. Arnold ahnt das und lässt die Anachronistische mit weißgeschminktem Gesicht in Renaissance-Kragen auftreten, der wiederholt weggeworfen und wieder angelegt wird, Symbol vielleicht der Unfähigkeit, das Alte hinter sich zu lassen.

Das ist dann aber noch ein bisschen wenig in diesem wenig spielfreudigen knapp eineinhalbstündigen Monolog, dem auch die Verdreifachung der Hauptfigur kaum theatrale Energie verleihen kann. Hier wird selektiv aus dem Roman vorgelesen, ein wenig illustriert – zu Beginn flimmern Naturszenen über die Bretterwand, dazu ertönen Vogelstimmen – und bestenfalls an der Oberfläche gekratzt. Judith Schalanskys Inge Lohmark steht für eine ganze abgewickelte Generation, ja einen nicht ganz kleinen Teil dieses Landes, ihre Geschichte ist als symbolisch für die teils selbtsgewählte, teils erzwungene Opferrolle des sogenannten Ostens zu lesen, verkörpert die Rat- und Orientierungslosigkeit der aus ihrer Welt Gefallenen und ihr trotziges Ausschlagen, ihren Rückzug in Verweigerung und Pessimismus. Das alles findet sich zwar bruckstückhaft im rezitierten Text, in der Inszenierung spielt es keine Rolle. Viel zu verliebt in die biologistischen Tiraden, im Buch eher Mittel zum Zweck, bleibt der Abend dort stehen, von wo er eigentlich starten müsste. Was vielleicht auch symbolisch zu verstehen ist.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/09/28/stehengeblieben/
Leserkritik: Willkommen im Nirgendwo, SH-Landestheater, Rendsburg
Das Theaterprojekt „Willkommen im Nirgendwo“ wurde von der Theatergruppe SZOL HA (afghanisch: Frieden) im Rahmen der Interkulturellen Woche 2019 am 27.9 in den Kammerspielen des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters vor ausverkauftem Haus in Rendsburg aufgeführt. Das Stück „Willkommen im Nirgendwo“ der Gruppe SZOL HA ist eine Gemeinschaftsproduktion des SH-Landestheaters und dem UTS e.V. Rendsburg, einem Träger der Migrationssozial- und Erstberatung (zugelassener Integrationskursträger des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge), der in der integrationsfördernden Beratung tätig ist. Die Leitung des Projektes hatten Rosana Trautrims (UTS) und der Theaterpädagoge Konrad Schulze vom SH-Landestheater, die Geflüchteten die Möglichkeit bieten ihre Geschichten zu erzählen und dies bereits seit mehreren Jahren. Teilnehmer des Projektes waren Migranten aus meist arabischen Ländern und Nicht-Migranten. Aus ihren Traumata, Ängsten, Hoffnungen und Wünschen haben sie ein Stück entwickelt mit eigenen Texten, Liedern und eindringlichen Bildern. Ein Hauptthema war Ankommen, die Sehnsucht vieler Migranten, egal ob in einer neuen Heimat, im Job oder im Glück. In ihrem Stück erzählen Migrant*innen auf humorvolle Weise, wie schwer das ist und wie oft ihnen Steine in den Weg gelegt werden. Gestrandet zwischen Treibgut, Bürokratie und Hoffnung formulieren sie ihre Ängste, Träumen von der Zukunft und kämpfen dafür, endlich nicht mehr als die Flüchtlinge wahrgenommen zu werden. Mit aller Deutlichkeit zeigte das Ensemble Ängste, Enttäuschungen, Probleme und auch Hoffnungen auf. Auch hielten sie dem deutschen Publikum den Spiegel vor, wie es wohl wäre, wenn sie Geflohene wären. Dies alles mit Humor, Gesang, Musik und Tanz, was der Aufführung Esprit und Leben einhauchte. Dieser Abend macht deutlich wie wichtig und sinnvoll solche integrationsfördernden Projekte für eine Gemeinschaft sind. Sie haben die Kraft einander zu begegnen und Verständnis für die vermeintlichen Eigenarten des jeweils anderen zu entwickeln. SZOL HA ist nicht nur eine Bereicherung der Kulturszene in Schleswig-Holstein sondernd auch eine gelebte Form der gelungenen Integration. Als Nicht-Migrant habe ich an diesem Abend viel über arabische Lebensweise, Nöte und Ängste von Migranten, arabische Musik und Lieder sowie deren Lebensfreude erfahren. Ihr seid eine Bereicherung, die ich nicht missen möchte. Auch dem Landestheater gilt mein Dank, das auf diesem Wege die Integration von Migranten auf beachtenswerte Weise unterstützt.
Leserkritiken: Bookpink, Landestheater SH
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater präsentierte mit dem Nordkolleg Rendsburg (Akademie für kulturelle Bildung) in seiner Reihe „RAUS #7“ neue Theatertexte als szenische Lesung das Stück „BOOKPINK“ von Caren Jeß. Die aus Eckernförde stammende Dramatikerin gewann 2018 mit „BOOKPINK“ die Residency des Münchner Förderpreises für deutsche Dramatik. Ihr Stück wurde bereits mehrfach szenisch gelesen, wie auf dem Heidelberger Stückemarkt oder den Autoren-Theater-Tagen am Deutschen Theater in Berlin. Im November wird ihr Stück am Theater in Graz uraufgeführt. Der Titel „BOOKPINK“ ist eine Hommage an ihre norddeutsche Heimat in der Bookpink das plattdeutsche Wort für Buchfink ist. „BOOKPINK“ sind poetisch-komische Dramolette im Stil der Tierfabeln. Ihre Szenen sind von Vögeln bevölkert und behandeln zutiefst menschliche Themen wie, Chanenungleichheit, Gleichberechtigung, Geschlechtervielfalt, Kapitalismus, Religion und vieles mehr. Das Stück ist voller Humor, hat subtilen Wortwitz und pralle Situationskomik. Es kommt leichtfüßig daher, obgleich es große Themen am Wickel hat. Sprachlich kombiniert es Jugendslang mit Barocksonetten und elaborierter und restringierter Sprachcode existieren einträchtig nebeneinander. „BOOKPINK“ ist ein kleines Welttheater im Federkleid, das für Verschiedenheit und Vielfalt plädiert, oder für viele schräge Vögel. André Becker hat sich jetzt daran gemacht mit Katrin Schlomm, Karin Winkler, Lukas Heinrich, Reiner Schleberger und Nenad Subat aus 5 Szenen eine ca. 60minütige szenische Lesung zu gestalten. Grundidee war ein Vogelkonzert und somit waren die Akteure in Schwalbenschwänze (Fräcke) gekleidet und agierten hinter Notenständer. Musikalisch wurden die Szenen von der Musik des Papagenos aus Mozarts Zauberflöte eingeleitet. Es wurden die Szenen Dreckspfau, Pute, Bussard, Buchfink und Taube szenisch gelesen. Mit wenigen Accessoires wurden die einzelnen Charaktere unterstützt, wie z.B. Sonnenbrille, gelbe Kappe, rosa Hut, Indianderhaube und anderes mehr. Der Abend wurde zu einem Vogelkonzert der Extraklasse und offenbarte das unendliche Potential dieses Stückes. Die Darsteller*innen glänzten in ihren Rollen und man merkte ihnen den Spaß an dieser Arbeit in jedem Moment an. Der Dreckspfau hat es schlecht getroffen. Sein Ei wurde im Wald entsorgt. Trotzdem geschlüpft und kriminell geworden. Voll verdreckt erkennt keiner seine Schönheit, und der Spatz, der kleine Aufschneider, macht ihn blöd an. Herrlich was Schleberger und Heinrich aus dieser Szene für ein Kabinettstück zaubern. Die Pute, dieser Guru einer falschverstandenen Heilslehre grandios dargeboten von Katrin Schlomm. Der Bussard verehrt von den Singvögeln als Hüter des „Kokons der Vernunft“ verharrt in Schweigen und ist nur darauf aus, Mäuse zu machen. Hier beeindruckt Nenad Subat durch seine stoische Ruhe als Bussard. Zum Schluss Karin Winkler als die Taube im Müll, die von barocker Zügellosigkeit träumt, komisch bis in die Spitzen der Federkiele. In fünf komisch-poetischen Miniaturen wurden menschliche Abgründe im Federkleid zelebriert und sie blühten so befremdlich schön wie die selbstverliebte Narzisse (Lukas Heinrich) inmitten der Pflasterritzenvegetation (Nenad Subat). André Becker hat die Juwelen dieses Stückes erkannt und liebevoll mit Humor, Witz und Spaß auf die Bühne gebracht ohne den Blick in die menschlichen Unzulänglichkeiten zu versperren, die sich in allen Szenen offenbaren. Er und das Ensemble haben mit Esprit und Spiellaune für Vielfalt plädiert und deutlich gemacht wie toll es ist, dass es so viele schräge Vögel gibt. Chapeau der Autorin, dem Regisseur und den Schauspieler*innen für diesen amüsanten, geistvollen Abend. Schade, dass er nur einmalig geboten wurde.
Leserkritiken: "Philoktet", DT Berlin
Leserkritik: "Philoktet" von Heiner Müller, Regie: Amir Reza Koohestani, DT Berlin Kammerspiele

Der 90 Minuten kurze Abend vertraut ganz auf die archaische Wucht von Heiner Müllers Drama. Mit scharfkantigen Sätzen duellieren sich die drei Spieler auf der Kammerbühne des Deutschen Theaters Berlin. Der hämmernde Müller-Sound, mit dem hier durch die Textmassen gepflügt wurd, und die bewusst altertümlich wirkenden Wortkreationen machen den Reiz des „Philoktet“ aus.

Drei Prototypen prallen aufeinander: der intellektuelle Zyniker Odysseus (Jörg Pose), der für Erfolg und Macht über Leichen geht, der verbitterte, emotionale Außenseiter Philoktet (Edgar Eckert) und der junge Idealist Neoptelemos (Niklas Wetzel), der sich dagegen wehren muss, nur als Werkzeug benutzt zu werden.

Der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani bleibt nah an Müllers Text und vertraut auf seine handwerklichen Stärken, die ihn in Europa bekannt gemacht haben. Wie bei „Hearing“ (Mehr Theatre-Gastspiel beim FIND-Festival 2016) steht das Wort im Mittelpunkt des Abends. Theatralisch am interessantesten wird die sehr werktreue Inszenierung, wenn die Redeschlachten im letzten Drittel in gelungene Livevideo-Passagen eingebettet sind. Das Trio zieht sich durch eine Luke in den Maschinenraum der Unterbühne zurück. In düsteren Schwarz-Weiß-Szenen nimmt dort die Eskalation ihren Lauf. Die Verzweiflung im Gesicht des mit sich ringenden Niklas Wetzel (frisch von der Falckenberg-Schule bei seinem ersten DT-Auftritt) wird ähnlich wie in „Hearing“ in Großaufnahme nach oben übertragen.

Anders als in seinen letzten Inszenierungen an den Münchner Kammerspielen bietet Koohestanis kein ironisch-verkopftes Metatheater, sondern setzt ganz auf die Kraft von Heiner Müllers Vorlage. Die große Wertschätzung für Müllers Werk, die der iranische Regisseur im Programmheft-Interview betonte, wird in diesem eindringlichen Kammerspiel sehr deutlich. Schroff lässt er die Konflikte um Lüge und Manipulation aufeinanderprallen, die hier exemplarisch anhand antiker mythologischer Figuren aus dem Trojanischen Krieg verhandelt werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/06/philoktet-deutsches-theater-kammerspiele-kritik/
Leserkritik: Rio Reiser - Mein Name ist Mensch, Berlin
"Rio Reiser - Mein Name ist Mensch", Schauspielmusical von Frank Leo Schröder und Gert C. Möbus, Komödie am Kudamm im Schiller Theater

In Potsdam war Frank Leo Schröders Polit-Schauspiel-Musical der Hit: 40 Mal sorgte „Rio Reiser – König von Deutschland“ für ein volles Haus im Hans Otto Theater.

Einen solchen Schatz lässt man nicht einfach ungenutzt im Fundus verstauben, nachdem die Intendanz gewechselt hat und Hauptdarsteller Moritz von Treuenfels ans Theater Basel gewechselt ist. Mit einigen Umbesetzungen und Modifikationen wurde „Rio Reiser – Mein Name ist Mensch“ mit Rio Reisers Bruder Gert C. Möbius als Co-Regisseur ein paar Kilometer weiter östlich und damit noch etwas näher an Reisers Kreuzberger Heimat im Schiller Theater, der Interimsspielstätte der Komödie am Kudamm, herausgebracht. Nach der Premiere vom Sonntag ist es en suite bis 3. November zu sehen.

Dass der Abend über knapp drei Stunden so gut funktioniert, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen verwebt er geschickt die persönliche Biographie von Ralph Möbius, wie Reiser mit bürgerlichem Namen hieß, mit den politischen Umwälzungen der linken Szene zwischen den 70er und 90er Jahren. Sehr präzise beschreibt der Abend das spannungsreiche Verhältnis zwischen den linken Aktivist*innen und ihrer Band. Spätestens seit der anarchistischen Hymne „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und dem „Rauch-Haus-Song“ als Manifest der Hausbesetzer*innen-Szene hatten „Ton Steine Scherben“ einen Kultstatus: Jeder wollte etwas von ihnen, hier ein Solidaritätskonzert, dort eine Unterstützungs-Aktion. Jede Idee, die der Band etwas Geld bringen könnte, die bei äußerst knapper Kasse zunächst in West-Berlin und dann auf einem Bauernhof in Fresenhagen lebte, löste sofort einen Shitstorm aus: Sie würden ihre Seele an die Plattenindustrie und den Kapitalismus verkaufen, lautete der Vorwurf.

Mit kleinen kabarettistischen Einlagen wie einer Claudia Roth-Parodie, die als Tourmanagerin und Nervensäge zu den Grünen weggelobt wird, und historischer Genauigkeit zeichnet der Abend ein Bild von Rio Reiser, das sowohl für Zeitzeug*innen als auch für Jüngere interessant ist.

Das zweite Plus des Abends sind die tollen Songs, die auch Jahrzehnte später nichts von ihrer Qualität verloren haben. In ihnen spiegeln sich an diesem Abend die unterschiedlichen Facetten von Rio Reisers Persönlichkeit. Das aufrüttelnde, politische Engagement, das sich von „Macht kaputt…“ bis zu seinem Spätwerk mit „Alles Lüge“ oder „König von Deutschland“ zieht, steht an diesem Theater-Abend in einer guten Balance mit den leisen, poetischen Tönen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/09/rio-reiser-mein-name-ist-mensch-komodie-am-kudamm-kritik/
Leserkritiken: Nur Pferden gibt man ..., Wien
Nach dem Roman von Horace McCoy: Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, Volkstheater Wien (Regie: Miloš Lolić)

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Hier liegt der Kern von Miloš Lolićs Inszenierung. Das Volkstheater, ja, das Theater als solches mutiert vom Player im Unterhaltungswettbewerb, als der er wohl von Teilen der Öffentlichkeit, der geldgebenden Politik und – der hasserfüllte Tonfall mancher Premierenkritik deutet daraufhin, dass sich der eine oder andere Rezensent gemeint haben mag – einiger Medienschaffender wahrgenommen wird. In der derzeitigen Debatte ums Volkstheater ist primär wieder von Auslastungszahlen, Kosten, Sparmöglichkeiten die Rede – da wird Kunst, wird Theater zweitrangig, hat es zweckmäßig zu sein, muss man es sich „leisten können“. Ja, das kommt zuweilen ein wenig hölzern didaktisch daher, die Exkurse in die Geschichte des Theaters haben etwas von Selbstbeweihräucherung, störrischer Rechtfertigung und verströmen mitunter den Charme einer der drögeren Volkshochschulvorlesungen.

Und doch ergeben die Szeneneinsprengsel meist Sinn, auch wenn sie gegen Ende ein wenig in Richtung Selbstzweck abdriften. Die Wettbewerbssituation, in der das Theater stets und in Zeiten ständiger Verfügbarkeit von fast allem erst recht steht, ist schließlich real: Es ist ein Wettbewerb ums Publikum, das sich gegen Netflix & Co. für den nicht immer bequemen Theatersessel entscheiden soll, einer um gesellschaftliche Relevanz, wenn dem Theater meist nur noch eine Nischenexiostenz zu erkannt wird, eine sehr reale ums Geld und die Frage, was man fördert und was nicht und ob der Markt nicht alles regeln dürfen sollte. Da werden der Theatermacher und die Schauspielerin zu Dauertänzer*innen, die performen, Gunst erheischen, um Aufmerksamkeit buhlen müssen, auch im Wettbewerb untereinander, gerade in der Burgtheaterstadt-Wien. Kann man sich da, wie die sarkastisch-stoische Birgit Stöger und der naiv-verlorene Sebastian Klein als das zentrale Paar im Roman herausziehen und wenn ja, um welchen Preis?

Im Roman lautet der Tod und Gefägnis, das ende der Freiheit als ihre einzig noch denkbare Möglichkeit. So weit geht der Abend nicht. Sein Preis für den Theaterdiskurs ist, die existenzielle Ebene der Vorlage abzuschwächen. Hier mag es um Großes gehen, das individuelle recht auf (Über)Leben steht nicht in Frage. Der Schluss, eine Art Zombieapokalypse, ist denn auch wieder pure Show. Draußen, am Gerüst des im Umbau befindlichen Hauses, prangt Werbung für die neue Staffel einer Zombie-Serie. Der Mitbewerber ist bereits mitten unter uns, das Theater von Untoten bedroht. Oder sind sie auch ein Ausweg, ein neuer Pfad, ein weiteres theatrales Narrativ. Wird hier zerstört und vernichtet, sondern einfach weitergespielt, so wie es das akut bedrohte Haus ja auch tut? Darüber spricht der Abend und das führt er vor. Und das macht diese Arbeit vielleicht nicht zu einem Triumph, aber ganz sicher nicht zu dem Offenbarungseid, den die versammelte österreichische Kritik in ihm sehen wollte.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/10/13/weiterspielen/
Leserkritik Auerhaus, SH Landestheater
Am Freitag feierte das Stück „Auerhaus“ von Bov Bjerg in der Regie von Eva Brunner am Schleswig-Holsteinischen Landestheater auf der kleinen Bühne in Flensburg Premiere. Auerhaus ist die Geschichte einer Schüler-WG und spielt Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Sechs Freunde geben sich das Versprechen: Ihr Leben soll nicht in Ordnern mit der Aufschrift „Birth – School – Work – Death“ enden. Frieder (Simon Keel) hat einen Suizidversuch hinter sich. Damit so etwas nicht wieder passiert, ziehen seine besten Freunde*innen mit ihm in das leerstehende Haus seines Großvaters. Im Auerhaus läuft ständig „Our House“ von Madness und es gibt kaum Regeln und neben den Vorbereitungen zum Abitur werden Partys gefeiert und mit Drogen und freier Liebe experimentiert und man ist der Auffassung „Liebe ist kein Kuchen, der kleiner wird, wenn man ihn teilt.“ Ihr Leben im Auerhaus ist der Pakt, die Gegenwart in vollen Zügen zu genießen und nicht wie die Erwachsenen zu werden. Auerhaus stellt die Frage nach eigenen Regeln für das Zusammenleben. Sind Regeln und das Gefühl von Freiheit und Sich-einfach-gut-fühlen ein Widerspruch? So entstehen Szenen von gelungenem Zusammenleben und möglichem Scheitern. Eva Brunner inszeniert diese Romanvorlage in einem Bühnenraum, der aus drei Sperrholzwänden besteht und parallelen Holzlatten, die auf dem Boden verlaufen, wie die Schienen eines Bahngleises (Bühne: Lucia Becker). Doch so gerade wird das Leben dieser Jugendlichen nicht verlaufen. An den Wänden hängen wenige Accessoires (z.B.: Christbaumkugel, Pistole, Holzflaschen, Äpfel und anderes), die in die Spielszenen eingebaut werden. Das Stück entwickelt sich aus der Erzählung Höppners (Christian Hellrigl). Erzählen ist das dominierende Element dieser Inszenierung, in das Spielszenen einfließen. In den Spielszenen gewinnt der Text an Leben und dort liegen die starken Momente dieser Inszenierung. Die gelungenste Szene dieser Inszenierung ist für mich der Verführungsversuch Harrys (Robin Schneider) mit Höppner auf der Silvesterparty. Was dort über Blicke und Gesten abläuft ist phänomenal. Eine kleine, stille fast unscheinbare Szene am Rande der Bühne. Lucie Gieseler als Vera ist für mich der Star des Abends, da sie die rotzige Unbekümmertheit einer Jugendlichen so lebendig verkörpert, dass man ihr die rebellische Lust am Leben nicht nur abkauft, sondernd lustvoll begleitet. Emotionale Ausbrüche der Akteure sind leider sehr sparsam wie beim Skandieren von „Birth – School – Work – Death“, obwohl Emotionen den rebellischen Schrei der Jugend nach eigenem, wirklichem Leben am besten transportieren. Auch ein zentrales Moment der Jugend, ihre Musik, wurde sehr sparsam und zurückhaltend eingesetzt. „Our House“ von Madness mit Ukulele und lieblichen Stimmen sind nicht das Lebensgefühl von „Sex, Drugs and Rock´n´Roll“. Die Lebenslust und die Verrücktheit dieser WG blieb dadurch ein wenig auf der Strecke. Durch den dominierenden erzählenden Charakter der Inszenierung, wurden Themen wie Suizid, Schizophrenie, Erwachsenwerden und Leben, überwiegend intellektuell betrachtet, während die emotionalen, gefühlsmäßigen Elemente dieser Themen aus meiner Sicht mehr Musik und Spiel vertragen hätten, um das Thema, des Erwachsenwerdens, auch emotional zu erleben. Diesem Regiestil zur Folge blieben die Rollen der Cäcilia (Kimberly Krall) und Pauline (Meike Schmidt) leider etwas blass. „Auerhaus“ ist ein Roman der auf jene Art wie der Song "Our House" gute Laune macht. Gute Laune mit melancholischem Anstrich. Diese melancholische, gute Laune perfekt erfasst in Frieders Äußerung: „Du hast die Augen zu und treibst auf deiner Luftmatratze, ein sanfter Wind weht, und du denkst, geil, jetzt lebe ich für den Rest meines Lebens hier in dieser Lagune, in der Südsee. Und dann machst du die Augen auf und merkst, es ist bloß ein Nachmittag am Baggersee, und zack ist der auch schon vorbei.“ bleibt meiner Ansicht nach, in der Inszenierung ein wenig auf der Strecke.
Leserkritik, Ladykiller, S-H Landestheater: filigran
„Ladykillers“ ist der Titel des britischen Spielfilms aus dem Jahr 1955. Er handelt von dem genialen Gauner Professor Marcus, der sich mit seinen Komplizen bei einer ahnungslosen alten Dame in London einnistet und zunächst nur einen Geldtransport zu überfallen plant. Im Verlauf der Handlung werden er und die Gangster aber der Frau aufgrund ihres Mitwissens über den Coup nach dem Leben trachten. Der Film gilt heute als Klassiker der Schwarzen Komödie. 1983 wurde die Kriminalkomödie „Ladykillers“ in der Theaterfassung von Elke Körver und Maria Caleita uraufgeführt. Am Samstag hatte jetzt „Ladykillers“ in der Regie von Wolfram Apprich Premiere im großen Haus des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Rendsburg. Wolfram Apprich entdeckt die Langsamkeit für die Ladykillers und dieses Konzept geht auf. Er schafft eine skurrile, surrealistische Komödie des schwarzen englischen Humors ohne jegliche Art von Schenkelklopfern. Sein Humor und seine Inszenierung sind filigran und das macht die Ladykiller sehenswert. Dafür schafft ihm Mirjam Benkner ein schäbiges, düsteres Zimmer mit Fenster zu den Güterbahngleisen und ein Wohnzimmer der Mrs. Margaret Wilberforth (Ingeborg Losch) auf einer Drehbühne. Das Stück beginnt mit Jazzklängen zu denen Mrs. Wilberforth langsam tanzende Bewegungen ausführt. Von Beginn an wird klar, dass Langsamkeit die Inszenierung kennzeichnet. Man nimmt sich Zeit, um die Atmosphäre des Raumes wirken zu lassen. Bereits der erste Auftritt des Polizisten Mr. Thomson (Nenad Subat) mit seiner lauten, überdeutlichen Aussprache macht deutlich, dass man Typen zeichnen wird. Mr. Thomsen spricht so übertrieben, weil er Mrs. Wilberforth für schwerhörig hält. Dann der erste Auftritt von Prof. Marcus (René Rollin). Er beginnt mit einer Hand, die auf der Innenseite der Tür erscheint, ehe Prof. Marcus eintritt. Prof. Marcus eine herrlich skurrile Figur mit Geigenkasten und „Hasenzähnen“. Dann bittet er seine drei Mitstreiter des Streichquintetts herein. Drei fantastisch, skurrile Männer in Kostümen (Anzüge, Trainingsanzug und Jogginganzug) die ihre Skurrilität perfekt unterstreichen. Die Langsamkeit der Bewegungen schafft Raum für Mimik und Gestik und eine filigrane Zeichnung der vier Ladykiller: Prof. Marcus (René Rollin), Dr. Courtenay (Arzt; Felix Ströbel), Willie Knoxton (Timon Schleheck) und Louis Harvey (Uwe Kramer), die das Beste dieses Abends sind. Sie bestechen durch ihre skurrile Originalität und erinnern in ihrer Spielweise an große Komiker früherer Jahrzehnte wie Buster Keaton, Charlie Chaplin und Marx Brothers. Kabinettstückchen der Komik sind zum Beispiel das Geigensolo von Louis Harvey (Uwe Kramer) oder das bärenhaft, tollpatschig Auftreten von Willie Knoxton (Timon Schleheck). Wolfram Apprich verzichtet auf jede Form von Klamauk und billige Gags, denen sicher, konsequenter Weise, der Papagei zum Opfer gefallen ist. Die Frauenrollen [Mrs. Margaret Wilberforth (Ingeborg Losch) und Gwendolyn Livingstone (Beatrice Boca)] sind weniger skurril gezeichnet als die Männerrollen, was die Skurrilität der Ladykiller nur noch erhöht. Typenzeichnung, skurriler, surreal wirkender Humor und die Entdeckung der Langsamkeit sind das Erfolgsprinzip dieser Ladykiller, die dem Regie-Mainstream nicht folgen, aber eine neue spannende Sichtweise auf diesen Klassiker der britischen Kriminalkomödie eröffnen.
Leserkritik, Taylor Mac, Berlin: Glamour & Sentimentalität
Leserkritik: Taylor Mac – A 24-Decade History of Popular Music, Berliner Festspiele/Immersion

Allein schon durch seine schiere Länge ist diese musikalische Zeitreise durch die US-amerikanische Geschichte von der Unabhängigkeits-Erklärung von 1776 bis zur Gegenwart ein ungewöhnliches Theatererlebnis.
Drag Queen Taylor Mac lädt zu vier langen Abenden ein, jeder davon zieht sich knapp 6 Stunden und teilweise bis weit nach Mitternacht. Selbst für Castorf- und Volksbühnen-gestählte Zuschauer*innen ist das eine Herausforderung.

Die Performance gleicht schon am ersten Abend einer Achterbahntour: furchtbar alberne Mitmachspielchen stehen neben berührenden, sehr authentischen queeren Momenten. Zunächst zu den Tiefpunkten: Taylor Mac schreckt vor nichts zurück, judy (mit diesem geschlechtsneutralen Pronomen will Taylor Mac angesprochen werden) fordert das Publikum zu einer Polonaise auf, an deren Ende sich die Zuschauer*innen aus der zweiten Reihe wesentlich weiter hinten wiederfinden. Schluss mit den Privilegien, kommentiert judy Zeremonienmeister*in giftig. Nach vier Stunden steht eine Mischung aus Reise nach Jerusalem, Blinde Kuh und Weintrauben-Flirtspielchen auf dem Programm, die viel besser zu einer alkoholisierten Flaschendreh-Party für Teenager*innen passen würde als ins Haus der Berliner Festspiele, wo diese Show ihre Europa-Premiere feiert.
Dass sich der Abend trotz solch skurriler Momente dennoch lohnt, liegt an der Ausstrahlung von Taylor Mac. Jede Stunde durchmisst judy ein anderes Jahrzehnt, schlüpft in ein anderes Kleid, vor dem die Friedrichstadt-Palast-Revue-Girls nur neidvoll erblassen können und plaudert sich durch die US-Geschichte, die sie konsequent aus der Geschichte der Minderheiten erzählt. Die Show setzt einen Kontrapunkt zu den patriotischen Hollywood-Leinwandepen und erzählt aus der Perspektive der Native Americans, der Schwarzen, der Frauen-Bewegung oder queerer Menschen.
Taylor Mac liefert genau den Glamour und die Sentimentalität, die René Pollesch und Fabian Hinrichs in ihrer blassen Friedrichstadt-Palast-Revue nur behaupten. Die kleinen Anekdoten, die Taylor Mac aus New Yorker Bars einstreut, sind wunderbar authentisch, oft sehr erfrischend und stets sehr frech.

Sehr kämpferisch ist die letzte Stunde, zu der alle lesbischen Zuschauerinnen auf die Bühne gebeten werden, singen und tanzen und am Ende ein Dyke Manifest für mehr lesbische Sichtbarkeit verlesen. Taylor Mac und judy Rock-Gitarristin stimmen einen Protestsong an, dass sie sich eine schwarze Frau als US-Präsidentin wünschen, die Kritik am aktuellen Amtsinhaber zog sich natürlich durch die gesamten 24 Stunden, auch wenn er kaum namentlich genannt wurde.

Das wäre ein würdiges Ende für die Zeitreise gewesen. Taylor Mac hängt aber noch eine letzte Stunde dran. Ganz allein sitzt judy auf der Bühne und stimmt auf der Ukulele nach all den Hits des Abends einige selbstkomponierte Lieder an. Mitternacht ist schon vorbei und wie Castorf findet und findet Taylor Mac einfach kein Ende. Bis judy sich still verabschiedet, während das Publikum noch weiter „You can lie down or get up and play“ singt. Dass der Saal nach so vielen Stunden immer noch so voll besetzt ist und die Zuschauer*innen bis zum Schluss mitgehen, war zuletzt bei „Dionysos Stadt“ der Münchner Kammerspiele zu erleben.
Der Erfolg dieses Gastspiels sollte die Berliner Festspiele ermutigen, in nächster Zeit wieder mehr internationale, außergewöhnliche Produktionen einzuladen. Das kam in den vergangenen Jahren, seit die Festivals „Spielzeit Europa“ und „Foreign Affairs“ eingestellt wurden, etwas zu kurz.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/13/taylor-mac-a-24-decade-history-of-popular-music/
Leserkritik: Talking About ..., Berlin
Junges DT – 30.nach.89. Talking About Your Generation, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Uta Plate)

(...)

Der Abend ist Patchwork und kann auch nichts anderes sein, ein Sammelalbum voller Ausschnitte aus einer viel größeren, längeren, nur rudimentär vermittelbaren gemeinsamen Erfahrung, eine – durchaus elaborierte, Postkarte aus einem Urlaub, bei dem der Empfänger nicht dabei war. Und er funktioniert dann am besten, wenn er sich mit dem Verstehen, dem Verstehenwollen des Anderen, ob nun über Generationen- oder geografische Grenzen hinweg, befasst. Wenn er sich um das miteinander und übereinander Sprechen dreht und aus den Wörtern Bilder, Szenen, Spiel, Interaktion zu machen versucht, wenn er Bedeutung, persönliche wie kollektive umkreist, das Gemeinsame im vermeintlich Trennenden sucht. Und er ist dann schwächer, wenn er von der Form ausgeht, Choreografien in den Fokus rückt (was er sparsamer als seine beiden Vorgänger tut), am Ende eine Art Länderwettkampf probiert oder zuweilen zur Nummernrevue wird, bei der sich die Länderteams abwechseln. Manches wirkt verkrampft und unfertig, etwa die etwas plumpen Einbeziehungsversuche des Publikums oder die seltsame Suche nach der deutschen Wendehymne, die es mit denen der Russ*innen und der Pol*innen aufnehmen könnte. 30.nach.89 ist Dokument eines Such- und Findungsprozess, Versuch seiner theatralen Übersetzung, Teil und Endpunkt eines Projekts, ohne das er nicht denkbar ist. In seinen besten Momenten gelingt es ihm, den intergenerationalen und internationalen Lern-, Erfahrungs- und Kommunikationsprozess, ohne den gesellschaftliche Entwicklung nicht möglich ist, in Ansätzen spürbar zu machen. Da trägt der Enthusiasmus der wunderbaren jungen Spieler*innen den Zuschauer hinein in den magischen Raum, in dem das Unmögliche möglich erscheint: einander kennen zu lernen, die anderen zu verstehen, von einander zu lernen.
Leserkritik: Anatomie eines Suizids, Hamburg
Katie Mitchell bringt das Stück „Anatomie eines Suizids“ der britischen Autorin Alice Birch als deutsche Erstaufführung auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Alice Birch erhielt 2018 für dieses Stück den Susan Smith Blackburn Prize für außergewöhnliche Theaterstücke junger Autorinnen. Alice Birch erzählt die Geschichte dreier Frauengenerationen in simultan stattfindenden Handlungssträngen, wobei sich jede der drei Frauen in ihrer eigenen Zeitzone bewegt. Gemeinsames Thema ihrer Geschichten ist die Depression. Alice Birch interessieren die Ursachen einer Depression. Welche Rolle spielen erbliche und umweltbedingte Faktoren wie psychosoziale Ursachen. Welche Bedeutung hat die Vulnerabilität für den Ausbruch und die Aufrechterhaltung einer Depression. Diesen Fragen spürt sie in ihrem Stück nach. Clara (Julia Wieninger) liebt das Leben nicht. Es kostet sie Mühe, zu existieren und keiner hat Verständnis für ihre düstere Verzweiflung. Hat sie nicht alles, worum die meisten sie beneiden? Woher also kommt die Depression? Als sie eine Tochter gebiert, verspricht sie dieser, so lange zu leben, wie es ihr möglich ist. Doch die Depression lässt sie nicht los. Anna (Gala Othero Winter) ihrer Tochter gelingt es nicht besser, sich in der Welt zurechtzufinden. Sie sucht Zuflucht in Drogen und exzessiven Lebensformen, bis auch sie eine Tochter gebiert. Doch ihre Depression bleibt und führt sie in die gleiche Katastrophe wie ihre Mutter, den Suizid. Bonnie (Sandra Gerling) Annas Tochter wehrt sich entschieden und mit aller Kraft gegen dieses scheinbar unausweichliche Erbe, einer Schwermut. Sie trifft die radikale Entscheidung einer Sterilisation, um dem wiederkehrenden Schicksal ein Ende zu setzen. Das kluge Regiekonzept von Katie Mitchell fordert den Schauspielern*innen vollste Konzentration und Aufmerksamkeit ab, da die Handlungsstränge parallel ablaufen. Gespielt wird in einem grauen, wie abgeriegelten Bühnenraum auf dessen Rückwand sich drei Türen befinden, durch die die drei Frauen nacheinander auftreten (Bühne: Alex Eales). Erleuchtet wird der Raum von 3 Neonröhren, die an der Decke hängen. Clara (rote Kleidung), Anna (blaue Kleidung) und Bonnie (grüne Kleidung) sind in gedeckten Farben gekleidet, so dass bereits Bühne und Kostüme (Clarissa Freiberg) eine schwermütige Grundstimmung schaffen. Die drei Frauen agieren gleichzeitig nebeneinander, aber nicht miteinander. So verschmelzen die Erzählstränge im Kopf der Zuschauer fast zu einem, so eng sind sie verzahnt. Stichworte werden aufgegriffen und teilweise parallel gesprochen. Eine große Herausforderung für die Schauspielerinnen und Zuschauer. Zwischen den Szenen gibt es kurze Umbaupausen, die von monotonen düsteren Klängen begleitet werden (Komposition Musik: Melanie Wilson, Paul Clark Sounddesign: Melanie Wilson, Donato Wharton) und in denen die Schauspielerinnen wie Schaufensterpuppen neue Kleider erhalten. Katie Mitchell zeigt den Konflikt der Mütter zwischen ihrer Liebe zu den Töchtern und der Ausweglosigkeit ihrer Schwermut, die letztlich bei Clara und Anna in den Suizid führt. Sie haben sich nicht aus der Umklammerung einer Überprotektion ihrer Umwelt befreien können. Nur Bonnie kann sich befreien, durch Sterilisation und Ablehnung der Überprotektion durch ihre Mitmenschen. Sie nimmt ihr Schicksal in die eigenen Hände und entrinnt so dem Fluch des Suizids. Das Stück endet damit, dass sich die Rückwand des grauen „Kerkers“ hebt und eine lichtdurchflutete weite Diele den Blick frei gibt. Bonnie verkauft ihr Elternhaus und entflieht der Depression oder versteht mit ihr zu leben. „Anatomie eines Suizids“ ist ein kluges, trauriges, poetisches und humorvolles Stück. Katie Mitchell hat es perfekt inszeniert und kommt den drei Frauen und ihrer Schwermut sehr nahe, was überzeugend gespielt wird von Julia Wieninger, Gala Othero Winter und Sandra Gerling. Ein Abend der das Leiden einer Depression und die Liebe der Mütter zu ihren Töchtern hautnah vermittelt.
Leserkritik: Die lustigen Weiber, Staatsoper Berlin
Zu dick aufgetragen - „Die lustigen Weiber“ an der Berliner Staatsoper
Die Staatsoper hatte vor zwei Jahren angefangen, sich mit der Inszenierung der „Lustigen Weiber“ zu beschäftigen. Das war die hohe Zeit der Me-Too-Bewegung und die Grundbotschaft, dass die Epoche der dreisten feisten weißen alten Männer zu Ende gehen muss, in aller Munde. Im dritten Akt wird es ausgeführt: Sie gehören kastriert, wie Michaela Schuster als Frau Reich es gestisch andeutet, und zum Jagen freigegeben, sei es – wir sind im einer Buffa - mit Mücken, Wespen oder Fliegen. Den jüngeren männlichen Exemplaren wie Junker Spärlich oder Dr. Cajus wird eine Schonfrist eingeräumt, wenn sie hinsichtlicher ihrer Orientierung m/w/d-Flexibilität mitbringen. Mein Gott, und dabei reden derzeit alle übers Klima! Überhaupt ist der Gesamt-Horizont des Abends auf Fressen, Saufen, Rauchen und sexuelle Lüsternheit begrenzt.
In der Einführung entschuldigt sich der Chefdramaturg für den Namen der Oper. Otto Nicolai habe sich einfach auf Schlegel verlassen, der wife - Ehefrau - mit Weib übersetzte. Dies sei aber keinesfalls herabsetzend gemeint. Diese Entschuldigung ist symptomatisch. Die Inszenierung will als freche Provokation, als Über-die-Stränge-Schlagen daherkommen, ist aber ein bemüht austariertes Kommunique. Die Staatsplan-Kunst lässt grüßen! Was die politische Correctness in Me-Too-Zeiten für geboten hielt und was brav umgesetzt wird, ist das Alte-Männer-Bashing.
Musikalisch und sängerisch sehr sicher und präzise vorgetragen, war diese One-Hit-Wonder-Oper jedoch per se wahrscheinlich noch nie der große Wurf.
Leserkritik: Tyskland, Gorki Theater / Berlin
"Tyskland", Performance von "White on White", Reihe "Mythen der Wirklichkeit" im Studio des Gorki Theaters

Zu brachialen Rammstein-Klängen macht das Performerduo „White on white“ (Johannes Maria Schmitt und sein schwedischer Partner Iggy Lond Malmborg) aus ausrangierten Möbeln Kleinholz, während das Publikum noch draußen an der Bar vor dem Studio des Gorki-Theaters wartet.

Als wir das Schlachtfeld betreten können, steigern sich die beiden in eine Eloge auf „Tyskland“ hinein. „Did you know, Iggy…?“, fragt Johannes seinen Kumpel und schwärmt davon, dass die Premierministerin des Landes zugleich die Königin von Europa sei und dass Sex nach dem Prinzip „Ja heißt ja, Nein heit Nein“ nur im Konsens ausgehandelt wurde. Mit einem gedehnten „Wooow“ und leuchtenden Augen setzt Iggy noch eins drauf, jubelt über die Barthes- und Derrida-Theoriediskussionen als Höhepunkt jeder Party in „Tyskland“ und über die Paare, die sich die Elternzeit völlig gleichberechtigt teilen.

In ihrer witzigen, klugen Performance zeichnen die beiden Performer das Idealbild einer aufgeklärten, antirassistischen, feministischen Republik, in der chauvinisische Stammstischwitze nur noch ironisch erzählt werden und in der stattdessen an jeder Ecke hübsche Jungs in Lyrik-Lektüre versunken sind. Dies ist eine kleine Anspielung auf die Anekdote, wie sich das Duo im Sommer 2009 auf dem Balkon einer Kreuzberger WG zufällig kennenlernte, als einer der beiden Rilke rezitierte.

In den utopischen Idealstaat streuen die beiden ironisch auch immer wieder Schnipsel aus der real existierenden Bundesrepublik ein: den als Freiheitsrausch verklärten Verzicht auf ein Tempolimit, mit dem Deutschland ziemlich alleine dasteht, oder die Schattenseiten der Machtstrukturen an den Theatern und ähnliche kleine Brechungen.

Eine Stunde lang bieten die beiden einen unterhaltsamen Schlagabtausch. Hier Schluss zu machen, wäre eine gute Entscheidung gewesen. Stattdessen zieht sich die Performance zunehmend redundant über eine zweite Stunde. Es macht zwar Spaß den beiden beim Tanzen zuzusehen, das in der zweiten Hälfte dominiert. Aber inhaltlich hat der Abend sein Potenzial zu diesem Zeitpunkt ausgeschöpft.

In die Choreographie reihen sich nun auch zwei Spielerinnen aus dem Gorki Ensemble ein, die schon zu Beginn einen Kurzauftritt von wenigen Sekunden hatten: Svenja Liesau und Hanh Mai Thi Tran (sie übernahm für Jerry Hoffmann aus der Premieren-Besetzung). Das Publikum wird langsam unruhig, da sich der Abend zu sehr in die Länge zieht und es aus dem 2x für viel zu lange Zeit aus dem offenen Fenster bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt wie Hechtsuppe hereinzieht.

Das Performer-Duo zieht sich gegen Ende zurück. Die beiden Kolleginnen sind nun alleine auf der Bühne und wirbeln die bereits bekannten „Tyskland“-Versatzstücke noch einmal durcheinander, bevor eine ältere Dame aus dem Publikum als fiktive Mutter in strengem Ton die erlösenden Worte „Iggy! Johannes! Es reicht!“ spricht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/01/tyskland-gorki-theater-kritik/
Leserkritik: Hals der Giraffe, Berlin
Steht und geht eine Frau mit einer Pumpgun unruhig vor einem Bretterverschlag auf und ab.
Sie ähnelt einer Figur aus einem Gemälde von Velazquez oder Goya, schwarzer Reifrock, Halskrause, Turmfrisur. Sie blickt ungnädig ins Publikum, ihr Gesicht mit vielen Schichten Weiß, bedrohlich ausgeleuchtet. Sie könnte eine Königin sein, am falschen Ort mit falschem Auftrag.
Das ist Frau Inge Lohmark, die Hauptfigur aus Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe.
Als ich ihn vor Jahren las, fand ich ihn gut beobachtet erzählt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das, was selten passiert: Ich fand die Inszenierung dieses Romans großartig, klug und vor allem wurde durch das In-Szene-Setzen dem Text mindestens eine Dimension mehr gegeben; das eben, was nur Theater kann und wofür wir es lieben.
Der Plot ist schnell erzählt, aber es sind die Zwischenräume, die Wechsel, die Kulissen und die unglaublich großartigen Schauspieler:innen, die dem Text etwas geben, was über ihn hinausweist.
Inge Lohmark, unsere Königin, herrscht über ihre Schüler:innen, in ihrer biologistischen Zynik uns bekannt, aber das ist hier gar nicht mehr wichtig. Es ist das falsche Königreich, in dem sie ihre Untertanen tyrannisiert, immer unter dem Motto: In dem Naturreich ist es wie mit dem Menschenreich: Der Stärkste setzt sich durch, Kooperation oder Konkurrenz, Kooperation eher selten, Konkurrenz ist das einzige, das die Überlebenschancen eines Wesens sichert. Das hat sie gelernt, gelebt und erfahren. Der Mensch muss sich durchbeißen, seinen Mann stehen, seine Rolle nicht verlassen und die Contenance nie verlieren. Auch wenn die eigene Tochter draufgeht, auch die muss ihre Lektion lernen. Kann sie aber nicht, sie kann nur fliehen aus diesem lieblosen Reich der Inge Lohmark. Die Tier-und Pflanzenmasken werden aufgesetzt und abgenommen, sie verstellen den Blick auf das Eigentliche darunter, die Halskrausen werden abgenommen, weitergegeben und lenken den Blick auf das Entblößte, das Nackte und Ungeschützte.
Inge Lohmark und ihr Mann, der erfolgreiche Straußenzüchter in einem Land, das gerade untergeht, sie werden es noch einmal geschafft haben.
Aber das ist der Schein, alles andere ist brüchig geworden, man spürt es an dem Zaun, an der Enge, am Ton. Die Klassifizierungen, die Ordnungen, an die Inge Lohmark sich klammert, sie werden aufgebrochen, die Wand weitet sich, wandelt sich in einzelne Räume, durch die die Figuren gehen könnten. Hinten, an der schwarzen Dekorwand, werden die Insignien der Entwicklungsstadien immer wieder fein von Inge drapiert: das Geweih, die Tiermasken, die Waffe, die Halskrause, es bleibt Dekor und Zeichen von Totem und Überbleibseln von Macht. Nichts mehr damit anzufangen.
Inge Lohmark glaubt an Wachstum, aber nicht an Entwicklung. Ihre eigene hat sie verpasst, aber es holt sie etwas, an das sie nie zu glauben gewagt hatte: die Emotion, die Affekte, die Liebe, noch dazu zu einer Schülerin, die aussortiert gehört, Erika.
Und über dieser Pflanzenmaske Erika wird etwas ausgesprochen, von dem Inge Lohmark immer angenommen hatte, dass es das nicht gibt. Inge Lohmark hat es erwischt, sie, die doch nie an den Menschen geglaubt hat, an das, was ihn zum Menschen macht: seine Verletzlichkeit, seine Fähigkeit, nicht nur zu wachsen, sondern auch in Kontakt zu treten, seine Träume und sein Miteinander. Ihr glasklarer Blick auf Verwüstungen und Verheerungen hat ihr die Möglichkeit genommen, ihre eigenen Abgründe zu durchschauen.
Wenn am Ende die Tochter die Worte der Inge Lohmark spricht, wird genau das deutlich:
Sie, die gegangen ist, kann diesen Blick wagen auf die möglichen Verheerungen, denn sie hat sie erfahren. Sie bekommt das letzte Wort, nicht Inge Lohmark, deren hohle Worte nicht erkenntnisheischend sind. Das ist das Kluge an Theater, dass es diesen Wechsel augenfällig macht.
Leserkritik: Regime der Liebe/DT Berlin
"Regime der Liebe - Komödie über Arrangements in Liebesbeziehungen
von Tanja Šljivar, Regie: Nazanin Noori. "Limited Edition" in der Box des DT Berlin

In kurzen Sketchen werden die wichtigsten Beziehungsmodelle durchgespielt: von der klassischen Ehe über Online-Dating-Affären bis zu polyamousösen Beziehungsgeflechten, die als "anarchokommunistische Revolution" gefeiert werden und denen eindeutig die Sympathie des Teams gehört.

Caner Sunar aus dem DT-Ensemble (Proband 1) und Gast Jan Breustedt (Proband 2) reiben sich in den diversen Konstellationen aneinander. Im Travestie-Look flirten sie miteinander oder fallen aggressiv übereinander her und schleudern sich zu Boden.


Nach jeder Szene meldet Maral Keshavarz aus dem Türrahmen im Bühnenhintergrund und moderiert das nächste Beziehungsmodell an, während die beiden Probanden an der Seitenlinie auf ihren Reboot warten und die Computer-Animation an der Decke betont sachlich die Eckdaten des nächsten Beziehungsversuchs aufleuchten lässt. Erst als der kurze Abend bei der Polyamorie angekommen ist, steigt Keshavarz, die an der UdK Berlin studiert, aktiver in das Geschehen ein.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/06/regime-der-liebe-deutsches-theater-berlin-kritik/
Medea, Gastspiel Gorki: Crescendo
"Medea", Slowenisches Nationaltheater Maribor, Regie: Oliver Frljić. Gastspiel beim Gorki-Herbstsalon

Nur eine Stunde kurz ist die feministische „Medea“-Meditation von Oliver Frljić, die er im Januar 2017 am Slowenische Nationaltheater Maribor inszenierte.

Ähnlich wie seine jüngste „Anna Karenina oder Arme Leute“-Klassiker-Adaption am Gorki Theater ist auch diese Aufführung über weite Strecken ungewohnt konservativ angelegt. Die Handlung, die sich bei Motiven der Euripides-Tragödie bedient, wurde aus der Antike in ein großbürgerliches Setting der Moderne verlegt. In edlen Roben sprechen die Spieler*innen distinguierte Dialoge, wie man sie aus dem klassischen Literaturtheater vergangener Jahrzehnte kennt. Wie in einer Lounge perlen sanfte Klavierklänge im Hintergrund, während sich Medea eine Zigarette anzündet und das Publikum zuqualmt.

Durchbrochen wird die Szenenfolge von den regelmäßigen Wutausbrüchen der Titelfigur, die kurz vor Schluss mit blutverschmiertem Mund allein auf der Bühne steht, während alle Männer dahingemetzelt sind. In einer der wenigen Szenen, die aus einem allzu beliebig dahinplätschernden Abend herausstechen, hat die Medea-Darstellerin alle männlichen Mitspieler in ihren schicken Anzügen zu hilflosen Puppen degradiert, denen sie alberne Pappkrönchen aufsetzt.

Zur finalen Auseinandersetzung weicht die Lounge-Musik einem donnernden Crescendo, in blutroten Lettern pinselt ein Spieler „MEDEA“ auf die Rückwand, bevor Ruhe einkehrt und Medea zu einem kurzen feministischen Epilog ansetzt. Sie steht im Zentrum stummer Männer, die hinter archaischen Stier-Masken versteckt sind, und reflektiert mit ruhiger Stimme über das jahrhundertelange Schicksal der Frauen im Patriarchat, die ganz auf die Rolle der Hausfrau und Mutter festgelegt waren.

Schade ist, dass die Zeitplanung des Gorki-Herbstsalons so unglücklich war, dass sich die verschobene Premiere „Oder Du verdienst Deinen Krieg“ auf der Studiobühne um wenige Minuten mit diesem Gastspiel überschnitt, so dass man nicht beide Aufführungen an einem Abend sehen konnte. Gerade diese Möglichkeit macht den Reiz eines Festivals aus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/08/medea-nationaltheater-maribor-frljic-kritik/
Leserkritik: Between Worlds, Berlin
Between Worlds – Global Tales of Outsourcing Dementia Care
von Costa Compagnie, Regie: Felix Meyer-Christian, Ballhaus Ost

Auf einmal habe Nigel nicht mehr gewusst, ob er auf dem Weg zum Strand rechts oder links abbiegen müsse, sagt Kate.
In ihrer filmischen Performance „Between Worlds – Global Tales of Outsourcing Dementia Care”, die vergangenen Donnerstag am Ballhaus Ost in Berlin Premiere hatte, widmet sich die Costa Compagnie dem Vergessen und dem Verschwinden, und der Frage, wie eine Gesellschaft in der Pflegekrise auf ihre eigene Überalterung reagiert. Die Migration von Pflegebedürftigen aus Europa und Nordamerika nach Thailand bildet dabei den Ausgangspunkt.
Ein raumgreifendes Bild von einem Strand eröffnet die Arbeit. Drei Performer*innen schlendern durch den Bühnenraum und singen einen leichtfüßigen Jazzsong. Es könnte ein Strand sein wie jener, an dem Kate und Nigel, die wir im Laufe der Performance kennenlernen, so viele gemeinsame Stunden verbracht haben. Ein Ort, der konkret und imaginär zugleich ist. Die Projektion auf die weißen Vorhänge, die den Bühnenraum an drei Seiten begrenzen, ihn umschließen und zu einem intimen Raum zwischen Krankenzimmer und White Cube machen, beschreibt eine räumliche Ambiguität, der wir im Laufe des Stücks immer wieder begegnen.
Für ihre Performance die Costa Compagnie in Nordthailand in Pflegeeinrichtungen für demenziell Erkrankte gelebt und gefilmt. Diese Einrichtungen sind schwer von Urlaubsresorts zu unterscheiden mit ihren azurblau gefliesten Swimmingpools, Zierpalmen und schattenspendenden Pavillons. Es sind schöne Orte und man ertappt sich dabei, wie man sie vergleicht mit den klischeebehafteten Bildern von hiesigen Pflegeheimen, den Assoziationen von Alter und Krankheit.
„Between Worlds“ nähert sich seinem Sujet über Protagonist*innen, die zunächst auf einer vertikalen Leinwand im Bühnenraum übergroß erscheinen. Hier sprechen von Demenz Betroffene, Angehörige, Pfleger*innen und Manager*innen, die in der rapiden Alterung westlicher Gesellschaften ein Geschäftsmodell erkennen. Die Performer*innen adressieren sie, imaginieren ihre Gefühlszustände und sprechen ihre Texte mit. Die Sprecherpositionen wechseln dabei so häufig, dass die Personen auf der Bühne keinerlei Autorität oder gar Kommentator*innenfunktion für sich beanspruchen. Der künstlerische Leiter der Costa Compagnie Felix Meyer-Christian benennt die Haltung der Performer*innen im Nachgespräch als „in der Nähe“ der Protagonist*innen sprechend.
Die Nähe zu den Protagonist*innen äußert sich auch in einem humorvollen Umgang mit dem Sujet. Dies geschieht unter anderem durch die reflexive Thematisierung von Bühnenmomenten. Nicht nur durch die Performer*innen, die das Publikum ansprechen, Geschichten erzählen und zum Karaoke zu einer Art thailändischen Version von Call Me Maybe einladen: Wir hören von der Pflegerin Nan, wie sie zu den Patient*innen singt und die Pflegeeinrichtung zu ihrer Bühne wird, wir sehen zwei Pflegerinnen mit Verve eine Situation mit einer einsamen Person re-enacten und wie sich das Restaurant im Schweizer Resort Vivo Bene in den Schauplatz einer Art Volksfest verwandelt. Dieser Drang zur Verwandlung und zur Imagination scheint den Pflegeresorts von „Between Worlds“ inhärent zu sein.
Und so ist es nur konsequent, sich dem Thema im Theater zu nähern, durch eine Spielfreude und den Hang zur spannungsvollen Offenheit, statt zur Geschlossenheit und linearen Narration der zahlreichen Reportagen über Demenzdörfer in Südostasien. Die komplizierten globalökonomischen Verstrickungen, patriarchalen Strukturen des Pflegesektors und Gewalttaten der Militärdiktatur Thailands werden bei all der Leichtigkeit ebenfalls angesprochen. Sie flackern auf wie luzide Momente im tropischen Pflegeidyll. "Between Worlds" schafft in seiner Vielschichtigkeit eine komplexe Situation zwischen Intimität und Globalität.
Leserkritiken: "Die Pest", DT Berlin
"Die Pest" nach Albert Camus, Regie: András Dömötör, Box des Deutschen Theaters Berlin

Hochkonzentriert und äußerst minimalistisch trägt Božidar Kocevski eine 90minütige Strichfassung des existentialistischen Romans „Die Pest“ von Albert Camus vor. Ganz allein steht er auf der Bühne, um sich herum nur noch einen Ventilator, einige Stühle und vor allem Unmengen an schwarzen, von der Decke herabrieselnden Flocken und Schnipseln.

Zu Beginn sitzt er mit dem Rücken zum Publikum auf einem schmucklosen Stuhl am Bühnenrand und arbeitet sich mit getragener Stimme durch einen längeren Monolog als Roman-Ich-Erzähler. Langsam erobert er sich die kleine Bühne in der Box des Deutschen Theaters und stemmt ohne Verhaspeln oder Stocken eine beeindruckende Textmasse.

Der Abend ist szenisch äußerst karg angelegt. Kocevski tritt nicht nur als der Arzt Bernard Rieux auf, aus dessen Sicht der parabelartige Roman über die Stadt Oran im Pest-Ausnahmezustand und die brüchige Solidarität geschrieben ist, sondern verkörpert auch alle Nebenfiguren: die Patient*innen, den Concierge und schließlich den Pastor, mit dem der Arzt das Theodizee-Problem diskutiert, wie ein gütiger Gott diese Epidemie zulassen kann.

Wenn Solo-Performer Kocevski nicht gerade lange Reflexions-Monologe deklamiert, muss er im Zwiegespräch mit sich selbst Dialoge aus dem Roman sprechen. „Die Pest“ nach Camus ist ein betont untheatralischer Abend, erinnert eher an ein Live-Hörspiel oder eine szenische Lesung und ist äußerst spröde.

Auch ein so vielseitiger, charismatischer Schauspieler wie Kocevski tut sich schwer, diesen textlastigen Abend, der so wenig Spielfreude ausstrahlt, allein zu stemmen. Er wirkt vom Regisseur András Dömötör ziemlich alleingelassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/15/die-pest-nach-camus-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: "Die Pest", Deutsches Theater Berlin
Nach dem Roman von Albert Camus: Die Pest, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: András Dömötör)

(...)

Eine Auseinandersetzung mit dem ungreifbaren und doch nicht wegzuleugnenden Phänomen des Bösen, die der Roman vielleicht in erster Linie ist, findet in den gut 80 Minuten dieses Abends ohnehin nicht statt. Stattdessen erleben wir wenig mehr als eine szenische Lesung. Kocevski gibt den Erzähler und alle Figuren, fällt immer wieder in Re-enactments, behände zwischen den Stühlen und Sprechmodi wechselnd, eine Ein-Mann Sketch-Nummer, die wiederholt zu Gelächter führt, das sich unangenehm reibt mit der durch das inhumane Tropfen der Schläge von Lászlo Bakk-Dávids Klangraum erzeugten ausweglosen, in ihren besten Momenten an den räumlichen wie zeitlichen Stillstand bei Samuel Beckett erinnernden Atmosphäre. Kocevski erzählt die Geschichte herunter, mit reichlich Wandelbarkeit und ein bisschen leicht koketter Selbstironie, er verteilt die „Pest“-Fetzen oder steht in ihnen, wenn sie herabschneien, lässt kein schreckliches Detail aus und schafft es doch nicht, irgendwo einen Zugang zu schaffen. Es bleibt an diesem Abend die Geschichte einer Epidemie und des Kampfes gegen sie, eine Erzählung angedeuteter menschlicher Reaktionen auf eine existenzielle Krise, unkonfrontativ, lauwarm, homöopathisch.

Der Abend plätschert vor sich hin, bleibt auf der Stelle, wagt es nirgendwohin abzubiegen. Nicht ins (wirklich) Politische, nicht ins Philosophische, schon gar nicht in einen Versuch der Vergegenwärtigung. Er wandelt zwischen Lesung und Comedy, zwischen albernem Rollenspiel und ersthaftem Re-enactment verschütteter Erinnerungen. Er bezieht keine Position, er tut nicht weh, er vermeidet jegliche Schärfe. Klar Božidar Kocevski ist Profi genug, Langweile zu vermeiden und die Zuschauer*innen am Einschlummern zu hindern. Warum und wozu Camus‘ Roman hier auf der Bühne landet, vermag aber auch er nicht zu erhellen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/11/16/stuhltanz-ums-bose/
Leserkritiken: Tod eines Handlungsreisenden/Kassel
Amerika liegt in Trümmern. Der Amerikanische Traum ist in tausend Stücke zerbrochen, und was folgt, ist das Nichts. Willy Loman (Enrique Keil) ist schon zu Beginn ein Zerbrochener. Und noch dazu: Er ist ein junger Mann. Angesichts dieses Grauens müssen alle Versuche der Figuren, damit umzugehen, ins Leere laufen. Sowohl der Optimismus eines pointierten Happy (Sandro Šulato), als auch der Idealismus eines verzweifelten Biff Lomans (Hagen Bähr). Der Fremde (Aljoscha Langel) ist ein Obdachloser, der sein Tonnenfeuer auf der Bühne, die nur noch Figuren wie ihn beherbergen kann, anzündet.

Judith van der Werff schafft drei Frauenfiguren, die wie kafkaeske Wiedergänger in einem Alptraum erscheinen. Auch sind es die Frauen, die an diesem Abend lange noch die Fassung zu wahren versuchen, die entweder das System verstanden und es sich zunutze gemacht haben, oder bis zum Schluss gegen die Katastrophe kämpfen wie eine starke Linda Loman (Caroline Dietrich).

Der Abend besteht aus fünf großen Bildern. Jedes der Bilder entblößt in großer Kunstfertigkeit seine eigene Kulissenhaftigkeit als ein Vorhang, als ein Schleier, hinter dem wieder das Nichts lauert. Dennoch schafft es Susanne Maier-Staufen (Bühne und Kostüme), Illusion und Spielmöglichkeiten zu schaffen. Mittels nicht weniger dekonstruierter Musik (Ole Schmidt) und minuziös psychologischem Spiel gelingt es immer wieder, durchaus filmische Momente zu erzeugen.

Der Text ist klug auseinandergenommen, er zeigt sich sinnvollerweise in der Form als ebenso zerbrochen wie sein Inhalt. Diese Setzungen sind es, die den Abend zu einem brillanten machen, die ihm eine Grausamkeit geben, die mitunter schwer zu ertragen ist.

Was Maik Priebe gelingt, ist ein Abend über ein zerbrochenes Amerika, ein Abend über Trump, ohne, dass der Name einmal fallen muss. Nach den Fake News als Absage an die Wahrheit kommt nur das Nichts.
Leserkritik: Ja heißt Ja und..., Schaubühne
"Ja heißt Ja und...", Carolin Emcke im Globe der Schaubühne

Nur knapp hundert Seiten schmal ist das Bändchen, das im Juni 2019 erschienen ist und auf der gleichnamigen „Lecture Performance“ von Carolin Emcke basiert.

Der Begriff „Performance“ ist etwas hochgegriffen. Es handelt sich eher um eine klassische, konzentrierte Lesung von Miniaturen, unterbrochen von kurzen Musikstücken (meist Klassik, selten Rap) und im Hintergrund begleitet von Videos (Rebecca Riedel, Mieke Ulfig).

Mit dem Zweifel und dem Ringen um Worte beginnt und endet der 90minütige Abend. Dazwischen reflektiert Emcke in dem ihr eigenen Duktus, der stets zwischen präzisen Sätzen und einem zum Teil etwas zu predigerinnenhaften Ton schwankt, über Begehren und Sexualität in Zeiten von #metoo.

Spöttisch-stirnrunzelnd fragt sie, warum der Bademantel als Accessoire in so vielen Horror-Storys übergriffiger Alpha-Männer von Strauss-Kahn über Wedel bis Weinstein auftaucht. Der Abend folgt bewusst keinem stringenten roten Faden, sondern umkreist mit kleinen Skizzen die öffentliche Debatte.

Meist bleiben die Texte auf der Meta-Ebene und grübeln soziologisch-geschult über fragwürdige Begriffsverschiebungen wie „Tugendterror“, die Emcke klug auseinandernimmt. Seltener wird der Abend auch sehr persönlich: Emcke berichtet, dass sie als junge Redakteurin vom Herausgeber angerufen wurde, der einen Artikel lobte. Ihr Ressortleiter fragte besorgt, ob sie vom kaum noch präsenten Patriarchen (es handelte sich vermutlich um die SPIEGEL-Legende Rudolf Augstein) eine Einladung nach Hause bekommen habe. In dem Fall hätte er darauf bestanden, sie zu begleiten, da zu viele Geschichten über Treffen mit anderen jungen Journalistinnen kursierten.

Bereits am 3. Adventssonntag 2018 hatte die „Ja heißt Ja und….“-Lesung von Carolin Emcke im Globe der Berliner Schaubühne Premiere. Sie ist nicht nur dort regelmäßig zu erleben, sondern gastierte bereits an mehreren anderen Bühnen vom Schauspielhaus Zürich bis zum Thalia Theater Hamburg.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/20/ja-heisst-ja-und-carolin-emcke-kritik/
Leserkritik: Heimatkleid (SH-Landestheater; SL)
Am 21.11.2019 hatte das Klassenzimmerstück „Heimatkleid“ für Jugendliche ab 15 Jahren in der Regie von Gabriela Marques Bockholt am Schleswig-Holsteinischen Landestheater Premiere. Die Uraufführung des Stückes von Kirsten Fuchs hatte 2017 am GRIPS-Theater in Berlin stattgefunden. Die Story: Claire übernimmt die Wohnung ihrer Schwester, die in den USA studiert und deren Mode-Blog. Claire soll als erstes Claudia Kappelt, die Gründerin des Labels „Heimatkleid“ vorstellen. Eine sympathische Frau, die mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Traditionsbewusstsein argumentiert. Das Konzept „Produktion ohne Ausbeutung, in Deutschland genäht“ klingt gut. Während des Interviews fliegen Farbbeutel gegen die Schaufenster, und draußen schreien sie „Nazis raus“. Claire ist verstört: Was soll an einem so guten Ansatz verkehrt sein? Kann ein Kleid politisch sein? Was ist falsch daran, auf heimische Stoffe und deutsche Fertigung zu setzen? Unterscheiden sich Patriotismus und rechtsradikale Gesinnung? Mit solchen ideologischen Grenzfällen werden Claire und das Publikum konfrontiert. Auch mit den Nachbarn ist es nicht so einfach: Tom ist hilfsbereit und dazu verdammt attraktiv. Und dass er sich für seine Überzeugungen einsetzt, gefällt Claire. Aber stimmt es wirklich, dass alle im Haus die neue Partei DH wählen werden, von der Tom so schwärmt? Wählen die nicht nur Idioten? Ist es nicht bedenklich, dass Piet und Marc als schwules Paar Angst vor islamistischen Übergriffen haben müssen? Und könnte es nicht sein, dass der Syrer Al Sayed Luises Hund vergiftet hat? Moslems hassen Hunde. Oder nicht? Kirsten Fuchs’ Text führt subtil in die Denk- und Argumentationsmuster der „Neuen Rechten“ ein und setzt das Publikum diesem Verführungspotenzial erst einmal aus. Sie lotet aber mit ihrer Protagonistin Claire die Grenzen von Toleranz und Meinungsfreiheit aus und deckt die Menschenverachtung hinter harmlos klingenden Aussagen auf. Auch Tom als charmanter Nachbar mit rechten Ansichten kennt seine Wiedergänger in der politischen Realität. Als Claire dann plötzlich Stellung beziehen muss, fällt ihr das alles andere als leicht. Diesem klugen Konstrukt folgt die Regisseurin von Beginn an und darin liegt der Reiz des Stückes. Ständig wird man mit Situationen konfrontiert für die man, für sich Antworten finden muss. Lucie Gieseler als Claire bewältigt die Geschichte als Monolog und belebt sie mit bravourösem Spiel in ihrer vielstimmigen Fallenstellerei, der man allzu leicht auf den Leim geht. Schon der Beginn ist ein Knaller – laut und gewaltig – und man ist sofort gefesselt und aus dieser Umklammerung lässt uns Lucie Gieseler nicht mehr entkommen. Sie spielt nicht nur die politisch unbedarfte Modebloggerin Claire, sondern auch die Blickwinkel all ihrer Nachbarn. Sie entführt das Publikum zu einer riskanten Achterbahnfahrt der Gefühle und Argumente zu Themen wie Rechtsradikalismus, Fremdenhass, Genderdiskussion, Globalisierung und vieles mehr. Lucie Gieseler ist die Kraft, die die kluge nicht denunzierende Regie von Gabriela Marques Bockholt zur vollen Pracht erblühen lässt. Regisseurin und Darstellerin haben eine faszinierende Theaterstunde (ca. 45 Minuten) geschaffen, die zum Nachdenken auffordert und durch die vielen Bilder [z.B.: Vielfalt der einzelnen Gewürze versus Gewürzmischung aus allen Gewürzen (Globalisierung)] Allegorien schafft für politische Realitäten unserer Zeit. Die Einladung zum Nachdenken und nicht der mahnende Zeigefinger sind der Schlüssel zu dieser gelungenen Inszenierung.
Leserkritiken, Lanzelot, Weimar: Posieren als Drachentöter
Lanzelot in Weimar – Posieren als Drachentöter
Es ist schon irre, dass man eine DDR-Oper mühsam wieder entwickeln muss. So wie es jetzt sensationell mit „Lanzelot“ von Paul Dessau und dem Libretto von Heiner Müller in Weimar geschah. Die Oper war 1969 unter der Regie von Ruth Berghaus an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt worden. In Weimar kommt sie als etwas so noch nie Gesehenes und Gehörtes daher. Auch heute noch keine leichte Kost, trotz der musikalischen Hörhilfe von Dominik Beykirch im Programmheft, wobei die musikalischen Bühnenarrangements – der Schlagwerke, des Kammertrios, des Cellos – die Aufnahme für den Zuhörer erleichtern.
Lanzelot handelt von den Schwierigkeiten (oder gar der Unmöglichkeit) der Herausbildung einer freien Menschengemeinschaft. Sehr erfrischend nach den einlullenden, aber auch einfangenden Huldigungen an die Adresse der so eindringlich nach parlamentarisch-demokratischer Freiheit in BRD, EU und NATO (nicht etwa Bananen, Neckermann und BMW) lechzenden „Drachentöter“ der Friedlichen Revolution, die sich in der „Drachenblüte“ in ihren Trabbi-, Plattenbau- und Datschen-Nischen eingerichtet hatten.
Die Inszenierung von Peter Konwitschny hat keinen geringeren Anspruch, als das Genre übergreifend zu repräsentieren, wie man ebenfalls im Programmheft nachlesen kann: „Theater ist werte- und menschenbildend, es hat mit Unterhaltungsindustrie nichts zu tun.“
Doch was mir nahelegt, den Weimarer – oder später auch Erfurter – „Lanzelot“ ein zweites Mal zu besuchen, ist nicht die Konstituierung von Werten und menschlichen Maßstäben, sondern die Herausforderung des Hörens und Verstehens dieses ungewöhnlichen und zitatenreichen Werkes.
Erinnerungen an einen Staat, Berlin: Collage
"Erinnerungen an einen Staat", musikalische Lesung von Corinna Harfouch und Alexander Scheer, Deutsches Theater Berlin

In den Dialog kommen Scheer und Harfouch selten. Die Collage besteht aus kurzen Ausschnitten. Die Anmoderationen verzichten auf Überleitungen und Einordnungen, beschränken sich nur auf knappe Angaben zu Titel und Autor. Die Texte sollen für sich sprechen. Als Kommentare erlauben sich Scheer und Harfouch höchstens eine hoch gezogene Augenbraue oder ein ironisches Lächeln.
Ein echtes Zusammenspiel der beiden Vortrags-Künstler erleben wir nur bei einer kurzen Passage aus Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“, einer Abrechnung mit der Politik der Treuhandanstalt. Die Trauer und Wut über verpasste Chancen im Einheitsprozess, als sehr schnell die Regeln der Bundesrepublik für das größer gewordene Deutschland übernommen wurden, prägt vor allem die zweite Hälfte der „Erinnerungen an einen Staat“.
Der Abend ist aber nicht nur eine Lesung von zwei Theater-Promis aus zeitgeschichtlichen Reflexionen, sondern vor allem auch ein Konzert-Abend zum Film „Gundermann“. Die Lesung wird aufgelockert durch kurze Songs von Alexander Scheer, dem mehrfach preisgekrönten Hauptdarsteller des Biopics über den Liedermacher aus der untergegangen DDR.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/12/04/erinnerungen-an-einen-staat-musikalische-lesung-kritik/
Leserkritiken: minute papillon
"minute papillon", cie. Toula Limnaios, Halle Tanzbühne Berlin

Vor allem der schwarze Torf bleibt von diesem knapp einstündigen Abend in Erinnerung. Der ganze Boden ist damit übersät. Von seinem Podest schüttet Chronos weitere Erde auf seine Mitspieler*innen herab.

Die Bewegungen der Tänzer*innen werden im Lauf des Abends immer hektischer und roboterhafter. Statt Minimal Music und romantischer Klaviermusik von Schumann und Schubert dominieren harte Elektro-Klänge. Die Kleidung der Tänzer*innen ist vom Torf in Mitleidenschaft gezogen, eine von ihnen kann nicht mehr sehen, wird herumkommandiert, herumgeschubst und gedemütigt.

„minute papillon“ ist bis auf Textbrocken und eine französische raunende Stimme vom Band eine wortlose Meditation. Abgehackt wirken die Bewegungen der Tänzer*innen, die sich durch assoziative szenische Splitter einer düsteren Welt hangeln.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/12/04/minute-papillon-tanz-kritik/
Leserkritik: Die Räuber, Theater Lübeck
Andreas Nathusius stellt männliche Gewalt in das Zentrum seiner „Räuber“ Inszenierung am Lübecker Theater, was angesichts der Herausforderung des Terrorismus naheliegt. Die Handlungen der Brüder Karl und Franz Moor offenbaren die Entstehungs- und Entfaltungsbedingungen von Gewalt gegen eine politische Ordnung. Die Räuber zeigen, dass die Hemmschwelle zu aggressiven Übergriffen bei Männern gering ist. Es herrschen Gewaltfantasien und Gewalt – aus Neid, Eifersucht und Machtgier. Schillers „Räuber“ sind Top-aktuell und diese Aktualität will der Regisseur aufzeigen. Radikalisierte Männer wüten nicht nur in Schillers Räuberbande sondernd heute in Rauschgiftringen, Banden der Internetkriminalität, Organisationen religiösen Fanatismus und rechtsradikalen Gruppierungen. Die Motive zur Radikalisierung und Gewalt scheinen aus dem Gefühl, des Ungeliebt Seins und dem Frust, über die eigene Unzulänglichkeit zu erwachsen. Spannend ist, dass alle Männerrollen von Frauen gespielt werden. Damit stellt sich die Frage, wie sich Frauen männliche Gewalt aneignen und verkörpern. Die Darstellerinnen spielen mit Bildern männlicher Gewalt, fügen aber die oft unterschlagene weibliche Sichtweise und Darstellung hinzu. Dies geschieht in regelmäßigen Abständen durch Filmeinspielungen in denen die Schauspielerinnen, über ihre Männerrollen, das Patriachat, MeToo, männliche Gewalt, alte weiße Männer und ihre Verhältnisse zum männlichen Geschlecht reflektieren. Leider trägt diese Idee nicht zu einer tragenden Verflechtung mit Schillers Räubern bei, sondernd bleibt ein nettes Accessoire. Die sechs Schauspielerinnen bewältigen ihre männlichen Rollen unterschiedlich überzeugend. Agnes Mann als Karl Moor stürmt feurig die Bühne als „edler Revolutionär“ und zeigt gleichfalls die Zerrissenheit dieser Figur, zwischen idealistischer Haltung und krimineller Tat, die ihn ins Verderben führt. Rachel Behringer spielt den bösen, intriganten Franz farblos und ihr fehlt bittere, bösartige Ironie, Spott und Zynismus, um schließlich zu verbittern, da ungeliebt und abgelehnt. Astrid Färber verkörpert glaubhaft den Vater Moor, der das Leid auslöst und unter seinem Kummer zerbricht und glänzt als Räuber Schweizer, der vor keiner Gräueltat zurückschreckt, um seinem Hauptmann ein getreuer Gefolgsmann zu sein. Katharina Uhland fasziniert als Amalia und die Räuber Roller und Kosinsky. Sie ist am überzeugendsten in ihren Rollen. Susanne Höhne spielt Spiegelberg als feigen, fiesen Fantasten, den Neider und Konkurrenten des Hauptmanns und Hermann als devoten Intrigenschmied im Dienste Franz Moors. Esther Schwartz „last but not least“ gab einen grobschlächtigen, dümmlichen Razmann. Die Bühne (Annette Breuers) eine Reflexionsfläche, der Bühnenboden ist verspiegelt, die Wände glänzen schwarz-silbern. Frauen bauen sich aus Brettern Ihr Bühnenbild. Mit den Brettern wird gespielt. Sie werden, durch die Luft gewirbelt, um mit lautem Knall auf dem spiegelnden Boden zu landen oder dienen dem alten Moor als Gehhilfe. Die Kostüme sind schlicht – Hemd und schwarze Hose. Leider spielte man Emanzipation mit aufgeklebten Bärten, Imponiergehabe mit hochgezogenen Schultern und breitem Gang, statt weibliche Gewalt und Macht mit den ihnen eigenen Mitteln zu verkörpern. Die Lübecker Räuber enden mit einem großen Bild „HERSTORY“ und dem Song „Sisters are doin´it for themselves“. Die Frage nach Gewalt und Terrorismus, bleibt weitgehend ein männliches Problem. Beeindruckend war, dass die ausverkaufte Aufführung zu ca. 75% mit Schülern*innen besetzt war, die aufmerksam und gespannt der Aufführung folgten. In Lübeck scheint die Jugendarbeit der Theaterpädagogik Früchte zu tragen. Dieser Plot die Männerrollen mit Frauen zu besetzen wurde in diesem Jahr mehrfach angewandt (Ersan Mondtag, Julia Prechsl und Leonie Böhm). Mondtags Gendermachtspiel und Freiheitsbefragung scheint mir die spannendste und schlüssigste „Räuber“ Inszenierung im Setting, der mit Frauen besetzten Männerrollen zu sein.
Leserkritik, Berliner Abende
Leserkritiken: Staatsballett Berlin mit "Sunny" von Emanuel Gat in der Volksbühne und "Lib/Strong" von Alexander Ekman/Sharon Eyal in der Staatsoper, "A Love Supreme" von Salva Sanchis/Anne Terese de Keersmaeker im HAU und "vive la vie - Winter Edition" von Katharine Mehrling in der Bar jeder Vernunft

Hochklassiger Tanz in der Woche vor Weihnachten in Berlin:

Das Staatsballett begann mit "Lib", einer bizarr-haarigen Spielerei von Alexander Ekman und Charlie Le Mindus. Das knapp 30 Minuten kurze Stück beginnt mit den grazilen Posen der Ersten Solistinnen: jede kleinste Bewegung sitzt minutiös, aber schon beim Zuschauen wird spürbar, wie viel Selbstkasteiung, Härte und Durchhaltevermögen nötig sind, um dieses Niveau zu erreichen.

Die Szenerie wird dadurch aufgelockert, dass plötzlich das haarige Chewbacca-Double, das schon vor der Vorstellung durch das Foyer flanierte, auf die Bühne kommt. Die weiblichen Stars des Hauses verwandeln sich: aus makellosen Ballett-Tänzerinnen, die perfekt einstudierte Bewegungsfolgen präsentieren, werden nun ebenfalls Zottelwesen. Sie setzen sich Perücken auf, lassen sich vom Tanz auf der Spitze in bequemere Modi fallen und sitzen am Ende sehr entspannt als fünf haarige Wesen vorne an der Rampe - Auge in Auge mit dem Publikum.

Ekstatisch geht es nach der Pause bei "Strong" weiter, der ersten Choreographie, die Sharon Eyal für das Berliner Staatsballet entwickelte. Aus der Dunkelheit taucht eine wogende Masse auf. 50 Minuten lang bewegt sich diese zu einer Mensch-Maschine transformierte Gruppe mit minimalistischen, roboterartigen Bewegungen zu Berghain-Techno-Sound.

https://daskulturblog.com/2019/12/20/lib-strong-ekman-eyal-staatsoper-berlin-kritik/

An der Volksbühne studierte Emanuel Gat seine Choreographie "Sunny" mit dem Staatsballett neu ein, die 2016 in Montpellier uraufgeführt worden war und "Tanz im August" eröffnet hatte: eine Hommage an den Soul-Evergreen "Sunny" aus den 60er Jahren.

Positiv sind die spielerische, assoziative Leichtigkeit, das Hin und Herpendeln zwischen völliger Stille und lauten Technobeats, zwischen sehr präzise gearbeiteten Synchron-Bewegungen und Freestyle-Einlagen.

Negativ fällt allerdings auf, dass der Abend in seinem assoziativen Kreisen und Schlingern über die 60 Minuten recht beliebig wird. Aus all den hingetupften Szenen und Stimmungsschwankungen kristallisiert sich kein roter Faden heraus.

https://daskulturblog.com/2019/12/17/sunny-staatsballett-volksbuhne-kritik/

Eine ungewöhnliche Arbeit von Anne Teresa de Keersmeaker ist in dieser Woche im HAU 1 zu sehen. Wer an de Keersmaeker denkt, hat sofort die sehr strengen, fast mathematisch durchchoreographierten Inszenierungen vor Augen, wie wir sie zum Beispiel mit den „Sechs Brandenburgischen Konzerten“ an der Volksbühne erleben durften.

Mit wogenden Bewegungen lassen sich die Tänzer in die Jazz-Improvisationen fallen. Quirlig, mit viel mehr Freiräumen als bei de Keersmaeker üblich, loten sie den Raum aus und folgen der sprunghaft-assoziativen Musik. Die Handschrift von de Keersmaeker bleibt dennoch deutlich spürbar, der Abend hinterlässt einen sehr verkopften Eindruck.

https://daskulturblog.com/2019/12/21/a-love-supreme-tanz-hau-kritik/

Bühnenstar Katharine Mehrling war in der Bar jeder Vernunft mit einer "Winter Edition" ihres 2018er Programms "vive la vie" zu Gast: eine Hommage an ihre weiblichen Vorbilder, die neben Madonna und Edith Piaf (mit "Je ne regrette" als Zugabe und Höhepunkt) auch unbekanntere Künstlerinnen wie Inge Brandenburg und Chavela vorstellt. Der unterhaltsame Konzertabend lebt vor allem von der tollen Stimme von Katharine Mehrling, die sich von vier Jazz-Musikern begleiten lässt, und mit ihren Zwischenmoderationen charmant durch den Abend führt.

https://daskulturblog.com/2019/12/19/vive-la-vie-katharine-mehrling-bar-jeder-vernunft-kritik/
Leserkritik, Samson et Dalila, Staatsoper Berlin
Polarisierend – Samson et Dalila an der Staastoper Berlin
In konzertanter Darbietung hat Elina Garanca „Mon coeur s'ouvre à ta voix“ zu einer der beeindruckendsten Liebesarien der Klassikwelt gemacht.
Regisseur und Dramaturgin mochten nicht akzeptieren, dass im Kontext der Oper von Camille Saint-Saens das Herz Dalilas, das sich vermeintlich Samson öffnet, eine Hinterlist ist: „Reponds a ma tendresse“, damit ich dich zu Fall bringen kann. („Simsons Fall“ ist Kapitel 16 im Buch der Richter überschrieben.) Nicht allzu viele Takte vorher schwört Dalila gemeinsam mit dem Oberpriester: „Mort au chef des Hebreux!“ Und Leitmotiv von „Samson et Dalila“ ist „L’amour eut perdu sa puissance“.
Szifron und Beckmann bestehen auf der Möglichkeit von Liebe, wenngleich dies aus der Bibel nicht so recht hervorgeht, nur dass Delila Samson „trieb mit ihren Worten alle Tage“ und ihn „zerplagte“, um ihm das Geheimnis seiner Stärke zu entlocken. Beckmann kann der Bibel auch nicht entnehmen, warum Dalila Samson verriet, die tausend und hundert Silberlinge eines jeden Philister-Fürsten, also viel Geld, mag sie als Motiv offenbar absolut nicht akzeptieren. Wie nicht akzeptabel scheint, dass starke Frauen ihre weiblichen Reize als Waffe einsetzen, dass sie mit kühlem Kopf verführen, das Verhältnis zu einem Mann immer als eine Machtbeziehung im Auge behalten, um letztlich in dessen „Elend“ (Überschrift Kapitel 16) zu triumphieren.
Szifrons Inszenierung beginnt wie Karl Mais „Schatz im Silbersee“, aber mit ernsterem Ton. Die Kinder Israel leiden unter der Herrschaft der Philister. Im Bacchanal am Schluss werden die Hebräer in sehr deutlicher Anspielung auf islamische Hinrichtungszeremonien gemordet.
Wenn von Heimsuchung des Volk Israel, von Shoah, in Berlin erzählt wird, sollte das unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Vernichtung stehen und nicht mit dem Finger auf andere gezeigt werden.
Leserkritik, Robin Hood, Hamburg
Robin Hood, Deutsches Schauspielhaus Hamburg.

Robin Hood ein Theaterstück für Jugendliche von 8 bis 80. Markus Bothe und Nora Khuon haben den Balladenstoff des Robin Hood neu für das Theater bearbeitet. Robin Hood ist Held spätmittelalterlicher, englischer Balladen, die sich im Laufe der Zeit zur heutigen Sage formten. So war Robin Hood im 15. Jahrhundert noch ein gefährlicher Wegelagerer einfacher Herkunft, der habgierige Geistliche und Adlige ausraubte. Mit der Zeit wird er immer positiver dargestellt. So wird er zum enteigneten angelsächsischen Adeligen und Patrioten der gegen die Normannen kämpft. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wird er zum Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. In dieser Neufassung, die am 6.12.2018 ihre Uraufführung hatte ist vieles anders. Robin Hood ist ein Mädchen auf der Flucht, das sich verstecken muss und für die Gerechtigkeit eintritt. Sie gilt als Rächerin der Armen. Robin und seine Gefährten haben die Aufgabe König Richard Löwenherz zu befreien. Dabei stellen sich Fragen. Was ist Recht? Was ist Gerechtigkeit? Wann ist eine Tat Selbstjustiz oder Anarchie? Wann gilt es Zivilcourage zu zeigen und sich einzumischen? Diese werden spielerisch mit viel Spaß und Zauber präsentiert. Die Inszenierung ist lebendig, ideenreich, lustig, kurzweilig, spielerisch und so ganz ohne mahnenden Zeigefinger. Die Musik und die Lieder bringen zusätzlich Atmosphäre in das Spiel (Musik: Biber Gullatz; Musiker: Christian Gerber, Sönke Rust, Matthias Trippner) und gehören mit zu den Glanzpunkten der fantastischen Inszenierung von Markus Bothe. Doch Leben in diese Inszenierung bringen die Schauspielerinnen und Schauspieler. Vor allem die Schauspielerinnen werden zu Stars dieser Aufführung wie Katja Danowski als Sherriffin von Nottigham, Anne Müller als Schwester Tuck und Tabitha Frehner als Robin von Locksley (genannt Robin Hood). Katja Danowski und Anne Müller sprühen nur so vor Energie und ziehen einen mit ihrem Spiel in ihren Bann. Toll wenn sich Schauspielerinnen so für Jugendtheater engagieren an einer der ersten Bühnen Deutschlands. Chapeau. Doch wollen wir die Männer nicht ganz vergessen. Michael Weber als Guy von Gisborne war ein überzeugender Bösewicht, Paul Herwig ein herrlicher Angsthase als Little John und Samuel Weiss der Zahlenheld Will Scarlet. Gewürzt wurde das Ganze mit herrlichen doppeldeutigen Wortspielen wie „gefangen im Netz“ oder „ich habe Netz im Wald“. Auch die Genderdiskussion wurde lebhaft bedient und Frauen verliebten sich ineinander. Robin Hood ein modernes Familienstück für die Jugend von 8 bis 80ig. Das schönste Geschenk für Ensemble und Regie dürften die Buhrufe für den Bösewicht am Ende des Stückes sein – weil sie zeigen, wie die jugendlichen Zuschauer (von 8 – 80 Jahren) 100 Minuten lang mitgefiebert haben. Super, wenn sich die großen Bühnen die Zeit nehmen für die Jugend altersgerechtes, spannendes und anspruchsvolles Theater zu machen, denn hier wartet das Publikum der Zukunft und nur die Investition in die Zukunft ist eine Garantie für das Überleben der Theater in der Zukunft.
Leserkritiken: Kreidekreis, Schaubühne
Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Peter Kleinert)

(...)

Natürlich wird viel gesungen, auch gerappt, chorisch gesprochen – alles, um die Texte im allerüblichsten Brechtschen Sinne ihrer Illusion eines Wirklichkeitsbezugs zu berauben. Da kommt es auch schon vor, dass der gleiche Text zweimal in unterschiedlichen Modi gesungen wird. Aus-der-Rolle-Fallen, Hinterfragen der Textfassung oder der Spielhaltung, plakatives Genervtsein von gerade zu Sehenden gehören natürlich auch zum Standardrepertoire. Vielleicht sollen hier – wie so oft im postdramatischen Fach, das in Brechts epischem Theater bekanntlich ein wesentliches Vorbild hat – die theatralen Mittel hervorgehoben, die Gemachtheit und Künstlichkeit der Bühnensituation thematisiert werden, am Ende überwiegt der Eindruck, hier ginge es nur darum, die Lächerlichkeit des Geschehens noch zu betonen.

Dass der Tanz um die Erhaltung des eigenen Ich durchaus komödiantisch-satirisches Potenzial aufweist, steht außer Frage und wird vom überaus enthusiastischen Ensemble auch eindringlich umgesetzt. Dass die Parabel jedoch eine Moral besitzt, stört da eher. Die große Entscheidung mit dem titelgebenden Kreidekreis gerät da zur zusammenhangfreien Nummernrevue, bei der nichts zusammenpasst, am allerwenigsten die abrupten Wendungen von Alexander Wertmanns Azdak. Da wird keine Konsistenz gesucht, wozu auch, eine „Moral“ hat eine solche „Geschicht'“ ja ohnehin nicht verdient. Da steht man am ende fein grinsend da und fragt: „Schönes Märchen. Oder?“ Nein, schön war das nicht, ein Märchen noch weniger und ein Happy end gibt es auch nicht. Denn das ist ja das Lächerlichste an Brechts text: die Idee, dass sich die Menschheit bessern könnte. Im Jahr 2020. Wo sind wir denn? Mitten im Zynismus, wie es scheint.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/03/die-lacherlichkeit-des-seins/
Die Spieler, Berlin: beliebig
"Die Spieler" nach Dostohewski, Gastspiel am DT Berlin

Die Collage aus mehreren Romanen und Erzählungen von Dostojewski funktioniert als Spielfassung leider nicht. Zäh schleppt sich die erste Stunde dahin. Motive wie die Spielsucht und das Liebeschaos der Figuren werden angetippt, aber der Abend kommt nicht in Fluss. Die Spieler*innen tauchen aus dem um die Spielfläche angeordneten Publikum auf und kurz danach wieder ab. Der Abend wirkt ziellos und beliebig.

Bis zum Auftritt des Stars des Abends: Wolfram Koch. Er schlüpfte in die Rolle der Erbtante, auf deren baldiges Ableben und Erbe der gesamte Clan sehnsüchtig wartet. Der Abend bekommt nun endlich eine klare Richtung, aber keine gute: Kochs Travestienummer erinnert an „Charleys Tante“. Zotiger Humor und altbackene Kalauer aller Spieler*innen begleiten seinen Auftritt.

Langsam dreht sich die Klamotte frei nach Dostojewski ihrem Ende entgegen: die Tante schlägt den Verwandten ein Schnippchen und verprasst das gesamte Erbe am Roulettetisch.

Mit einem enttäuschenden Gastspiel dieser Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Théâtre National du Luxembourg und dem Schauspiel Hannover beginnt das Berliner Theaterjahr in den Kammerspielen des Deutschen Theaters.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/04/die-spieler-gastspiel-deutsches-theater-berlin-kritik/
Die Spieler, Berlin: Spielball fremder Kontrolle
Nach Fjodor M. Dostojewski: Die Spieler, Théâtre National du Luxembourg / Ruhrfestspiele Recklinghausen / Staatsschauspiel Hannover (Regie: Frank Hoffmann) – Gastspiel am Deutschen Theater, Berlin

(...)

Der bankrotte General, die verzweifelt klamme Stieftochter, der verwirrt verliebte Hauslehrer, die Goldsucher, die nach der erwarteten Erbschaft der siechen Tante im fernen Petersburg gieren – Hoffmanns großartiges Ensemble erfüllt sie mit so viel Leben, wie es diese untoten Figuren zulassen. Seine Dostojewski-Adaption ist Schauspieler*innen-Theater im besseren Sinn, bei dem Ulrich Genauers wütend rast- und hilfloser Hausloser Alexej und Jacqueline Macaulays zunehmend auseinanderfallende verzweifelt lebenssuchende Polina besonders herausstechen. Es übersetzt die Verzweiflung Entwurzelter, aus der Gesellschaft fallender, selbstbetrügerischer Mitspieler in Gestik, Handlung, Mimik, in das nachvollziehbare Vokabular von Menschen, die sich selbst zum Spielball fremder Kontrolle, eines als letzten Ausweg begriffenen „Glücks“ reduzieren (lassen). Der Abend zeichnet diese Entwicklung wirkungsvoll nach: Wie die vermeintlich Unabhängigen sich langsam aber sicher in Richtung Spielscheibe bewegen, dort auf die quicklebendige Erbtante, gespielt vom wie immer großartigen Wolfram Koch, treffen, sich das schwarze Loch in Bewegung setzt, um sie im Spielrausch zu verschlingen – das entwickelt einen Sog, der den unausweichlichen Niedergang sich Aufgebender, sich in Illusionen verfangender Gestriger nicht nur sicht-, sondern auch fühl-, ja, fast greifbar macht. Auch wie die Tante, ab Ende nackt bis auf die Unterwäsche, sich selbst fangen lässt, der Reichtum sich als trügerisch erweist, weil er eben „nur“ Geld ist.

Wie diese Entseelten um so etwas wie Seele ringen und sie gleichzeitig abzustoßen versuchen, weil sie sie vermeintlich nur weiter in den Abgrund reißt, was wiederum ihre Hoffnungslosigkeit besiegelt, wie sie am Schluss wie paralysiert auf der Scheibe verbleiben, nicht mehr vor können und nicht zurück – das geht nahe. Dass der abend trotzdem nicht ganz geglückt ist, liegt daran, dass Hoffmann seiner wichtigsten Vorlage, Dostojewskis Roman Der Spieler, selbst entstanden, um eine finanzielle Notlage, auch aufgrund von Spielschulden, zu lindern, offenbar nicht ganz traut. Und so fügt er Elemente aus einem anderen der unerbittlichen Kurzromane des Autors, seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund, hinzu, gesellt den dortigen Ex-Beamten in Person von Marco Lorenzini als Unterschicht-Äquivalent der verarmten Oberklasse hinzu. Doch, so wie er verzweifelt wütet, um sich schlägt, zynisch tritt, bleibt er Fremdkörper, ist er wenig mehr als plakative Aussageverstärkung, wo es eine solche nicht brauchte. Seine Hinzufügung abstrahiert das Konkrete, distanziert das unmittelbare, dreht das körperlich wie psychisch Nachvollziehbare ins thesenhafte. Wäre der Abend auf der Roulettescheibe verblieben, im Spiel, das einmal ein Leben hätte sein sollen, es berührte noch stärker und hinterließe keinen etwas schalen Beigeschmack. Ein starker Abschied aus Recklinghausen war die Arbeit aber allemal.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/05/die-welt-ist-eine-scheibe-2/
Balanchine/Forsythe/Siegal Leserkritik
"Balanchine/Forsythe/Siegal": Staatsballett Berlin in der Staatsoper

Zu einer Zeitreise durch die Geschichte des Tanzes im 20. Jahrhundert lädt das Staatsballett mit seinem Triptychon „Balanchine/Forsythe/Siegal“, das seit Mai 2019 im Repertoire der Staatsoper ist.

Mit reichlich Patina ist „Theme and Variations“ von Georges Balanchine überzogen. Es ist mehr Rückblick eines Emigranten und Hommage an die Blüte des russischen Balletts Anfang des 20. Jahrhunderts als nach vorne weisend. Zweifellos mit „Grazie und Grandeur“ getanzt, wie Sandra Luzina im Tagesspiegel schrieb, aber eben auch ein Gruß aus einer untergegangenen Welt.

Nach der Pause folgte mit „The Second Life“ ein Klassiker der Moderne. Die Performer*innen von She She Pop erinnerten sich in ihrem Jubiläumsstück „Kanon“ daran, wie sie Anfang der 1990er Jahre aus Gießen nach Frankfurt pilgerten, um dort William Forsythe und seine Compagnie zu erleben. Das raffinierte Spiel mit geometrischen Formen, die sich auflösen und kreuzen, hat auch heute noch seinen Reiz.

Höhepunkt dieses Abends ist allerdings die Uraufführung „Oval“ von Richard Siegal, der in Chris Dercons Plänen für die Volksbühne eine zentrale Rolle spielte. Hier trifft Tanz auf Techno von Alva Noto alias Carsten Nicolai und eine LED-Lichtinstallation von Matthias Singer.

Für die innovativen, raumfüllenden Installationen dieses Trios wäre die Volksbühne mit ihrem gewaltigen Bühnenraum der perfekte Ort. Unter Stroboskop-Blitzen und mit lauten Beats endet diese Zeitreise, die einen interessanten Bogen von klassischer Eleganz bis zu interdisziplinärer Avantgarde schlägt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/06/balanchine-forsythe-siegal-staatsballett-berlin-kritik/
Leserkritik: Lenz, DT
"Lenz" von Georg Büchner, Regie: Lilja Rupprecht, DT Berlin/Box

Als kleines Kammerspiel tastet sich dieser Abend an Büchners Erzählung „Lenz“ heran, die posthum erschien und vom Leben und Scheitern seines Dichter-Kollegen erzählt.

Die Hauptrolle spielt Ole Lagerpusch, zwischen 2009 und 2016 einer der prägenden Spieler im DT-Ensemble und seitdem als Gast an mehreren Häusern meist in Regie-Arbeiten von Jette Steckel oder in ambitionierten Filmen junger deutscher Regisseur*innen wie „Einzelteile der Liebe“ (Perspektive Deutsches Kino der Berlinale 2019) zu sehen. Fast zehn Jahre später wirkt Lagerpusch nicht mehr so schlaksig und jungenhaft-unbekümmert, wie er aus seinen früheren Auftritten in Erinnerung ist, wirft sich aber mit vollem Körpereinsatz in die Rolle des Jakob Michael Reinhold Lenz.

Das Quecksilbrige, Zapplige, heftig Gestikulierende ist ein Markenzeichen von Lagerpusch. An diesem Abend geht er bis an die Grenze zum „Overacting“. Mit Jim Carrey verglich Andreas Schäfers damals nach der Premiere im Tagesspiegel Lagerpuschs Auftritt. So slapstickhaft wie der amerikanische Komiker, um den es in den letzten Jahren stiller geworden ist, agiert Lagerpusch natürlich nicht. Aber sein Spiel ist weniger filigran als in anderen Inszenierungen, brachialer und hochtouriger.

Sein Spielpartner an diesem Abend ist Harald Baumgartner, der in diverse Rollen von Pfarrer Oberlin über dessen Gattin und einen Indianer schlüpft. Im Hintergrund flackern Videos von Romain Frequency, der in den Inszenierungen von Lilja Rupprecht ein häufiger Partner ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/09/lenz-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritik: Julius Kirchner, Verlorene Könige, Berlin
Julius Kirchner: Verlorene Könige – Ein dramatisches Gedicht, Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Jan-Hendrik Hermann)

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Denn darum geht es ja: Um das kapitalistische Spiel von Wert und Gegenwert, Angebot und Nachfrage, Liebe als Marketing, Nähe als Werbebild. Also wirft man sich in Pose, wird vom anderen ausgestochen, stichelt gegen ihn, mordet am Ende gar. Vier Texte sind Grundlage des Abends, fiktive wie reale Tagebücher – von Jean Genet, Nikolai Gogol, Maria Dabrowska und Luis Sepúlveda. Zu Beginn des Schreibprozesses wurden Textschnipsel gesammelt, gemischt, kombiniert. Entsprechend collagenhaft wirkt der Abend, eine Ansammlung von Fragmenten, von Zitaten, zusammengeklebt, um den bestmöglichen Effekt zu erzielen. So wie es auch den Protagonisten geht, die nach den überzeugendsten Liebesschwüren, den wirksamsten Posen, dem selbstbewusstesten Auftreten suchen. Dabei herrscht zuweilen etwas viel Hektik: Es wird gerannt, ein wenig obsessiv mit unerklärlichen Bauklötzern gespielt und mit weißen Rosen geworfen. Man trägt ätmellose Hemden, aus der Zeit gefallene Rüschenkragen oder Plastiksack-Outfits, in weiß oder schwarz, Traum-, Albtraumfiguren, die durch eine Wirklichkeitssimulation torkeln, die Zitatmaschine ist und die wir als Publikum wohl besser verstehen als sie.

Dabei kreist man immer wieder ums Begehren als Ware und Währung. Wunderbar dieser eine Moment, in dem Marcel von Brasche und Leon Blohm weiße Zollstöcke entfalten und in weltvergessen verkicherter Zweisamkeit in einem imaginären Teich angeln. Ein Augenblick nur, denn der Markt wartet nicht. Und so ist das Duo bald aufgespalten, Justin Otto als neuer, besserer Held bricht die Zweisamkeit auf, Emil Kollmann irrt, mäandert sehnsüchtig Anschluss suchend über die Bühne, die erst seine wird als Opfer, und Ehab Eissa, der schwarzgekleidete Plastikmensch, ist Opportunist der Liebesökonomie, Manipulator, Strippenzieher, Nutznießer der Verwirrung der anderen. Regisseur Jan-Hendrik Hermann choreografiert das Werbespiel als ebenso rauschhaften wie durchgeplanten Tanz um eine Mitte, die es nicht gibt, die es vielleicht nie gegeben hat. Das ist durchaus überzeugend, auch weil die fünf Spieler jeweils eigene Körpersprachen für das Verbiegen, Verzerren, das Schwanken und Irren finden, mit dem sie sich auf dem Markt zurechtzufinden suchen, die Echtheit und Unmittelbarkeit des Fühlens aufgeben zu Gunsten einer Mechanik des Eigenmarketings, das alles andere ersetzt. Die „Könige“ sind Ideal, die „Helden“ Abziehbild. Mediale Projektionen einer Rollenvorgabe, der sich zu entziehen unmöglich scheint.

Und die potenziert wird dadurch, dass hier alles – zuweilen sehr sexuell explizit – in einem schwulen, nicht heteronormativen Umfeld geschieht, das Rollenvorgaben und -erwartungen mit einer weiteren Ebene, jener der Differenz zur so genannten Mehrheitsgesellschaft, auflädt, den Preis in die Höhe treibt, Angst und Nervosität steigert, weil auch das Risiko wächst, vom Markt abgestraft zu werden. Das Ensemble verkörpert diese Angespanntheit, diese erzwungene Verkünstlichung, die mechanische Dauerverkrampftheit auf höchst intensive wie individuelle Weise. Sie sind Akteure wie Puppen, Spielende und Gespielte. In oft gespenstischem Licht ist ihr Fühlen überlagert von Zitaten, verhüllt wie unter der Plastikfolie, die hier (fast) alles verdeckt. Wie der Text ist die Realität Collage, Stückwerk, aus Projektionen zusammengeflickt. Das überzeugt, auch wenn der Abend mitunter ein wenig entspannter daherkommen dürfte und die finale Mond-Odyssee nicht bräuchte. Assoziationsmaterial bietet er genug und in seiner Abstraktion ein nicht unkenntliches Abbild einer Wirklichkeit, in der auch wir Zuschauer*innen gefangen sind.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/11/liebe-in-plastikfolie/
Leserkritik: Tanztage Sophiensaele, Berlin
Tanztage 2020, Sophiensaele, mit "Kirkpinar" von Caner Teker und "Juck", Dansens Hus/Stockholm

Caner Tekker, in Duisburg aufgewachsen und derzeit in Amsterdam noch mitten im Studium, nimmt sich in „Kirkpinar“ ein Event von nationaler Bedeutung in der Türkei vor. Seit Jahrhunderten, der Überlieferung nach erstmals seit 1361, treten dort mit Olivenöl eingeriebene Kämpfer zum Ringen an.

Dieser Wettkampf huldigt den klassischer Männlichkeitsbildern: dem Mythos vom starken, ritterlichen Helden, der seine Kräfte im Wettkampf misst und den unterlegenen Gegner zu Boden drückt, schließlich komplett unterwirft.

Tekker und sein Co-Performer Aaron Ratajczyk beginnen ihre Performance mit recht lagatmig-umständlichen Aufwärmübungen und bauen sich aus Stahl-Konstruktionen eine kleine Kampfarena in der Kantine der Sophiensaele, wo ihre Choreographie Premiere hatte.

Langsam nähern sie sich an und dekonstruieren ihren Ringkampf zu einem intimen Duett. Mit nackten, eingeölten Oberkörpern und in Biker-Lederhosen versuchen sie, aneinander Halt zu finden. Aus dem archaischen Duell Mann gegen Mann wird ein oft fast zärtliches Miteinander-Ringen. Aggressivere Momente fließen in Phasen engumschlungener Harmonie. Mit einem Kuss endet die „Kirkpinar“-Performance und arbeitet damit überdeutlich die verdrängte Homoerotik des traditionellen Wrestling-Festivals heraus, das inzwischen sogar auf der Liste des immateriellen UNESCO-Kulturerbes steht.

Noch lauter sind die Beats anschließend im großen Saal bei „Juck“, einem Gastspiel des Stockholmer Dansens Hus. Sechs Mädchen in Schuluniformen kommen auf die Bühne und kokettieren mit dem Lolita-Image. Ihre Performance lebt davon, dass sie die Klischeevorstellungen braver Internats-Mädchen mit Posen aggressiven Machotums brechen.

Sie trommeln sich wie Alphamännchen auf die Brust, bauen sich vor den ersten Reihen des Publikums auf und starren ausgewählte Zuschauer*innen herausfordernd, provozierend an. Vor allem stehen sie aber breitbeinig da und lassen ihre Becken mit rhythmischen Stößen vor und zurück kreisen.

Diese mit Geschlechter- und Rollenbildern spielende Performance tourt schon länger durch Europa und war nun erstmals in Berlin zu sehen. Hier gab es als Vorgeschmack allerdings schon eine dokumentarische Kurzfassung zu sehen: Der Film „Juck“ (schwedisch für „Stoßen“) lief bei der Berlinale 2018 in der Sektion „Generation 14plus“ für Jugendliche und war auch Teil der queeren Teddy-Kurzfilm-Rolle.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/12/tanztage-2020-sophiensaele-kirkpinar-juck-kritik/
Leserkritik: 100% Berlin reloaded, Berlin
Rimini Protokoll: 100% Berlin reloaded, Hebbel am Ufer (HAU 1), Berlin (Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel)

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Eine Reihe Abstimmungsmechanismen werden ausprobiert, etwa Mappen mit farbigen Karten oder ein Regenschirm, um den herum man sich stellt. Dazu spielt „Die grine Kuzine“ stimmungsvolle auf osteuropäischen Einflüssen basierende Musik, um die Stimmung hochzuhalten. Das ist auch nötig, denn der Fragenmarathon ermüdet dann doch zusehends, auch weil Auflockerungen, die den Grundmodus verlassen, rar gesät sind. Ohne Zweifel erfährt man vieles: etwa, wie viele aufgrund der Mietenentwicklung umziehen mussten, Inlandsflüge verteuern möchten, von häuslicher Gewalt betroffen waren, beten oder diese Woche schon geweint haben. Auch die DDR-Vergangenheit spielt eine Rolle: Wer hat seine Stasi-Akte beantragt oder gar einen Informanten zur Rede gestellt, wer ging 1989 auf die Straße? Erschreckend viele Arme gehen hoch bei der Frage, wer glaube, dass unter ihnen Rassisten sind und einige wenige bejahen gar die Frage, zu befürchten, selbst Rassist*in zu sein. Der Abend ist dann am spannendsten, wenn er weh tut, wenn die Teilnehmer*innen heraus müssen aus ihrer Komfortzone. Dann werden aus Prozentzzahlen Menschen, Individuen, dann sind sie im Scheinwerferlicht auch und in erster Linie sie selbst und repräsentieren gleichzeitig. Denn die Gewalttätigen, die AfD-Fans und Todesstrafenbefürworter*innen, die Rassist*innen – auch sie sind Berlin.Hier sind sie nicht nur Prozente, sondern Gesichter, freundliche, sympathische, solche wie du und ich. Komplexe Menschen mit Fehlern,, nicht mehr reduzierbar auf Zahlen und Daten. Hier versagt die Statistik, hier wird sie unscharf. Und hier wird Berlin lebendig.

Gegen ende werden die Teilnehmer*innen befragt, wer von ihnen glaubt, in 12 Jahren nicht mehr zu leben. Erschreckend der junge Iraner, der sich in die erste Gruppe einreiht, witzig die Kinder, die erst bei „in 120 Jahren“ hinzutreten. Das repräsentiert diesen Abend, der auch eine halbherzige und schnell abgebrochene Publikumsbefragung einschließt: eine Mischung aus Ernst und Leichtigkeit, harmlosem Spiel und schmerzvoller Wahrheit. Ein Abend, der sich zu sehr in sein statistisches Konzept press, um wirklich abzuheben, dauerhaft zu berühren, durchgängig nahezugehen. Der Berlin sicher nicht repräsentiert, aber die Mischung, die diese Stadt ist andeutet, die Verwerfungen und Veränderungen spürbar macht. Auf die Frage, wie sich ihr eigenes Leben in den letzten 12 Jahren verändert habe, halten fast alle die Tafel hoch, die „positiv“ bedeutet. Gefragt, wie sie die Entwicklung Berlins im gleichen Zeitraum einschätzen, hält die Mehrheit die „Negativ“-Tafel hoch. 100 Prozent erreichen beide nicht und doch sind sie präsent in der Diversität, der Unterschiedlichkeit, dem Konsens, dass kein Konsens herrscht. Und das ist dann doch recht sympathisch und spendet zumindest ein wenig Hoffnung.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/13/wenn-die-statistik-versagt/
Die Edda, Gastspiel Hamburg: stark
Das Burgtheater Wien gastierte zur Eröffnung der Lessingtage am Thalia Theater Hamburg mit der Neuinszenierung des Stückes „Die Edda“. Im März 2018 hatte „Die Edda“ von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason in der Regie von Thorleifur Örn Arnarsson in Hannover Premiere und wurde 2018 mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet. Dieses Stück inszenierte Thorleifur Örn Arnarsson im Oktober 2019 an der Burg in Wien neu. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Reduktion der Hannoveraner Inszenierung (ca. 190 Minuten statt ca. 240 Minuten) was das Stück noch dichter und eindringlicher macht. Thorleifur Örn Arnarsson inszeniert die Edda als Collage fulminanter Bildfantasien, die durch Musik atmosphärisch aufgeladen werden. Es ist ein Epos über die Entstehung der Welt und ihr Ende. Es ist die Geschichte von Göttern, Menschen, Riesen und Zwergen mit düsterer Poesie. Der Mythos der Edda ist ein Glaube von Menschen für Menschen über das Geheimnis des Lebens, das sich nicht mit allem Wissen der Welt erkunden lässt. Wissen ist keine Garantie für Erkenntnis. Der Beginn des Abends ist ein sakrales Bild über die Naturgewalt des Universums. Doch solche Momente werden ständig gebrochen durch Kommentare und Erklärungen der Akteure, die immer wieder verdeutlichen, dass Geschichten im Spiel erzählt werden. So oszilliert der Abend zwischen Slapstick, Persiflage und beklemmenden, tragischen Momenten und lädt sich durch die Musik ständig emotional auf. Besonders beeindruckend waren die eigenwilligen Darbietungen der Lieder "My Body is a Cage" von Arcade Fire und „Seasons in the sun“ von Terry Jacks. Diese beiden Songs treffen genau den Nerv des Gefangenseins des Menschen in seiner Existenz und die Härte des Sterbens. Arnarsson konfrontiert den Zuschauer mit Themen der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" und Lokis (Florian Teichtmeister) Verführungskünsten uns zum Neuen und Unbekannten zu locken oder spiegelt dem Betrachter die Gegenwart in Themenschnipseln über Migration, Grenzen, Geld und Macht. Schauspielerisch gibt es zahlreiche Glanzleistungen wie den Dialog zwischen Loki (Florian Teichtmeister) und Thor (Marie-Luise Stockinger) oder zwischen Loki (Florian Teichtmeister) und Freyja (Andrea Wenzl). In diesen Szenen sprüht es Funken und verzaubert. Lokis höchstkomischer Dialog mit den Zwergen reflektiert Themen wie Diskriminierung und Diversity in einem beeindruckenden Bild. Im letzten Teil des Abends geht es um die Erzählung des Autors Mikael Torfason und dessen Vater. Es geht um Themen Sterben, Tod, Kampf und mutiges, angstfreies Leben. Wir sind für unser Leben verantwortlich und müssen dafür Verantwortung übernehmen. Der Abend macht Ernst und wird zum Menetekel. Alle sind rettungslos verloren; denn alle müssen sterben. Die Welt versinkt im verschneiten Bühnenboden und wir haben unseren Obolus dazu beigetragen. Doch das Universum ist zyklisch und so wird es einen Neubeginn geben, wenn auch ohne uns. Eine starke Inszenierung die überrascht durch gigantische Bilder und irritiert durch die Konfrontation mit Tabuthemen wie sterben. Wer sich auf diesen Abend einlässt und Lokis Verführung zu Unbekanntem und Neuem folgt, gewinnt.
Leserkritik: Jugend ohne Gott, Gorki
"Jugend ohne Gott", Projekt von Nurkan Erpulat & Ensemble nach Ödon von Horváth, Gorki Theater

Sie adaptieren zwar dieselbe Roman-Vorlage, könnten aber kaum weiter von einander entfernt sein: Während Thomas Ostermeier den Roman von Ödon von Horváth an der Schaubühne sehr werktreu, mit handwerklicher Präzision und klassischer Eleganz, aber auch recht langweilig umsetzte, ging Nurkan Erpulat als Hausregisseur am Gorki Theater ganz anders vor und machte daraus zum Abschluss der vergangenen Spielzeit einen temporeichen Abend, der nur einige Motive sampelt, sich allerdings auch in Beliebigkeit verliert.

Die Schweizer Autorin Tina Müller, bekannt z.B. als Co-Autorin der sehr pointierten Stückentwicklung „Children of Tomorrow“, nahm sich den Horváth-Roman vor und überschrieb ihn. Ihre zentrale Idee ist die Perspektiv-Verschiebung: bei Horváth steht der Lehrer als namenloser Ich-Erzähler im Mittelpunkt. Seine inneren Monologe und sein Gewissenskonflikt, ob er im heraufziehenden faschistischen Regime mitschwimmen oder Widerstand leisten und seine sichere Beamten-Stellung riskieren soll, prägten auch den Auftritt von Jörg Hartmann an der Schaubühne, der den Lehrer mit Augenringen und Sorgenfalten verkörperte.

Die Gorki-Fassung ist ganz auf die Schüler zugeschnitten: durch die Pubertät ohnehin verunsichert, finden sie keinen Halt mehr. Ihnen fehlen Normen und Vorbilder, die Eltern-Generation hat ihnen keinerlei Wert-Maßstäbe vermittelt. Soweit ist Müller nah an der Horváth-Vorlage. Die Kriminal-Geschichte der Mord-Ermittlungen spielt bei ihr aber nur eine untergeordnete Rolle. Sie wählte einzelne Motive des Romans aus, die sie in neuer Reihenfolge anordnet und mit Buzzwords aus aktuellen Debatten wie Klimakrise, Afghanistan-Einsatz oder Anschlag auf Flüchtlings-Wohnheime anreichert.

Von der Orientierungslosigkeit dieser Jugendlichen erzählen Regisseur Erpulat und seine Choreographin Modjgan Hashemian, indem sie ihre Spieler*innen knapp zwei Stunden lang zwischen Monologen und Spielszenen immer wieder atemlos kreuz und quer durch die Halfpipe rennen lassen. Ihre „Jugend ohne Gott“-Inszenierung ist hochenergetisch und zeichnet das Bild einer völlig entwurzelten Generation.

Darüber hinaus bleibt der Abend aber recht beliebig und hat wenig zu erzählen. Die Erwachsenen sind programmatisch völlig an den Rand gedrängt. Der Lehrer (Denis Geyersbach) folgt ihnen wie ein Voyeur mit der Video-Kamera, spricht aber erst ganz zum Schluss seine ersten Worte und holt mehr pflichtschuldig noch einige Roman-Motive nach.

Im Mittelpunkt des Abends stehen die jungen Spieler*innen, viele aus dem aktuellen Abschluss-Jahrgang der HfS Ernst Busch, die zur neuen Spielzeit gleich in den Ensembles großer Häuser anfingen wie Theo Trebs an der Volksbühne oder Felix Kammerer am Burgtheater.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/21/jugend-ohne-gott-gorki-theater-kritik/
März, Berlin: brutale Methoden der Psychiatrie
"März" nach dem Roman von Heinar Kipphardt, Regie: David Stöhr, Studio der Schaubühne

Tief in die Debatten der 1970er Jahre taucht David Stöhr, Regie-Assistent von Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier und sein Co-Regisseur bei "Im Herzen der Gewalt", in seiner ersten eigenverantwortlichen Arbeit am Haus ein.

Dafür hat er sich einen Schriftsteller ausgesucht, der heute nur noch selten gelesen wird oder auf dem Spielplan steht: den Dokumentar-Theaterautor Heinar Kipphardt und seinen Stoff "März". In gleich drei Varianten, nämlich als Drehbuch für eine TV-Produktion des ZDF, als Roman und als Theaterstück, bearbeitete Kipphardt das Schicksal des an Schizophrenie leidenden fiktiven Dichter Alexander März.

Kipphardt recherchierte damals in der Psychiatrie der Charité, wo er einige Jahre als Arzt arbeitete, und ließ sich bei der Konturierung seiner Titelfigur außerdem von den Gedichten des Schizophrenie-Patienten Ernst Herbeck (alias Alexander Herbich) inspirieren, die sein Psychiater Leo Navratil veröffentlichte.

Das Stück ist einerseits eine Anklage gegen zu brutale Methoden der Psychiatrie, die in jenen Jahren starke Diskussionen entfachten. Zwei französische Vordenker der Psychiatrie-Kritik-Bewegung, Gilles Deleuze (gespielt von David Ruland) und Felix Guattari (Veronika Bachfischer), treten mit ihren Thesen in einem längeren Dialog an zentraler Stelle des Abends auf. Zum anderen versucht "März", das Leiden des an Schizophrenie Erkrankten plastisch zu schildern. Konrad Singer spielt diesen Verzweifelten als über weite Strecken nackten Schmerzensmann voller nervöser Ticks, an seiner Seite Veronika Bachfischer als bleiche, apathische März-Geliebte Hanna.

Nach dem ungewöhnlichen Beginn, bei dem die beiden anderen Spieler*innen das hereintröpfelnde Publikum schon in zotteligen Fabelwesen-Kostümen, die an böse Geister erinnern, während David Ruland (als Arzt Kofler) mit Nebelmaschine bewaffnet die Bar und das Foyer aufmischt, findet der „März“-Abend keinen Rhythmus mehr. Recht schwerfällig schleppt sich die Inszenierung über 100 Minuten dahin, minimalistisch und spröde, eingezwängt zwischen dem Ballast jahrzehntealter Theorie-Debatten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/23/marz-schaubuhne-theater-kritik/
Leserkritikern: Film „Lindenberg! Mach dein Ding“
„Lindenberg! Mach dein Ding“ ist anzumerken, dass bei solch einem Filmprojekt viele ein Wörtchen mitzureden haben. Mit einer Raffinesse von Regisseuren alter DDR-Prägung hat Hermine Huntgeburth dennoch eine subversive Botschaft untergebracht. Dieser Udo Lindenberg ist eine Kunstfigur, die aus der miefigen Enge des elterlichen Milieus ausbricht, um im Kontrast eines entgrenzten Sex’n-Drugs’n-Rock’n-Roll zu versinken. Und wird damit zur exemplarischen Biographie. Das Leben im Rausch als Rausch, das auf Debakel getrimmt ist. Dem kleinen Jungen, den der Vater auf den Tresentisch gehievt hat und der zu verunsichert und verängstigt ist, um seinen Part darzubieten, dem kleinen Jungen werden Trommelstöcke und Flaschen und LSD und Frauen zugesteckt. Das kann nur im Desaster enden. Wir schauen zurück, und wundern uns, wie sich aus diesen chaotischen und ziellosen Anfängen ein erfolgreiches Leben formt. Aus der Katastrophe am Ende des Films steigt der Star Udo Lindenberg wie Phoenix aus der Asche. Das mag die „unfreiwillige Ironie“ sein, die Matthias Dell im SPIEGEL angesprochen hat: Wenn dieses sich selbst unbegreifliche Wunder zum Abspann singt: „Ich hab immer schon gewusst, dass ich die Top-Dinger drehe, / nie daran gezweifelt, ich kriegs hin.“ Ja nachher ist immer leicht sagen, es vorher schon gewusst zu haben.
Leserkritiken: Bluthochzeit/SH-Landestheater
„Bluthochzeit“ ein Schauspiel des surrealistischen, symbolistischen Federico G. Lorcas, ein Autor der Moderne, hatte in der Regie und Musik von Alexandra Holtsch am Schleswig-Holsteinischen Landestheater Premiere. Mit „Yerma“ und „Bernarda-Albas-Haus“ gehört „Bluthochzeit“ zur Bauerntrilogie Lorcas und ist seine erste lyrische Tragödie. Er schildert den Konflikt zwischen Vernunft und Emotion in einer sittenstrengen, katholizistischen Gesellschaft. Leonardo (Uwe Kramer) und die Braut (Karin Winkler) sind aus Liebe füreinander bestimmt. Ihre Ehepartner sind nur schwache Kompromisslösungen, die der Anziehungskraft der Liebenden nichts entgegensetzen können. Bäuerliche Sitten fordern, dass eine gut situierte Braut einen reichen Bräutigam heiratet und persönliche Leidenschaften unterdrückt werden. Doch die Diskrepanz zwischen Trieb und Moral ist zu groß, so dass der tragische Konflikt unausweichlich ist. Es kommt zur Blutrache, in der sich Bräutigam (Robin Schneider) und Leonardo erstechen und die trauernden Frauen zurückbleiben. Lorca gestaltet Menschen, die sich mit Doppelmoral und den Zwängen ihrer Gesellschaft - rigiden Traditionen, sozialen Ungerechtigkeit - nicht abfinden wollen, und koste es ihr Leben („Besser verblutet und tot als lebendigen Blutes verfault.“). „Bluthochzeit“ ist den Traditionen Lorcas Heimat verbunden: Musik, Theater, Mythen, Sitten und Gebräuchen. Der Kraft und Gewalt der Gesellschaft steht der Freiheitsdrang des Individuums entgegen. Ihr Anspruch auf Glück und dessen Verweigerung lässt sie aufbegehren und an den Normen einer unterjochenden Gesellschaft zerbrechen oder resignieren. Die Emotionalität seiner Stücke, die Musikalität seiner Sprache, die Vielseitigkeit seiner Formen und die Suggestionskraft seiner Stimmungen sind das Geheimnis ihrer Wirkung. Anstelle konkreter Figuren agieren Archetypen und allegorische Figuren, als Sinnbilder einer unerbittlichen Natur, der Mond (Felix Ströbel) und der Tod (Lucie Gieseler) im Kostüm einer Ziege. Diese Story verbindet Alexandra Holtsch mit dem Roman "Die Schläferin" von Elfriede Czurda. Es ist die Geschichte perverser Saubermänner und stummer Hausmütter, die einander in ihren Einbauküchen tagaus, tagein missbrauchen, quälen, morden und zerstückeln? Ist das, dokumentarischer Realismus in Österreich und in Europa? Die Bühne wird dominiert von Waschmaschinen, Wäscheleinen, Kühlschränken und Geschirrspülen, den Insignien der Hausfrauenarbeit (Care-Arbeit). Am Boden liegt der Kadaver eines stattlichen Pferdes, dessen Kraft und Heißblütigkeit erloschen ist. Der Abend beginnt mit einer Art Showeinlage über das Schnippeln von Gemüse (Czurda). Es folgt die Szene zwischen Mutter (Anna Eger) und Sohn (Robin Schneider) in der das Messer, die Mordwaffe thematisiert wird (Lorca). Die Frauen in Schwarz und die Männer in Weiß. So wechseln die Szenen ständig zwischen Lorca und Czurda, um zu verdeutlichen, dass bis in unsere Zeit die Strukturen nichts an ihrer Bedeutung verloren haben. Die Czurda-Episoden werden immer mit showartiger Musik angekündigt und im Stil von TV-Shows vorgetragen. Die Szenerie wechselt permanent zwischen Show und Lebenswirklichkeit. In beiden Handlungssträngen kommt es letztendlich zum Showdown und zur Blutrache. So verfestigt die Strukturen zwischen Männern und Frauen scheinen, im Laufe der Handlung lösen sie sich fast unbemerkt auf. Männer tragen Frauenkleider und Frauen Hosen und Bärte. Diversity hält schleichend Einzug. Wenn auch kaum merkbar, lässt sich Gesellschaft verändern und da liegt die Hoffnung in diesem Abend. Ein klug inszenierter Lorca, der Vergangenheit mit Gegenwart spiegelt und deutlich werden lässt, dass der Gewalt des Kollektivs der Freiheitsdrang des Individuums entgegensteht. Es bleiben für uns die Fragen wo sind unsere Leidenschaften, wie steht es um unsere Selbstbestimmung und wie wollen wir leben? Nur wenn wir es anpacken, kann sich etwas ändern.
Leserkritik: "Der Hals der Giraffe"/DT Berlin
"Der Hals der Giraffe" nach dem Roman von Judith Schalansky, Regie: Philipp Arnold, Deutsches Theater Berlin/Box

Von einem starken Text lebt diese kleine, sehr konzentrierte Studio-Produktion in der Box des Deutschen Theaters Berlin. Fast zehn Jahre alt ist Judith Schalanskys Roman über die Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark, die eine bittere Lebensbilanz zieht.

Die elisabethanischen Halskrausen, die Kostümbildnerin Julia Dietrich für die drei Spieler*innen, die sich die langen Monologe teilen, passen gut zu Inges starrem Weltbild und zur Unerbittlichkeit, mit der sie über sich und andere urteilt.

Inge Lohmark ist fest davon überzeugt, dass Darwins Evolutionstheorie auf alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens übertragbar ist. Für Schüler*innen, die von den pubertierenden Klassenkamerad*innen systematisch gemobbt werden, hat sie nur Verachtung übrig. Sie seien geborene Opfer, zu schwach, im Kampf zu bestehen, und haben aus Inges Sicht weder Hilfe noch Mitgefühl verdient. Je früher jemand aussortiert werde, um so besser. Dann könnten gar nicht erst falsche Hoffnungen entstehen, die sich dann zu oft in Gewalt und Amokläufen entladen, sinniert Inge.

Vom Leben erwartet Inge nicht mehr viel: Sie hat sich auf die Position der abgeklärten, analytischen Beobachterin zurückgezogen. Um sich herum sieht sie nur noch Verfall: die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ sind ausgeblieben, stattdessen leeren sich und überaltern die Dörfer in Mecklenburg. Für die Zukunft der Menschheit sieht sie ohnehin schwarz: sie werde nur eine Fußnote in der Erdgeschichte sein und ebenso aussterben wie der Auerochse, der Dodo und der Tasmanische Beutelwolf. Den Menschen fehle die Anpassungsfähigkeit der Pilze, Moose und Flechten. Um diese Thesen zu illustrieren, bekommt Bernd Moss den Schädel einer Seekuh aufgesetzt und verschwindet Linn Reusses Gesicht hinter Farnen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/26/der-hals-der-giraffe-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: "Falstaff"/Staatsoper Berlin
Rettet die burleske Zivilgesellschaft – „Falstaff“ in der Staatsoper Berlin
Giuseppe Verdis „Falstaff“ kann man als italienische Fin-de-Sciecle-Variante lesen, eine Zeit der Lustbarkeiten und Betrügereien, aber auch der Verwirrungen und Verdrehungen, mit denen Europa dann – gewiss nicht „alternativlos“ - in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs schlitterte.
Mario Martone hat das Konzept ins heutige Berlin geholt. Auch hier gilt: „Tutti gabbati!“ / „Alle sind Betrogene!“ Ebenso gilt jedoch, dass fast alle Profiteure sind. Alle können nach ihrer Facon leben, der Alt-68er Falstaff und seine Kumpanen Bardolfo und Pistola von der Hand in den Mund, die Familie Ford in wohlsituiertem bürgerlichen Komfort. Es wird auch mal mit dem Baseball-Schläger gedroht, ohne dass es zu Gewaltausbrüchen kommt. „Tutto nel mondo e burla.“ / „Die ganze Welt ist Schwindel.“ Bei Mario Martone ein augenzwinkernder! Hoffen wir, dass es so bleibt, das Rumoren latent bleibt, die Baseball-Schläger und Schlimmeres keine Tänze aufführen.
Der Applaus war lebhaft und wurde rührend, als ihn Zubin Mehta auf der Bühne entgegennahm. Sein Dirigat beweist, dass Musik, dass Oper lebenswichtig ist. Wie gut, dass Daniel Barenboim es ihm überlassen hat.
Leserkritik: Sophie Rois..., DT Berlin: verdrehte Augen
"Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater", nach dem Roman von Marlen Haushofer, Deutsches Theater Berlin

Die vermutliche Vorgeschichte des Abends, ein Dramolett in mehreren Akten:

Ulrich Khuon: Frau Rois, Sie sind doch jetzt bei mir im Ensemble. Jeden Monat machen wir vier tolle Premieren. Wann spielen Sie denn mal wieder mit? Ihr Einstands-Auftritt mit „Cry Baby“ liegt nun doch schon eine ganze Weile zurück.

Sophie Rois (rührt in ihrer Kaffeetasse): Ach, mal schauen. Theater braucht Muße und Inspiration.

Ulrich Khuon (zwei Wochen später): Haben Sie jetzt schon ein Projekt? Wäre nicht der Sebastian Hartmann was für Sie? Der macht doch immer so tolle, assoziative Stücke-Zertrümmungen, fast so wie Frank Castorf früher an der Volksbühne.

Sophie Rois: Hmmm. Nein, seine Inszenierungen dauern mir viel zu lang. 4 Stunden tue ich mir nicht mehr an.

Ulrich Khuon: Schade. Aber was wäre denn das was für Sie?

Sophie Rois: Lieber was Kurzes. 70-75 Minuten. Damit könnte ich mich anfreunden.

Ulrich Khuon: Na gut. Ich bitte meine Dramaturgie, Ihnen ein paar Vorschläge zu machen

Sophie Rois (leicht genervt): Hmm, ja, mal schauen.

Ulrich Khuon (erneut zwei Wochen später): Hat man Ihnen schon einen passenden Vorschlag gemacht. Ach, da fällt mir ein: Wir haben doch demnächst die erste Premiere von Ulrich Rasche am Haus. Wie sieht’s denn damit aus?

Sophie Rois (still zu sich): Hä? Vier Stunden auf dem Laufband? Da krieg ich die Krise. – (Laut zu Ulrich Khuon): Nein, das ist auch nicht so mein Fall. Aber schicken Sie mal gerne einen Dramaturgen mit einem Vorschlag vorbei.

Zehn Minuten später steht ein hoch motivierter Dramaturg mit einer langen Liste von 200 Vorschlägen am Tisch von Frau Rois in der Kantine, während sie gerade gemütlich ihren Kaffee trinken will.

Es sprudelt aus ihm heraus. Sie verdreht die Augen. Er nimmt es nicht wahr, preist das nächste Projekt an.

Sophie Rois schickt ihn höflich weg: „Ich muss Ihre Liste in Ruhe studieren.“

Sie legt das Papier zur Seite, seufzt, geht nach Hause.

Dort angekommen, nimmt sie sich die Liste vor, lässt ihren Finger kreisen und tippt mit geschlossenen Augen auf Marlen Haushofers „Die Wand“.

1963 erschien dieser Roman: ein innerer Monolog über eine dystopische Situation. Sie ist offensichtlich die einzige Überlebende nach einer Katastrophe, allein mit sich und ihren Gedanken.

Der Gedankenstrom der Protagonistin hat als Roman sicher seinen Reiz und wurde auch 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt. Für die Theaterbühne bietet sich dieser Monolog jedoch kaum an: das dramatische Potenzial des Stoffs ist gering.
Vor allem fehlt diesem Roman der maliziöse Witz, der die letzten Texte auszeichnete, die Sophie Rois vortrug: Sie nippte bei ihren beiden vorhergehenden Solo-Projekten, die jeweils in Kooperation mit der Stiftung Schloss Neuhardenberg entstanden, an ihrem Tee und ließ das Gift der Zeilen von Ian McEwan und William Somerset Maugham genüßlich ins Publikum träufeln.

Symptomatisch ist, dass die witzige Applaus-Choreografie des kompletten Teams einer der einfallsreichsten Momente dieses szenisch enttäuschenden Monolog-Abends ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/01/sophie-rois-fahrt-gegen-die-wand-im-deutschen-theater-kritik/
Leserkritik: Sophie Rois..., DT Berlin: That's all, folks
Nach dem Roman Die Wand von Marlen Haushofer: Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Clemens Maria Schönborn)

(...) Hier tastet sich niemand herein in existenzielle Zweifel oder gar Krisen, in eine vollkommene Hinterfragung des eigenen Lebens, der Vorstellung von Existenz, von Ich, von Gesellschaft, Familie und allem anderen – hier schaut eine von draußen drauf, spielt mit Modi des Repräsentierens, nimmt den Roman und dessen Fragen als Bühne, interessiert sich für die Mechaniken des Spiels, nicht für den Kern der Vorlage.

Es ist ein ironischer Ansatz, der zu Rois‘ stets ein wenig spöttischem Tonfall passt. Sie spielt eine Frau, die eben nicht zweifelt, nicht verunsichert ist, die sich etwas verwundert dieser Geschichte nähert, die nicht die eigene ist, weil sie diese art Zweifel längt hinter sich gelassen hat. Für sie liegt die Emanzipation weit in der Vergangenheit, ist die Geschichte milde interessantes Forschungsmaterial. Sie verinnerlicht sich die Ablösungsprozesse der Heldin nicht, sie schaut, wohlwollend ironisch und ein wenig überheblich von außen auf sie, probiert sie im Spiel aus, teils aus Neugier, teil aus Langeweile und kann doch nie verhehlen, dass sie drübersteht. Das ist überaus unterhaltsam, eine Demonstration von Sophie Rois‘ schauspielerischer Virtuosität, eine Art Live-Showreel ihrer Fähigkeiten. Wenn sie ganz am Ende eine österreichische Fassung von Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ herausrotzt und das Ende des Abends mit den Worten „That’s all, folks“ verkündet, schmilzt eh auch der hartgesottenste Kritiker dahin. Zu sagen hat das wenig, die Geschichte einer Befreiung als längst obsolet geworden zu beschreiben, bringt eher wenig Erkenntnis. Schön anzusehen ist diese Schauspieltorte, aber Blendwerk. Zu verzehren ist sie nicht. Aber wenigstens hat sie ein Sahnehäubchen: Sophie Rois zuschauen zu dürfen, wenn sie tut, was sie tun, ist stets ein überaus üppiges Dessert, das man auch dann nicht bereut, wenn es schwer im Magen liegt. Und zumindest das tut es an diesem Abend nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/02/01/aber-bitte-mit-sahne/
Leserkritiken: Frankenstein, München
Frankenstein/Pasinger Fabrik/München
Natürlich finde ich diese Aufführung großartig; sonst würde ich hier nicht darüber berichten. Ich bin da zufällig hereingeraten und war sehr beeindruckt und werde mit Freunden und der Familie noch mal eine Vorstellung besuchen. Ich will hier auch gar nichts verraten und keine Beschreibung liefern und gar nichts vorwegnehmen und auch nichts würdigen, sondern rate, sich einfach überraschen zu lassen.
Thema sind die Taten des Menschen, die ihm entgleiten. Seine Schöpfungen, womöglich in guter Absicht getan, verkehren sich ins Monströse, weil sie nicht als das erkannt werden, was sie eigentlich sind, und wenden sich gar gegen ihn.
Man könnte dies nun wunderbar und plakativ politisieren. Man hat darauf verzichtet. Stattdessen zeigen sie mit einem Kniff, dass auch der Autorin Shelley ihr Werk über den Kopf wachsen wird, ein Eigenleben gewinnt, und am Ende ist auch sie ganz verstummt.
Ich möchte dieses Monster, vielmehr seine Darstellung, gar nicht hervorheben, weil es die Mitspieler ungebührlich und unfair zurücksetzt, aber ich muss es: Dieses Monster ist fantastisch. Ich habe darauf vertraut, dass ich, obwohl in erster Reihe und damit praktisch auf der Bühne, unangetastet bleibe. Ich hatte Glück; so war es.
Es ist ein kleines Theater. Alles ist ganz nah. Man könnte die Schauspieler berühren. Diese Inszenierung aber ist gar nicht klein. Man könnte damit, das Stück ist gut, jederzeit auf eine große Bühne, in die großen Häuser. Aber ich finde, diese Nähe zum Bühnengeschehen, gerade bei diesem ‚Frankenstein‘, befördert einen Grusel hervor und ein seltsamer Schrecken hängt einem sogar nach der Vorstellung noch nach.
Natürlich kennt jeder ‚Frankenstein‘ und Boris Karloff. Ich auch. Ich war erstaunt, wie frisch und wie neu man diese alte, im Grunde uralte Geschichte wieder erzählen kann. Eigentlich ist dies das Schrecklichste: Ihre Aktualität.
Leserkritik: Das nackte gute Leben, Hamburg
„Das nackte gute Leben“ eine Gemeinschaftsproduktion des Deutschen SchauSpielHauses in Hamburg, suite42 aus Berlin und der ZOUKAK Theatre Company aus Beirut, gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes, hatte im MalerSaal Premiere.

Entstanden ist diese Performance nach einem Text von Miriam Edlich-Muth. Lydia Ziemke stellt in ihrer Regie den Workshopcharakter deutlich heraus, indem sie sich mit wenigen Theatermitteln auf das Storytelling verlässt. In einem Bunker Alpha Omega 2224 finden sich 5 unterschiedliche Menschen zusammen, die unterschiedliche Haltungen zur Klimakrise haben. Der Lebemann im Frack, der nichts von seinem guten Leben opfern will, da das Leben auf der Erde eines Tages sowieso zu Ende ist und was geht ihn das Leid nachfolgender Generationen an, oder eine junge Revolutionärin des Klimakampfes, die einen Zug mit fabrikneuen SUVs vernichtet. Musik und Folklore spielen weiterhin eine wichtige Rolle in dieser Arbeit, da sie Medien sind in denen Weisheiten vergangener Zeiten bewahrt werden. Doch die Gesellschaft ist nicht an den Weisheiten interessiert, sondern an Tanz auf dem Vulkan zu den Melodien. Es werden Fragen diskutiert, ob man dem Alter nicht das Recht auf Freitod einräumen sollte, bevor sie lange leiden und qualvoll sterben. Berichtet wird in wie vielen Gesellschaftsformen (z.B.: Wikinger) die Alten einen Weg in den Tod wählten, um der Gemeinschaft nicht zur Last zur fallen. Ziemke macht deutlich, dass wir in einer Region leben, die sich schwertut, politische Antworten aufdrängende Klima- und Gesellschaftsfragen unserer Zeit zu geben. Es stellt sich dennoch die Frage nach erforderlichen Maßnahmen, um das menschliche Leben auf der Erde zu retten. Ergebnis ist, dass konservative Maßnahmen nicht reichen. Wir müssen den Menschen neu, visionär denken. Ein Mensch, der zur Photosynthese befähigt ist und somit nur von Licht, Wasser, CO2 und Mineralstoffen lebt. Im Laufe des Abends wird das Szenarium immer skurriler. Schließlich wird ein Bunker gebaut und zombiehafte Gestalten mit Sonnenbrillen bevölkern das Spielfeld. Eine Person robbt sich über die Bühne und erhebt sich vor einem kahlen Baum, die gealterte Greta. Lydia Ziemke hat eine Endzeitrevue geschaffen, der ein wenig das Tempo und die skurrile Leichtigkeit fehlt, um über unseren Tanz auf dem Vulkan wirklich zu erschrecken. Dennoch ein Abend der sensibilisiert für Fragen wie: Können wir die Erde retten? Welche Visionen oder Utopien sind von Nöten? Theater als Denkangebot!
Leserkritik: Der Menschenfeind, Flensburg
Der Menschenfeind eine Komödie oder doch eine Tragikomödie von Molière in der Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens hatte am Samstag in der Regie von Fabian Alder am Schleswig-Holsteinischen Landestheater Premiere. Der Menschenfeind ist das am stärksten autobiographisch geprägte Stück Molières. So spiegelt Alcestes Weigerung sich diplomatisch und angepasst zu verhalten, die Unlust Molières sich am Hofe den adeligen Rede- und Verhaltensweisen anzupassen und die Eifersucht des älteren Alceste gegenüber der jüngeren Célimène entspricht Molières Verhältnis zu seiner 21 Jahre jüngeren Frau Armande. Alceste (Reiner Schleberger) der Idealist hat den Anspruch, ohne Heuchelei zu leben. Alceste stößt trotz misanthroper Züge auf Freundschaft und Liebe. Philinte bezeugt ihm Freundschaft, und Arsinoé (Kimberly Krall) sowie Éliante (Beatrice Boca) sind ihm zugetan. Auf Philinte (René Rollin), der ihn zur Anpassung auffordert, hört er nicht. Orontes (Klaus Gramüller) Sonette zerreißt er. Alcestes Liebe zu Célimène (Meike Schmidt), einer jungen Witwe, die die Geselligkeit in der Gesellschaft liebt und mit vielen Männern flirtet, ist Mittelpunkt in diesen Kreisen, die ihm so verhasst sind. Ein Brief indem Célimène ihre Verehrer verspottet, führt zum Skandal und alle bis auf Alceste wenden sich von ihr ab. Alceste bietet ihr seine Gesellschaft auf seinen Landgütern an. Célimène lehnt ab, da sie nicht auf das Leben in der Gesellschaft verzichten will. Alceste will am Ende allein gehen. Mit Alcestes Weltflucht setzt Molière eine triste Schlusspointe. Aufrichtigkeit scheint nur dort möglich, wo sie nicht gefragt ist und sich nicht bewähren kann: fernab der Menschen, in der Isolation. Diese Story verortet Fabian Adler in einem Bar ähnlichen Raum der an das Bild „Nighthawks“ von Edward Hopper erinnert und die Kostüme entsprechen den 60iger Jahren (Bühne und Kostüme: Lucia Becker). Im Hintergrund ein Fenster mit Blick auf den schwarzen Nachthimmel und Sternen. Der Menschenfeind und alle anderen Figuren befinden sich in diesem leeren Raum, dem schwarzen Loch des Universums, das sich hinter dem Fenster auftut. Der Abend beginnt mit dem Funkkontakt zweier Astronauten, bevor der Konversationsreigen beginnt. Alcestes Diener Du Bois tritt als Astronaut auf und unterbricht die Handlung immer wieder für Momente. Später erscheint im Fenster der Mond und Astronaut, der seine Flagge auf dem Mond setzen will, doch sie hält nicht und fällt ins unendliche All. Der Mond lässt sich nicht erobern und so wird es Alceste im Laufe des Abends mit Célimène ergehen. Der Abend hat starke Momente wie das Frauenduell zwischen Célimène und Arsinoé, wo eine junge Schauspielerin K. Krall über sich hinauswächst und verdient Szenenapplaus erntet. Chapeau. Das faszinierende Duo der Höflinge Acaste (Timon Schleheck) und Clitandre (Lukas Heinrich) mit ihrem manieristischen Verhalten oder Klaus Gramüller als eitler Sonetten Schreiber Oronte. Ganz großes Theater wird in der Szene zwischen Philinte und Éliante geboten, wo er ihr seine Liebe gesteht und sie sich schweigend aufeinander zubewegen. Ein Moment, wo der Atem stockt. Last but not least das Duo Alceste und Célimène. Reiner Schleberger verleiht seinem Alceste Wahrhaftigkeit und erliegt nicht der Gefahr für locker zu habenden Humor Applaus zu ernten. Meike Schmidt gibt ihrer Célimène selbstbewusste Züge einer jungen, unabhängigen Frau, die sich um keine gesellschaftlichen Konventionen schert. Der Menschenfeind ist ein Abend der Schauspielerinnen und Schauspieler und der Übersetzung von J. Gosch und W. Wiens. Trotz allem bleibt der Abend ein bisschen brav und stärkere Ambivalenz hätte dem Treiben mehr Glamour verliehen, was eine noch pointiertere Regie hätte erreichen können. Molières „Menschenfeind“ ist durchaus ein Sittenbild unserer narzisstischen, hedonistischen Vergnügungsgesellschaft, was gut zur Lesart des Hamlets am Landestheater Schlesweig Holstein passt und das Konzept der bisher erfolgreichen Schauspielsaison 2019/20 verdeutlicht.
Leserkritik: Kanal Banal 3, LSH Schleswig
Am Donnerstag trafen sich 30 Theaterfanatiker im Roten Foyer des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Rendsburg zum Kanal Banal #3 „WYSIWYG! Oder die schlechteste Show der Welt“.

Diese Trash-Show der Superlative wurde dargeboten von André Becker (Dramaturg) und den immer wieder gern gesehenen Gästen des Schauspiels, Kimberly Krall und Klaus Gramüller. Der Abend gestaltete sich als Nummernrevue deren Länge durch das Publikum bestimmt wurde, mittels eines Würfels (1 – 6 Minuten). André Becker führte als Conferencier charmant mit ironischem Lächeln durch das trashigste Programm der Spielzeit. Eingestimmt wurde das Publikum mit Musik von Neil Young und Lautübungen zur Lockerung des Brustraumes. Thematisch beschäftigte sich der Abend mit Kleist und den Amazonen, einem Querschnitt durch den Spielplan des Schauspiels in 60 Sekunden und dem Steuerrecht (4 Minuten). Glanz erhielt der Abend durch eine hawaiianische Jonglage mit 2 Bananen von Klaus Gramüller, der sein komödiantisches Talent voll ausspielen konnte zur Ukulele (Kimberly Krall). Weitere Glanzpunkte setzte Klaus Gramüller durch einen Ausdruckstanz und ein Liebeslied an ein rohes Ei, das er voller Inbrunst anhimmelte. Welch ein Komiker, der auf der Klaviatur seines Könnens virtuos aufspielte. Die Pausennummer - klug gewählt - war die Brotzeit, in der die Künstler*in performativ überzeugend Pausenbrote schmierten und ans Publikum verteilten. Doch der Abend hielt weitere Höhepunkte bereit wie ein 4minütiges Bell-Konzert, indem die Darsteller*in vom Pinscher bis zum Wolfshund, um die Wette kläfften und heulten. Gejagt wurde diese Nummer vom 6minütigen Zwerchfelltraining, dem sich letztlich auch das Publikum nicht entziehen konnte. Lachsalven ließen das rote Foyer erbeben. Auch musikalisch überraschte der Abend mit einem lautlosen Klavierkonzert und einer klassischen Klaviervariation mit atonalen Improvisationen (Kimberly Krall). Trash, Trash und nochmals Trash waren Motto des abends und das Publikum ließ sich anstecken. Nach gut 80 Minuten kehrte wieder Normalität in dieses Tollhaus ein und das Publikum war integrierter Teil dieses abends der Superlative geworden.
Leserkritiken: "Räuber"/Junges DT Berlin
Junges DT – Nach Friedrich Schiller in einer Fassung von Joanna Praml und Dorle Trachternach: Die Räuber, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Joanna Praml)

(...) Und doch funktioniert diese zunehmende Parallelführung erstaunlich gut, finden sich Spuren der Mohrschen Familienbande in denen der Spieler*innen – bei denen nie ganz klar ist, was fiktiv ist und was biografisch – spiegeln sich gesellschaftlicher Druck, Erwartungshaltung und Geringschätzung auch in der derzeitigen jungen Generationen, denen so wenig zugetraut wird wie alles anderen vor ihnen. Der gefälschte Brief des Vaters ist hier einer des Intendanten, der die Spieler*innen vermeintlich herauswirft, weil sie versagt hätten und am Stoff gescheitert seien, worauf sie ihn und all seine Kollegen auf der Unterbühne einsperren. Das Theater übernimmt, die Drehbühne dreht sich, die Bretter werden zum Versuchslabor eines spielerischen Ausbruchs, wütend, albern, hilflos, lächerlich – und doch ziemlich – Schlüsselwort des Abends – echt.

Denn über das Rollenspiel, die Distanzierung von sich selbst, dem Aufgehen in ihren Figuren, finden die Spieler*innen zu sich, betrachten sie sich selbst wie aus der Ferne, lernen sie sich klarer zu sehen. Ob als Franz, Karl, Spiegelberg oder Amalie, zuweilen die Charaktere wechselnd, in der Auseinandersetzung mit und der Abgrenzung zur Vorlage wird vieles deutlicher: die Notwendigkeit, den eigenen Weg zu finden, Wert und Gefahr von Wut, die Schwierigkeit, diese richtig zu kanalisieren. Mal wird es zerstörerisch, mal verfällt man in Erschöpfung, mal trifft der Ärger den Falschen, wie bei den Schönfels-Zwillingen, von denen einer im „Verlies“ landet. Rivalitäten branden auf, Eifersucht, Abweisungen, die Folgen haben. Pubertäres und zutiefst Menschliches, nicht voneinander trennbar, denn vollziehen wir das, was wir pubertär nennen, nicht tagtäglich selbst? Es herrscht großer Ernst und doch ist stets ein Augenzwinkern dabei, die Lust am und das Bewusstsein vom Spiel, das Wissen, hier in einen mehr oder weniger sicheren Ort zu sein, wenngleich einem, der stets dem Blick der Anderen ausgeliefert bleibt. Die 15 spielen einen Emanzipationsprozess, der sich am ende entscheiden muss, ob er bei Schiller bleibt, also scheitert.

Auch wenn Schiller-Fan Jona noch mal – in Perücke und Kostüm – alles versucht, um den text als Zufluchtsort zu verteidigen: Am Ende such sich das Ensemble seinen eigenen Weg, verweigert, den fünften Akt ztu spielen, entscheidet sich für den Optimismus, die Hoffnung auf ein anderes, nicht von Eltern und Gesellschaft bestimmtes Leben, eine Welt, in der ein solches möglich sein könnte. Sie tragen Jona mit sich, der vielleicht noch nicht bereit ist loszulassen, den schützenden, richtungweisenden Text zu verlassen, um seinen weg auf leerem Papier zu finden. Damit nicht zu viel Feelgood-Atmosphäre aufkommt, singt Schürmann am Schluss noch Radioheads bitterböse passiv-aggressives „Exit Music (For a Film)“. „I hope your rules and wisdom choke you“, säuselt er uns entgegen. Amen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/02/15/die-bretter-die-den-wald-bedeuten/
Leserkritik: Demian, Hamburg
Hermann Hesses Roman „Demian“ in einer Bearbeitung und Regie von Moritz Beichl läuft seit Dezember 2017 mit großem Erfolg am Jungen Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

Hermann Hesses Entwicklungsroman „Demian“ erzählt die Geschichte des Erwachsenwerdens des jungen Emil Sinclair, der zwischen der behüteten, ordentlichen Welt seiner Eltern und seinen dunklen Seiten und Trieben hin- und hergerissen ist. Unter dem Einfluss seines Freundes Demian lernt er, seine Gegensätze zwischen Gut und Böse zu überwinden und auch seine dunklen Seiten zu akzeptieren und findet so schließlich zu sich selbst. In diesem Prozess der Selbstfindung Sinclairs spielen Symbole, Träume und Visionen eine wesentliche Rolle. In Hesses „Demian“ finden wir Theorien C.G. Jungs wie, die Unterscheidung zwischen individuellem und kollektivem Unbewussten und Elemente von Nietzsches Philosophie der Stärke und seiner Utopie eines neuen Menschen. In den 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr Hesses „Demian“ durch die Hippiebewegung ein kultisches Revival und heute ist er oft noch Teil der Schulliteratur. Kromer symbolisiert Sinclairs verdrängte, dunklen Seiten, die man auf dem Weg der Selbstfindung kennenlernen muss. Demian, der alterslose, androgyne Typ symbolisiert das ganzheitliche Selbst, das alle Gegensätze vereint hat. Demians Interpretation der biblischen Geschichte von Kain und Abel steht in Bezug zu Nitzsches Ethik der Stärke. Pistorius verkörpert die Ideen der Theosophie und Lebensphilosophie. Beichl zeigt mit viel Fantasie und Emotionalität die Mechanismen auf, die mit dem Finden der eigenen Identität einhergehen. Sinclair (Gabriel Kähler) beginnt mit einem Monolog, der in das Geschehen einführt. Zunächst erleben wir Emil in seinem behüteten Elternhaus (Mutter: Christine Ochsenhofer; Vater: Hermann Book), das er aber immer wieder verlässt um spannenden, sündhaften Versuchungen zu erliegen aber auch in die düstere Außenwelt von Schlägertypen wie Kromer (Philipp Kronenberg) geriet, die ihm Angst machen. P. Kronenberg als Kromer ist eine schauspielerische Glanzleistung, wie er durch Körperhaltung und Mimik ein herrliches Abbild des Bösen verkörpert. Spannendes Theater liefern die beiden Protagonisten des Abends Gabriel Kähler als Emil Sinclair und Serge Gößner als Demian. Sie sind Dreh- und Angelpunkt des Abends auf dem Weg der Selbstfindung Emils, der von Verlusten, Ängsten, Versuchungen, Träumen, Visionen und Lebensfreude gekennzeichnet ist. Genet Zegay als Demians Mutter Eva setzt durch die gesungenen Lieder musikalische Akzente, die die Emotionalität der Inszenierung fantastisch verstärken. Der Abend lebt von starken Bildern z.B., wenn Emil sein Elternhaus verlässt und dieses bestehend aus einem Podest und zwei Stellwänden sich auflöst. Mittels Videoprojektionen werden Emils Träume und Visionen mit musikalischer Untermalung von Genet Zegay wirkungsvoll in Szene gesetzt und emotional aufgeladen. Oder wenn Emil am Bühnenrand auf einem Stuhl sitzt und sein Gesicht mit den beiden Augen auf zwei Projektionsflächen geworfen wird, der hellen Zimmerwand seines Elternhauses und der dunklen Projektionsfläche des Waldes. Ein gelungenes Bild ist auch die Umarmung der Drei Emil-Demian-Eva. Die Schauspieler beherrschten es fantastisch auf unvorhergesehene Reaktionen des Publikums dem Stück entsprechend zu reagieren. Dieser Demian macht die Freuden und Leiden des Erwachsenwerdens sinnlich erfahrbar. Die Suche der Jugend nach Orientierung in einer globalen, kapitalistischen Welt, die auf dem Wege ist sich selbst zu vernichten, ist aktueller denn je. Hesses „Demian“ stellt uns Fragen nach unserer Verführbarkeit, unserer Anpassungsbereitschaft an bestehende Gesellschaftssysteme und unsere Kampfbereitschaft für eine neue Welt. All dies bietet Moritz Beichl in seiner faszinierenden Inszenierung des Demians.
Leserkritik: Numbers, Gorki
"Numbers" von Oleg Sentsov, Kooperation von Berlinale und Gorki Theater

Zum 70. Jubbiläum bespielt die Berlinale wichtige Kultur-Institutionen der Stadt bereits in der Woche vor dem Festival-Start mit hochkarätigen Kooperationen.

Dazu zählen beispielsweise die von Alexander Kluge konzipierte Ausstellung „Das Theater der Kinos“ an der Volksbühne, ein Konzert der Hollywood-Filmmusik-Legende Danny Elfman in der Philharmonie oder ein Gespräch zum Thema „Wozu Filmfestivals?“ in der Akademie der Künste.

Zu diesen Kooperationen gehört auch die Premiere von „Numera/Numbers“, einer Polit-Parabel des ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov am Gorki Theater zwei Tage vor der Festival-Eröffnung.

Als Carlo Chatrian auf seine Intendanten-Kollegin Shermin Langhoff im Sommer 2019 zuging und ihr diese Zusammenarbeit vorschlug, saß Sentsov noch in russischer Haft. 2014 war der Maidan-Aktivist, der 2012 mit seinem Debüt in Rotterdam aufgefallen war, wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten auf der Krim verhaftet worden. Künstler*innen und NGOs wie amnesty international engagierten sich seit Jahren für seine Freilassung. Gemeinsam mit dem Gorki Theater, das sich seit Jahren damit profiliert, Dissidenten und kritischen Publizisten wie Can Dündar aus der Türkei eine Plattform zu bieten und Solidaritätsaktionen zu organisieren, wollte die Berlinale ein politisches Zeichen setzen. Schon 2017 lief ein Film über den (Schau)-Prozess gegen Sentsov im Special-Programm der Berlinale.

Im Herbst trat ein, womit damals im Sommer kaum jemand gerechnet hätte: Sentsov wurde im Rahmen eines – in seinen Details umstrittenen – russisch-ukrainischen Gefangenenaustauschs freigelassen und konnte bei der Premiere seines Films dabei sein.

„Numbers“ basiert auf einem Theaterstück, das Sentsov bereits 2011 geschrieben hat. Ähnlich wie Kirill Serebrennikow dirigierte er die Verfilmung des Stücks vom Gefängnis aus: Briefe und Bilder gingen zwischen ihm und seinem Team hin und her.

Im Vorspann macht Regisseur Sentsov klar, was sein Publikum erwartet: ein politisches Manifest. Bei „Numbers“ steht die Botschaft im Mittelpunkt, der Film ist dramaturgisch recht schlicht und ihm ist deutlich anzumerken, dass es sich um ein mit einfachsten Mitteln und auf engstem Raum nachgestelltes Theaterstück handelt.

Die Themen von Sentsovs Film sind das Duckmäusertum und der Untertanengeist, auf die sich Diktaturen und autokratische Systeme stützen. Die namenlosen Figuren sind von 1-11 durchnummeriert und verbringen ihre Tage damit, einem streng ritualisierten Ablauf aus unsinnigen Regeln und Normen zu folgen. Während es sich die „Große Null“ oben in Bademantel und Unterwäsche bequem macht, quälen sich seine Versuchskaninchen durch Slapstick-artige, wie der Regisseur erklärte vom Biathlon inspirierte Spielchen.

Der Film porträtiert typisches Verhalten in Diktaturen wie Anpassung, gegenseitiges Bespitzeln, Verrat und kulminiert in der erfolgreichen Revolution, die jedoch sofort in ein noch schlimmeres, totalitäres Regime umschlägt.

„Numbers“ ist ein typischer Film für die Sektion „Berlinale Special“: Künstlerisch ist das Werk nicht stark genug für den Wettbewerb um die Bären. Aber Oleg Sentsov verkörpert durch seine Biographie den politischen Widerstandsgeist wie wenige andere Künstler, so dass man ihm und seinen Botschaften ein prominentes Forum bieten wollte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/19/berlinale-special-2020-filme-kritik/#numbers-film-kritik
Leserkritiken: Hoffmanns Erzählungen, Weimar
Cold Turkey – Hoffmanns Erzählungen am DNT Weimar
Hoffmanns romantischer Schriftstellerkollege Joseph von Eichendorff schrieb im ‚Taugenichts‘: „Die Liebe … ist eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern.“ Eigentlich ist für den Phantasten die Poesie, die Kunst der Mantel gegen die Kälte der Welt draußen. Ich gehöre zu jenen gewöhnlichen Menschen, die sich von einer Oper wie „Hoffmanns Erzählungen“ etwas Wärme erwarten, um für den nächsten Tag in der kalten Welt gewappnet zu sein. Hingerissen zu werden von der Arie der Olympia, der Puppe, die ja meist von einer höchst lebendigen Sopranistin gegeben wird. Oder von der Barcarole.
In seiner DNT-Inszenierung verordnet der Ernst-Busch-Gelehrte Christian Weise Träumern wie mir den kalten Entzug, indem er fantasievolle Illusionslosigkeit verordnet. Ganz im Sinne Brechts bin ich als Zuschauer angehalten, die Konstruktion des Apparates, die Puppenhaftigkeit der Figuren zu durchschauen. Olympia eine kunstvoll, aber auch sexuell anzüglich geführte Kinderpuppe, Antonia eine medien- und fettsüchtige Couch-Potatoe, Giulietta ein Transvestit. Unterstützt wird das durch die Kostüme mit zahlreichen textilen Varianten von Brüsten und Genitalien, vor allem im Giulietta-Akt. Abtörnen statt Anmache! Und dadurch, dass der musikalische Fluss durch schnarrende Erläuterungen aus dem Grammophon unterbrochen wird. So hat mich das DNT nach der Vorstellung bereits fröstelnd in eine unfreundliche Februar-Nacht entlassen.
Leserkritik Schaubühnen-Film, Berlinale: großes Gefühlsdrama
"Schwesterlein", Berlinale Wettbewerb

Dieses Szenario treibt Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier den Angstschweiß auf die Stirn: Lars Eidinger fällt auf unabsehbare Zeit aus. Was soll aus dem "Hamlet“ werden? Mehr als 300mal ging diese Inszenierung seit 2008 bereits auf die Bühne, jedes Mal ist sie ein Garant für volle Kassen und für lange Schlangen an der Abendkasse.

Moritz Gottwald aus dem Ensemble rebelliert dagegen, dass er als Zweitbesetzung einspringen und einfach die Ego-Trip-Show von Eidinger übernehmen soll, ohne eigene Akzente setzen zu dürfen. In der Kantine lässt er gemeinsam mit Jenny König und Urs Jucker Dampf gegen den autoritären Chef ab. In seiner Not setzt Ostermeier stattdessen "Ungeduld des Herzens“ von Stefan Zweig auf den Spielplan.

Er ist ohnehin gerade vor allem mit Nina Hoss beschäftigt, die seit Monaten nicht mit dem versprochenen Stück vorankommt und gemeinsam mit dem sichtlich angeschlagenen Eidinger eine Auszeit in der Schweiz nehmen will. Außer gesundheitlichen Problemen plagt Eidinger auch noch Liebeskummer: sein Schatz Tilmann Strauß wechselte von der Schaubühne nach Hamburg und meldet sich kaum noch.

Regelmäßige Berliner Theatergänger werden all die bekannten Namen und Gesichter wiedererkennen, die in dieser kleinen Kulturbetriebs-Farce genannt wurden und zu sehen sind. Sie spielen alle tatsächlich im Kinofilm "Schwesterlein“ mit, der im vergangenen Jahr an der Schaubühne am Lehniner Platz und in der Schweiz gedreht wurde. Allerdings treten alle unter anderen Namen auf: Thomas Ostermeier heißt im Film David, Tilmann Strauß wird zum Johannes, Nina Hoss wird Lisa und Lars Eidinger zum Sven. Im echten Leben sind Eidinger und Hoss Weggefährten seit dem gemeinsamen Studium an der HfS Ernst Busch, ihre Alter Egos sind Zwillinge.

Hier nimmt der Film eine merkwürdige Abzweigung: das Personal-Tableau würde genug Stoff für eine kleine Betriebs-Satire hergeben, stattdessen wollen die beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, die sich laut Programmheft schon seit Schulzeiten kennen und bei kleineren Projekten zusammengearbeitet haben, ganz großes Gefühlsdrama.

Der emotionale Wutausbruch von Nina Hoss, die auf die Mülltonnen eindrischt, wäre auch eine sehr verständliche Reaktion im wahren Leben, da dieser platte Film mit schwachem Drehbuch für sie eine künstlerische Zumutung ist.

Zäh schleppt sich das Melodram dahin: das Regie-Duo traut sich nicht, hemmunglos auf die Tränendrüse zu drücken, findet aber auch keinen anderen Weg, diesen Stoff überzeugend zu erzählen. Warum Carlo Chatrian, der das Regie-Debüt „La petite chambre“ der beiden Schweizerinnen bereits 2010 in Locarno präsentierte, den enttäuschenden Film in den Berlinale-Wettbewerb eingeladen hat, bleibt sein Geheimnis.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/24/schwesterlein-schaubuhne-lars-eidinger-nina-hoss-berlinale-wettbewerb-2020-film-kritik/
Leserkritik Schlingensief-Film + Vienne, Berlinale
Gleich zwei Dokumentationen in der Sektion "Panorama" der Berlinale porträtieren künstlerische Arbeiten an der Berliner Volksbühne, allerdings aus ganz unterschiedlichen Phasen der traditionsreichen Geschichte des Hauses.

60 Jahre wäre Christoph Schlingensief in diesem Jahr alt geworden. Aus diesem Anlass stellte Bettina Böhler, die als Cutterin an seinen provokativen Filmen „Terror 2000“ (1992) und „Die 120 Tage von Bottrop“ (1997) mitgearbeitet hat, eine Hommage an den Regisseur, politischen Kopf und Aktionskünstler zusammen.

Das Ungewöhnliche an dem Film "Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist, dass sie auf die üblichen TTalking heads“ verzichtet, auf die Weggefährt*innen, die sich an den Verstorbenen erinnern. Ganz ohne aktuelle Interviews, stattdessen nur aus Archiv-Material gestaltete sie die knapp zwei Stunden.

Chronologisch spannt sie den Bogen über knapp fünf Jahrzehnte: beginnend mit den alten Super8-Aufnahmen aus dem Familien-Archiv des Oberhausener Apotheker-Sohns über die Filme der 80er und 90er Jahre mit Tilda Swinton und Udo Kier, mit denen er damals im Forum der Berlinale polarisierte, bis zu legendären Volksbühnen-Inszenierungen und Polit-Aktionen wie bei den Wiener Festwochen und seinen letzten Aufführungen, die seine Krebserkrankung thematisierten.

Das Konstruktionsprinzip ist Stärke und Schwäche zugleich: Positiv ist, dass das Publikum sehr viel O-Ton Christoph Schlingensief bekommt, ganz pur und ungefiltert. Seine Energie und Kreativität werden deutlich spürbar. Negativ ist allerdings, dass die Archiv-Schnipsel auf jeglichen historischen Kontext verzichten, so dass der Film auch etwas oberflächlich und abgehetzt wirkt, wie er pflichtschuldig Station auf Station abhakt.

Ab 2. April auch im Kino.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/22/schlingensief-in-das-schweigen-hineinschreien-berlinale-panorama-film-kritik/

Die zweite Doku beleuchtet ein Gastspiel aus der kurzen Intendanz von Chris Dercon. Er lud die Choreographie "Crowd“ von Gisèle Vienne ein, die im Sommer 2018 europaweit über Festivals tourte. Diese Arbeit taucht ins Nachtleben ein und feiert mit Slow-Motion-artigen Bewegungen die Freiheit der Partygäste. Die Choreographie erzählt von der Sehnsucht nach Nähe, vom Eintauchen in der Masse, von der Lust sich zu verlieren und von der Angst, andere an sich heranzulassen.

Sehenswert ist die kleine Dokumentation "Si c’était de l’amour (If It Were Love)“ von Patric Chiha nur, weil sie anhand mitgefilmter Proben wenigstens einen kleinen Eindruck davon liefert, was für einen glanzvollen Tanzabend ich damals im Juni 2018 an der Volksbühne verpasst habe. Die Probenszenen sind wunderbar und sehr präzise gefilmt.

Im Lauf des Films verliert sich Chiha aber mehr und mehr in den Gesprächen hinter den Kulissen: Small-Talk über Flirts und One-Night-Stands vermischen sich mit Gesprächen über die Rollen der Tänzer*innen. Hier wird der Film dann leider banal.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/19/berlinale-panorama-2020-filme-kritik/
Leserkritik: "Futur Drei" mit Benjamin Radjaipour, Berlinale
Leserkritik Berlinale-Film "Futur Drei"

In seinem stark autobiographisch geprägten Debütfilm erzählt der Deutsch-Iraner Faraz Shariat vom Gefühl der „Zweiten Generation“ von Migrant*innen, zwischen den Stühlen zu sitzen, vom Coming-out und von drohender Abschiebung.

Zunächst folgt der Film dem jungen Parvis (Benjamin Radjaipour aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele), einem Alter Ego des Regisseurs, der als Sohn iranischer Eltern in der niedersächsischen Provinz ausgewachsen ist und das queere Partyleben in vollen Zügen genießt. Seinen Eltern, die den ganzen Tag in einem Supermarkt rackern, damit ihr Sohn es einmal besser haben soll, hier aber nie heimisch wurden und in Gedanken schon wieder zurück im Iran sind, hat er wenig zu sagen. Sie leben in einer anderen Welt.

Aus seinem Rhythmus von Party und schnellem Sex wird Parvis erst gerissen, als er in einem Flüchtlingsheim nach einem Ladendiebstahl seine Sozialstunden ableisten muss. Dort verliebt er sich in Amon (Eidin Jalali) und beginnt darüber nachzudenken, wie privilegiert er ist und wo sein Platz im Leben ist. Die ohnehin schwierige, heimliche Beziehung der beiden jungen Männer wird noch dadurch komplizierter, dass Amons Schwester Banafshe (Banafshe Hourmazdi) die Abschiebung droht.

„Wir sind die Zukunft“, proklamiert das Trio immer wieder. Der engagierte Debütfilm erzählt von den Hürden, die sie dabei überwinden müssen, und versteht es recht gut, die zahlreichen Themen, die er sich vorgenommen hat, zu verknüpfen, ohne dass der Film überfrachtet wäre.

„Futur Drei“ lebt vor allem von seinen drei starken Hauptdarsteller*innen, die beim Casting meist noch an der Schauspielschule waren und mit dem Götz George-Nachwuchspreis ausgezeichnet wurden.

„Futur Drei“ gewann an der Volksbühne sowohl den Teddy für den besten Spielfilm als auch den Preis der queer.de-Leser-Jury und startet nach der Berlinale-Premiere am 28. Mai im Kino.

Hauptdarsteller Benjamin Radjapour konnte bei der Teddy-Gala leider nicht dabei sein, da er heute an den Münchner Kammerspielen mit dem neuen Stück von René Pollesch Premiere feiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/19/berlinale-teddy-2020-filme-kritik/#futur-drei-berlinale-film-kritik
Leserkritik: "Enter Achilles", Berliner Festspiele
Enter Achilles: Eine Arbeit von Lloyd Newson (DV8 Physical Theatre),
Ballet Rambert & Sadler’s Wells, zu Gast im Haus der Berliner Festspiele

Als „toxische Männlichkeit“ würde man heute das Phänomen bezeichnen, das der Australier Lloyd Newson 1995 in „Enter Achilles“ beschrieben hat.

Drei Jahre lang tourte die Choreographie durch Europa, die er damals mit seiner eigenen Compagnie, dem DV8 Physical Theatre, einstudiert hat.

Fünfzwanzig Jahre später gastiert die Neubearbeitung, die Newson für Ballett Rambert und Sadler’s Well in London einstudiert hat, erstmals im Haus der Berliner Festspiele.

Obwohl der im Stück genannte damalige britische Schatzkanzler und spätere Premier Gordon Brown inzwischen längst nicht mehr im Amt, sondern nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern ist, wirkt „Enter Achilles“ erstaunlich zeitgemäß.

Die Produktion an der Schnittstelle zwischen Tanz, Theater und Comedy ist eine Milieustudie der Männer in einem typischen englischen Pub, die ihren Frust im Alkohol ertränken, im working class-Slang rassistische Tiraden von sich geben, beim Fußball mitfiebern und weitertrinken, bis sich die aufgestaute Aggression an Schwächeren und Sündenböcken entlädt.

Die Inszenierung dieser „toxischen Männlichkeit“ wird regelmäßig von komischen Momenten gebrochen und ist mit einem 90er-Jahre-Britpop-Soundtrack unterlegt, der dem Gastspiel mehr als nur einen Hauch Nostalgie verleiht.

https://daskulturblog.com/2020/03/05/enter-achilles-haus-der-berliner-festspiele-tanz-kritik/
Leserkritik: Antigone, Hannover: Fokus Flüchtlinge
"Antigone. Ein Requiem", von Thomas Köck nach Sophokles, Regie: Marie Bues; Stream des Schauspiels Hannover

Auch in Köcks widersetzt sich die Titelfigur (Alrun Hofert) den Befehlen Kreons (Bernhard Conrad). Bei den Toten, die nicht bestattet werden dürfen, handelt es sich jedoch nicht um ihren Bruder Polyneikes, sondern die Flüchtlinge, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind und sich in Leichensäcken an der Küste türmen.

In den Rededuellen prallen die Positionen gewohnt unversöhnlich aufeinander: Auf der einen Seite Antigone, die Vertreterin der Zivilgesellschaft, die an Humanität und Empathie appelliert, darauf beharrt, dass das auch unsere Toten sind und fragt, was ein Friede wert sein kann, der so viele Tote zurücklässt.
Alrun Hofert als Antigone

Ihr Gegenpart Kreon ist die fleischgewordene Festung Europa, der in dieser Hannoveraner Inszenierung weniger als ein mit harter Hand regierender autokratischer Herrscher dargestellt wird. Dieser Kreon ist vielmehr ein smarter Politmanager, der die Ordnung und das Gesetz betont. Aber mindestens ebenso wichtig ist ihm, dass er die Rechtslage der Situation stets flexibel und geschmeidig anpassen kann. Das sind nicht „unsere Toten“, kanzelt er Antigone ab.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/03/29/antigone-ein-requiem-schauspiel-hannover-theater-kritik/
Leserkritik: "The Black Rider", Thalia Digital
"The Black Rider", Uraufführung von Robert Wilson/Tom Waits/William S. Burroughs, Mitschnitt der Koproduktion von Thalia Theater Hamburg/Wiener Festwochen von 1990, Thalia Digital

Trotz der begrenzten technischen Mittel der damaligen Zeit lässt sich in der zweistündigen Aufzeichnung erahnen, warum das Publikum damals so von diesem Stück schwärmte.

Die Musik von Tom Waits ist auch heute noch mitreißend. Der Regiestil von Robert Wilson mit seinen trippelnden, überschminkten, puppenhaft agierenden Figuren ist in dieser Inszenierung vom Zenith seiner Karriere wesentlich variantenreicher als bei Arbeiten aus seinem Spätwerk, die zu oft nur im manierierten Selbstzitat endeten.

Ein Blick in das Digital-Angebot des Thalia Theaters lohnt sich aber vor allem wegen der drei Hauptdarsteller: Dominique Horwitz sieht man mittlerweile viel zu selten auf der Bühne. Sein Gastspiel im tipi am Kanzleramt mit einer „Dreigroschenoper“-Version, die er ins China des Jahres 2071 verlegte, wurde jäh beendet, als die Theater wegen der Corona-Pandemie schließen mussten. Als Teufel schlich er im „Black Rider“ stimmgewaltig und mit fiesem Grinsen über die Szenerie. Auch der zweite Hauptdarsteller ist heute kaum noch auf den Bühnen, stattdessen häufiger in Fernseh-Produktionen zu sehen: der Schweizer Stefan Kurt spielt den Amtsschreiber Wilhelm.

Dem Theater treu blieb nur die dritte Hauptdarstellerin: das Käthchen spielte damals Annette Paulmann. Wenn die Nachwuchsschauspielerin des Jahres 1990, die in Hamburg ihr erstes Engagement nach der Schauspielschule hatte, ihre markante Stimme mit spitzen Schreien einsetzt, ist schon viel von der Präsenz spürbar, die auch ihre aktuellen Auftritte im Ensemble der Münchner Kammerspiele auszeichnen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/07/the-black-rider-wilson-waits-burroughs-thalia-theater-urauffuhrung-kritik/
Leserkritik: "Inferno", Thalia Hamburg Digital
"Inferno" nach Dante Alighieri, Regie Tomasz Pandur, Thalia Digital, Aufzeichnung einer Inszenierung von 2001

Dante (Thomas Schmauser, 2007 an die Münchner Kammerspiele gewechselt) wird von Vergil (Dietmar König, seit 2002 am Wiener Burgtheater) durch die Kreise der Hölle geleitet, vorbei an den sirenenhaften Gesängen der Beatrice (die junge Fritzi Haberlandt in ihrer ersten Thalia-Spielzeit) und an all den verwundeten, leidenden, kriegsversehrten Gestalten, die sich gegenseitig mit Farbe und Lehm beschmieren, im Wasser miteinander ringen oder kopfüber von den Gerüsten herabbaumeln und Klagelieder anstimmen.

Die Erfahrung der Balkankriege der 1990er Jahre ist tief in diese Arbeit des 2016 verstorbenen slowenischen Regisseurs eingeschrieben. In ihrem sakralen Ernst, ihrem Pathos und ihrer auf Überwältigung setzenden Bildgewalt ist dieser Abend ein ungewöhnliches Erlebnis, das die üblichen Stadttheater-Sehgewohnheiten herausfordert.

Dementsprechend polarisierte dieser Abend schon damals: manche fanden die Bilder zu kitschig und den Bogen, den Hildegard Schmahl bei ihrem kurzen Auftritt als Balkankriegs-Reporterin zu Sartres berühmtem „Die Hölle, das sind die anderen“ schlug, zu plakativ. Die Ernsthaftigkeit und der Mut, mit der Pandur und sein Team diese Klassiker-Adaption stemmten, und der szenische Reichtum dieser 90 Minuten sind jedoch auch fast zwei Jahrzehnte später und als Konserve ohne Live-Erlebnis noch sehr beeindruckend.

„Inferno“ war der Auftakt einer Trilogie und hat auch noch aus anderen Gründen Hamburger Theatergeschichte geschrieben: Weil das Bühnenbild mit seinen Wassermassen während der Proben so schwer auf- und abzubauen war, ließ sich Eric Gedeon, damals musikalischer Leiter des Thalia Theaters, ein kleines Füllprogramm einfallen. Sein „Thalia Vista Social Club“, eine Musiksatire über eine Rentner-Band im Altersheim, wurde bekanntlich ein derartiger Publikumsrenner, dass das Kultstück immer noch im Repertoire ist und schon knapp 400 mal lief, während das „Inferno“ leider nur noch als ferne Erinnerung aus dem Archiv zu erleben ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/11/inferno-thalia-theater-kritik/
Leserkritik: Wien ohne Wiener, Volkstheater Wien
"Wien ohne Wiener, Ein Georg-Kreisler-Liederabend" von Nikolaus Habjan und Franui, Volkstheater Wien, 2017

Vom Shutdown einer Stadt fabulieren die Puppen in der ersten Szene dieses Georg Kreisler-Liederabends, den Nikolaus Habjan und die Tiroler Franui-Musiker mit dem Ensemble des Wiener Volkstheaters 2017 einstudiert haben.

Was damals wie ein böser Witz und besonders makabrer Kreisler-Einfall wirkte, ist in Zeiten der Corona-Pandemie gar nicht so weit von der Realität entfernt. Bekanntlich wurde die chinesische Metropole Wuhan tatsächlich wochenlang abgeriegelt: keiner durfte hinein oder heraus. Und auch in den westlichen Großstädten ist das Alltags-Leben bis auf ein Minimum heruntergefahren: der österreichische Kanzler Sebastian Kurz tat sich hier mit besonders strengen Maßnahmen hervor.

Im Lauf des „Wien ohne Wiener“-Abends ist zwar an anderer Stelle auch von einem Virus die Rede, die Abriegelung der Stadt in der ersten Szene hat aber andere Gründe: die grantelnden Wiener wollen einfach unter sich sein und haben keine Lust mehr auf die Touristen-Massen, die sich durch Hofburg, Prater und Stephansdom.

Prophetisch-makaber wirken auch die Zeilen „Und’s Burgtheater zu –
Es wär herrlich, wie schön Wien dann wär!“ Sie stammen aus dem Song „Wien ohne Wiener“, einer ätzenden Messer-Mord-Phantasie von Georg Kreisler an den Mitbürger*innen, in der Kreisler davon träumt, seine Heimatstadt für sich allein zu haben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/12/wien-ohne-wiener-volkstheater-wien-kritik/
Emilia Galotti, DT Heimspiel
"Emilia Galotti" von Gotthold Ephraim Lessing, Regie: Michael Thalheimer, September 2001, DT Heimspiel

Auch knapp zwanzig Jahre nach der Premiere beeindruckt die zeitlose Eleganz dieser „Emilia Galotti“-Inszenierung. Zu den elegischen Klängen der neu abgemischten Film-Musik von Wong Kar-Wais „In the Mood for Love“ (2000) schreiten die Spieler*innen in Designerkleidung und in die Ferne gerichtetem Blick über einen Catwalk, der zwischen steilen Wänden von Olaf Altmann eingezwängt ist.

Thalheimer erzählt die klassische Lessing-Tragödie vor allem über die Körpersprache, stilisierte Gesten und die Musik, die in den 75 Minuten zum Ohrwurm wird. Gesprochen wird wenig und falls doch, dann häufig in einem sehr gehetzten Turbotempo von Sven Lehmann als Prinz und Ingo Hülsmann als sein Marinelli, so dass die Details ihrer Intrigen bewusst verwischt werden.

Der nur 75 Minuten kurze Abend lebt von der präzisen, fast tänzerischen Choreographie dieses Star-Ensembles, zu dem außer den bereits genannten vor allem noch Regine Zimmermann in der Titelrolle und Nina Hoss als unglücklich liebende Gräfin Orsina zählen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/22/emilia-galotti-michael-thalheimer-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: Wer hat meinen Vater umgebracht?, Wien: Phalanx
"Wer hat meinen Vater umgebracht?", Volkstheater Wien, nach dem Buch von Édouard Louis, Regie: Christina Rast.

Während sich der rassistische, homophobe Vater, ein Prototyp toxischer Männlichkeit, in Philipp Arnolds Inszenierung am Münchner Volkstheater hinter grimmig-aggressiven Masken verbarg, betont die Wiener Inszenierung von Beginn stärker eine andere Facette des Buchs, nämlich die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Vaters von Édouard Louis. Die Spieler*innen kreisen um einen viel zu großen Tisch, so dass sie sich ständig strecken müssen und in Anspannung sind. An der Stirnseite hängt der Vater als kraft- und mutlose Puppe, vom Leben gezeichnet kann er sich kaum aufrecht halten und kippt mit dem Kopf auf die Tischplatte. Rasts Wiener Inszenierung betont weniger die Kindheitstraumata und die Furcht vor dem Vater, die Louis bereits in seinem autobiographischen Debüt „Das Ende von Eddy“ thematisierte, sondern stellt das Entsetzen darüber in den Mittelpunkt, was den Vater so zerbrochen hat, dass er gegen sich und andere so hart wurde und nun nur noch ein körperliches und seelisches Wrack ist.

Von der Wiener „Wer hat meinen Vater umgebracht?“-Inszenierung bleiben vor allem zwei Szenen in Erinnerung, die den End- und Höhepunkt des knapp 90minütigen Abends bilden. Wir erleben Édouard Louis als Bestseller-Autor und Talkshow-Gast, im Pariser intellektuellen Establishment angekommen und bestens vernetzt.

Bei jeder Frage des Moderators hallen die Beschimpfungen und Kränkungen durch seinen Kopf, die er als Kind erlitten hat. Sebastian Klein, derjenige aus dem fünfköpfigen Ensemble, der Louis äußerlich am meisten ähnelt, rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, während die restlichen Spieler*innen im Hintergrund fratzenhafte Masken vor ihre Gesichter halten und hämisch „Eddy Bellegueulle“, den wahren Namen des Autors rufen, den Louis abgelegt hat.

In der zweiten zentralen Szene sind die fünf Spieler*innen frontal vor dem Publikum aufgereiht und klagen die Einschnitte ins soziale Netz an, für die französische Staatspräsidenten in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich waren. Während Jonathan Hutter diese Passage in München als wütend-atemlose Solo-Nummer performte, steht dem Publikum der Wiener Inszenierung eine Phalanx von Politikern gegenüber, die zwar unterschiedlichen Parteien angehören, aus der Sicht von Louis aber alle dazu beigetragen haben, dass sich sein Vater seine Gesundheit ruiniert hat.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/05/11/wer-hat-meinen-vater-umgebracht-volkstheater-wien-kritik/
Leserkritiken: Danke Peter Grisebach
Eine Ära am Schleswig-Holsteinischen Landestheater und Sinfonieorchester GmbH geht zu Ende.
Peter Grisebach Intendant und Geschäftsführer des Landestheaters verlässt mit Ende der Spielzeit 2019/20 dieses Theater. Seit der Spielzeit 2010/11 bis heute hatte er die Geschicke des größten deutschen Landestheaters künstlerisch und geschäftlich vertreten. In diesem Jahrzehnt hat er mit seinem Team Höhen und Tiefen durchlebt, aber nie an der Magie des Theaters gezweifelt. Ständig kämpfte er um die Gunst des Publikums mit anspruchsvollen Programmen und dem Spagat zwischen Unterhaltung und gesellschaftskritischen Inszenierungen. Das Publikum war ihm hold, was die Auslastungszahlen belegten, nur der Kommunalpolitik des Öfteren ein Dorn im Auge, da in ihren Augen viel zu teuer. Doch Grisebach war Kämpfer und Diplomat und hat sein Theater nie verloren gegeben, selbst in dem Moment nicht, wo eines seiner wichtigsten Häuser, das Schleswiger Theater, auf Grund von Einsturzgefahr abgerissen wurde. Doch damit nicht genug. Immer wieder musste er mit den Gesellschaftern, um deren Verbleib in der GmbH ringen. Mancher hätte diesen Kampf verloren gegeben, aber nicht ein Peter Grisebach. Er war ein Aufstehmännchen und man hatte das Gefühl nach vermeintlichen Niederlagen erst recht. Sein Theater und seine Mannschaft haben alles gegeben, um interessantes und erfolgreiches Theater in die vermeintlich verschmähte Provinz zu bringen und dies immer wieder mit beachtlichen Erfolgen. Viele Inszenierungen im Schauspiel konnten sich mit renommierten Häusern, wie dem Thalia Theater und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg messen. Dies sei seinem Schauspieldirektor Wolfram Apprich gedankt, der viele jüngere Regisseure verpflichtete und ein engagiertes, talentiertes junges Ensemble an das Haus band. Das Musiktheater eine besondere Leidenschaft von Peter Grisebach wurde erfolgreich geleitet von Kimbo Ishii dem Generalmusikdirektor und Markus Hertel seinem Operndirektor. Doch Peter Grisebach frönte immer wieder seiner Leidenschaft und übernahm Operninszenierungen eigenständig. Auch dem Ballett unter Leitung von Katharina Torwesten verlieh er eine eigene beeindruckende Note. Doch Grisebach war auch Visionär und nur wer Zukunft denkt, kann auch Zukunft schaffen, war eine seiner Devisen. So baute er die Theaterpädagogik zu einer schlagfertigen Truppe aus, die erfolgreich Jugend, die Zuschauer der Zukunft ans Haus band. Die Spielzeit 2019/20 sollte nochmals ein Feuerwerk werden, das durch Corona zu Nichte gemacht wurde. Doch auch ohne diesen grandios geplanten Abschied hat er Unvergessliches für das Theater im nördlichsten Bundesland geleistet. Er hat das Schleswig-Holsteinische Landestheater vor dem drohenden Untergang bewahrt und es zu einem erfolgreichen Theater gemacht, das immer wieder mit Inszenierungen weit über die lokalen Grenzen auffiel und Beachtung fand. Ich wünsche Herrn Peter Grisebach viel Erfolg bei seinen neuen Zielen und danke Ihm von Herzen für seine unermüdlichen Kämpfe und innovativen Ideen und Projekte für das Schleswig-Holsteinische Landestheater. Ihr Theaternarr Reiner Schmedemann
Leserkritiken: Maria Stuart, Berlin: ein Anfang
Friedrich Schiller: Maria Stuart (Open Air), Theater an der Parkaue, Berlin (Regie: Albrecht Hirche)

(...)

Marionetten der Macht sind sie, Elisabeth und Maria, beide zunächst in ähnlich wahnwitzigen Kostümzustammenstellungen, später fein getrennt – die „Siegerin“ in regalem Renaissancepomp, die „Unterlegene“ im weißen Büßerinnen-Gewand. Doch die Strippen ziehen andere, die Burleighs und Leicesters und Mortimers und Shrewsburys, auch sie hier keine Selbstbestimmten Plot-Treiber, sondern in aller Lächerlichkeit ausgestellte Getriebene, so tief im Netz der Macht gefangen, dass sie dessen Mechaniken längst nicht mehr durchschauen, geschweige denn in der Lage sind, sich diesem zu entziehen. Kugelrund Erik Borns ziellos trampelhafter Intrigen-Bürokrat Burleigh, hysterisch aufgelöst der hilflose Doppelagent Leicester, clownesk charismafrei der vermeintliche Vernunftträger Shrewsbury des Jakob Kraze. Da ergeht es den Frauenfiguren nur ein wenig besser: Sowohl Caroline Erdmanns Elisabeth als auch Kinga Schmidts Maria haben Momente resilienten Selbstbewusstseins, leicht arroganter Selbstbehauptung, die Oberfläche zumindest ankratzender Reflexion. Doch sie bleiben Spielbälle, kaum die Diagonalen des schottischen Andreaskreuzes verlassend, angetrieben vom langsamen, zum Schafott leitenden, kettenrasselnden Schlagzeugrhythmus Karoline Körbels. Schade, dass Elisabeth als zitterndes Wrack zurückbleibt, während Maria pathetische Würde erlangen darf, die Opferung der Frau wieder etwas seltsam Heroisches bekommt, während die durchaus selbstbestimmte Machterhalterin Elisabeth zur hysterischen Marionette degradiert wird. Da werden überkommene Frauenbilder und Geschlechternarrative reproduziert, die nicht vergessen lassen, dass hier ein (nicht mehr ganz so junger) Mann Regie führt.

Zumal das klischeeverliebte pseudoernste Ende gar nicht zum Rest des Abends passen will. Eine groteske Geisterfarce entspinnt sich, ein wenig zu laut mitunter, doch sorgfältig choregraphiert, in den Tänzen der Intrige, den Chören der Speichellecker und Einflüsterer, den mechanisch eingeschränkten Bewegungen der im vermeintlich eigenen Spiel Feststeckenden. Die Pandemie-bedingten Abstandsregeln machen das Zwanghafte dieser überzeitlichen Versuchsanordnung noch eindringlicher und visuell klarer, jede*r sieht sich auf ihrer Bahn eingezwängt, unfähig, den eigenen Orbit zu verlassen, reduziert auf die vom großen Autor Macht vorgegebenen Rolle. Sie können nicht aus ihrer Haut, was Marias angebliche Befreiung durch die Opferung noch perfider macht. Die emanzipatorischen Ansätze, welche die Geschichte durchaus bereithält, verpuffen, zurück bleibt eine durchaus gelungene Moralsatire, die das Mechanische von in politischen Zwängen weit jenseits des feudalen Ursprings Gefangenen, die sich auch heute, im aufgeklärt demokratischen Umfeld noch tagtäglich beobachten lassen, eindrucksvoll sichtbar macht. Und die zeigt, was fehlt. Im politischen Tagesgeschäft, wie in der Abwesenheit ihres von Schiller als solches intendierten Korrektivs. Der Applaus verhallt, bevor er Fuß fassen kann. Aber es gab ihn. Das ist ein Anfang.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/06/11/das-echo-des-abwesenden/
Leserkritiken: Die Pest, DT Berlin: wieder da
Nach dem Roman von Albert Camus: Die Pest (Open Air), Deutsches Theater (Vorplatz), Berlin (Regie: András Dömötör)

(...)

Es ist ein Abend der Lücken, einer, der sich um das kreist, was nicht da ist. Der lange Monolog des Revolutionärs Tarrou, Kern der Box-Inszenierung, wird hier zum Fremdkörper, die gesellschaftsphilosophische Erhöhung, für welche die titelgebende Pest nur Metapher ist, klingt hohl angesichts einer Wirklichkeit, die selbige Metapher ganz real und tödlich ausfüllt. Kocevskis Spiel ist ernst, variabel, still, die Wut unterdrückt, die Trauer allgegenwertig. Aus einem Abend, der sich schlechter als recht an Camus‘ Gedankenkosmos abarbeitete, ohne ihn annähern durchmessen zu können, wird eine Meditation. Über den Tod, über die Trauer, den Schmerz, das, was fehlt und jene, die Fehlen. Diese Pest, die den schwarzen Kasten auf den Vorplatz verwehte, tötet, lässt verschwinden. Menschen, aber auch die Selbstverständlichkeiten ihres Zusammenlebens, die sinnstiftenden Requisiten, zu den auch und gerade die Kultur, die Kunst, das Theater gehören.

Metaphorische Visualisierungen braucht es nicht mehr, hier wird sichtbar, hörbar, was fehlt. Jeder fallende Stuhl, jedes dräuende Crescendo, aber auch jeder Windhauch, jedes Vogelzwitschern sprechend vom Dasein, von seiner Resilienz, von seinem Preis. Die Vergesslichkeit des Menschen, seine zynische Selbstbehauptung, die Instrumentierung des Bösen – sie verzwergen zu Worten, zu Schrift auf bröselndem Papier. Die Wirklichkeit durchkämmt den Text, durchforstet die Inszenierung und pickt sich heraus, was ihr wichtig erscheint. Leben und Tod und ihrer persönlichen, individuellen, zutiefst privaten Unmittelbarkeit, der Verzicht als Preis des Überlebens, die schreiende Stille des Verlorenen nehmen den Platz existenzialistischer Überlegungen ein. Sie stülpen Text, Inszenierung, Spiel nach außen, folgendem den neuen Spielfeld, treten in Dialog mit dem, was da zu leben sucht. Kocevski sinniert, während die Vögel singen. Theater als verlorener, winziger Fleck im Universum, ein anspielen gegen das eigene Verschwinden, ein Anrennen gegen die Bedeutungslosigkeit. Wo sich die Inszenierung verliert, gewinnt sie – an Wirklichkeit, an Bedeutung, an Relevanz, an Berechtigung. Und an Raum, der irgendwann wieder mit dem zu füllen ist, was Dömötör und auch Camus umtrieben. jetzt gilt es zu trauern, zu vermissen, zu klagen und zu bewahren. Die Sonne geht unter, der Applaus ruft das Fehlende zurück, bekräftigt seine Ansprüche. Das Theater, es ist wieder da, anders, fragmentiert, abwesend und präsent zugleich. Es stellt seinen Fuß in die Tür. Die Leere, die hier gähnt, sie wird einst wieder befüllt werden. Doch jetzt ist sie zu ertragen. Auch wenn es schwerfällt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/06/13/die-leere-ertragen/
Leserkritik: Lucia Bihler, Volksbühne Berlin
frühsommerlicher Depressionszusammenhang (Eine Peepshow), Hof Roter Salon, Volksbühne; Konzept und künstlerische Realisierung: Lucia Bihler, Johanna Bantzer, Sarah Franke, Emma Rönnebeck

Mit einer Persiflage auf das manchmal undurchdringliche, oft widersprüchliche Konvolut der Corona-Hygieneregeln begrüßte eine Spielerin ihr Publikum. Während sie sich in einem Monolog über FFP2-Masken und Toilettenbesuche verhedderte, erschien in den Fenstern des Salons nach und nach ein weiblicher Chor, der Passagen aus „In your face, frühsommerlichneonationalistischer Depressionszusammenhang!“ von Gerhild Steinbuch und Thomas Köck vortrug. Einige scharfzüngige und scharfsinnige Beobachtungen über Viren, Martin Sellner und seine Identitäre Bewegung oder Alexander Gauland aus der „Hochrisikogruppe“ eröffneten und beendeten dieses sommerliche Chorprojekt.

Doch trotz dieser Klammer zerfiel der Rest in kleinteiliges Stückwerk: hier eine Slapstick-Nummer von Film-Star und Neu-Ensemble-Mitglied Jella Haase, die hysterische Schreie ausstieß und mit einem Staubsauger hantierte, dort ein Klavier-Part von Volksbühnen-Urgestein Sir Henry, der mit tiefschwarz geschminkten Augen einige Randbemerkungen beisteuerte.

Das Wichtigste an dem Abend, der mit geringem Vorlauf vorbereitet werden musste, war, dass endlich wieder vor Publikum gespielt werden konnte, so dass dramaturgische Holprigkeiten und lose Fäden der Nummernrevue weniger ins Gewicht fallen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/06/26/fruhsommerlicher-depressionszusammenhang-eine-peepshow-open-air-theater-volksbuhne-kritik/
Leserkritik: Der Bau, Münchner Volkstheater
"Der Bau" nach Franz Kafka, Regie: Mirjam Loibl, Münchner Volkstheater

Nach den ersten beiden Inszenierungen der Sommer-Volkstheater-Spielzeit, „Die Goldberg-Variationen“ in der Regie des Intendanten und „Das hässliche Universum“ von Sapir Heller, waren die Kritiker*innen positiv überrascht: statt des statischen, blutleeren Corona-Abstandstheaters, das viele für die Zeit nach der Wiedereröffnung bis zum erhofften Impfstoff befürchteten, freuten sich die Rezensent*innen über energiegeladenes, lebendiges Vollgas-Theater.

Am dritten Abend des Sommer-Volkstheaters war davon leider wenig zu spüren. Mirjam Loibl, die am benachbarten Resi als Assistentin von Ivan Panteleev und Frank Castorf erste Erfahrungen gesammelt hat, nahm sich Franz Kafkas kleine Erzählung „Der Bau“ vor. Ein nicht näher bezeichnetes Tier berichtet in diesem Monolog stolz, wie es sich ein unterirdisches Labyrinth anlegte und fleißig Vorräte ansammelte, verstrickt sich dabei aber immer tiefer in Paranoia und Furcht vor Eindringlingen.

In die Mitte der abgedunkelten Bühne wuchtete Thilo Ullrich ein turmartiges Gebilde. Die drei Spieler*innen Pola Jane O´Mara, Steffen Link und Jan Meeno Jürgens kriechen und krabbeln durch die schmalen Gänge und sprechen die Textpassagen abwechselnd oder im Chor. Diese spielerischen Momente live auf der Bühne machen jedoch nur einen Teil der einstündigen Inszenierung aus. Zentrale Passagen werden zum Hörspiel aus dem Off.

Anders als „Die Goldberg-Variationen“ wurde „Der Bau“ nicht im Garten, sondern passend zum Text im abgedunkelten Saal gespielt. Zur düsteren Stimmung des minimalistischen, spröden Kammerspiels passte, dass sich gemäß den geltenden Abstandsregeln nur ein kleines Häuflein in der dunklen Theater-Höhle verlor. Obwohl das Volkstheater mit seinen frischen Stoffen und seinem überdurchschnittlich jungen Ensemble üblicherweise auch eher ein junges Publikum anzieht, dominierte diesmal die Risikogruppe der Generation 60 plus. Sie untermalten das Kafka-Hörspiel mit ihrem Husten und verteilten ihre Aerosole großzügig: Keine guten Aussichten für den Herbst.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/08/07/der-bau-munchner-volkstheater-kritik/
Leserkritiken: Cyrano, Stream Graz
"Cyrano de Bergerac", Schauspiel Graz, online bis 28.8.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Bühnen setzt das Schauspiel Graz sein Streaming-Angebot fort und präsentiert eine drei Jahre alte Inszenierung. „Cyrano de Bergerac“ (Premiere: 10. Juni 2017) hat viel von dem zu bieten, was unterhaltsames Sommertheater ausmacht: einen bewährten, klassischen Stoff, den Regisseur Markus Bothe sehr werktreu und mit behutsamen Aktualisierungen auf die Bühne bringt, einen charismatischen Hauptdarsteller, sehr gut choreographierte Fechtszenen und vor allem die tolle Kulisse der Kasematten auf dem Grazer Schlossberg.

Links und rechts von einem langen Laufsteg ist das Live-Publikum nah am Geschehen dran: Der Steg wird zum Catwalk für die narzisstischen Posen des beschränkten Schönlings (Benedikt Greiner als Christian de Neuvillette) und zur Bühne für die Monologe des Cyrano de Bergerac, der sich an seiner Formulierungskunst berauscht und an seiner zu großen Nase fast ebenso leidet wie an der unerwiderten Liebe zu Roxane (Henriette Blumenau). Vor allem wird der Steg aber auch immer wieder zur Fecht-Planche, auf der sich die Akteure in von Renata Jocic choreographierten Kämpfen duellieren.

Der knapp zweistündige, pausenlose Abend wird von einem überzeugenden Ensemble getragen, aus dem Andri Schenardi in der Titelrolle des Cyrano besonders in Erinnerung bleibt. Er fiel schon 2011 als unberechenbar-lasziver Barmann in den „Murder Ballads“ des Konzert Theaters Bern nach den Songs von Nick Cave auf, und gastiert seit einigen Jahren regelmäßig in verschiedenen Inszenierungen in Graz.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/08/15/cyrano-de-bergerac-schauspiel-graz-theater-kritik/
Leserkritiken: Dialoge 2020, Berlin
"Dialoge 2020 – Relevante Systeme", Musik, Choreographie und Architektur mit Sasha Waltz & Guests. 20.-23. August, Radialsystem

Auf dem weitläufigen Gelände des Radialsystems am Spree-Ufer schallt die Stimme der Publizistin Carolin Emcke schon vor dem Beginn der Choreographie aus den Boxen. Sie trägt Passagen aus „Gegen den Hass“ vor, die sich mit dem Tod des asthmakranken Afroamerikaners Eric Garner befassen, der im Sommer 2014 im Würgegriff der New Yorker Polizei „I can´t breathe“ hervorpresste, bevor er starb.

Die weltweite Empörung über rassistische Polizeigewalt und Solidaritätsaktionen mit der „Black Lives Matter“-Bewegung erreichte in diesem Frühsommer nach dem Mord an George Floyd einen neuen Höhepunkt.

Eindringliche, kurze Szenen symbolisieren den Protest der Bewegung, die Bilder sind allerdings oft sehr naheliegend: ein schwarzer Sklave zerrt schwitzend einen Holzblock an Ketten hinter sich hier und liegt am Ende seiner Kräfte darauf, ein anderer Tänzer trägt nur noch Fetzen seiner durchnässten Kleidung und irrt über das Gelände. Stumme Verzweiflung verbindet diese Miniaturen, während der Trompeter Marco Blaauw (Ensemble Musikfabrik Köln) von einem erhöhten Punkt aus „I can´t breathe“ spielt: schmerzverzerrte, dissonante Töne, die der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas 2014 als Reaktion auf den gewaltsamen Tod von Eric Garner schuf. Die Staatsballett-Uraufführung seiner „Sym-Phonie 2020“, die Sasha Waltz für April geplant hatte, zählt zu den zahlreichen Premieren, die Corona zum Opfer fielen.

Eine verzweifelte, dissonante Grundstimmung prägt auch die kurze Unplugged-Version von „Sacre“ auf dem Rasen vor dem Radialsystem. Eigentlich sollte die Inszenierung, die Sasha Waltz im Oktober 2013 an der Staatsoper Berlin als Auftragswerk zum 100. Jubiläum der Uraufführung von Igor Strawinskiys Schlüsselwerk der Moderne konzipierte, dort im August wiederaufgenommen werden. Nachtkritik beschrieb den Abend damals als „hitzige Gruppenorgie“ voller „Küsse, Bisse, Umarmungen“, wie eine Zwischenüberschrift lautete. In der Corona-konformen halbstündigen Kurzfassung des Werks blieb davon natürlich nur noch das Skelett übrig.

Sehr vorsichtig tastend startete Sasha Waltz mit ihrer Compagnie und vielen freien Tänzer*innen in diese Corona-Spielzeit. Dramaturgisch wirkt der Abend wesentlich holpriger als wir es von den durchdachten Inszenierungen der Star-Choreographin gewohnt sind. Zwischen den drei Teilen des knapp 90minütigen Abends gibt es nur ein verbindendes Element: das Ausprobieren und Vorantasten, was in dieser Pandemie-Ausnahmesituation künstlerisch dennoch möglich ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/08/21/dialoge-2020-relevante-systeme/
Leserkritik: Meantime, Toula Limnaios, Berlin
"Meantime", Konzept/Regie: Toula Limnaios, Halle Tanzbühne Berlin

Durch einen märchenhaften Parcours lotsen Ute Pliestermann und Toula Limnaios, die Chefin der Compagnie, ihr Publikum. Beide tragen Kostüme von Stewardessen. Ähnlich wie nach dem Boarding erklärt Pliestermann mit grotesk überzeichneten, ausladenden, pantomimischen Bewegungen den Ablauf des 90minütigen Abends und die Corona-Abstandsregeln, die hier vorbildlich ernst genommen werden.

Als sich das Absperrband hebt, geht es zunächst in den Garten vor der Halle Tanzbühne. Eine sonore Stimme vom Band parodiert einen Museums-Guide und erklärt minutiös, an welcher Stelle wir welche archäologischen Schätze sehen können. Natürlich sehen wir davon nichts, natürlich ist das nur eine der ironischen Volten des Abends. Stattdessen setzt Alba de Miguel, mit Farbe beschmiert und mit gewaltigen Minotaurus-Hörnern auf dem Kopf, zu einem surrealen Tänzchen an.

Das Publikum steht in sicherer Entfernung. Frei nach Monty Python ist für jeden Gast ein Bambusstab reserviert: mit anderthalb Meter Sicherheits-Abstand zu den Nachbarn und bester Sicht auf das groteske Geschehen. Aus der ersten Bambus-Reihe löst sich plötzlich Francesca Bedin, sie stürzt zu Boden und liefert sich mit ihrer Bambusstange anschließend einen ritterlichen Wettkampf mit ihrem Tanzpartner Daniel Afonso.

Nächste Station ist das Erdgeschoss, wo sich Leonardo D’Aquino in einer Wasserlache und Kunstblut windet. Wie in vielen Choreographien der vergangenen Wochen, wie z.B. bei Sasha Waltz oder Marie Bues/Nicki Liszta, verkörpert er das von der Corona-Pandemie und den Konsequenzen des Lockdowns schwer gebeutelte, zuckende Subjekt. Als er sich nach dem letzten Aufbäumen müde auf dem Podest krümmt, übernimmt rechts neben ihm Hironori Sugata.

Er steckt in einem riesigen, knallroten Kostüm, irgendwo zwischen Michelin-Männchen und Virenschutzanzug, und kann sich nur schwerfällig-hampelnd bewegen, bis aus seinem Anzug die Luft entweicht. An die Hörner der Minotaurus-Figur knüpft schließlich Karolina Wyrwal an, die ein weiteres Fabelwesen verkörpert.

So grotesk-surreal wie das Figuren-Arsenal dieser „meantime“-Performance, die aus einer mythischen Zwischenwelt in unserer Pandemie-Zeit gelandet sind, ist auch die Tatsache, wie unterschiedlich streng die Corona-Regeln beachtet werden: In der Halle Tanzbühne bewegen sich Kleingruppen von maximal 21 Zuschauer*innen mit Masken und Abstand durchs Haus, während einige Straßenzüge weiter, in der Touri-Abfütterungsmaschine Umami, der Abstand längst auf Zentimeter geschrumpft ist und der Ballermann vom Prenzlauer Berg zu besichtigen ist. Dem Bezirksamt Pankow sind diese Zustände offenkundig egal und der Regierende Bürgermeister Michael Müller ist statt Krisen-Managements damit beschäftigt, die eigene Karriere zu retten, und deshalb verzweifelt auf der Suche nach einem Wahlkreis für den Bundestag.

Mit diesen Gedanken geht es streng auf Abstand und vorbei an den Desinfektionsmittel-Spendern ins Foyer im 1. Stock. Hinter Plastikfolien kauern dort Laura Beschi und Alessio Scandale, die einen wunderbaren Pas de Deux über das Ringen eines Paares aufführen. Sie erzählen eindringlich vom Herantasten, vom Begehren und vom Zurückweichen in dieser Beziehung, schwankend zwischen Harmonie, Trauer und Aggression.

Dieses Highlight des Abends ist unter Corona-Bedingungen natürlich nur möglich, da die beiden auch im echten Leben ein Paar sind und einen gemeinsamen Haushalt führen, wie es im Behördendeutsch heißt. Zwischen all den Soli, Monologen und streng auf Abstand bedachten Momenten ist dies eine tolle Erinnerung, wie mitreißend und körperlich Tanz und Theater hoffentlich bald wieder sein können.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/08/23/meantime-toula-limnaios-tanz-kritik/
Leserkritik: Jedermann Salzburg (ARTE TV online)
Eine enttäuschende, ideenlose Inszenierung mit operettenhaften Choreographien. Wäre da nicht Tobias Moretti als Jedermann gewesen, dann wäre ich vor Langerweile eingeschlafen. Die Schauspieler*innen haben gerettet was noch zu retten war, vor allen Edith Clever, Mavie Hörbiger, Peter Lohmeyer, Gregor Bloéb und Christoph Franken. Claudia Peters blieb erstaunlich farblos, was mich verwunderte. Tobias Moretti hat mich begeistert. Sein Spiel hat fasziniert und gefesselt. Dank den Schauspieler*innen war es dann kein sinnloser Theaterabend. Chapeau den Akteuren*innen, die diesen Abend, wo es machbar war, gerettet haben.
Leser*innenkritik: Jedermann, Salzburg
Es ist die Caroline Peters, keine Claudia, auch bekannt aus einer TV Serie.
Auf sie hatte ich mein Augenmerk gerichtet und glaube, dass sie da was versucht hat, was aber nicht kongruent mit der Inszenierung (die sich auch irgendwie uneins zu sein schien) hinhaute...
Trotzdem hatte ich das Gefühl, da hat eine (Schauspielerin) mal was versucht, gegen das Übliche.
Der Tod vom Lohmeier - nee, androgyn von mir aus, aber dieses outfit, unpassend, unerklärt.
Moretti hat sich alle Mühe gegeben, aber im TV seh ich ihn mir lieber an. Ein paar gute Schauspieler dabei, ja, aber sonst nix besonderes.
Stream, Schwimmen nach Weimar: fabelhaft
Schwimmen nach Weimar von Steve Karier auf dem Kunstfest Weimar auch als online-stream. Ein unterhaltsamer Abend mit viel Wissenswertem und tollen Anekdoten und Geschichten. Diese Idee war fabelhaft und die 90 Minuten vergingen wie im Fluge. Weimar als Kulturmetropole Europas mit Punk-Appeal. Danke Steve Karier und nachtkritik für diesen online-stream.
Leserkritik: Staatsballett Berlin, 2 Premieren
Leserkritik: "From Berlin with Love I", Deutsche Oper Berlin und "Lab_Works Covid_19", Komische Oper Berlin (Eröffnungspremieren des Staatsballetts Berlin)

Das Staatsballett Berlin hat besonders unruhige Monate hinter sich: erst trat das Intendant*innen-Duo Johannes Öhmann/Sasha Waltz zurück, dann legte die Corona-Pandemie den gesamten Spielbetrieb lahm.

Unter der Interims-Intendanz von Dr. Christiane Theobald machte das Staatsballett aus der Not eine Tugend und startet mit einem Premieren-Triple, das auf die drei Berliner Opernhäuser verteilt ist, in die neue Spielzeit. Den Auftakt machte die Gala „From Berlin with Love Vol. I“ an der Deutschen Oper. Dieses bunte Potpourri verzichtet bewusst auf einen roten Faden oder dramaturgische Bögen. Die entscheidende, dankbar beklatschte Botschaft dieser Gala aus 10 Einzel-Nummern, die meisten davon als Soli, lautet: Wir sind wieder da!

Die Choreographien aus der Isolation“, die eine Woche später in der Komischen Oper uraufgeführt wurden, bieten eine erstaunliche Bandbreite: Ross Martinson erzählt in seinem komödiantischen Solo „The Zero“ vom Individuum, das ganz auf sich zurückgeworfen ist. In „LOve distaNT“ verhandeln Marco Arena und Vivian Assal Koohnavard mit Seilen, wie viel Nähe die Corona-Regeln zulassen und wie viel Abstand notwendig ist.

Für das Finale hat Johnny McMillan mit sechs Kolleg*innen „Parliament“ einstudiert: eine Masse wogender, ekstatisch zuckender Körper im Stil von Sharon Eyal, aber auf die Corona-Zeit übersetzt: Jede*r einzelne ist für sich, isoliert.

Ein Glücksfall für das Staatsballett Berlin ist, dass – genauso wie bei der Compagnie Toula Limnaios – einige Ensemble-Mitglieder im selben Haushalt zusammenleben. So waren in beiden Fällen einige mitreißende Passagen möglich, die ganz auf Corona-Abstand verzichten können. In „Waves of Flesh“ erzählen Dana Pajarillaga und Lukas Malkowski, wie sie gemeinsam als Paar die Zeit des Lockdowns durchlebten.

Als Momentaufnahme nach den ersten Premieren der Berliner Corona-Spielzeit bleibt folgender Eindruck: In den Sprechtheatern wurde spürbar, wie eng das Korsett der Corona-Regeln sein kann. Einigen Abenden war deutlich anzumerken, dass sie verzweifelt nach Auswegen suchten, wie die Pr-Corona-Plänte trotz der ungewohnten Abstandsregeln umgesetzt werden können. Das endete z.B. in vorproduzierten Videos, wirkte manchmal hölzern und leblos.

Zum Auftakt der Tanz-Saison war wesentlich mehr Lebendigkeit und Spielfreude zu spüren. Mit den Corona-Regeln gingen die Tänzer*innen entweder offensiv-ironisch um oder sie waren gar nicht relevant, da die Akteur*innen liiert sind oder in einer WG leben. In den besten Momenten dieser Tanz-Abende schien Corona plötzlich ganz weit weg und kein Thema mehr zu sein.

Aber noch einen entscheidenden, atmosphärischen Unterschied gab es zwischen den Berliner Bühnen: Während die Sprechtheater konsequent jede zweite Reihe herausnahmen, platzierte das Staatsballett sein Publikum in der Deutschen Oper und Komischen Oper in einer Art Schachbrettmuster. Die großen Lücken im Sprechtheater verstärkten die Gefühle von Isolation und Ausnahmezustand, der Applaus klang spärlich und dünn, und die Stimmung drohte zu vereisen, wie ein Kommentator auf Nachtkritik nach der Pollesch-Premiere treffend schrieb.

In den Opernhäusern brandete immer wieder Zwischenapplaus auf, der wegen der besseren Verteilung und geringeren Abstände des Publikums voller und wätmer klang. Hier könnte aber die Politik schon bald Abhilfe schaffen: Sabine Bangert, die Vorsitzende des Kulturausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus, hat auf Twitter angekündigt, dass nach den Salzburger Erfahrungen diskutiert wird, ab wann man wieder zumindest zu 50 % volle Säle wagen kann.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/08/27/from-berlin-with-love-und-lab_works-covid_19/
Leserkritik: Under Pressure, Berlin
"Under Pressure", Performance von Henrike Iglesias, Sophiensaele.

Vor Ort im Festsaal oder am heimischen Rechner kann man an der knapp 90minütigen Performance „Under Pressure“ teilnehmen.

Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth werden von einem Trio am Regie-Pult (Anna Fries, Eva G. Alonso und Malu Peeters) durch einen Parcours typischer Casting-Show-Aufgaben gehetzt. Über den drei Aspirantinnen ergießen sich derbe, ätzende Kritik im Stil von Dieter Bohlen und austauschbare Kalenderspruchweisheiten á la Heidi Klum.

Im engen Takt eines Hamsterrads folgt Abstimmung auf Abstimmung. Wer von den dreien hat die Publikums-Jury bei der jeweiligen Teilaufgabe am ehesten überzeugt: Laura, Marielle oder Sophia?

Als Parodie auf das Casting-Show-Format und Kritik am Turbokapitalismus ist das für ein paar Runden durchaus unterhaltsam. Die entscheidende Schwachstelle thematisieren die Performerinnen gleich selbst mit. Sie nehmen der Kritik den Wind aus den Segeln und ihren Abend auf die Schippe, als sie kurz vor der finalen Abstimmung über zwei Schlussvarianten das Fazit ziehen: Oh, jetzt ist genau das eingetreten, was die Jury beim Auswahl-Pitch in Basel prognostizierte: Das Format der ständigen Abstimmungsschleifen trägt nicht über einen gesamten Theaterabend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/09/11/under-pressure-sophiensaele-kritik/
Hinweis: Ruhrtriennale im Stream, Pieces of a Woman
"Pieces of a woman", Kornél Mundruczó/ Kata Wéber, Ruhrtriennale/Video on Demand

Ohne Corona hätte die Theater-Inszenierung, die Regisseur Kornél Mundruczó und Autorin Kata Wéber im Dezember 2018 für das TR Warszawa erarbeitet haben, in der kommenden Woche ihre Deutschlandpremiere in der Jahrhunderthalle Bochum gehabt. Da die Ruhrtriennale frühzeitig abgesagt wurde, gibt es nur einen Mitschnitt als Online-Angebot (bis Sonntag, 20 Uhr).

https://www.ruhrtriennale.de/de/nieuws/201/Save_the_date_Pieces_of_a_Woman_als_Onlineangebot

Das Stück, in dem das ungarische Paar autobiographische Erfahrungen aufarbeitet, zerfällt zu sehr in seine Einzelteile. Die ersten 30 Minuten sind ein hyperrrealistisches, drastisches Live-Video der Wehen einer Frau, die auf einer Hausgeburt besteht und ihr Kind verliert. Schnitt, Zeitsprung sechs Monate später: Die folgende Stunde schleppt sich als banale Soap dahin. Eine Familienfeier im Haus der Mutter des Paares, das die Fehlgeburt erlitten hat. Die Dialoge drehen sich um private Problemchen, die katholische Kirche in Polen und David Bowie schleppen sich zäh dahin: hölzern, verqualmt und altbacken.

Das Finale bildet die Konfrontation zwischen Tochter und Mutter, ihr Streitgespräch war die Keimzelle und erste Projektskizze für den Abend, der die Kurve nicht mehr bekommt. Schleierhaft, wie diese Produktion es schaffte, als beste polnische Inszenierung des vergangenen Jahres ausgezeichnet zu werden.

Mundruczó stellte vergangene Woche im Wettbewerb des Film-Festivals von Venedig eine Filmfassung von "Pieces of a woman" vor: die Handlung wurde von Warschau nach Boston und auf Englisch mit Stars wie Shia LaBoeuf gedreht. Vanessa Kirby wurde mit dem Silbernen Löwen als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet, Netflix sicherte sich bereits die Rechte an dem Drama.
Leserkritik: Play Strindberg, DT Berlin
"Play Strindberg" von Friedrich Dürrenmatt, szenische Lesung am DT Berlin, eingerichtet von Adrian Linz

In diametralem Gegensatz zum Glamour der berühmten Spieler*innen steht die minimalistische Form dieses knapp 80minütigen Abends: streng auf Abstand sitzen die drei Ensemble-Mitglieder des Deutschen Theaters Berlins an spartanischen Tischen und tragen den Text als szenische Lesung vor. Nur der Plüsch-Vorhang und die historisierenden Kostüme im Stil des 19. Jahrhunderts setzen einen Kontrapunkt zur Corona-bedingten Kargheit des Abends.

Friedrich Dürrenmatt schrieb „Play Strindberg“ als kleine, böse Fingerübung und Übermalung des Strindberg-Klassikers „Totentanz“ im Jahr 1969. Seitdem wird diese Ehehöllen-Komödie nur selten gespielt und steht im Schatten bekannterer Vorbilder wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, da Dürrenmatt mehr mit dem Holzhammer als mit dem Florett operierte.

Aber der schnelle Schlagabtausch der Bühnenstars hat seinen Reiz: „Play Strindberg“ ist ein vergnüglicher, kleiner Abend und eine sichere Bank im Corona-Repertoire. Die Alice der Sophie Rois faucht und kreischt, versetzt ihrem Partner spöttische Hiebe und wünscht ihm die Pest und den Tod an den Hals, wenn der Edgar des Ulrich Matthes nach einer exzentrischen Tanzeinlage oder einem Mansplaining-Solo über die Geschichte der Kriegskunst wieder einmal in Ohnmacht fällt. Sie hauen sich ihr Versagen um die Ohren und demütigen sich bei jeder Gelegenheit.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/09/13/play-strindberg-szenische-lesung-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritik: Pieces of a Woman, TR Warszawa
Kornél Mundruczó’s „Pieces of a Woman“ wurde als Stream gezeigt. Ein starkes Drama, das für das TR Warszawa geschrieben wurde. Diese Inszenierung wurde 2019 als beste polnische Produktion des Jahres mit dem Grand Prix des Festivals Boska Komedia ausgezeichnet. Die Inszenierung gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil geht es um die Hausgeburt eines Kindes. Hautnah versucht Mundruczó mit zwei Frauen und einem Mann diese Story auf die Bühne zu bringen. Ihm gelingt das Miterleben einer Geburt mit allen Höhen und Tiefen – Angst, Schmerz, Freude, Lachen und Weinen. Die Schauspielerinnen und der Schauspieler verkörpern dies absolut authentisch und ergreifend. Schließlich endet die komplikationslose Geburt mit dem Schrecken des Kindstods. Spannende, ergreifende 30 Minuten. Im zweiten Teil geht es um ein Familientreffen einer alternden Mutter mit ihren zwei Töchtern und deren zwei Männer. Beim Treffen wird das nach der Geburt verstorbene Kind zum Konfliktkatalysator polnischer Gesellschaftswidersprüche. Konflikte zwischen religiös-nationalistischer Haltung und nonkonformistischer Lebensweise sowie neoliberalen Ansprüchen und finanziellen Einschränkungen. Angelpunkt dieses Dramas ist der Kampf von Frauen für ihr Recht auf eigene Entscheidungen über ihr Leben. Es geht um Fragen wie: Wie motiviere ich mich für meinen Kampf um ein selbst bestimmtes Leben? Welchen Preis zahlt man dafür? Was macht Frauen kraftvoll? Wie erreichen Sie ihre persönliche Freiheit und ihr selbst bestimmtes Leben? Mundruczó inszeniert dies direkt mit Mitgefühl und Anteilnahme, bei allen Verletzungen und Grausamkeiten auf diesem Weg zu einem selbst bestimmten Leben. Realistisch sind die Szenen der Hausgeburt und die Bürgerwelt im zweiten Teil wird unverschlüsselt zur Schau gestellt, in der Form von modernen Soaps. Volkstheater im besten Sinne des Wortes: direkt, ergreifend, faszinierend und politisch relevant.
Leserkritik: Glückliche Zeiten, Rendsburg
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater eröffnete die Spielzeit 20/21 unter neuer Leitung (Dr. Ute Lemm, Generalintendantin und Geschäftsführerin) am 12.9. mit Alan Ayckbourns „Glückliche Zeiten“ im Schauspiel. Man setzt auf einen Dramatiker, der Unterhaltung mit gesellschaftlicher Kritik verbindet und damit ein breites Publikum erreicht. Alan Ayckbourn liebte nach eigenen Aussagen todernste Stücke, bei denen die Zuschauer aus dem Lachen nicht herauskommen. Wolfgang Hofmann greift diesen Gedanken Ayckbourns auf und inszeniert „Glückliche Zeiten“ als ernsthafte Familiengeschichte. Dieser Weg ist gangbar und verlangt den Schauspielern*innen einfühlsame, ernsthafte Dialogarbeit ab. Charakterzeichnung statt Komödienstadel und so entsteht Unterhaltung, die auf Zweierbeziehungen reflektiert. Unterstütz wird dieses Regiekonzept durch ein realistisches Bühnenbild und Kostüme, die den Personen angemessen sind aber nicht komödiantisch überzeichnen (Martin Apelt). Dieser Ayckbourn ist ein Konversationsstück. Es lebt von den Dialogen zwischen G. Stratton (Felix Ströbel), Inhaber einer Bau- und Transportfirma und seine Frau Laura (Beatrice Boca), zu deren 54. Geburtstag sich die Familie in einem Restaurant versammelt hat; Sohn Glyn (Christian Hellrigl), der mit seiner Frau Stephanie (Kristin Heil), einen Neuanfang ihrer brüchigen Ehe versuchen; Sohn Adam (Steven Ricardo Scholz), der seine nicht "standesgemäße" Freundin, die Friseurin Maureen (Kimberly Krall), erstmalig der Familie präsentiert. Ayckbourn erzählt die Story in Bruchstücken und zu unterschiedlichen Zeitpunkten, was diese Familiengeschichte spannend macht, da sich die Beziehungsabgründe dem Zuschauer nur langsam erschließen und somit Überraschungen an der Tagesordnung sind. Es geht ständig um Fragen wie: Wer liebt wen? Wer hasst wen? Und Warum? Die einzig komische Figur ist der überzeichnete, slapstickende Kellner (Dennis Habermehl). Die Inszenierung hätte auf diesen Regieeinfall verzichten können. Der Abend wäre stringenter gewesen und man hätte nicht den Eindruck gehabt, dass man verzweifelt nach komödiantischen Elementen gesucht hatte. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind es, die diesen Abend interessant machen, indem sie Ayckbourn ernst nehmen und daraus Situationskomik entsteht, die einen schmunzeln läßt. Das schauspielerische Erlebnis dieses Abends ist aber Beatrice Boca als Laura. Ihre Laura ist ein Biest, dem alle Männer dieses Familienclans hörig sind. Glückliche Zeiten gelingt, durch die Präsenz der Schauspieler*innen und Ihnen gilt der Dank für diesen Abend.
Leserkritik: Erdbeben in Chili, Nürnberg
Hörbuch mit Bildschirmschoner

Mit Sicherheitsgurt und angezogener Handbremse startet das Nürnberger Schauspiel in die Corona-Saison 2020/21: kleine Produktion, k(l)eine Bühne, kleines Publikum - zu dem aber immerhin der bayerische Kulturminister Sibler, der OB König und die Bürgermeisterin Julia Lehner gehörte.
Schauspieldirektor Gloger hatte für den Auftakt Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ausgesucht und als rudimentär szenisches Lesedrama für drei Schauspieler einstudiert. Bei Kleists 19 Reclam-Seiten (veröffentlicht 1806) geht es um die emotionale Achterbahn-Fahrt des Paares Jeronimo und Josephe samt ihrem unehelichen Kind Philipp. Wegen sittenwidrigem Verhalten soll sie mit Enthauptung bestraft werden, er plant im Gefängnis seinen Selbstmord. Doch ein verheerendes Ereignis, das Erdbeben, das 1647 in St. Jago (= Santiago de Chile) stattfindet, bedeutet für die beiden die überraschende Rettung und das erfreute Wiederfinden: „Wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden“. Aber die Idylle und der Glaube, dass der menschliche Geist gerade angesichts einer Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume“ aufgehe, währen nur kurz. Beim Dankgottesdienst (wofür?) in der Kirche kommt es zu einer Hasspredigt des Geistlichen gegen die Sittenverderbnis der Stadt, der aufgehetzte Mob verfällt sofort wieder in alte aggressive Verhaltensmuster und ermordet das sündige Paar mit Keulenhieben. Nur der kleine Philipp überlebt, er wird von Don Fernando als Pflegesohn angenommen - vielleicht ein Ausblick auf eine bessere Zukunft der Menschheit?
Bezüge zur gegenwärtigen Pandemie lassen sich da zweifellos finden, Kleist sprachlich fesselnde und ergebnisoffene Grübelei über Theodizee und die Dialektik der Weltgeschichte angesichts der Abläufe der Französischen Revolution lädt zur vertiefenden Nachbesprechung ein - was leider (noch) nicht in den Räumlichkeiten des Staatstheaters möglich ist!
Drei Ensemble-Mitglieder in leicht historisierender Schwarz-Weiß-Kleidung sprechen die Novelle ohne jede Kürzung vor einer schmucklosen silbergrauen Bretterwand (Bühne und Kostüme: Tanja Berndt), die kurz mit Morgenröte, häufiger mit Tageslicht oder Nachtdunkel angestrahlt wird: Pauline Kästner bewegt sich meist in der „Rolle“ der Josephe, Amadeus Köhli meist in der „Rolle“ des Jeronimo, Sascha Tuxhorn erledigt mit partieller Verstörung die erzählerischen Abschnitte und das heldenhafte Auftreten des Don Fernando. So entsteht der diskrete Charme eines Hörbuchs mit Bildschirmschoner und netter Hintergrundmusik - nach 55 Minuten ist alles vorbei.
Wer Lust zu einer vergleichenden Theaterfahrt hat, kann nach München reisen, wo das Residenztheater mit dem gleichen Text die Saison am 25. September eröffnen wird. Die Regie von Ulrich Rasche verspricht immerhin mehr Bühnenspektakel, mehr chorische Intensität und mehr musikalisches Drama.
Nürnberg spielt eben in dieser Saison zunächst mal in der 2. Liga!?
Leserkritik: GRIMM, SHL Flensburg
In Flensburg eröffnete das Schleswig-Holsteinische Landestheater am Samstag mit dem Musical „Grimm“ und landet seinen ersten Volltreffer. Der ehemalige Flensburger Abiturient Peter Lund Autor und Regisseur, des 2015 mit dem Musical-Preis bestes Buch ausgezeichneten Musicals „Grimm“, begeisterte mit seiner Inszenierung das Publikum. Grimm ist eine aktuelle Sicht auf Grimm´sche Märchen. Es ist die Geschichte von Gut und Böse, in der die Boshaftigkeit des Wolfes infrage gestellt wird. Peter Lunds „Grimm“ ist nicht nur ein Märchen für Kinder, sondernd auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Grimm ist die Geschichte eines echt coolen Typen, der nicht für die Dorfgemeinschaft gefährlich ist, weil er diese fressen will, sondern weil er unabhängig und frei lebt. Hören wir genau hin, wenn Grimm behauptet, der Mensch sei das gefährlichste Lebewesen auf unserem Planeten. Auf der anderen Seite die Dorfgesellschaft, die sich ihre Feindbilder selbst schafft, und vor allem Schweinchen Schlau mit seinen diktatorischen Parolen und Intrigen, was Assoziationen an Animal Farm wachruft. Großmutter Eule bringt Geheimnisse ans Tageslicht, was dazu führt, dass sich beide Seiten besser kennenlernen und sie hält ihnen einen Spiegel vor, damit sie sich ihrer eigenen Fehler bewusst werden. „Grimm“ ist eine Charakterstudie ohne Schwarz-Weiß-Malerei aber ein Relativieren von Gut und Böse. Peter Lund hat ein farbenfrohes voller Leben sprühendes gesellschaftskritisches Märchen auf die Bühne gezaubert. Allein das Bühnenbild mit Dorf und Wald, durch bespielbare Wortzüge, ist ein Ort zum Träumen. Die Sänger in Ihren Rollen sind alle bezaubernd und es wäre ungerecht jemanden heraus zu heben. Es ist die perfekte Ensembleleistung die fasziniert. Somit begeisterten in ihren Rollen: Dorothea, genannt Rotkäppchen: Sandra Leitner; Grimm, ein junger Wolf: Tristan Giovanoli; Sultan, der alte Hofhund und Bürgermeister: Kai-Moritz von Blanckenburg; Rex, Sultans Sohn: Rastislav Lalinský; Gisela Geiß, alleinerziehende Mutter / Oma Eule: Eva Schneidereit; Schweinchen Schlau: Riccardo Romeo; Schweinchen Dicklinde: Lucille-Mareen Mayr; Schweinchen Didi "Doof": Nico Went; Schweinchen Wild: Kiara Brunken; Die Geißlein: Alanah Chrispeel, Jana Marth, Suay Neuburger, Victoria Zyffert. Grimm ist ein Feuerwerk an Lebensfreude und thematisiert unsere gesellschaftlichen Probleme auf charmante Art und Weise. Themen wie Genderdiskussion, Migration, Fremdenhass, Populismus, faschistoide Tendenzen, Vorurteile und vieles mehr, werden in lebendigen, bezaubernden Bildern thematisiert. Ein Übriges tut die Musik von Thomas Zaufke, dargeboten von der GRIMM!-BAND: Gitarre: Matthias Strass / Frederik Schlender; Trompete: Ralf Schlingmann/ Matthias Winning; Reeds: Achim Schröter / Detlef Raschke; Bass: Volker Linde / Björn Mummert; Schlagzeug: Johannes Graner; Klavier: Borys Sitarski / Peter Geilich / Robert Lillinger / Yohan Kwon; Synthesizer: Peter Geilich / Robert Lillinger / Yohan Kwon. Viele musikalische Einflüsse lassen sich erkennen und so entsteht ein flotter Mix aus unterschiedlichen Stilrichtungen. Postmoderne Musical-Musik mit Ohrwürmern und Duetten mit Foxtrott und Charleston-Rhythmen. Dieses von der ersten Minute bis zum Ende pulsierende Musical hat kein kitschiges Happy-End sondernd die Einsicht, dass es nicht die eigene Vorstellung ist, sondern gemeinsame Interessen sind, die Freundschaften begründen. Glänzende Unterhaltung, die uns alle unsere Schwächen präsentiert und für Toleranz und Verständnis für das Andersartige auf charmante Weise wirbt. Seien wir wie Schweinchen Dicklinde Realisten aber mit ein bisschen Märchen. Grimm wurde vom Publikum begeistert gefeiert.
Leserkritiken: Erdbeben Nürnberg
was für eine blöde „Kritik“ zu Erdbeeben. Als würde sich Qualität am Theater über den Aufwand und das Spektakel messen. So ein Quatsch. Wie viele tolle Abende der „ersten Liga“ kommen ohne U.Rasches Getose aus, wie bei Gloger, wo es um Feinheiten und wirklich um Sprache geht.
Leserkritik: GRIMM, SHL Flensburg: Nachtrag
Lieber Herr Schmedemann,
in Ihrer namentlichen Aufzählung der einzelnen Ensemblemitglieder fehlt die musikalische Leitung, der Generalmusokdirektor des Landestheaters, Kimbo Ishii, der der GRIMM-Band alle musikalischen Facetten dieses Stückes, von Barock bis Broadway, entlockte.
Leserkritik: Nathan der Weise, Rendsburg
Lessings „Nathan der Weise“ ist das Sinnbild für Toleranz. Er ist der utopische Entwurf einer Welt voller Toleranz und Humanität, in einer Welt voller Dissonanzen. Das Verbot des Braunschweiger Herzogs, weitere Schriften gegen den Hamburger Hauptpastor Goeze zu verfassen, veranlasste Lessing das Problem des Wahrheitsanspruchs der Religionen in einem Theaterstück abzuhandeln. Zentrum des Dramas ist die von Boccaccio stammende Ringparabel, in der die Frage nach der wahren Religion behandelt wird. In der Ringparabel wird das theoretische Problem des Wahrheitsanspruches der Religionen weder mittels Vernunftgründen, die für die Wahrheit einer der drei Religionen sprechen, noch durch die Hinwendung zu einer Vernunftreligion gelöst. Die Forderung nach Toleranz und Humanität sind die Gradmesser für den wahren Glauben. Lessing fordert in seinem Nathan kritische Vernunft, die als einzige Autorität nur sich selbst verpflichtet ist. Lessings Anspruch an seinen Nathan war die Hoffnung, dass der Mensch an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zu zweifeln lernt. Was macht man aus diesem Nathan in unserer Zeit? Es beginnt mit vermummten Gestalten, die die Rollläden eines Kiosks mit den Worten Juden beschmieren. Wer denkt da nicht voller Grauen an die Reichspogromnacht 1938 oder an rechtsradikale, faschistoide Gruppen in unserer Zeit, oder wenn der Patriarch immer wieder fordert „Der Jude wird verbrannt!“, dann denkt man mit Grauen an Auschwitz. Doch so zeitbezogen bleibt Alexander Marusch im Fortgang seiner Inszenierung nicht, obgleich weltweite Konflikte, Kriege und Hass unter den Menschen an der Tagesordnung sind. Er verortet die Story in einer gegenwartsnahen Zeit. Die Bühne ist trist und besteht aus einem quaderförmigen, grauen Kiosk, der mit metallenen Rollläden verschlossen ist (Bühne und Kostüme: Carola Reuther). Ein trostloser Ort an dem man nicht auf glückliche Zeiten hoffen kann. Das Bühnenbild schafft ein karges Setting einer düsteren Zeit. In diesem Umfeld inszeniert Alexander Marusch ein politisch entschärftes Toleranzbekenntnis. Lessings „Nathan“, ein schöner Traum, dass sich drei Weltreligionen versöhnen, doch impliziert dieser Apell einen dialektischen Pferdefuß! Theorien in denen alles funktioniert sind verführerisch, nur leider kommt in der Realität, der Mensch störend dazwischen. Diese Konflikthaftigkeit fehlt der Inszenierung weitgehend und Hass und Ängste bleiben Randfiguren. Stattdessen setzt sie den Diskurs über Toleranz und Humanität in den Mittelpunkt. Ein durchaus gangbarer Weg, der aber nicht immer fesselt. Lessing war kämpferischer, der Islam war für ihn das Gegenbild zu Goezes Offenbarungslehre, eine Religion ohne heilige Geheimnisse, eine Religion strengster Vernunft, die keine Wunder zur Rechtfertigung braucht. Lessings Text enthält aktuelle Fußangeln, wo einem der Atem stockt, wenn der Patriarch sagt: „Denn ist nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? – Zu sagen: - ausgenommen, was die Kirch an Kindern tut.“ Da denkt man doch zwangsläufig an Übergriffe an Kindern durch kirchliche Würdenträger. Schauspielerisch sind zu erwähnen Reiner Schleberger als Nathan und Marek Egert als Tempelherr. Sie geben ihren Figuren in einigen Szenen scharfe Konturen durch starke, emotionale Momente, die von Ängsten und Hass zeugen. Dort deutet sich an welche Gegensätze bestehen und welche Energie nötig ist, um sie zu tolerieren. Reiner Schlebergers Erzählung der Ringparabel ist die Suche nach Wahrheit und ein Plädoyer für Toleranz und Humanität. Auch heute ist der Wunsch nach Frieden zwischen den Religionen existent; denn sie bringen immer noch Uneinigkeit in unsere säkulare Welt und Menschen verschiedener Kulturen und unterschiedlichen Glaubens treffen in unserer globalisierten Welt immer häufiger aufeinander. So gesehen ist Nathan heute relevant, um sich der Notwendigkeit von Toleranz und gegenseitigem Anerkennen, in Zeiten von Hass und Angst, bewusst zu werden.
Leserkritik: Spielzeiteröffnung in Hof
Spielzeiteröffnung in Hof:
Vorgesehen ist eine Musiktheater-Uraufführung- der Kopf der Kultband „Tiger Lillies“, Martyn Jaques, hat für Hof eine sehr eigene Fassung von Wilhelm Hauffs Kapitalismus-Kritik-Märchens „Das kalte Herz“ komponiert.
Es gibt bildgewaltiges Theater mit Orchester, Ballett, sogar Akrobaten - keine Selbstverständlichkeit in Zeiten von Abstand und Reduktion.
Nein, der Intendant des Theaters Hof wird nicht seine eigene Inszenierung rezensieren.
Ja, der Intendant hätte sich mehr Präsenz überregionaler Vertreter der Medien (Z.B. Nachtkritik) gewünscht.
Ging es doch hier nicht nur um eine Uraufführung, mit der wir mutig genug waren, in Hof eine Spielzeit zu eröffnen.
Es ging um mehr: Da in Hof das Theatergebäude saniert wird, spielen wir eine Saison in einer Interim-Spielstätte, der Schaustelle, einer extra zu diesem Zweck gebauten Leichtbauhalle direkt am Theatergebäude angedockt.
Ein Fanal der lokalen und regionalen Kulturpolitik, die auch vor Corona nicht einknickt, einen solchen Bau nicht stoppt, sondern sagt: Die Kunst braucht ein Zuhause.
Auch über diese - aus meiner Sicht beispielhafte! - Haltung wäre aus kulturpolitischer Sicht zu berichten gewesen. Sei‘s drum, Hof ist offensichtlich nicht „In“ genug.
Aber ich schreibe diese Zeilen nicht aus gekränkter Eitelkeit heraus (und wenn, dann nur mit einem absolut notwendigen Maß, denn die offenbar so wahrgenommene „Provinz“ lebt), sondern weil ich überregional nicht unbeobachtet wissen will, dass wegen baulicher und rechtlicher Schwierigkeiten in der Umsetzung des Baus des Interims die Premiere kurzfristig (binnen 24 Stunden) in ein benachbartes Theater nach Selb verlegt werden musste - in einer Abstecherfassung (bestes Landesbühnendeutsch, das vielleicht nicht jedem etwas sagt), aber immerhin: Die Premiere fand statt, auch die nächsten Vorstellungen sollen so gespielt werden.
Die Hoffnung bleibt, dass wir doch eine Spielzeit im Interim spielen dürfen. Es steht auf Messers Schneide.
In Freiburg (das mit Hof das Stück gemeinsam in Auftrag gab) folgt zeitnah die 2. Produktion von Martyn Jaques Stück, in einer ganz anderen Fassung: Beide Häuser erschaffen eigene Varianten.
Ich wünsche den Freiburger Kollegen, dass die überregionale Fachpresse mehr Notiz nimmt (und bin mir dessen fast sicher) und ich wünsche mir für die Zukunft ein genaueres Hinsehen, was in einer vielfältigen Theaterlandschaft los ist.
Es würde den vielen Künstlern und Theaterleitern, die abseits der Zentren versuchen, mutige Wege zu gehen, helfen.
Die Premiere war übrigens ein (ausverkaufter) Erfolg. Das Publikum will Theater, vermisst Theater. Das zumindest und die Künstler, denen ich ob ihrer Leidenschaft und Hingabe dankbar bin, macht auch in diesen Tagen Theater aus.
Provinz im Kopf
Provinz findet im Kopf statt, zwischen den Ohren. Auf der Landkarte heißt die Gegend Peripherie. Das Theater Hof arbeitet alles andere als provinziell, mag es im nordöstlichen Bayern, in Hochfranken, auch abseits von den Ballungszentren und Metropolen arbeiten. Eine ausführliche Kritik der spekatulären Produktion findet sich auf der neuen, unabhängigen, werbefreien und kostenlos zugänglichen Website https://www.hochfranken-feuilleton.de.
Leserkritik: Golden Years, Berlin
"Golden Years" im Wintergarten Berlin. Corona-Regeln im Varieté und Sprechtheater.

Zunächst wirkt alles vertraut, wie wir es aus der „neuen Normalität“ der vergangenen Monate gewohnt sind: Einlass ins Foyer nur mit Maske. Pfeile am Boden dienen als Einbahnstraßen-Leitsystem: in den Saal geht es nur rechts, für den Weg hinaus soll man die linke Seite nutzen. Natürlich muss man im Wintergarten die üblichen Kontaktformulare ausfüllen, damit die Gesundheitsämter die Infektionsketten im Fall des Falles nachverfolgen können.

Doch sobald man den Saal betritt, traut man seinen Augen nicht. Während in den Theatern große Lücken klafften und zahlreiche Stühle abmontiert wurden, sitzen hier wildfremde Menschen an den Tischen eng zusammen. Sicher: zwischen den einzelnen Tischen muss der Abstand von 1,5 m eingehalten werden. Aber es ist angesichts rasant steigender Zahlen doch ein sehr mulmiges Gefühl, dass wir uns im Wintergarten Varieté ohne jeden Sicherheitsabstand und ohne Maskenpflicht gemeinsam am Tisch wiederfinden – ganz so, als ob wir 2019 hätten und nicht mitten in einer Pandemie wären.

Bevor es losgeht, kommt Varieté-Geschäftsführer Georg Strecker gut gelaunt auf die Bühne und erklärt, warum das Publikum im Wintergarten so viel enger platziert ist. Erstens habe man eine High-Tech-Lüftungsanlage, die 100 % Außenluft-Austausch sicherstelle. Und zweitens sei der Wintergarten das größte „Verzehrtheater“ Berlins: da am Platz Speisen und Getränke serviert werden, gelten für das Varieté-Theater die wesentlich laxeren Abstands-Regeln für die Gastronomie.

Während im Deutschen Theater Berlin und im Berliner Ensemble gespentische Lücken klafften und erst nach langen Diskussionen ein Abstand von 1 Meter zwischen Zuschauer*innen aus unterschiedlichen Haushalten genehmigt wurde, sofern die Masken auch während des Stücks getragen werden, sitzt das Wintergarten-Publikum schon wieder fröhlich nebeneinander.

Diese Corona-Regeln verstehe, wer mag. Sie werden sicher nicht zu mehr Akzeptanz beitragen und die zahlreichen Ausnahmeregeln laden zu Gedankenspielen ein: Wird Oliver Reese seinen Anwalt Peter Raue damit beauftragen, eine Schank- und Gastro-Lizenz für Brechts Theater am Schiffbauerdamm zu erstreiten? Werden wir dann zu Frank Castorfs „Fabian“ im vollen Saal ein 6-Gang-Menü serviert bekommen?

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/10/03/golden-years-wintergarten-revue-kritik/
Leserkritik: Fall der Götter, Heilbronn
Mit der Premiere von 'Der Fall der Götter' eröffnete das Theater Heilbronn die neue Spielzeit. Marc von Henning inszeniert die Geschichte der Familie Krupp während der Zeit der Machtergreifung Hitlers und lässt sich dabei u.a. inspirieren von Macbeth und Luchino Viscontis Filmkunstwerk 'Die Verdammten'.

Die scheinbar große Frage vorab war natürlich, wie gelingt Theater unter Corona Bedingungen. Die Antwort dazu ist so vielschichtig wie die Inszenierung selbst. Alle Mindestabstände auf der Bühne werden eingehalten, obwohl das Konzept - laut Marc von Henning - bereits vor der Pandemie genau so feststand. Künstler ahnen anscheinend oft mehr als ihnen lieb ist.

In einer grandiosen Mischung aus analogem und virtuellen Schauspiel gelingt ein exemplarisches Bild von Macht, Sex, Gewalt und Gier, bei dem die Protagonisten über alle Grenzen gehen. Vieles geschieht gleichzeitig und der Zuschauer muss sich entscheiden, wohin er fokussieren will. Schauspieler wechseln in wenigen Augenblicken ihre Rollen. Dienerinnen, - vielleicht sind es aber auch die drei Hexen aus Macbeth - kommentieren diese Wandlungen. So spielt z.B. eine Person gleichzeitig Mörder und Opfer. Körperliche Nähe wird erzeugt durch Kommentare und raffinierte Einstellungen von Handkameras, deren Bilder live und in Übergröße den Bühnenhintergrund bilden. Dabei entstehen Szenen, die einem im wahrsten Sinne unter die Haut gehen. Als Elisabeth Thalmann steht Stephanie Schönfeld real auf der Bühne bittend vor einer Tür und als Sophie von Essenbeck lauert sie - als übergroße Bildprojektion hinter der Tür.

Zwei weitere Punkte, die mich besonders beeindruckt haben, möchte ich noch hervorheben. Zum einen die Fechtszene zwischen Stephanie Schönfeld und Pablo Guaneme Pinilla. Obwohl sich die Klingen vermutlich nicht berühren, geht von der Körperhaltung und den eingespielten Fechtgeräuschen ein unbedingter Wille aus, der aus dem Streitgespräch einen in letzter Konsequenz tödlichen Dialog macht.

Zum anderen ist es die Art, wie ein Tisch zum Sinnbild des fortschreitenden Zerfalls aller Bindungen und Werte wird. In der Anfangsszene ist er gedeckt mit wertvollem bürgerlichen Porzellan. Die alte Ordnung besteht noch. Nach dem Reichstagsbrand packen zwei Dienerinnen die Enden der Tischdecke und reißen mit einem Ruck das ganze Geschirr vom Tisch. Sichtbar wird jetzt das rohe Holz unter der bürgerlichen Decke und nach dem Röhmputsch liegt der Tisch umgestürzt am Boden - die alte Ordnung ist endgültig der nackten Gewalt gewichen.

"Wann werden wir Drei uns wieder treffen" rufen am Schluss die drei Dienerinnen und weil sie das in Shakespeares Sprache tun, verweisen sie auf dessen zeitlose Dramen, aber auch darauf, dass das, was Vergangen ist, jederzeit wieder neu geschehen kann.

Ein grandioser Theaterabend endet mit großem Applaus der leider wenigen Zuschauer, die das Glück hatten, eine Karte zu ergattern. Zum Glück gibt es aber noch weitere Vorstellungen.
Leserkritik, Kontrabass, SHL-Flensburg: virtuos
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater feierte am Samstag seine dritte Schauspielpremiere mit Patrick Süskinds Einakter „Der Kontrabass“. Ein Kontrabassist, mittleren Alters, Mitglied eines Sinfonieorchesters, hält in seinem schallisolierten Musikzimmer einen Monolog über sein Instrument den Kontrabass. Zunächst hält er empathische Lobreden auf seinen Kontrabass, die jedoch im Laufe seines Vortrages in Hassreden umschlagen. Der Kontrabassist (Simon Keel) ist ein einsamer, introvertierter Stubenhocker und mäßig begabter Musiker, der sein Instrument und seinen Beruf verabscheut. Er hasst Mozart und Wagner und unterschlägt im Konzert gern einige ihrer Noten. Dirigenten hält er für überflüssig und mit reichlich Bier versucht er gegen seinen Flüssigkeitsverlust anzukämpfen. Seine Hoffnungen fokussiert er auf die junge Sopranistin Sarah. Doch seine enthusiastische Verehrung blüht im Verborgenen, da er sie noch nie angesprochen hat. Wenn sie singt, spielt er fehlerfrei und hingebungsvoll. Sie bemerkt ihn und seine Bemühungen aber nicht. Vielleicht könnte sich das ändern: wenn er HEUTE unmittelbar vor dem Orchestereinsatz den Namen „Sarah!“ in den Saal schreien würde. Wird er es tun? Er verabschiedet sich und das Licht erlöscht. Wie inszeniert Bettina Geyer dieses kabarettistische Drama voller Charme und schmunzelnder Melancholie. Das Bühnenbild verdeutlicht bereits, dass es um das Spiel, des Schauspielers Simon Keel geht. Auf leerer Bühne eine schallgedämmte Wand, ein Stuhl, eine Glühbirne, ein Kleiderständer mit Frack, ein Kasten Bier und der Kontrabass (Bühne und Kostüme: Julia Scheeler). Diese Bühne rückt den Schauspieler in den Fokus des Abends. So beginnt eine ca. 80minütige Odyssee eines Kontrabassisten durch die Höhen und Tiefen seines Kontrabassistenlebens. Wie die Uraufführung 1981(Nikolaus Paryla: Regie und Darsteller) bereits zeigte, braucht diese Inszenierung keine aufwendigen Regieeinfälle, sondernd bestenfalls eine exzellente Supervisorin. Dreh- und Angelpunkt dieses Abends ist Simon Keel. Er beginnt mit einer emphatischen Lobrede über die Vorzüge des Kontrabasses, die schließlich ins Gegenteil, Flüche und Hass, umschlagen. Simon Keel gibt den Kontrabassisten als verbitterten, vereinsamten, introvertierten Menschen, der sein Instrument und seinen Beruf aus tiefster Seele verabscheut. Simon Keel vermittelt beeindruckend die Vereinsamung eines mittelmäßigen Orchestermusikers, der vergeblich versucht seiner Lebenssituation zu entfliehen. Herrlich zu sehen, wie ihn eine Hass-Liebe an sein Instrument bindet. Dieses ambivalente Verhältnis zeigt sein gesellschaftlich angepasstes Leben und seine Trauer und seine Wut darüber. Simon Keel vermittelt überzeugend Süskinds Anliegen, wie ein Mensch in Einsamkeit gerät und welche Möglichkeiten oder besser Unmöglichkeiten bestehen, um aus dieser sozialen, emotionalen Isolation herauszukommen. Süskinds Humor, sein „diebisches Vergnügen an der Sprache“ und die Schwäche für die Benachteiligten bringt Simon Keel gekonnt auf die Bühne. Leider findet dieser Abend aus Corona-Gründen auf der großen Bühne statt, so dass es für Simon Keel extrem schwer ist, Stimmungen durch Unterschiede in der Lautstärke zum Ausdruck zu bringen. Trotz dieser Schwierigkeiten glänzt er, wenn er nachdenklich über die Einflüsse seiner Familie sinniert, die ihn zum Kontrabassisten gemacht haben, oder wenn er liebevoll von seiner Sarah träumt und dabei den Kontrabass umarmt, oder diesen lauthals verflucht, wenn dieses Drecksding wieder im Wege ist. Der Kontrabass bietet einem virtuosen Schauspieler einen vielseitigen und -schichtigen Spielstoff, um das Publikum zu begeistern und das ist Simon Keel gelungen, wie der Schlussapplaus zeigte.
Leserkritik: "Ost-West-Riss", Leipzig
Auch das Leipziger kollektiv WEGWOHIN hat gerade die Transformationsprozesse künstlerisch untersucht und stellte dabei Uwe Johnson in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Ein Hörspaziergang durch die Leipziger Innenstadt, ein Theater-Rundgang mit Schauspielstudierenden im ehemaligen Sowjetischen Pavillon und ein prominent besetzter Lesungsfilm zeigen, dass das Verhältnis zwischen Ost und West spannend zu untersuchen sind. Gern mehr davon!
Leserkritik: "Eine Reise Wegwohin", Leipzig
Im ehemaligen Sowjetischen Pavillon auf der Alten Messe in Leipzig sieht man schon von Weitem den roten Stern. An diesem Wochenende öffnet das sich darin befindliche Leipziger Stadtarchiv seine Türen: Studierende des ersten und zweiten Studienjahres der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ spielen Prosa von Uwe Johnson (eine Uraufführung, Regie: Maik Priebe). In Anlehnung an ein Johnson-Wort heißt der Abend: VERSUCH EINEN AUTOR ZU FINDEN.
Der Rundgang beginnt im Foyer. Zum Publikum gesellen sich zu Beginn des Abends historische Figuren, die aus Uwe Johnsons Welt gefallen zu sein scheinen. Schon hier fällt der sinnstiftende Satz „Schade, dass man dort nicht bleiben kann!“, der diesen Abend thematisch rahmt. In den weißen, aseptischen Gängen des Stadtarchivs lassen diese Figuren Jerichow, den johnsonsche Ort schlechthin, als ihren Heimat- und Sehnsuchtsort entstehen. Die Prosa des „Dichter beider Deutschland“ wird auch in den drei unterschiedlichen Spielräumen szenisch erfahrbar (Ausstattung: Susanne Maier-Staufen). In „Mutmassungen über Jakob“ suchen drei Einbrecher nach Hinweisen für die Umstände des Todes von Jakob Abs in den schier unendlichen Magazingängen. Im Forschungssaal nähern sich vier Forscher (oder Kinder, die Forscher spielen?) dem Text „Versuch, eine Mentalität zu erklären“. Dabei ist vor allem die Leerstelle dieser Mentalitätserklärung assoziativ anregend. Immer wieder versuchen die vier Forscher/Kinder das Lied „Das neue Leben muss anders werden“ zu singen. In der Schatzkammer des Hauses wird das Publikum Zeuge eines Verhörs von Marie Cresspahl durch zwei Geheimdienstler. Insgesamt entstehen drei unterschiedliche Welten in drei verschiedenen Räumen, durch die das Publikum geführt wird. Dabei korrespondieren die Texte in ihrer Auswahl immer wieder, nehmen Bezug, antworten aufeinander und stellen Fragen. Uwe Johnsons Prosa ist eine eigene Welt enger Bezugssysteme. Hier wird sie theatral erfahrbar (Dramaturgie: Annett Hardegen, Nathalie Eckstein). Der Abend öffnet assoziativ einen Blick auf die Themen, an denen Johnson sich immer wieder abgearbeitet hat: das geteilte Deutschland, die verlorene Heimat und- darüber hinaus: auf das Ereignis des Wochenendes, die dreißigjährige Wiedervereinigung.
Der Abend entstand für das Festival EINE REISE WEGWOHIN, das sich an Uwe Johnson abarbeitend, den Transformationsprozessen der vergangenen Jahre widmet. Ein Hörspaziergang (Regie: Diana Wesser) verbindet Zeitzeugeninterviews mit Texten aus Johnsons Roman „Das dritte Buch über Achim“, das einen westdeutschen Reporter nach Leipzig schickt. Es ist wunderbar poetisch, wie sich hier der fast 60 Jahre alte Text wie eine Blaupause über die prosperierende Stadt Leipzig legt (großartig eingelesen von Wolf-Dietrich Rammler, einem Urgestein des Leipziger Schauspiels).
Höhepunkt des Festivals sollte eine prominent besetzte Lesung der Briefwechsel Uwe Johnsons sein. Die Sicherheitsvorgaben haben dieses Unterfangen vereitelt. Entstanden ist aber ein sehenswerter Film, der ein einzigartiges Ensemble zeigt, die Johnsons Briefe und ebenso deren Adressaten in wunderbaren Miniaturen lebendig werden lassen. Literatur und Schauspielkunst auf höchstem Niveau.
Eine Impulsdiskussion u.a. mit Wolfgang Engler und Steffen Mau runden das Festival digital ab. Der Wunsch nach mehr ostdeutschem Selbstbewusstsein wird durch die Festivalmacher aufs Glänzendste gezeigt. Wie das neugegründete kollektiv WEGWOHIN in diesen ungewöhnlichen Zeiten ein derart reichhaltiges Festival realisiert, lässt auf weitere Arbeiten dieser Truppe hoffen!
Leserkritiken: Der Kredit, SHL Rendsburg
Am Sonntag hatte die Komödie „Der Kredit“ des katalanischen Autoren Jordi Galceran am Schleswig-Holsteinischen Landestheater Premiere. Galceran verzichtet weitgehend auf Aktionen, stattdessen findet das Geschehen vorwiegend in den Köpfen der Personen statt. Der Leiter (Marek Egert) einer Bankfiliale verweigert Patrick, einem Kunden (Dennis Habermehl) den gewünschten Kredit, auf Grund mangelnder Sicherheiten. Schnell erkennt Patrick, dass er mit sachlichen Argumenten sein Ziel nicht erreicht. Er wechselt die Taktik, denn wirtschaftlich schwere Zeiten verlangen kreative Lösungen und so attackiert er den Banker in seinem gesellschaftlich angepassten Leben, ohne Rücksicht auf Tabus. So beginnt, was banal begann, der gnadenlose, bissige Zweikampf zweier Kontrahenten. Immer neue, überraschende Finten sorgen für Spannung. Galcerans „Kredit“ ist ein Psychoduell voller Wortwitz und der Frage, ob man Geld gegen Glück aufrechnen kann. Ein bissiges Abbild unserer Zeit, das die Zusammenhänge zwischen Karriere, Besitzdenken und Glück unter die Lupe nimmt. M. Koch verleiht der Inszenierung eine ungeahnte, emotionale Kraft, indem seine Protagonisten ihre innere Welt in Songs der 90iger Jahre reflektieren. Allein diese Idee macht den Abend sehenswert. Kochs Bühne ist bühnenbildnerischer Minimalismus (Bühne und Kostüme: Nele Rohland). Ein Bürotisch, eine Plexiglasscheibe (Pandemietribut), ein Bürostuhl und ein ledernes Sitzmöbel für Bankkunden. Zusätzlich ein Rennrad und ein Punchingball als Insignien des dynamischen Bankers. Dieser Reduktionismus im Bühnenbild fokussiert auf das Spiel der Akteure. Koch hat seine Akteure klug gewählt. M. Egert als Filialleiter Malte (schlank, dynamisch, schwarze Businesskleidung), der ideal die potemkinsche Fassade eines Bankers verkörpert. D. Habermehl, das absolute Gegenbild, ein hemdsärmeliger, burschikoser etwas halbseidener Kreditnehmer. Dieses Setting ist der Beginn eines faszinierenden Theaterabends, der perfide, unbarmherzig und erfrischend trashig um die Midlife-Krise zweier Männer kreist. Koch macht aus Galcerans „Kredit“ eine trashige Farce, in der die Protagonisten Egert und Habermehl zu Höchstform auflaufen. Der Kreditantrag Patricks wird schnell zum verbalen Duell zwischen Finanzwelt und Bauernschläue. Raffiniert umgarnt der harmlos wirkende Kunde den immer mehr verunsicherten Filialleiter. M. Egert entwirft Schritt für Schritt das Bild eines völlig enervierten Mannes. Großartig, wie der vermeintlich selbstsichere Banker zum Bittsteller beim Kunden wird. D. Habermehl als Kunde wandelt sich vom Bittsteller zum raffinierten Taktiker um sein Ziel, den Kredit, zu erreichen. Patrick droht, mit der Frau des Bankers eine Affäre zu beginnen. Was Malte zunächst für völlig verrückt hält, ihn aber bald an den Rand der Verzweiflung bringt. Zwischen wütendem Aufbegehren und Verzweiflung wird er zum Spielball des scheinbar „unscheinbaren“ Bittstellers. Wo Malte die Beherrschung verliert, gibt Patrick den intuitiv agierenden Frauenversteher, der psychologische Ratschläge erteilt. Köstlich, mit welcher Chuzpe Habermehl seine Figur in die Position des unwiderstehlichen Womanizers manövriert und wie der Filialleiter zwischen Wut, Resignation und Verzweiflung hin und her pendelt. Großartig bringen die Akteure die Absurdität, den bissigen Humor des Stückes zur Wirkung. Hinreißend entwickeln sie die Genialität der Sprachgewalt zwischen elaboriertem und restringiertem Sprachcode. Der Abend wird von Szene zu Szene immer aberwitziger, schräger, was sich in der zunehmenden Schräge der Bühne bildlich offenbart. Alles endet in einer Welttournee, die durch einen Riesenkredit finanziert wird. Das Publikum dankte mit stürmischem Applaus. Die Take-Home-Message „vor Kursstürzen der Ich-Aktie auf dem Parkett der Beziehungsbörse wird gewarnt!“
Leserkritik, "Waldesruh", Deutsche Oper Berlin
Rezension zu "Waldesruh" von Anna-Sophie Mahler in der Deutschen Oper Berlin, Uraufführung am 2. Oktober 2020

Im zweiten Teils ihres sogenannten Dokumentarischen Musiktheaters "Waldesruh" in der ehemaligen Tischlerei der Deutschen Oper in Berlin bringt Regisseurin Anna-Sophie Mahler das 1981 entstandene Klavierwerk "Triadic memories" von Morton Feldman auf die Bühne. (...)

"Triadic memories" ist eine teils dreistimmig, teils akkordisch angeordnete, labyrinthische Komposition, die nicht aus Melodien besteht, sondern, so erklärt uns Dietmar Takt, der „Mann hinter der Partitur“ in der Deutschen Oper, „aus sich wiederholenden, figurativ aufgebrochenen Akkorden, die in einzelnen Takteinheiten notiert sind, die sich wiederholen – oder manchmal auch nicht. Sie wiederholen sich, um Erinnerung auszulöschen.“

Anders als in der Erinnerungsdramaturgie einer Symphonie, wo etwas erklingt und später wieder auftaucht, ist dieses Klavierstück „fortschreitend organisch von einem zum anderen, das vorhergehende auslöschend“ komponiert. Es folgt also keinem linearen Prinzip, sondern es sind einzelne Klangmomente, einzelne Tonsprünge bisweilen, die jedes Mal – und je nach Interpretation von unterschiedlich langen Pausen – unterbrochen werden, und die sich von mal zu mal minimal, mikroskopisch gewissermaßen, verändern. So wird kein melodiöser Verlauf in der Zeit gestaltet, sondern eher ein Klangraum eröffnet, innerhalb dessen sich vereinzelte Metamorphosen von Klangmomenten beobachten lassen oder sich rhizomatisch verästelnde Klangsequenzen. Denn das Material, mit dem Feldman arbeitet, wird von ihm kontinuierlich variiert und ausdifferenziert. So glaubt man mitunter zwar, Wiederholungen von Tonsprüngen zu hören, tatsächlich aber baut er rhythmisch kleinste Unterschiede ein und auch die Intervallkonstellationen mutieren, weiß Dietmar Takt.

Das Material und die Tonlage werden in Feldmans Komposition ständig verändert – und schon bald verliert man in der Aufführung jedes Zeitgefühl, beginnt man als Hörer, wie Helmut Rohm in diesem Zusammenhang im Programmheft bemerkt, „die Zeit zu vergessen: seine Gedächtnisleistung wird vom labyrinthischen, oder besser kaleidoskopischen Geschehen systematisch untergraben. Oft vermeint er im paradox gewirkten Klangband aus Repetitionen und verbogenen Symmetrien Wendungen zu vernehmen, die er zuvor schon einmal gehört zu haben glaubt … Mehr und mehr fokussiert sich seine aktive Wahrnehmung auf den klingenden Augenblick des Hier und Jetzt – während zugleich die inneren Horizonte des lauschenden Bewusstseins sich weiten.“

Dieser ganz Prozess wird unterstützt durch Projektionen auf das Deckgewölbe und die großen, über die auf allen vier Seiten um die Szene sitzenden Zuschauer gespannten Sonnensegel. Während der Rauch einer Nebelmaschine die Lichtstrahlen der vier Projektoren im Raum bricht und sie wahrnehmbar macht, sind zunächst sich verändernde, abstrakte Muster zu sehen, Bakterien ähnlich, wie man sie unter einem Mikroskop in mehrfacher Vergrößerung wahrnehmen kann, schließlich ein sich im Wind bewegendes, schwarz-weiss gehaltenes Blätterdach.

Feldmans Komposition in der Interpretation von Wirth dauert an diesem Abend etwa eine Stunde – bevor im Anschluß daran Franz Schuberts frühromantisches Lied „Nebensonnen“ aus seiner „Winterreise“, dass nur hörbar in einem Nebenraum mit Akkordeonbegleitung vorgetragen wird, den Abend abschließt.

Es sind ambivalente Eindrücke ...

vollständige Rezension unter:
https://theatrumvinum.blog/2020/10/17/waldesruh-von-anna-sophie-mahler/
Leserkritik: Teatro Piscator, Berlin
Teatro Piscator! Die 130 Jahre Freie Volksbühnen-Revue

Eigentlich hätte diese Jubiläums-Revue schon am 23. März stattfinden sollen: Genau 130 Jahre nach dem Aufruf zur Gründung einer „Freien Volksbühne“, den Bruno Wille im Berliner Volksblatt veröffentlichte und über den Ilse Ritter, eine Grande Dame der deutschsprachigen Bühnen, am Ende dieses langen Abends nachdenkt.
Bild: Johannes Jost

Damals, vor einem halben Jahr, brach die Corona-Pandemie herein und führte zur monatelangen Schliessung aller Bühnen. Das Virus haben wir – wie die steigenden Zahlen zeigen – noch längst nicht überstanden, aber die Theater durften unter strengen Hygiene-Vorschriften und mit stark reduziertem Platzangebot zur neuen Spielzeit wieder öffnen.

So durfte Kultursenator Klaus Lederer das Publikum doch noch zur Jubiläums-Revue begrüßen, es klappte gerade noch in dem kurzen Zeitfenster vor dem November-Lockdown.

In Harlekin-Kostümen spielen Margarita Breitkreiz und Maximilian Brauer, die während der späten Castorf-Ära an der Volksbühne engagiert waren, eine szenische Collage aus alten Piscator-Stücken, die heute sehr fremd wirken und vor allem theaterhistorisch Interessierte ansprechen.

Nach seinem Exil wurde Piscator ab 1962 Intendant der 1947 wieder gegründeten Freien Volksbühne, die im Bornemann-Neubau in der Wilmersdorfer Schaperstraße, dem heutigen Haus der Berliner Festspiele, ihre neue Heimat fand. Die Eröffungsrede des damaligen Regierenden Bürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt wird in dieser Revue ebenfalls eingespielt.

Nach dem „Ein Kessel Buntes“-Prinzip wirft die Jubiläumsrevue, bei der Christian Filips Regie führte, einige Schlaglichter auf die stolze Tradition der Volksbühnenbewegung, die seit 2017 unter dem neuen Markennamen „Kulturvolk“ als sehr umtriebige Publikums- und Besucherorganisation das Berliner Kulturleben bereichert. Hier ist für fast jeden etwas geboten: von der Ouvertüre mit jungen Turnern, die Erinnerungen an René Polleschs „Kill your darlings“ hervorrufen. bis zum lautstarken Auftritt der Punkband Nobelschrott.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/10/28/teatro-piscator-die-130-jahre-freie-volksbuhnen-revue-kritik/
Leserkritik: Elektra, Berlin
Rezension zu „Elektra – Ein Familienalbum von Rieke Süsskow“ am Berliner Ensemble, Premiere am 22. Oktober 2020 …

In seiner Erzählung "Über das Marionettentheater" (1810) beschreibt Heinrich von Kleist die Marionette als den Gesetzen der Mechanik unterlegen, sie ist der menschlichen Individualität enthoben und dem „Maschinisten“ gänzlich ausgeliefert. Die Marionette habe deshalb jedoch mehr Anmut und Grazie als der Schauspieler, weil bei ihr der Ausdruck des Körpers „gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte“ hinüber spiele und der „Maschinist“ habe nur nur jeweils den Schwerpunkt der Marionette zu verändern, um eine tänzerische Bewegung auszuführen, denn jede Bewegung habe „einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.“ Insofern besitzt sie Kleist zufolge den Vorteil, dass sie sich nicht „ziert“, womit er meint, daß die Marionette über kein reflektierendes Bewußtsein verfügt und sich folglich auch nicht über den Riß zwischen eigener Persönlichkeit und eigenem Körper bewußt sein kann, keine Eitelkeit besitzt: „Denn Ziererei erscheint …, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. (…) Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.“ Insofern auch sei die Marionette – und das ist von Kleist sicherlich auch satirisch gemeint – die ideale Verkörperung von Theatralität: Nur die Marionette verfügt über keine Existenz außerhalb des Theaters.

Die Grazie der Marionette ist ohne innere Substanz, eine reine Wirkungsästhetik. In ihr kommt keine Seele zum Ausdruck, gar nichts. Sie verkörpert vielmehr die vollkommene Kontrolle, unter der sie steht: Sie ist in diesem Verständnis dem Schicksal ergeben. Und „aufgehängt am eigenen Schicksal“, wie Karolin Trachte im Programmheft schreibt, sind auch die Figuren in „Elektra – ein Familienalbum von Rieke Süsskow“ am Berliner Ensemble. Denn Süsskow inszeniert das vermeintliche Seelendrama um Elektra als eine Art Marionettentheater, in der die Figuren als völlig entmenschlichte und unpersönliche Gestalten dargestellt sind, der Geschichte ausgeliefert wie ferngesteuerte Automaten.

Zu diesem stilistischen Verfremdungseffekt tritt ein weiterer, denn die Geschichte über die Atriden, die Familie Agamemnons, wird auf einer Bühne inszeniert, die von Marlene Lockemann als ein überdimensionales, aufklappbares Pop-up-Kinderbuch aus Pappkartonwänden gestaltet ist, die wie Buchseiten umgeblättert werden und so verschiedene Räume im Hause Agamemnons und Klytemnästras zeigen, sowie in einer Szene mit Elektras Bruder Orest auch eine Schlange (als Verweis auf das Orakel von Delphi ...?) (...)

Dieser Bilderbuch-Idee folgt Süsskow auch in ihrer Inszenierung, denn die Tragödie um Elektra spielt sich pantomimisch ab beziehungsweise wird von ihr nur optisch umgesetzt; Das Rachedrama wird über das Visuelle erarbeitet und spielt sich völlig wortlos ab, auf Sprache wird verzichtet. Stattdessen wird die Geschichte in expressionistischen Gesten und Bildern entfaltet. Bildhaft gesprochen, blättert Süsskow im Familienalbum – und greift dabei auf eine Ästhetik zurück, die dem Horror-Stummfilm der 1920er-Jahre gleicht, in dem die extrem überzeichneten und grotesken Figuren in ihren körperlichen Verrenkungen wie ferngesteuert agieren. Dazu passt auch die musikalische Live-Begleitung und dramatische, spannungsgeladene Untermalung der einzelnen Szenen und Bewegungsabläufe (Sven Kaiser). (...)

Komplette Rezension:
https://theatrumvinum.blog/2020/11/03/elektra-ein-familienalbum-von-rieke-susskow/
Leserkritiken: Stream Danton, München: stark
Sebastian Baumgartens DANTON war verwirrend, brachial und faszinierend. Sein Thema so aktuell: Freiheit, Selbstbestimmung, Realitäten und Traumwelten. Die Fragen nach Leben und Tod. Die Fragen nach Gott und ? Dieser Danton war ein Klangerlebnis. Er endete mit dem Statement TOD ist Revolution. Wir in unserer Zeit versuchen gern die Realität des Todes zu leugnen. Dieser Danton nicht. Er macht den TOD zum zentralen Thema. Starker Danton!!!
Leserkritiken: Danton/ Stream, München: Wucht
"Dantons Tod" von Georg Büchner, Regie: Sebastian Baumgarten, Resi-Stream bis 30.11.

Die Revolution frisst ihre Kinder, der Traum von „Liberté, Égalité, Fraternité“ versinkt in einem Blutbad: Mechanisch hebt und senkt sich der Roboterarm im Revolutionstribunal.

In einer düsteren Albtraumwelt, in einem verfallenden Plattenbau (Bühne: Thilo Reuter) führen Zombies mit strähnigen Haaren (Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes) ihre politischen Debatten und Streitgespräche.

Vor zehn Jahren hat Sebastian Baumgarten den Büchner-Klassiker schon einmal inszeniert. Die Premiere am Berliner Gorki Theater erntete Verrisse: das Revolutionsdrama verkomme zur Farce, Baumgarten nehme den Büchner-Text nur als Material für einer ermüdende Assoziationsmaschine. Die historischen Figuren ließen sich nicht mehr klar zuordnen und verschwammen als „lauter freischwebende Fragmentteilchen“, kritisierte damals der viel zu früh verstorbene Dirk Pilz in der Berliner Zeitung.

Überbordend ist auch diese neue „Dantons Tod“-Inszenierung, die zwei Tage vor dem Kultur-Lockdown am Residenztheater in München Premiere hatte und in den letzten beiden November-Wochen online abrufbar ist. Wie von Baumgarten gewohnt, setzt er häufig Videos im Stil des expressionistischen Stummfilms ein, für die an diesem Abend Chris Kondek zuständig ist. Auch eine überdimensionale Lenin-Figur greift mit ihren kritischen Anmerkungen in die postrevolutionären Diskurse ein.

Doch statt Farce und Klamauk sind an diesem Abend eine große Ernsthaftigkeit zu spüren. Der klassische Büchner-Text ist nicht nur Material, sondern kommt – mit einigen Kürzungen und Umstellungen – in seiner ganzen Wucht zur Geltung. Die bekannten historischen Figuren sind klar erkennbar und jeweils einem Spieler zugeordnet: Florian von Manteuffel als Danton und Lukas Rüppel als Robbespierre stehen sich als die beiden Antagonisten gegenüber.

Zwischen all den auf das Publikum einprasselnden Videos und scharfen Wortgefechten dreht sich die gewaltige Bühne fast ständig. Im Gegensatz zu den Revolutionären kommt Büchner diesmal nicht unter die Räder. Fremdtexte setzt Baumgarten nur behutsam ein, zum Beispiel zum Finale, als Thomas Lettow vor dem Tribunal aus einem Aufsatz des Philosophen Boris Groys über das Verhältnis von Kunst, Politik und Revolution.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/11/17/dantons-tod-sebastian-baumgarten-residenztheater-kritik/
Leserkritik: Sleeping Duties, Berlin
Leserkritik: "Sleeping Duties - Probleme sind eine gute Lösung", Theater/Film, Sophiensaele, Regie: Vanessa Stern

Vanessa Stern und drei Mitstreiterinnen bieten eine skurril-schräge Siebenschläferinnen-Comedy. Der Theater-Film hatte gestern Online-Premiere und ist eine Woche abrufbar.

Die vier Spielerinnen tragen Zottelkostüme und Überbiss und verhaken sich in einem zu engen Zugabteil auf dem Weg zum Winterschlaf nach Spitzbergen in Streitereien.

Die kleinen Sticheleien haben gutes Timing, großen Raum nehmen Anspielungen auf den Klimawandel ein, der als Meta-Ebene immer wieder die oft kleinlichen Alltags-Streitigkeiten durchbricht. Als Bonus gibt es kurz vor Schluss eine schöne "Imagine"-Überschreibung.

Der Theater-Film ist amüsante Unterhaltung für den Lockdown, mit 80 Minuten aber etwas zu lang geraten, da die Konflikte der Grundkonstellation bereits vorher ausgereizt sind.
Zauberberg-Stream: Erlebnis
Eine herrausragende Leistung aller Beteiligten. Einfach genial. Von Herzen Dank für das wunderbare digitale Erlebnis.
Leserkritik: All for one..., Köln: Tolles verscherbelt
"All for one and one for the money": Livestream-Performance von Richard Siegal/Ballet of Difference und Schauspiel Köln

Der Abend hat ein hervorragendes Qualitätsprodukt, das er wie Ramschware verscherbelt. Die Choreographie, die Siegal für den Stream 1 erarbeitete, ist ein ästhetischer Genuss: Dieser fängt bei den Kostümen von Flora Miranda an, die mit Symbolen der Konsumwelt wie Scan-Codes, Glasfaserkabeln und Geldscheinen spielen. Dazu tragen vor allem auch die spannenden Licht- und Video-Effekten von Matthias Singer weiter, der mit Siegal schon für „Oval“ des Staatsballetts Berlin zusammengearbeitet hat. Und erst recht gilt dies für die elektronischen Beats von Lorenzo Bianchi Hoesch, von denen sich die Tänzer*innen treiben lassen.

Die Aufmerksamkeit des Publikums wird jedoch bewusst durch ständiges Flackern in den beiden anderen Streams abgezogen. Die Lecture- und Game Theater-Performances setzen sich ironisch mit der Welt des Konsums auseinander, werden minutenlang von einem Youtube-Video einer jungen Asiatin abgelöst, die Essen in sich hineinschlingt, und werden erst kurz vor Schluss ganz abgeschaltet, so dass auf allen Streams das Finale der Choreographie zu sehen ist.

Nebenher plätschert schließlich auch noch der Chat, der kaum über Grußbotschaften, Witze und in den Raum geworfene, aber nie beantwortete Fragen hinauskam. All der Aufwand der parallelen Streams mag ein Meta-Vergnügen für Gametheater-Nerds und Theaterwissenschaftler sein, die Seminararbeiten über die ironischen Ebenen der Performance schreiben können. Die Gimmicks und Ironie-Schleifen entwerten jedoch den Tanzabend, der es verdient hätte, ganz pur und ungestört zu wirken.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/12/04/all-for-one-and-one-for-the-money-richard-siegal-schauspiel-koln-kritik/
Leserkritiken, All for one..., Köln: eingebettet & erkenntnisstiftend
zu #672 (liebe nk, könnt ihr euch für diesen thread to end all threads mal was Eleganteres einfallen lassen? 2020!)

Nur teilweise Zustimmung, Konrad Kögler. Was dort als Tanz passiert, ist in der Tat toll. Und ja, auch ich habe mich zwischendrin danach gesehnt, diesen Stream wirklich in Vollbild exklusiv sehen zu können. Und nochmal ja, was sonst so auf den Streams, auch den kostenpflichtigen Zusatzstreams passierte, war teilweise banal, irritierend, tiefschürfend und flachschürfend. Aber vielleicht auch absolut notwendig. Der Tanz musste inhaltlich und "räumlich" eingebettet sein. Es braucht die aus dem Rest sich entwickelnde Liveatmosphäre. Das kann man auch anders machen, aber inhaltlich war es ja auch das, worum es den Machern ging. Und in der exklusiven Form verkäme, fürchte ich, der Tanzteil zu einem reinen, gut gemachten Musikvideo. Jedenfalls erkenntnisstiftend, dieser Abend.

(Anm. Red. zum Einstieg: Ist tatsächlich ein klares Vorhaben für 2021. Wir hoffen, dass dafür dann etwas Entwicklungsgeld frei ist. Hoffen... Mit besten Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Leserkritik: The Digital Assembly, München
"The Digital Assembly", Münchner Kammerspiele, Online

Vom Scheitern des Dialogs mit den Rechten erzählt der Abend „The Assembly“, den die Münchner Kammerspiele zu Beginn von Barbara Mundels Intendanz gemeinsam mit der frankokanadischen Gruppe Porte Parole produzierten und nun im zweiten Lockdown auch als „The Digital Assembly“ anbieten. Kurz bevor die Theater im März schließen mussten, luden die Schauspielerinnen Annette Paulmann und Wiebke Puls vier Münchner*innen zu einem Abendessen ein und plauderten mit ihnen über politische Themen. Die Zusammensetzung war heterogen: von der jungen Anarchistin Katja bis zur ehemaligen CSU-Kommunalpolitikerin Siegrid, die als Juristin im BAMF arbeitet, vom meinungsstarken Can bis zur zurückhaltenden Zuhal. Letztere landet schnell in einer Außenseiter-Rolle. Die Gruppendymanik richtete sich gegen sie.

Von der Rolle der Frau in der Gesellschaft bis zur Integration von Zuwanderern werden unter großem Zeitdruck viele Themen angeschnitten, aber letztlich doch nur Positionen abgefragt und Schlagwörter ausgetauscht. Eine echte Diskussion kommt nicht zustande. Das reale Abendessen vom März spielen Paulmann und Puls unter der Regie von Chris Abrahams und der Co-Regie von Verena Regensburger als Reenactment nach. Ensemble-Kolleg*innen schlüpfen in die Rollen der vier Münchner*innen: Bei Zeynep Bozbay schimmert viel vom jugendlichen Furor der jungen Anarchistin durch, Jelena Kuljić spielt glaubwürdig die Migrantin Zuhal, die tastend nach Worten und ihrem Platz in der Gesellschaft sucht. Die beiden anderen Rollen sind bewusst geschlechterverkehrt besetzt: Edmund Telgenkämper spricht die Sätze der Juristin mit CSU-Vergangenheit und Nancy Mensah-Offei spielt Can, der im Krankenhaus Rechts der Isar geboren ist und doch als „Türke“ abgestempelt wird.

Das Quartett haut sich die Schlagworte um die Ohren, während die beiden Moderatorinnen versuchen, die vorgegebenen Themen im starren Zeitschema abzuhaken. Nach dem ersten Beschnuppern bekommen die vier bunt zusammengewürfelten Münchner*innen die Aufgabe, dem 75jährigen Josef Schneider, der ebenfalls für dieses Format gecastet worden war, auf seine vom Band eingespielten Resentiments gegen Flüchtlinge und auf seine spitzen Bemerkungen gegen Fridays for Future zu antworten. Gemeinsam sollen sie einen Brief verfassen. Auch diese Diskussion wurde im März mitprotokolliert und nun vom Kammerspiele-Ensemble nachgesprochen. Absehbar können sich die vier Diskutant*innen nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Ungelenke Formulierungen und Floskeln werden aneinandergereiht. Es kommt, wie es kommen muss: Schneider überfliegt den Brief und tut ihn als irrelevant ab, als Paulmann und Puls ihn im September, einen Monat vor der Premiere, noch einmal ins Theater zu einem Wiedersehen eingeladen haben. Der Versuch, mit dem Rechten zu reden, landete in der Sackgasse.

Der spannendste Moment des Abends, der über sprödes Doku-Reenactment nicht hinauskommt, ist nicht die Interaktion mit dem Publikum im Mittelteil, sondern der Schluss-Dialog: Paulmann und Pauls versuchen, sich in Schneider hineinzudenken, und zählen in einem heiteren Ping-Pong all die Gründe auf, die zum Scheitern der Kommunikation führten. Für ihn waren die beiden immer nur privilegierte Schauspielerinnen, die sich in ihrer Künstler-Blase im Stil von Pippi Langstrumpf die Welt so machen, wie sie ihnen gefällt, und seine Mansplaining-Welterklär-Monologe einfach an sich abprallen lassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/12/15/the-digital-assembly-munchner-kammerspiele-kritik/
Leserkritik, Münster: Wer hat meinen Vater umgebracht?
"Wer hat meinen Vater umgebracht?" nach Édouard Louis, Theater Münster/Online

Es ist ein schöner Zufall, dass das Theater Münster seine Adaption des essayistischen Romans von Édouard Louis einige Tage nach dem Start der 2. Staffel der Serie "Das Boot" im Netz präsentierte. Unterschiedlicher könnten die Rollen von Joachim Foerster kaum sein.

Im TV spielte er den Unteroffizier Ralf Grothe, einen besonders unsympathischer Vertreter toxischer Männlichkeit, den man sich sehr gut dabei vorstellen kann, wie er gemeinsam mit dem Vater von Édouard Louis und seinen Kumpels Zoten reißt und homophobe Sprüche klopft. In seinem Theater-Monolog verkörpert Foerster einen sensiblen jungen Mann, der sich an die Demütigungen seiner Kindheit erinnert.

"Wer hat meinen Vater umgebracht?" wurde in den vergangenen Monaten mehrfach für die Bühne adaptiert. Die Inszenierungen des Münchner Volkstheaters und des Volkstheaters Wien hatten gemeinsam, dass die Wut und der Schmerz über eine kaputte Vater-Sohn-Beziehung immer wieder durch komische Einlagen gebrochen wurde.

Regisseur Michael Letmathe und Solo-Darsteller Foerster entschieden sich für einen anderen Weg, für ein minimalistisches Solo, das sich ganz auf den Schmerz fokussiert, den Édouard Louis in seinem autobiographisch geprägten Roman schildert. Der Text wird zum langen Monolog, der nur durch wenige spielerische Momente aufgelockert, aber eindringlich vorgetragen wird. Statt eines Spielpartners übernimmt hier die Lichtregie die zweite Hauptrolle: In den Großaufnahmen des Inszenierungs-Mitschnitts versinkt oft eine Gesichtshälfte des Solo-Spielers im Halbdunkel, das diesen Abend in der kleinen Spielstätte U2 atmosphärisch prägt.

Zum Schmerz und der Sehnsucht nach Versöhnung mit dem Vater passt die tieftraurige Version von "Barbie Girl", die Foerster zur Mitte des Abends am Klavier vorträgt. Einer der klebrigsten Bubblegum Pop-Songs der Eurodance-Welle, die die dänische Band Aqua in den 1990er Jahren in die Charts spülte, wird in dieser Münsteraner Version als Weltschmerz-Ballade ganz neu hörbar.

Für die finale Abrechnung mit den Sozialstaats-Reformen der französischen Präsidenten von Chirac bis Macron hat Foerster noch einen weiteren theatralischen Auftritt: wie eine Chanson-Diva im schwarzen Abendkleid spricht er diese letzten Worte des Romans.
Leserkritik: Theaterdiscounter
ES FÄLLT MIR IMMER SO SCHWER, ORTE ZU VERLASSEN, AN DENEN ICH NOCH NIE WAR / ein Nicht-Theaterabend von Malte Schlösser, Theaterdiscounter/Stream

Nicht nur der Titel erinnert an die Arbeiten von René Pollesch. Auch in diesem filmischen Prolog, der statt der auf Juni verschobenen Theater-Premiere produziert wurde, werden die typischen Themen des designierten Volksbühnen-Intendanten verhandelt: Kapitalismus, Bindungsstörungen, der Druck zur Selbstoptimierung und zur Authentizität.

Der Unterschied: hier fallen sich keine Volksbühnen-Stars gegenseitig ins Wort, die soziologischen, philosophischen und psychotherapeutischen Diskursgirlanden werden auf Spaziergängen durch Mitte und Kreuzberg zunächst monologisiert, später geflüstert, zuletzt zurück im leeren Theater im Chor gesprochen.

Der Text hat einige witzige Passagen zu Bahnhofs-Ratgeber-Kalendersprüchen wie "Höre auf Dein Herz", ist aber sehr epigonal und deshalb vor allem für Pollesch-Ultras empfehlenswert.
Leserkritik: Woyzeck, Schaubühne
"Woyzeck", arte-Mitschnitt der Schaubühnen-Inszenierung von Thomas Ostermeier in Avignon, 2004

Büchners "Woyzeck"-Fragment wird hier auf zwei Stunden gestreckt: zahlreiche testosterondampfende Einlagen geben dem Abend den Charakter einer szenischen Revue, die streckenweise sehr beliebig wirkt. Das Halbrund vor einer schäbigen Imbissbude wird zum Kampfplatz, auf dem sich die Männer prügeln, ein französischer Rapper eine kleine Einlage hat und vor allem der gehetzte Woyzeck (Bruno Cathomas) gedemütigt und vorgeführt wird.

Der junge Lars Eidinger hat nur eine Nebenrolle: gemeinsam mit André Szymanski und weiteren Spielern fungiert er als Background-Tänzer, während Popsongs aus den 60ern, 70ern und 80ern eingespielt werden.
Leserkritik: "Paradigma", München
"Paradigma": BROKEN FALL / BEDROOM FOLK / WITH A CHANCE OF RAIN
Choreographie: Russell Maliphant / Sharon Eyal / Liam Scarlett

Mitschnitt der Premiere vom 18.12.auf Staatsoper.TV

"Broken Fall" von Russell Maliphant erzählt zu elegischer Klaviermusik und jazzigen Klängen von einer Frau zwischen zwei Männern. Der Tanz grenzt hier an Akrobatik, zahlreiche Hebe-Elemente fließen in die Choreographie ein.

Das Highlight im Mittelteil: "Bedroom Folk" von Sharon Eyal mit den ihre Arbeiten prägenden roboterhaften, ruckartigen Bewegungen und dem rauschhaften Sog. Stärker als in anderen Arbeiten spielt Eyal hier mit unterschiedlichen Tempi statt Berghain-Highspeed-Techno.

Am nächsten am klassischen Ballett ist "With a chance of rain" von Liam Scarlett zu Klavier-Musik von Rachmaninow und mit einem starken Duett von Emilio Pavan und Ksenia Ryzhkova.

Leider brach der Stream ausgerechnet zu Beginn des Eyal-Parts unter dem Zuschauer-Ansturm vorübergehend zusammen.
Leserkritik: Ursprung der Welt, Hannover
"Der Ursprung der Welt", Schauspiel Hannover, Stream

"Der Ursprung der Welt": feministisches Infotainment bot das Schauspiel Hannover am vergangenen Wochenende mit einem Proben-Mitschnitt. Zwischen den beiden Lockdowns hatte im Ballhof die Adaption eines schwedischen Comics von Liv Strömquist Premiere.

Vier Spielerinnen laden zu einem Streifzug durch die "Kulturgeschichte der Vulva" und die Strategien der "Kolonialisierung der weiblichen Sexualität". Wissens-Vermittlung gibt es hier nicht im Stil des klassischen, oft spröden Dokumentartheaters, sondern als mit Gesang und Tanz aufgelockerte Lecture Performance.

Jede neue Lektion wird vom Werbe-Jingle über "Männer, die sich zu sehr für das interessieren, was als das weibliche Geschlechtsorgan bezeichnet wird". Die Inszenierung von Franziska Autzen, die zuvor mehrfach in der Gaußstraße des Hamburger Thalia Theaters inszenierte und zur neuen Spielzeit als Hausregisseurin nach Konstanz wechselte, spielt mit den Genres: in Kabarett-Einlagen wird die Lustfeindlichkeit des Kirchenvaters Augustinus parodiert, Höhepunkt ist der Wut-Rap, der sich in der Debatte um den § 219 a und das Werbeverbot für Abtreibungen klar positioniert.
Leserkritik, ... Mont Ventoux, Berlin
"Brigitte Reimann besteigt den Mont Ventoux", Theaterfilm, Ballhaus Ost

In ihrem skurril-versponnenen, anspielungsreichen Theaterfilm lassen Marlene Kolatschny (Dramaturgie) und Jan Koslowski (Regie) zwei berühmte Literat*innen aus unterschiedlichen Jahrhunderten aufeinanderprallen.

Die beiden Hauptrollen spielen Lisa Hrdina, die am Deutschen Theater Berlin engagiert ist, und Julius Feldmeier, der sich im Kino mit Filmen ambitionierter junger Regisseurinnen wie „Tore tanzt“ (2012) oder „Mein Ende, Dein Anfang“ (2019) einen Namen gemacht hat. Die beiden spielen sich in dieser ungewöhnlichen Theaterfilm-Produktion die Bälle zu, lassen keinen Kalauer liegen, der sich anbietet, und führen durch ein eigenwilliges Zitate- und Gedankenmosaik, das Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung als „schön vertrackt“ bezeichnete.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/01/26/brigitte-reimann-besteigt-den-mont-ventoux-ballhaus-ost-kritik/
Leserkritik: Das Theater und sein Double
"Das Theater und sein Double. Eine Projektion", Regie: Kieran Joel, Theater im Bauturm, Köln

Zaghaft hüstelt Jeremy Mockridge. Sein Regisseur Kieran Joel ist sichtlich unzufrieden. Kein Vergleich zu dem sechsstündigen, vielstimmigen Husten-Konzert, das im Januar 2019 durch das Berliner Ensemble schallte. Aus allen Ecken des Zuschauerraums im traditionsreichen Haus am Schiffbauerdamm trompeten damals die Schnupfen-Triefnasen, rasselten die Lungenfügel und röchelten Hustensalven, getriggert von den Pest-Monologen von Jeanne Balibar und Andreas Döhler auf der Bühne, bis das Publikum ermattet in die Sessel zurücksank.

Frank Castorf verschnitt damals Bertolt Brechts „Galileo Galilei“-Lehrstück mit dem Essay „Das Theater und die Pest“, in dem Antonin Artaud eine Theater-Revolution forderte: ein Theater der Trance und der Rauschzustände. Jeremy Mockridge beschmiert sich literweise mit Kunstblut und schreit sich die Seele aus dem Leib. Doch Kieran Joel schüttelt immer wieder den Kopf: Nein, online springt für ihn kein Funke über. Die große Theater-Revolution, die Artaud in seinem Essay beschwört, will sich nicht einstellen.

"Das Theater und sein Double" ist ein Theaterfilm, der den Proben-Prozess voller verzweifelter Mailbox-Nachrichten ironisch nachzeichnet, aber vor allem eine witzige Reflexion über das Theater ist: wie es ist und wie es sein soll, gerade in einer Zeit des Ausnahmezustands.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/02/01/das-theater-und-sein-double-eine-projektion-kritik/
Leserkritik, Hedda Gabler, Freiburg: wie ein Traum
Monumental, opernhaft im samtschweren, düsteren Setting, wie ein Traum. Nah am Abgrund zum Pathos aber durch kluge Brüche nicht abgestürzt. Ein klug besetzter Abend, der aus meiner Sicht der Schauspielerin der Thea gehörte. Streamen ermöglicht auch in der "Provinz" die Teilhabe an der kulturellen Vielfalt der deutschen Theaterlandschaft. Danke aus dem hohen Norden für diese Hedda.
Leserkritik, Phytonparfum, Augsburg: phantasievoll
Papier, Bleistift, Farbstifte und Kinder, die das Gesehene zu Papier bringen. Tolle Idee für ein Kinderstück. Das Stück lebt von Bewegung, kreativen Ideen, skurrilen Figuren, Geräuschen, Musik und kaum Sprache. Schauen ist angesagt und sich von ständig neuen Dingen überraschen zu lassen. Phantasie und nochmals Phantasie sind gefordert. Ein Traum voller Phantasie und Abenteuer. Dieses Stück fordert Beobachtungsgabe. Ich bin gespannt auf die Bilder, die die Kinder einsenden.
Leserkritik Pythonparfüm: einige Befangenheit
Ich kann Schmedemann nicht zustimmen. Alles Spiel ist keineswegs Traum voller Phantasie, denn gerade das Traumhafte fehlt dem Ganzen. Gut gemacht
soweit, aber - äußerlich, alles zu sehr gewollt, aufgesetzt und auch befangen. Vielleicht ein Traum von eben dieser Art. Man hat keine Freude daran. und kann sein, dass es so sein soll, dass das die Intension war.
Leserkritik: Virtual Brain (WEHR51)
Super! Passt in die Zeit einer Pandemie! Digital! Besser kann man auf die Zukunft nicht reflektieren! Interessantes Projekt! So kann man digital Zukunft denken und performen! Chapeau!
Leserkritik: Schwester. Von
"Schwester. Von", Theater-Film zur DT Berlin-Inszenierung "Ismene, Schwester von" auf dem radioeins-Youtube-Kanal

Im Theater hat sich Susanne Wolff rar gemacht und ist seit 2016 nur noch in seltenen Gastauftritten zu sehen. Ein Jahrzehnt war sie eine der prägendenden Spielerinnen in Ulrich Khuons Ensembles, zunächst am Hamburger Thalia Theater, ab 2009 am Deutschen Theater Berlin.

Bis zum Corona-Lockdown war „Ismene, Schwester von“, ein intensiver, einstündiger Monolog von Susanne Wolff in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin zu erleben: sie kroch aus dem Sarg der Ismene im Bühnenhintergrund und schleuderte im blauen Mao-Look den Hass auf ihre Schwester Antigone heraus.

Sieben Jahre nach der Premiere haben Jim Rakete, Regisseur Stephan Kimmig, Hauptdarstellerin Susanne Wolff und Nils Strunk (Musik und Kurz-Auftritt als Bewacher der Ismene) einen Theater-Film entwickelt, der bis 5. April auf dem YouTube-Kanal von radioeins abrufbar ist.

Der Plot wurde in die Gegenwart verlegt: Susanne Wolff steckt in der orangefarbenen Kluft eines Guantánamo-Häftlings, bekommt die Kapuze vom Kopf gezogen und sitzt in einem Bunker vor dem Mikro. Mit spöttischem Grinsen erzählt sie ihre Familiengeschichte, wie sehr sie darunter litt, dass sie immer eine Randfigur war und immer im Schatten ihrer heroischen Schwester Antigone stand. Den Hass auf die Schwester brüllt sie mehrfach ins Mikro. Meist bleibt sie aber ganz beherrscht, flüstert und deutet nur an.

Die Niederländerin Lot Vekemans hat den Monolog-Text geschrieben, den Susanne Wolff damals auf der Bühne und nun im Lockdown-Theater-Film performt: einen Text über die Frauenfigur Ismene, die sich nicht länger darauf reduzieren lassen will, dass sie nur die „Schwester. Von“ ist, nicht länger im Schatten stehen will und sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, sie sei feige gewesen. Susanne Wolff zeichnet die Ismene, die in der Tragödie dres Sophokles nur einen kurzen Auftritt hatte, als selbstbewusste Frau, mit der man sich lieber nicht anlegen sollte, da sie austeilt und mit ihrem hämisch-überlegenen Grinsen eine gefährliche Gegnerin ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/03/29/schwester-von-theaterfilm-kritik/
Leserkritik: Demenz*ionen (Pilkentafel FL)
In unserer globalisierten, westeuropäischen Industriegesellschaft ist Demenz eine Krankheit, die mittlerweile zur Lebenserfahrung dazu gehört. Demenz ist eine anhaltende oder fortschreitende Beeinträchtigung des Gedächtnisses, des Denkens und/oder weiterer Hirnleistungen. Der betroffene Mensch verliert Erinnerung und Orientierung.
Wie funktioniert dieses Vergessen? Wer vergisst wen? Was bedeutet, vergessen zu erinnern? Sind wir, weil wir erinnern? Was passiert, wenn wir uns vergessen?
Vier Künstler*innen - Stipendiat*innen Jana Kühn, Karoline Strys, Insa Langhorst und Friedrich Bassarak des Projektes #54 Flausen+Stipendium - die sich bisher in ihrer künstlerischen Arbeit mit dem Erinnern befasst haben, werden die Perspektive ändern und sich mit dem Vergessen beschäftigen.
Sie möchten diesen Prozess des Vergessens erlebbar machen.
Mittels ihres interdisziplinären Ansatzes (Musik, Geräusch, Tanz, Schauspiel, Film etc.) öffnet die Gruppe Räume für längst Vergessene/s. Sie probieren den dementen Raum als Akteure. Multi-medial wird Alles vom Moment Null im Raum unzensiert und polyphon dokumentiert. In 4 Wochen wächst ein kollektives ICH, ein temporäres Archiv, das nach gewisser Zeit durch den Abbau des Archivs, das Vergessen simuliert und aus persönlichen Perspektiven das Vergessene rekonstruiert.

Wie lässt sich dieser Prozess ästhetisch darstellen? Wie lässt sich das Vergessen für Zuschauer wahrnehmbar und erfahrbar machen? Die Ergebnisse dieser Reise „im kleinen Raumschiff Bewusstsein ins All des Unbewussten“ präsentieren die 4 Demenz*ionsforschenden in einem Making-OFF, indem sie die Untiefen der Fantasie ausloten.
„Was passiert, wenn die Reise Ihr inneres Universum verschüttert? Wie vergerinnern Sie sich selbst? Wann findlingen Sie den Weg zurück? Und wo zum Knarzum soll das verdammt nochmal sein?“
Dieses makingOFF fand mit wenigen Zuschauern unter den geltenden Hygienemaßnahmen (Nachweis eines negativen Antigen-Tests, Kontakdatenerfassung) in der Theaterwerkstatt Pilkentafel statt, die Teil des Modellprojektes, Öffnungen im Bereich Kultur des Landes Schleswig-Holstein ist.

Die Darsteller*innen hatten mit ihrer Performance gelungene Ansätze gefunden, dem Publikum eine Ahnung von dem Vorgang des Vergessens zu vermitteln, durch erfahrbare ästhetische Bilder, Bewegungen, Klänge, Musik und Tanz.
Somit stellte sich die Frage: Ist Demenz nicht mehr als eine Krankheit? Sollten wir nicht mehr versuchen die Welt der Dementen aus ihrem Verständnis der Welt zu begreifen?
Schon R.D. Laing schrieb:“ Verrücktheit muss nicht unbedingt Zusammenbruch sein. Sie kann auch Durchbruch sein. Sie ist potentiell so sehr Befreiung und Erneuerung wie Versklavung und existentieller Tod.“ Auch dieser Aspekt kann bei der Demenz berücksichtigt werden.

Demenz*ionen öffnet mit künstlerischen Mitteln einen Weg, um für Demenz ein neues Verständnis zu schaffen und die Betroffenen nicht am Rande der Gesellschaft zu vergessen. Demenz kann jeden treffen und sie ist Teil des Lebens und wir können nur gewinnen, wenn wir mehr vom Leben der Dementen verstehen. Merci & Chapeau für diesen Abend.
#allesdichtmachen: infektion, 2021.
##11171.alles dicht: ein theaterzettel.
####regisseur
wunder am werk
####darsteller*innen
53 aus funk und fernsehen und theater bekannte mittlere und gröszen der deutschen schauspielszene
####statisten
die deutsche medienlandschaft, politiker, social media, schauspielagenturen, das protagoniste auditorium, kritiker
###synopsis
####1.akt
donnerstag sehen wir auf der bühne nur die videos der protagonisten, in denen jeweils eine perspektive auf die derzeitige situation von regierungsmasznahmen, die der eindämmung der pandemie dienen sollen, persifliert wird. in teilweise sehr überzogenenen, „zynisch-sarkastischen“, wie es die statisten später nennen werden, beiträgen werden die isolation, der generelle abstand, das atmen an sich zu unterschiedlichen anlässen, räumliche belange, das solidarische oder nicht verhalten angesichts der masznahmenverweigerer und pandemieleugner, das bekenntnisverhalten, weniger die maske-an-sich thematisiert und auch nicht die toten, umgekommenen, vernachlässigten, hart arbeitenden an der grenze der belastbarkeit.
####2.akt
hier werden die oben in den beiträgen verhandelten kritiken aus der perspektive der medienlandschaft betrachtet, die sich beeilt, die stimmen des protagonisten auditoriums sehr schnell in die nötigen kanäle einzuspeisen, damit das stück seinen lauf nehmen kann. im zuge der öffentlichen auseinandersetzung mit den kritiken stehen einige der beiträge ab dem zeitpunkt, da die agenturen den darin auftretenden erste konsequenzen vorsichtig andeuten, nicht mehr zur verfügung. die ersten protagonisten verlassen die bühne und nehmen sichtbar und mit stimme plätze im auditorium ein. die traditionellen medien begrüszen diesen schritt, in den sozialen netzwerken werden die aussteiger wahlweise als vernünftig oder als verräter bezeichnet. das protagoniste auditorium geht mit und schlieszt sich der allgemeinen meinung an, es klatscht, lacht, äuszert sich, beklagt die zensur, ruft die vergangenheit auf. die politiker beziehen stellung.
####3. akt
gegen freitagabend wird der hauptdarsteller börne vom örr zur öffentlichen stellungnahme gebeten. die debatte verläuft weiterhin ohne konsens. das publikum verläszt langsam die bühne richtung mensa, dort werden die weiteren interventionen geplant, die sich aus der interaktion mit den beiträgen ergeben.
####4. akt
wir befinden uns im raum der kritiker, der dem auditorium noch verschlossen ist. nur fetzen der unterhaltung dringen nach drauszen, die kritik hält sich bedeckt. im feuilleton ist man noch mit dem regierungskritischen ansatz der beiträge beschäftigt. die nachlassende aufmerksamkeit für das bisweilen trendige thema hält die kritiker zurück. niemand verspricht sich noch income durch die aufdeckung der doppelten ironie, da sich die meinung, es handele sich einfach um regierungskritik, erwartungsgemäsz durchsetzen konnte. die durchleuchtung der interpretation der gruppe der gesellschaft, wie sie als beitragende vom auditorium gesehen wird, gelingt noch nicht, da der diskurs auf die persönlichen meinungen der schauspieler zugeschnitten erscheint und der kritikerin keine wahl läszt, dies ebenso zu tun, wenn sie sich nicht für diese saison zumindest als solche disqualifizieren möchte, indem sie als paranoid erscheint. der bühnenboden bleibt unangetastet, das offenbar zu deutende erwähnenswert, das relevant zu erwähnende auf das jedem einfach zugängliche beschränkt.
####epilog
wir haben es am ende mit einem sehenden publikum zu tun, das nicht weisz, wohin es in der pause den saal verlassen soll. deshalb gehen die meisten einfach nur kurz aufs clo.
Leserkritik: "3 Poems", Schauspiel Hannover
"3 Poems", Guy Weizman, Schauspiel Hannover/NNT Groningen

In dem halbstündigen Video-Clip, der im Treppenhaus der denkmalgeschützten Cumberlandschen Galerie gedreht wurde, konnte das Team zum Glück erstaunlich viel von den Ursprungsplänen retten. „Dogs of Madness“ ist ein ausschweifender Trip durch eine Welt, die mal an expressionistische Stummfilme erinnert und in der die Spieler*innen im nächsten Moment wie reglose antike Statuen wirken: Anja Herden als rasende Agaue und Nils Rovira-Muñoz stehen im Zentrum dieser assoziativen Collage, die mit Motiven der Euripides-Vorlage spielt.

Gerahmt werden die „Dogs of Madness“ durch „Klagelieder“ und „Liebeslieder“, zwei Monologe von Judith Herzberg, die Bien de Moor spricht und die an einem See in den Niederlanden gedreht wurden. Die belgische Schauspielerin de Moor kennt man hierzulande am ehesten durch ihre Hauptrolle im umstrittenen Film „Code Blue“ an der Seite von Schaubühnen-Star Lars Eidinger, der 2011 in der Quinzaine des realisateurs in Cannes lief. Zu elegischen Bildern spricht de Moor diese beiden Texte, die in ihrer ätherischen Grundstimmung wie ein ruhender Gegenpol zur aufgewühlten „Dogs of Madness“-Performance wirken.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/04/29/3-poems-schauspiel-hannover-theaterfilm-kritik/
Erste Staffel, Heidelberg: Reenactment
"Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder", Regie: Boris Nikitin, Online-Gastspiel Staatstheater Nürnberg beim Heidelberger Stückemarkt

Der Theaterabend ist über weite Strecken ein Reenactment der Dialoge der damaligen Container-Insassen. Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler des Nürnberger Staatstheaterensemble, die wie Yascha Finn Nolting damals oft erst im Grundschulalter waren, sprechen die Alltags-Wortgeplänkel und oft recht banalen Äußerungen der Big Brother-Crew nach. Die Kamera folgt ihnen bis auf die Toilette oder ins Schlafzimmer. Auch wer die Sendung damals nicht gesehen hat, bekommt durch dieses Reenactment einen guten Eindruck, mit welchen ästhetischen und dramaturgischen Mitteln die TV-Show arbeitete.

Die Originaltexte wurden durch erfundene Passagen, die stilistisch nah an den O-Tönen bleiben, und nach der Pause mit einigen Fremdtexten, vor allem aus dem Orwell-Klassiker „1984“, angereichert. Im Kern kommt der Abend aber nicht über das Reenactment von TV-Vergangenheit hinaus, das beim Blick in gruslige Nischen des Privat-TVs kaum neue Erkenntnisse zu Tage fördert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/04/erste-staffel-20-jahre-grosser-bruder-staatstheater-nurnberg-kritik/
Leserkritik, Hamlet, Coburg: 1. Liga
Das Landestheater Coburg streamte seinen Hamlet in der Übersetzung von Fabian Appelshäuser und Matthias Straub, der auch für die Regie verantwortlich zeichnet. Hamlet hat seinen Vater verloren, seine Mutter hat seinen Onkel geheiratet und Ophelia, Rosenkranz und Guildenstern gehen ihm auf die Nerven. Es ist so offensichtlich, dass sein Onkel der Mörder und seine Mutter eine Ehebrecherin ist. Doch Hamlet wird nur als überspannter Sonderling abgetan. Straub stellt mit seiner Regie Fragen wie: Könnte Hamlets Vater nicht ohne Mord gestorben sein? Haben Claudius und Gertrud aus politischen Motiven geheiratet? So entwickelt sich eine Doppelbödigkeit, die aus Hamlet einen Menschen werden lässt, der sich, in der Wahrnehmung seiner Umwelt, zum Verschwörungsgläubigen entwickelt. Er verbindet die Ereignisse, das Verhalten seiner Mitmenschen und das Weltgeschehen zu einem labyrinthischen Kosmos, aus dem es kein Entrinnen gibt. Doch was geschieht, wenn er am Ende recht oder Unrecht hat? Dieser Hamlet wirft einen Blick auf Verschwörungstheorien in Zeiten der Pandemie und fataler Folgen, die daraus erwachsen können. Schwere Zeiten, um den realistischen Blick auf das derzeitige Geschehen zu bewahren. Das Bühnenbild ein Holzgerüst mit mehreren Ebenen und Projektionsflächen für Videoeinspielungen schafft die Bühnenrealität des labyrinthischen Kosmos. Straub hat sein Ensemble perfekt besetzt und alle gestalten ihre Rollen mit Bravour. Die Inszenierung kommt ambitioniert daher und ermöglicht aktuelle Bezüge ohne Shakespeares Hamlet zu sabotieren. Das Konzept geht auf und dieser Hamlet ist spannend und packend. Interessant auch die Fechtszene von Jean-Loup Fourure, die an durch die Geräuschkulisse an Kampfszenen aus Krieg der Sterne erinnert. Spannend wie die Sterbenden sich im Nebel auflösen und ein besonderer Coupe den Monolog „Sein oder Nichtsein“ ans Ende zu stellen und ihn von Horatio sprechen zu lassen. Sterben eine aktuelle Frage zu jeder Zeit, doch fokussiert in Zeiten tödlicher Pandemien. Wieder zeigt sich, dass die häufig belächelte „sogenannte“ Theaterprovinz beeindruckende Inszenierungen auf die Bühne bringt, die sich hinter Inszenierungen der sogenannten 1. Liga nicht verstecken müssen. Merci & Chapeau!
Leserkritik: Übergewicht, unwichtig: Unform, München
"Übergewicht, unwichtig: Unform" von Werner Schwab, Münchner Volkstheater, Regie: Abdullah Kenan Karaca

Nur alle paar Jahre kommt „Übergewicht, unwichtig: Unform“ in einer neuen Inszenierung auf die Bühne: zuletzt 2014 am Schauspielhaus Zürich, 2017 am Schauspiel Dortmund. In dieser Woche eröffneten das Münchner Volkstheater und Hausregisseur Abdullah Kenan Karaca den kurzen Rest der Spielzeit, der nach dem Lockdown noch übrig ist, mit der deftigen Wirtshaus-Groteske von Werner Schwab, die auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1991 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt wurde.

Das Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch könnte kaum weiter von Robert Borgmanns aseptischer, ganz in weiß gehaltener „Hamlet“-Traumwelt eine Woche zuvor am Residenztheater entfernt sein: Dreck und Stroh liegen am Boden, die Kostüme sind bewusst unvorteilhaft und schäbig, die Spielerinnen und Spieler sind zum Teil mit Fatsuits aufgepolstert, an den hässlichen Wänden sammeln sich nach dem ersten Akt die Blutspritzer des kannibalischen Exzesses, in den sich die tumbe Dorfbevölkerung hineinsteigert.

ist sicher nicht Werner Schwabs bestes Stück. Zu deutlich bleibt es hinter „Die Präsidentinnen“ zurück, mit dem er seinen Durchbruch hatte und das bis heute sein meistgespieltes Werk ist. Aber die Wirtshaus-Groteske ist ein unterhaltsames Ensemble-Stück, das sich für die Wiedereröffnung des Münchner Volkstheaters nach den harten Monaten des Lockdowns eignet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/21/ubergewicht-unwichtig-unform-munchner-volkstheater-kritik/
Leserkritik: "NAME HER", Berlin
Theatertreffen 2021 – Marie Schleef: NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+, Ballhaus Ost, Berlin / Münchner Kammerspiele / Kosmos Theater, Wien – Aufzeichnung (Regie: Marie Schleef)

Von Sascha Krieger

Ein Schlüsselmoment dieses Abends findet sich bereits im ersten Viertel: Da befasst sich Anne Tismer gerade mit der Barock-Komponistin Francesca Caccini. Soeben hat sie die Besonderheiten ihrer Musik skizziert, da lädt sie zur Hörprobe: „Das wollen wir uns mal eben anhören.“ Andächtig lauscht sie – der Stille. Denn die Werke Caccinis sind verschollen, die Italienerin eine Leerstelle der Musikgeschichte. Damit ist sie exemplarisch für das, worum es in diesen knapp sechs Stunden geht: die Frau als Leerstelle der Geschichte, der Geschichtsschreibung, Begriffe, die ironischerweise grammatisch weiblich sind – in der Praxis dagegen männlich. Männer schreiben und forschen über Männer, der männliche Blick bestimmt die kollektive Weltsicht, der Frau kommt dabei kaum mehr als eine Nebenrolle zu. Diesen weiblichen Blick einzubringen hat sich die Theatermacherin Marie Schleef auf die Fahnen geschrieben – und das tut sie nirgends so konsequent wie an diesem Abend.

(...)

Da geht es leichtfüßig in den Überbau, jenseits der Aufzählung erzählwürdiger Frauengeschichten hin zur Benennung, zur Namensgebung oder eben -entziehung und -verweigerung als Machtinstrument, als Mittel der Aufrechterhaltung patriarchaler Diskurshochheit. So spielerisch, so tänzerisch augezwinkernd und doch hartnäcking, freundlich lächelnd und nicht nachlassend gräbt sich der Abend kaum merklich vor zum Essenziellen, zum Grundsätzlichen zum Kern, wie Geschichte geschrieben, Diskurs strukturiert, Realität benannt wird – und warum, von wem, mit welchen Folgen. Wobei der Blick auch dezidiert nicht eurozentrisch ist. Schleef und Tismer rücken etwa afrikanische oder südamerikanische Frauen in den Fokus – als Alternativen oder als Objekte kolonialistischer Pespektive. Marginalisierung, auch das will der Abend zeigen, ist nicht eindimensional, das Verdrängen und Verschweigen oft komplex.

Anne Tismer spricht und tanzt und spielt und ahmt nach und illustriert. Mit ihrem aufgekratzen Konversationston bringt sie Geschichten wie Zusammenhänge nahe und schafft zugleich dem Publikum genügend Distanz, genauer erkennen zu können. Es ist eine enzyklopädische Arbeit, eine Wissensflut, in ihrer Fülle überwältigend, aber voller Zugänge. Und auch Brüche, Verunsicherungen (auch negative Biographien werden nicht ausgespart), die immer wieder über die bloße Aufzählung hinausgehen, in die Tiefe weisen, ans Eingemachte gehen und am patriarchalen Kern gesellschaftlicher Verabredungen rütteln. „What’s in a name?“, lässt Shakenspeare seine Julia fragen. Viel, alles, sagen Marie Schleef und Anne Tismer und zeigt Jule Saworski. In sechs nie ermüdenden Stunden erschaffen sie ein Gegennarrativ und entlarven gleichzeitig das, dem sie entwas entgegenstellen. Theatral, vielschichtig, detailreich, gedankenscharf. Der anekdotische Ton verbirgt nicht die Untiefen dieses Terrains, im Gegenteil, es öffnet sie dem Blick. In den sichtbar Gemachten Verschwiegenen lauert der Abgrund. Namen, die Benennung sind der Abgrund und seine Lösung. Hier liegt der Kern dieses Augen öffnenden, unterhaltsamen und verunsichernden Abends.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2021/05/24/die-macht-des-namens/
Leserkritik: clair obscur, Berlin
"clair obscur", cie. Toula Limnaios, Halle Tanzbühne Berlin

Der Clou dieser Choreographie ist ihre gewitzte Antwort auf die Corona-Abstandsregeln. Vier Gaze-Vorhänge teilen den Raum, in jeder Box ist Platz für ein Paar. Oft sind die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie nur schemenhaft wie die Traumgestalten aus Sebastian Hartmanns „Der Zauberberg“-Live-Stream zu erkennen, bevor die Lichtregie (Felix Grimm/Dominik Engelmann/Jan Römer) aufblendet und sie wieder stärker in den Fokus nimmt.

Limnaios lädt zu einer einstündigen, meditativen Reise ein, einem Spiel aus Licht und Schatten, das bewusst für sehr viele Interpretationen offen ist und assoziativ mit Topoi aus der romantischen Literatur und Mythen spielt. Wer ihre Arbeiten schon länger verfolgt, erkennt auch in „clair obscur“ zentrale Motive wieder, z.B. die Doppelgänger, die auch ihren „isson“-Abend prägten. In den stärksten Momenten des kurzen Abends doppeln sich die Bewegungen hinter den einzelnen Gaze-Vorhängen punktgenau oder stellen sich alle Tänzer*innen in eine geraden Linie in der Sichtachse zwischen den beiden Zuschauerblöcken auf. Meist bricht sich aber die Individualität ihre Bahn.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/28/clair-obscur-toula-limnaios-kritik/
Leserkritiken: Wiedereröffnungs-Projekte
Leserkritiken: "Stronger Still", Gorki-Installation und "Teatro Delusio", Familie Flöz/Komödie am Kudamm im Schillertheater

Mit einem Herzensthema starten Shermin Langhoff und ihr Gorki Theater in den Rest der Spielzeit, den der siebenmonatige Lockdown noch übrig ließ: die Verletzung der Grund- und Menschenrechte, die staatliche Repression, vor allem in der Türkei.

Als Überraschungsgast eröffnete Deniz Yücel den Reigen der Gast-Redner fort: Der ehemalige taz- und Springer-Redakteur beschrieb seine Erfahrungen im türkischen Knast. Er erlebte Silivri, das größte Gefängnis der Türkei, wo er 2017/18 inhaftiert war, als geruchs- und farblosen Ort ohne Privatsphäre, in dem er der Willkür staatlicher Macht ständig ausgeliefert war.

„Silivri. prison of thought“, den Nachbau der Gefängniszelle von Can Dündar, können die Besucher im Garten betreten. Der ehemalige Chefredakteur von Cumhuriyet hat bereits 2016 sein Exil am Gorki Theater gefunden und im Rahmen von „Stronger Still“ auch gemeinsam mit Hakan Savaş Mican im Gorki-Studio die Installation „museum of little things“ kuratiert. In diesem Raum werden Alltagsgegenstände aus der Haft-Zeit von Regime-Gegnern gezeigt, in Videoinstallationen an den Wänden sind die beiden Gorki-Ensemble-Mitglieder Sesede Terziyan und Taner Şahintürk mit kurzen Texten in Dauerschleife zu erleben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/02/stronger-still-gorki-theater-herbstsalon-kritik/

Das "Teatro Delusio" ist die Wiederaufnahme eines der erfolgreichsten Stücke der Berliner Puppentheater- und Pantomime-Künstler „Familie Flöz“. Bereits 2004 hatte das Stück seine Premiere im damaligen Stammhaus der Compagnie, dem Glashaus der Arena in Treptow. Nach internationalen Gastspielen ist es nun wieder in Berlin zu sehen.

Der Clou des Stücks „Teatro Delusio“ ist, dass diejenigen im Scheinwerfer-Licht stehen, die für einen reibungslosen Ablauf unabdingbar sind, aber kaum Aufmerksamkeit bekommen. Die Mitarbeiter auf der Hinterbühne stehen im Zentrum dieser pantomimischen, ganz ohne Worte auskommenden Komödie. Die Diven und Stars sehen wir immer nur kurz, wenn sie sich mit dem Rücken zum realen Publikum vor einem fiktiven Auditorium verneigen.

„Teatro Delusio“ ist eine skurril-witzige Feier des Theaters und gerade deshalb ein guter Wiedereinstieg ins Theater nach sieben Lockdown- und Streaming-Monaten. Mit seinen 90 Minuten ist das „Teatro Delusio“ auch wesentlich publikumsfreundlicher und leichter verdaulich als die Premieren am Berliner Ensemble und der Schaubühne, die jeweils knapp vier Stunden dauern sollen und die Pilotphase am Ende der Woche abschließen, oder gar Frank Castorfs mehrmals verschobene neue Produktion, die vermutlich wieder bis weit nach Mitternacht dauern wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/02/teatro-delusio-familie-floz-komodie-im-schillertheater-kritik/
Leserkritiken: When there's nothing left to burn, Autorentheatertage DT Berlin
"When there´s nothing left to burn you have to set yourself on fire", Autorentheatertage-Uraufführung von Chris Michalski im Innenhof des DT-Berlin, Regie: Tom Kühnel

Das Stück spielt im Paunsdorf Center, laut Eigenwerbung größtes Einkaufszentrum Sachsens. Es ist das Revier der Influencerin und Video-Bloggerin Petra, die von Katrin Wichmann mit Hippster-Mütze verkörpert wird. Ihr Bekannter Jan L. hat sich umgebracht. Mitten im Einkaufszentrum hat er sich selbst angezündet, traumatisiert vom Afghanistan-Einsatz und als Fanal gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft.

Die Influencerin, die sich über mangelndes Interesse an ihren Videos beklagt, macht sich auf die Suche nach Gesprächspartnern: Jans Bruder (Manolo Breitling), seine Ex-Freundin, eine Bundeswehr-Kameradin, eine Center-Angestellte – sie alle werden von Petra, die Wichmann mit klischeehafter Aufgekratztheit spielt, vor die Kamera gezerrt. Mal in vorproduzierten Videos von Bert Zander, mal live auf der Bühne unterhalten sich die Figuren über ihr Verhältnis zu Jan.

Diese Gespräche bieten wenig theatralisches Futter. Im Gegensatz zu den Textflächen, die in der zeitgenössischen Dramatik angesagt sind, bieten sie zwar Dialoge mit klaren Rollenverteilungen. Aber die Figuren bleiben konturlos. Es wird viel geredet an diesem 80 Minuten kurzen Abend, Petra kommt ihrem Ziel jedoch kaum näher. Tragikomisch scheitert ihr Versuch, an eine Selbstverbrennung zu erinnern. Bemerkenswert ist, dass dieser Text schon die zweite Annäherung binnen weniger Monate auf dem DT-Spieplan an das Thema Selbstverbrennungen. Kurz vor dem zweiten Lockdown inszenierte Jossi Wieler in den Kammerspielen Peter Handkes poetisch-versponnene Spurensuche „Zdenek Adamec“.

Immerhin darf Anja Schneider noch einige witzige Akzente setzen: In kleinen Comedy-Nummern putzt sie als Jans sächselnde Ex-Freundin Petra herunter und macht ihr Vorhaltungen, dass sie sich bei jedem im Center hochschlafen wollte. Als Jans Mutter purzelt sie durch eine der Öffnungen in Jo Schramms Hüpfburg-Bühnenbild in einem Slapstick-Auftritt. Auch die letzte Szene gehört ihr: zur Klampfe stimmt sie den Evergreen „Sag mir wo die Blumen sind…“ an.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/05/when-theres-nothing-left-to-burn-you-have-to-set-yourself-on-fire/
Leserkritik: Eine Stimme für Deutschland, Berlin
"Eine Stimme für Deutschland", Peter Lund/Thomas Zaufke, UdK-Studierende im 3. Musical-Ausbildungsjahr, Neuköllner Oper

Das Duell zweier Opportunistinnen, die sich im Kampf um das Bürgermeisterinnenamt einer fiktiven Kleinstadt im Westen der Republik bis aufs Messer bekriegen, zeichnen Peter Lund (Text und Regie) und Thomas Zaufke (Komposition) in ihrer neuen Produktion an der Neuköllner Oper nach. Gemeinsam mit den Musical-Studierenden im 3. Ausbildungsjahr an der UdK Berlin bieten sie dem Publikum im überhitzten Dachgeschoss eine Polit-Farce mit grellen, kolportagehaften Wendungen und einem unterhaltsam-süffigen Plot.

Regula Hartmann-Hagenbeck (Veronika de Vries) und Alina Deutschmann (Joel Zupan) können sich nicht ausstehen, wohl auch, weil sie sich zu ähnlich sind. Formal vertreten sie zwar Standpunkte aus unterschiedlichen politischen Spektren: hier die emanzipierte Frau mit Doppelnamen, die sich für mehr Bio und Weltoffenheit einsetzt, dort die glamouröse Rivalin, die es genießt, mit rechtspopulistischen Parolen zu provozieren und damit das Scheinwerferlicht auf sich zu ziehen. Schnell wird aber klar, dass sie bei ihren politischen Positionen recht flexibel sind. Der Wille zur Macht ist es, der sie antreibt: die eine möchte ein schwarz-grünes Bündnis schmieden und muss sich von ihrer aktivistischen Tochter Sophie (Maria Joachimstaller) Verrat an ihren Idealen vorhalten lassen, die andere trat erst vor sechs Monaten in die rechtspopulistische Bewegungspartei ein, da sie sich dort die größten Chancen ausrechnet, ihre Karriere voranzutreiben und auch offene private Rechnungen zu begleichen, die im Zentrum der zweiten Stückhälfte stehen.

Die Story nimmt einige aberwitzige Wendungen, spielt auf Watergate an, fährt ein Arsenal von Intrigantinnen auf und wird musikalisch von einem Stil-Mix begleitet, der sich ironisch in der Musik-Geschichte bedient, mal Motive von Johann Sebastian Bach variiert, mal wie Bert Brecht/Kurt Weill klingt und gerne auch mal zur Hommage an die West Side Story wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/12/eine-stimme-fur-deutschland-musical-neukollner-oper-kritik/
Leserkritik: Dein Platz in der Welt, Stuttgart
Einzig die Poesie kann helfen...

das Chaos der täglichen Wirklichkeit zu ertragen. Das ist für mich die Botschaft aus dem Theaterstück "Dein Platz in der Welt" von Dominik Busch, heute im Studiotheater Stuttgart.

Ein Mensch wird von Geldeintreibern verfolgt und läuft auf der Flucht vor einen Bus, der im Ausweichen in eine Menschenmenge steuert. Dieses Ereignis verknüpft die Schicksale vieler Menschen. Von einigen erzählt dieses Stück.

Da ist die Busfahrerin, die nach dem Unfall als Uber Taxifahrerin arbeitet „Ich habe meinen Job verloren. Aber ich muss leben. Ich bin nun mal Fahrerin, wissen Sie“, erklärt sie Fahrgästen, wenn sie aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen eine Starrkrampf bekommt. Sie bittet ihre Fahrgäste selbst zu fahren. So übergibt sie das Steuer den Anderen, einem Betrunkenen, einer Frau ohne Führerschein und zuletzt einem blinden Obdachlosen, der auf andere Weise alle Geschichten verbindet. Das einzige, was zwischenzeitlich hilft ihre Fahr-Blockade zu lösen, ist ein Gedicht von Josef Eichendorf, das auch den Abschluss bildet.

Sinds die Häuser, sinds die Gassen?
Ach ich weiß nicht, wo ich bin,
hab' ein Liebchen hier gelassen
und manch Jahr ging seitdem hin...

Dann gibt es noch eine Familie, die an Schuldzuweisungen aus einem beinahe Unfall zerbricht, eine Tochter, die vor ihrer Hochzeit erfährt, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist, ein Geschäftsmann, der seine Ansteckung mit Aids nicht wahrhaben will und einiges mehr....

Alles keineswegs linear erzählt, sondern ineinander verschachtelt, eher ähnlich einer Gedankenmühle, die einen abends im Bett nicht loslässt und nicht einschlafen lässt. Möglich wird das durch einen genialen Bühnenaufbau. Die Seitenwände sind mit halb transparenten Plastikfolien verhängt, hinter denen die zwei Schauspieler und drei Schauspielerinnen im Graubereich der Wahrnehmung ausharren und abwechselnd hervortreten. Im Bühnenhintergrund hinter einer transparenten Leinwand spielen sie zwischenzeitlich Szenen ab, die an Figuren von Hieronymus Bosch oder Max Ernst erinnern. Die Darstellung eines mit Benzin überschütteten Obdachlosen, wie er gefangen in seinem Schlafsack verbrennt, wird mir noch lange keine Ruhe geben.

Trotzdem gibt es, wie im richtigen Leben, auch lustige und komische Szenen. Alles hervorragend gespielt und dargestellt auf allerhöchstem Niveau von allen fünf Akteueren. Ein Theaterabend, den ich nicht so schnell vergessen werde und nicht nur deshalb, weil es seit einem Jahr der Erste war. Es gibt kein Theater in Stuttgart, das mich so oft begeistert hat wie das Studiotheater, das mit seinen geringen finanziellen Mitteln einen Wert bietet, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Vielen herzlichen Dank allen Beteiligten.
Leserkritik: Mephisto, HfS Berlin
"Mephisto" nach dem Roman von Klaus Mann, HfS Ernst Busch am Berliner Ensemble.

Der Roman eignet sich für die Leistungsschau eines Schauspiel-Jahrgangs recht gut, da er ein reiches Arsenal von Figuren bereithält, das sich fair auf fünf Spieler*innen aufteilen lässt, das aber – mit Abstrichen im Mittelteil des Abends – auch für das Publikum nicht zu unübersichtlich wird. Als Conférencier führt Jakob Schmidt in die Inszenierung ein, als Hermann Göring und Kritiker-Karikatur/Theophil Marder kann er sein komisches Talent und seine Wandlungsfähigkeit beweisen. Neben Dominik Hartz als Hendrik Höfgen, hinter dem unschwer Klaus Manns Schwager Gustaf Gründgens zu erkennen ist, hat er die markantesten Auftritte des Quintetts. In diesem Jahrgang gibt es aber niemand, der das Stück so an sich reißt wie Jonas Dassler in „Dantons Tod“ an der Schaubühne.

Der steile Aufstieg des Opportunisten Höfken bis zum Intendanten des Staatstheaters endet mit seinem völligen Zusammenbruch. Nur noch ein Häuflein Elend ist er am Ende dieses Abend, als er den Hamlet-Totenkopf umklammert, wimmernd am Boden liegt und erkennt, dass sein faustischer Pakt gescheitert ist.

Die Roman-Adaption ist vor der Sommerpause noch heute und morgen im Neuen Haus des Berliner Ensembles zu sehen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/16/mephisto-ernst-busch-berliner-ensemble-kritik/
Leserkritik Landestheater S-H: Theaterpädagogik in Zeiten der Pandemie
Theaterpädagogik in Zeiten der Pandemie
Die Spielzeit 2020/21 war für die neue Generalintendantin Frau Dr. Lemm am Schleswig-Holsteinischen Landestheater der Kampf mit der Pandemie. Es hatte viele Pläne für die erste Spielzeit unter Ihrer Ägide gegeben, die zum großen Teil Corona zum Opfer fielen. Sie hatte sich stark für die Theaterpädagogik engagiert, um junges Publikum für das Theater zu begeistern. Dieses Versprechen hat sie mit ihrer dreiköpfigen Theaterpädagogik und theaterbegeisterten Bufdis vehement umgesetzt. Die Jugendclubs wurden digital und online durchgeführt. Man hat sich schnell auf die neuen Gegebenheiten eingestellt und den Jugendlichen ihre Jugendclubs im digitalen Raum ermöglicht. Theater in der Pandemie, in neuem Gewand, gab den Jugendlichen die Chance, Theater zu spielen. So entstanden im Laufe der Spielzeit von den drei Jugendclubs in Flensburg, Rendsburg und Schleswig digitale Theaterprojekte, die in den letzten 14 Tagen der Spielzeit bis zum 27. Juni auf YouTube unter Schleswig-Holsteinisches Landestheater zu bestaunen sind. Es sind die selbst entwickelten Performances „The Core – Der Kern“, „Zimmer 11“ und „Das ist doch nur ein Märchen“. Gemeinsam ist allen drei Projekten, dass sie sich mit den Fragen, Hoffnungen ihrer Welt befassen. So wurde es für die theaterbegeisterte Jugend in Schleswig-Holstein ohne Kunst & Kultur nicht still. Die Ergebnisse der Jugendclubs sind interessant und zeigen, wie wichtig es ist, sich insbesondere um die Jugend zu kümmern. Sie sind das Theaterpublikum der Zukunft und der Garant für lebendiges, herausforderndes Theater in der Zukunft. Herzlichen Dank der Intendanz und der Theaterpädagogik, dass sie so vehement für das Theater mit und für Jugendliche in dieser Zeit der Pandemie gekämpft haben. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch das Mehrgenerationenprojekt „Raubkatzen im Flur“ in Kooperation mit der Europa-Universität-Flensburg, Kunst & Kultur in Zeiten der Pandemie beflügelte. Dank der neuen Intendantin Frau Dr. Lemm für diese Initiativen in Zeiten der Pandemie, denn das Theater gehört der Jugend.
Leserkritik: Die Monster vom James-Simon-Park, Junges DT
Die Monster vom James-Simon-Park, livestream/on-demand, Deutsches Theater Berlin, Junges DT

Quasi als Abschluss-Praline einer besonderen Saison beschert das Junge DT, das sich insgesamt mit neuen und überraschenden Formaten in der Pandemie gut geschlagen hat, diesen Teeny-Horror-Slasher als one-take-Video mit Tiefgang. Das ist technisch extrem versiert gemacht, Kameralogistisch beeindruckend und darüber hinaus auch noch sehr, sehr witzig. Ein bisschen Insiderwissen zu aktuellen Horrorfilmen schadet nicht, ist aber nicht notwendig. Das junge, talentierte Cast spielt durchweg überzeugend, sehr authentisch und begibt sich in interessante Auseinandersetzungen mit den aktuellen Diskursen. Und eben: Party, Drogen, sinnlose Gewalt, 80-er Jahre Soundtrack der direkt in den A*** geht und Kunstblut und sinnlose Gewalt. What's not to like?
Leser:innenkritik: Unterm Rad, Theater Bonn
Ich bin gestern mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse in diese digitale Premiere eines partizipativen Projekts am Theater Bonn gestolpert, ohne große Erwartung. Eine entfernte Bekannte, deren Tochter bei dem Projekt mitwirkt, hat mich zu der Premiere eingeladen, vielleicht auch als Geste an ihre Tochter, da ich eben am Theater und speziell mit partizipativen Formaten arbeite. So musste ich mich aus Höflichkeit etwas überwinden, mich an einen schönen Sommerabend vor den Computer zu setzen. Aber was ich dann erleben durfte, woran ich dann teilhaben durfte, hat mich schlichtweg überwältigt. In knapp 2 Stunden haben mich 18 junge Menschen und 2 Schauspieler*innen (wobei diese Unterscheidung bei diesem Projekt eigentlich sinnlos ist, so sehr passiert hier alles auf Augenhöhe und gleichberechtigt neben- und miteinander) auf eine Reise mitgenommen, in ein faszinierendes Gewebe aus unterschiedlichen Zeiten, visuellen Ebenen und Texten, von Hesse und auch wahrscheinlich selbstgeschrieben von den Jugendlichen. Live gespielt zuhause via Zoom, vermischt mit Videos von der Theaterbühne und aus der Natur: ich habe bis zum Ende nicht begriffen, wie diese Mischung unterschiedlichster Formen und Stränge "funktioniert". Aber es war ein staunendes Nicht-Begreifen. In 2 fesselnden Stunden hat diese räumlich voneinander getrennte Gruppe den Text von Hesse nach Heute geholt und mich in einem tief empfundenen Kontakt mit den 20 beteiligten Menschen gebracht. Alle hatten ihre Momente, mit allen haben ich mich verbunden gefühlt und das trotz dem "nur" digitalen Format. Ich bin wirklich nachhaltig berührt und dankbar, das erlebt zu haben. Und ich werde mir sicher noch eine Vorstellung ansehen. Diesmal nicht aus Höflichkeit, sondern weil ich dieses mich auf verschiedenen Ebenen überwältigende Erlebnis nochmal mit vollem Bewusstsein darauf machen möchte.
Leserkritik: Joy of Life, HAU Berlin: beliebig
"Joy of Life", Ersan Mondtag und Ensemble, HAU 1, Berlin

Mit sarkastischem Humor nennt Ersan Mondtag seine Choreographie „Joy of Life“. Von Lebensfreude ist in diesen 90 Minuten jedoch wenig zu spüren, im Gegenteil: „Joy of Life“ ist ein Trip durch Albtraumwelten.

An zwei Motive früherer Arbeiten knüpft Mondtag an: Kindheitstraumata und Mobbing standen schon im Zentrum Mondtags wohl bester Inszenierung, der bildstarken Dortmunder Geisterbahn-Fahrt „Das Internat“. Joy Philipp Reinhardt, der sich damals als Opfer am Boden krümmte, ist auch Teil dieser Performance, die das HAU gemeinsam mit Kampnagel, Mousonturm und dem Theater Freiburg produzierte.

Ein zweiter zentraler Strang ist der Auftritt von Kate Strong als gnadenlose Ballett-Lehrerin, die den Rest des Ensembles drillt und damit die während des Lockdowns heftig geführte Debatte um Arbeitsbedingungen von Künstlern aufgreift. Diese Passagen knüpfen auch unmittelbar an Ersan Mondtags „It´s going to get worse“ am Gorki Theater an, wo Kate Strong vor wenigen Wochen von der Off-Stimme von Melanie Jamie Wolff gedemütigt wurde, sich an ihre Ausbildung an der Londoner Royal Ballet School erinnerte und in eine Rache-Phantasie an ihrer Mutter hineinsteigerte.

Trotz dieser beiden wiederkehrenden Motive wirkt „Joy of Life“ zu beliebig. Der Abend versucht, von Klimawandel über Flüchtlingselend bis toxischen Arbeitsbedingungen am Stadttheater den ganz großen Krisen-Bogen zu schlagen. Auch tänzerisch wirkt dieser Ausflug des Sprechtheater-Regisseurs Mondtag in ein neues Feld nicht überzeugend: näher an der Performance als am Tanz ist das Gebotene, obwohl auch bekannte Namen aus der Berliner Szene wie Rob Fordeyn aus der Dorky Park-Compagnie von Constanza Macras dabei sind. Wenige starke Bilder bleiben in Erinnerung, zum Beispiel als Rob Fordeyn vom Rest des Ensembles in Ku-Klux-Klan-Kapuzen (Kostüme: Teresa Vergho) bedrohlich umkreist wird und Carl Orffs „Carmina burana“ erschallt.

Dass „Joy of Life“ etwas zu beliebig und unfertig wirkt, liegt sicher auch am enormen Produktionsdruck, dem sich Ersan Mondtag aussetzte. Der Juni 2021 war ein Ersan Mondtag-Festspiel-Monat: „Joy of Life“ war die die dritte Premiere innerhalb von zwei Wochen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/26/joy-of-life-ersan-mondtag-performance-kritik/
Leserkritiken: Im Process, Düsseldorf
Ich fände es bedauerlich, wenn diese ambitionierte kleine Produktion im Zentralorgan der Theaterkritik unbeachtet bliebe. Deshalb verlinke ich ausnahmsweise zu einem anderen Ort: https://www.kultura-extra.de/theater/spezial/TdW2021_ImProcess.php
Leserkritik: Tornado, Berlin
"Tornado - Ein Klima-Theater-Desaster", Regie: Tobias Rausch, TD Berlin

Corona-konform in Kleingruppen wird das Publikum bei den ersten beiden Stationen im Frontal-Unterricht über die Klimakrise aufgeklärt. Ein Tornadojäger und eine Polarforscherin des Alfred Wegener-Instituts berichten aus ihrem Arbeitsalltag und wollen aufrütteln. So weit, so bekannt – doch anders als bei Rimini Protokoll oder zuletzt bei „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ stehen die Expert*innen nicht real auf der Bühne, sondern Schauspieler*innen sprechen ihre Texte: an diesem Abend Bettina Grahs, die aus vielen Inszenierungen der Freien Szene bekannt ist, und Dramaturg Manuel Rivera, der sich mit Florian Hertweck abwechselt.

Doch wie nah geht uns das schon so oft Gehörte? Dass es allerhöchste Zeit ist, nun gegenzusteuern, wurde x-fach in den Medien und von Wissenschaftler*innen dargelegt. Doch genauso unbestritten ist, dass bisher viel zu wenig passiert ist, um den Klimawandel zu stoppen. Als die „Krise der Imagination“ beschreibt Bettina Grahs in ihrer Doppelrolle als Performerin und Klimaaktivistin die zentrale Herausforderung, vor der dieser Abend steht.

Nach dem Frontal-Unterricht versucht das Team im letzten Raum deshalb, mit Windmaschine und Bühnennebel zumindest einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, welche Folgen der Klimawandel hat. Doch zuvor kommen vom Stimmen aus einem Schweizer Bergtal: Geröllmassen bedrohten die Dörfer, die Natur schlug zurück. In Interviews mit „Ende Gelände“ und anderen Aktivist*innen erfahren wir von den Schikanen der polnischen Polizei, die Demonstrant*innen gegen ein Kohlekraftwerk einkesselte, sie zwang, sich auszuziehen, und ihnen Häftlingsnummern mit Edding auf die Arme malte.

Im Schlussbild wütet kurz die Tornado-Simulation durch den Raum, bevor draußen Fragebögen des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) ausgeteilt werden. Gelingt es dem Abend, bleibende Bilder zu hinterlassen? Oder muss das Theater mit gut gemeinten Projekten zwangsläufig scheitern? Den tieferen Eindruck hinterließen bei mir jedenfalls die TV-Aufnahmen vom abgedeckten Dach der Stuttgarter Oper nach dem ganz realen Unwetter vom Dienstag.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/01/tornado-klima-theater-desaster-td-berlin-kritik/
Leserkritik: Was der Butler sah, München
"Was der Butler sah" von Joe Orton, Regie: Bastian Kraft, Marstall des Residenztheaters München

Herausragendes leisteten an diesem Abend vor allem die Kostüm- und Maskenbildner*innen: Juliane Köhler (Psychiater Dr. Prentice) und Charlotte Schwab (Gutachter Dr. Rance), Grandes Dames des Residenztheater-Ensembles, sind kaum wiederzuerkennen, wenn sie als alte Männer, die ihre Notgeilheit zwischen wissenschaftlichen Phrasen und psychoanalytisch-freudianischem Fachjargon verstecken. Nicht weniger eindrucksvoll sind Kostüm und Make-Up von Florian von Manteuffel als exzentrisch-nymphomanische, langbeinige Psychiater-Gattin mit Schmollmund und Christian Erdt, der als Geraldine Barclay jedes Klischee der naiv-unschuldigen, blonden Sekretärin erfüllt.

Die Türen klappern in Wolfgang Menardis Bühnen-Setting wie im Ohnsorg- oder Bauerntheater. Joe Orton, das viel zu früh verstorbene Enfant terrible der britischen Theaterszene parodiert die Boulevard-Komödien und ihre Verklemmtheiten. In seiner temporeichen Persiflage auf eine Farce lässt er sich voll auf das Genre ein und überspitzt jede Szene, bis auch dem letzten Zuschauer überdeutlich wird, wie fragwürdig und zeitabhängig die Normen sind, in denen sich das sexbesessene, promiskuitive Figuren-Personal dieses Abends verheddert. Bastian Kraft dreht die Schraube noch weiter. In der radikal künstlichen Welt dieses Irrenhauses „voller Klischees und greller Unwahrscheinlichkeiten“ (Bastian Kraft in seinem Programmheft-Essay „Das ist doch (nicht) normal“) wird die Travestie zum Leitmotiv. Unter all den üppigen Fake-Brüsten und Riesen-Umschnall-Dildos klafft der Abgrund.

„Was der Butler sah“ ist nicht so metatheatral-verkopft wie Krafts Resi-Debüt „Lulu“ (2019) an selber Stelle, bei dem Köhler und Schwab auch schon als Cross-Dresser auftraten. Der Abend lebt von der tollen Vorlage, die der designierte Volksbühnen-Intendant René Pollesch glänzend übersetzt hat: in distinguiertem Ton verhandeln die Figuren ihre Geilheit.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/10/was-der-butler-sah-bastian-kraft-marstall-munchen-theater-kritik/
Leserkritik: Die drei Musketiere, München
"Die drei Musketiere", Regie: Antonio Latella, Residenztheater München, Übernahme vom Theater Basel

Wer bei diesem Titel opulentes Mantel- und Degen-Ausstattungstheater erhofft, ist dem Regisseur Antonio Latella auf den Leim gegangen. Auf der leeren und für diese Inszenierung viel zu großen Residenztheater-Bühne toben die vier Harlekine in ihren Commedia dell´arte-Kostümen herum, nachdem sie die Bühne zu Adriano Celentano-Schlagern von den Seiten-Eingängen aus geentert haben.

Zwei Stunden lang bietet das Quartett Comedy mit manch flachen Kalauern, im nächsten Moment perfekt von Francesco Manetti einstudierte Choreographien, in denen sie steppen oder die Aufführungen der Spanischen Hofreitschule zum Radetzkymarsch persiflieren. Die Handlung des Roman-Klassikers von Alexandre Dumas wird nur kurz gestreift, die vier Schauspieler Nicolo Mastroberardino, Michael Wächter, Vincent Glander und an diesem Abend Elias Eilinghoff, der sich mit Max Rothbart abwechselt, nutzen die Figuren von Artamis, D´Artagnan und Co. als Spielmasse für ihre Meta-Theater-Komödie, in der sie sich ausgiebig über Dramaturgen lustig machen, die zu spät gekommene Eva immer wieder in ihre Wortgefechte einbeziehen oder einfach nur blödeln.

Ein bunter Strauß an mehr oder weniger witzigen Einfällen sind diese „Drei Musketiere“, die oft Spaß machen, aber zu lang geraten sind und insgesamt doch auch ziemlich banal. Deshalb überrascht es, dass die Theatertreffen-Jury die Inszenierung für ihre 2020er-Auswahl in der Diskussion hatte. Dort machte sich Latella aber selbst Konkurrenz: er wurde mit seiner wesentlich stärkeren, stilistisch völlig anderen Münchner Inszenierung „Eine göttliche Komödie“ eingeladen. Leider konnte dieses Highlight der Spielzeit im Corona-Jahr weder live gezeigt noch gestreamt werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/11/die-drei-musketiere-residenztheater-munchen-kritik/
Leserkritik: Erinnnerung eines Mädchens, München
"Erinnerung eines Mädchens" von Annie Ernaux, Regie: Silvia Costa, Residenztheater München, Marstall

Drei Frauen aus dem Residenztheater-Ensemble tasten sich gemeinsam mit der Autorin Annie Ernaux an die „Erinnerung eines Mädchens“ heran, das 1958 als Betreuerin in ein Ferienlager in Nordfrankreich fuhr und dort von einem ein paar Jahre älteren Jungen verführt und fallengelassen wurde. Das autofiktionale Buch von Ernaux erzählt von der Scham und der Demütigung, die sie damals als junge Frau erfuhr: in einer streng konservativen, patriarchal geprägten Gesellschaft auf dem Land aufgewachsen, fand sich das Mädchen, das von der großen, wahrehn Liebe träumte, wie sie die Schlager besingen, als Ausgestoßene wieder. Als „Flittchen“ wird sie gebrandmarkt, damals, zehn Jahre vor der politischen Revolte und sexuellen Liberalisierung von 1968. Jahrzehnte später blickt Ernaux nun in ihrem 2016 bei Gallimard erschienenen Bändchen „Mémoire de fille“ (deutsche Übersetzung 2018 bei Suhrkamp) auf die damalige Zeit zurück.

Vergleichbar mit den Texten von Didier Eribon unternimmt Ernaux den Versuch, eine sehr persönliche Emanzipationsgeschichte mit der Analyse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu verbinden. Als Text ist das hochinteresant, auf der Bühne wenig spielerisch umgesetzt. Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab, drei drei bekanntesten Akteurinnen im Ensemble des Residenztheaters, zelebrieren die Erinnerungsarbeit von Annie Ernaux als Messe im Halbdunkel. Kleine symbolische Gesten wie das Spannen von Fäden, das Belichten von Fotos oder das langsame Herabsinken eines Steins sind die einzigen spielerischen Momente.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/12/erinnerung-eines-madchens-marstall-residenztheater-munchen-kritik/
Leserkritik: Nasser #7 Leben, Berlin
"Nasser #7 Leben", Grips Podewil, Stream, Jugend-Dokumentartheater (ab 13)

Pünktlich zum CSD-Wochenende bietet das GRIPS Theater erstmals den Mitschnitt seiner preisgekrönten Jugend-Dokumentartheater-Inszenierung „Nasser #7Leben“, die seit März 2017 im GRIPS Podewil läuft.

Der einstündige Abend erzählt die wahre, sehr dramatische Geschichte von Nasser El-Ahmad, der in Berlin als ältester Sohn einer strenggläubigen muslimischen Familie aufwuchs. Sein strenger Vater tyrannisiert die gesamte Familie und schlägt den Sohn regelmäßig, die überforderte Mutter schaut weg. Auch sie stellt sich gegen ihn, als in Nassers Schule der Facebook-Post von einer Gay Beach-Party viral geht und seine Mitschülerin Janine Nassers Eltern erzählt, dass ihr Sohn schwul ist.

Auf der minimalistischen Bühne von Lea Kissing wird die Lebensgeschichte von Nasser, die er der Journalistin Susanne Lipp in mehreren Interviews erzählte, ohne viele Effekte geschildert. Immer wieder wurde Nasser von seiner Familie in Fallen gelockt. Obwohl er schon bei der Jugendhilfe in Sicherheit war, entführten ihn Vater und Onkel Richtung Libanon. In letzter Minute konnte er sich retten.

Maria Lilith Umbachs Inszenierung, die ab 25. August wieder live gezeigt wird, wurde von Katharina Tress für einen Stream bearbeitet, der gratis zwei Wochen lang abrufbar ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/23/nasser-7-leben-grips-podewil-stream-kritik/
Leserkritik: Romeo und Julia, Langenargen
Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler bilden die komplette Besetzung für Romeo und Julia beim Langenarger Theaterfestival.

… gespielt gestern leider im Saal statt im Freien vor der Bodenseekulisse.

Die anfängliche Skepsis und Enttäuchung wurde schnell weggewischt von einer interessanten Inszenierung. Im Text modern doch der Textrythmus hat an vielen Stellen eindeutig auf Schlegel/Tieck verwiesen und sofort Shakespeares Magie entfaltet. Gut durchdachte Handlungsstraffungen und der Verzicht auf Randfiguren haben der Geschichte nicht geschadet - im Gegenteil.

Großer Einsatzwille aller Akteure war schnell spürbar, manchmal vielleicht etwas übermotiviert aber im Gesamten sehr überzeugend, bedenkt man die teils schwierigen Rollenwechsel während des Stückes. Am meisten beeindruckt hat mich dabei die Julia, die für Johanna Greff das Debüt war. Das lässt in Zukunft noch einiges erwarten. Aber auch ihre drei Mitspieler sind es Wert namentlich erwähnt zu werden:

Steffen Essigbeck (Capulet, Tybalt), Birgit Unger (Sampson, Graf von Montfort, Amme, Bruder Lorenzo, Mercutio), Tobias Wagenblaß (Romeo, Lady Montague, Gregory)

Erstklassig auch die Choreographie der Fechtszenen. Als jemand der selbst viele Jahre Aikido und Kendo betrieben hat, war ich hier besonders skeptisch. Das, was die Akteure geboten haben, hatte nichts zu tun mit Mantel-und-Degen Getue, da war ernsthafter Kampfgeist zu spüren.

Ein tolles Angebot, das Langenargen hier aufbietet.
Leserkritik: Sarah, Berlin
"Sarah" von Scott McClanahan, Regie: Oliver Reese, Berliner Ensemble/Neues Haus

Mitten hinein wirft sich Schulze in die Lebensbeichte dieser Figur, die semiautobiografische Züge des Autors McClanahan trägt: auch der Protagonist heißt Scott und verarbeitet die Trennung von seiner Ex-Frau Sarah. Diese Sarah erleben wir zwar nicht auf der Bühne und wir erfahren auch sonst wenig über sie, aber nach den 100 Minuten habe ich vollstes Verständnis für die Frau. Diesen larmoyanten, Alkohol und Porno-süchtigen Loser, der chronisch eifersüchtig ist, konnte sie nicht länger ertragen, die Trennung war konsequent.

Eine sehr undankbare Aufgabe ist es für Marc Oliver Schulze, diese unsympathische und uninteressante Pappnase aus der Provinz tief im Mittleren Westen der USA auf die Bühne zu bringen. Er holt das Beste aus Figur und Text heraus. Aber es ist bezeichnend, dass die facettenreichste Figur mit den besten Szenen des Abends der todkranke Hund ist, der eingeschläfert werden muss. Sie bietet das erhoffte Schauspieler-Futter für Schulze und erholsame Abwechslung von Scotts Selbstbespiegelung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/15/sarah-berliner-ensemble-kritik/
Tanz im August, Berlin: Bilanz
Tanz im August, Festival-Bilanz

Das ironische Spiel mit Tanzstilen und die Auseinandersetzung mit kultureller Aneignung bilden den roten Faden des Festival-Jahrgangs 2021.

Beispiele dafür sind „Frontera/Border – A living Monument“ von Amanda Piña, die auf dem Autoscooter vor dem Haus der Statistik Gangsta-Rap und Hip-Hop auf einen Eroberungstanz der spanischen Kolonisatoren treffen lässt, oder "An evening-length performance" von James Batchelan, der Barock-Tanz mit der Atmosphäre der Club-Szene mischt.

Charakteristisch für den 2021er Jahrgang ist, dass das Festival-Team neben HAU und Sophiensaelen mehrere ungewöhnliche Orte bespielte: auf der Freiluftbühne Weißensee gastierte die Terre Dance Company mit "Underdogs". Die Tänzerinnen und Tänzer zitieren Posen von Straßenkämpfern, ballen die Faust im Black Panther-Stil und reihen Bild an Bild. Zu beliebig wirkt jedoch die Aneinanderreihung der Szenen. Auf der großen Freiluftbühne wirkt diese Arbeit oft verloren. Die subtilen Choreographien, die im Großaufnahme-Zoom oder in einer kleineren, intimeren Spielstätte wie dem Radialsystem ihre volle Wirkung entfalten könnten, kommen nicht recht zur Geltung.

In der MaHalla in Oberschöneweide gastierte "Archipel - Ein Spektakel der Vermischungen", eine der rätselhaft-sperrigen Arbeiten über neohumanoide Dasein, die dem Hype um Donna Haraway folgen. Eine Welle von Performances und Theaterarbeiten, die sich von der feministischen Biologin und ihren Thesen vom neohumanoiden Dasein und neuen Symbiosen inspirieren ließen, entstand in den vergangenen Monaten und Jahren. Auch die 90 Minuten „Archipel“ schweben in hermetischen Parallel-Welten, sind visuell eindrucksvoll, aber recht unergiebig.

Bevor René Pollesch im September an der Volksbühne startet, wurde die große Bühne von "Mailles" bespielt. Diese Inszenierung tourt momentan über die Festivals, zog gleich weiter zum Zürcher Theaterspektakel und erzählt mit einem Mix aus Spoken Word-Performance und tänzerischen Soli von Schmerz und Trauer schwarzer Frauen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/07/tanz-im-august-2021-festival-kritik/
Leserkritik: Krampus, Berlin
"Krampus: Pelz und Puderzucker" von Isabella Sedlak und Ensemble, Gorki Theater/Container

Als zweiten Teil des Doppelpremieren-Abends bot das Gorki Theater nach der ernsten Roman-Adaption „1000 Serpentinen Angst“ eine launige, 80 Minuten kurze Stückentwicklung auf der kleinen Bühne im Container.

Die österreichische Regisseurin Isabella Sedlak, Regie-Assistentin am Haus, nahm einen Brauch aus ihrer alpenländischen Heimat als Ausgangspunkt für den Abend: beim „Krampuslauf“ ziehen junge Männer in Fellkostümen durch die Straßen und prügeln mit Reisigbündeln auf Passant*innen ein. Ein Brauchtum, das auf archaischen Männerbildern gründet und – wie in der US-Horror-Film-Reihe „The Purge“, wo einmal im Jahr alles erlaubt ist – als Ventil für aufgestautes Testosteron und Aggressionen dient.

Mit ihrem rein weiblichen Team von fünf Spielerinnen (Maryam Abu Khaled, Yanina Cerón, Anastasia Gubareva, Orit Nahmias, Vidina Popov) hat Sedlak eine Nummern-Revue entwickelt, die um die Klischees der österreichischen Tourismus-Werbung und die Gewalt kreist. In den Mittelpunkt spielt sich immer wieder Vivida Popov, die als Conférencière mit Wiener Charme die heilsame Wirkung eines Retreats in dem Dörfchen Öd anpreist und die üblichen Floskeln der Selbstoptimierungs- und Ratgeber-Literatur durch den Kakao zieht.

Die Soli wechseln sich mit Gruppen-Choreographien, die Therese Nübling einstudiert hat, und Jodel-Comedy-Einlagen. Wie es bei Stückentwicklungen manchmal der Fall ist, wirkt der Abend jedoch nicht wie aus einem Guss, sondern wie das Ergebnis eines Arbeitsprozesses, bei dem alle Beteiligten viel Freiraum hatten, ihre Ideen zu verwirklichen.

„Für mich ist es die Lüge, dass die Gewalt kontrollierbar wäre, wenn man erst mal von ihr gekostet hat. Für mich ist es die Lüge, dass man sie einmal rauslässt und sich damit davon befreit“, zieht Maryam Abu Khaled, die davor schon Panikattacken thematisiert hatte, ein bitteres Fazit. Die Palästinenserin, die ihre Schauspielausbildung im Freedom Theatre in Dschenin erhielt und über das Exil Ensemble ans Gorki Theater kam, demaskiert in ihrem abschließenden Solo die männlichen Gewaltrituale, die als Brauchtum schöngeredet werden. Vor dem Hintergrund ihrer Gewalterfahrungen im Nahost-Konflikt wirkt die adventliche „Krampus“-Folklore-Gaudi der Landjugend in Isabella Sedlaks Heimat für sie doppelt fremd.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/28/krampus-pelz-und-puderzucker-gorki-theater-kritik/
Leserkritik: Sommerende I
Der August geht eben zu Ende. Der August galt in früheren Zeiten als Hochsommer-Monat. Jetzt riecht es schon nach Herbst - besonders an den Abenden. Und gelbe Blätter fallen schon. Die Sommer-Freilicht-Theater-Saison geht zu Ende (und sie war wohl an vielen Orten opulent), und sie wird zu einer Erinnerung.
Ich erinnere: Wir hatten großes Glück mit fünf wohltemperierten und niederschlagsfreien Abenden.

Es gab: "Gaia googelt nicht" (Nele Stuhler) auf dem Hofgelände des Deutschen Theaters in Berlin. Das Programmheft verspricht, es werde in den alten Mythen nach dem Beginn der heutigen Krisen (und deren Ende) gesucht.
Ich habe das nicht entdecken können. Wäre es nicht auch besser unter gegenwärtigen Umständen nach den Konditionen für die heutigen Krisen zu suchen? Brauchte es dazu nicht dann doch ein gut gebautes Drama (Drama als eine klassische und erprobte Kunstform verstanden)? Erinnerlich bleibt mir, wie Herr Baumgartner unter Benutzung der strengen Versform einen lyrischen Erguss dem kritischen Zuhören preisgibt, und wie Herr Khuon auf einer kleinen Erhöhung stehend mit leiser Stimme und ohne großes Getöse
und gestützt auf seine Lebens- und Berufserfahrung behauptet, er sei Zeus:
Da bleibt dann doch die Hoffnung, es werde vom Patriarchat ein kleiner Rest erhalten bleiben.

Zwei Tage später vor dem Deutschen Theater:
"Tartuffe oder Das Schwein der Weisen" von Peter Licht frei nach Moliere.
Ein idealer Spielort für einen Sommerabend -
aber warum müssen Menschen daherkommen und ein erprobtes Stück von einem erfahrenen Dramatiker umarbeiten? Fällt ihnen denn keine eigene Geschichte ein, erleben sie denn nichts?
Der Originaltext jedenfalls ist vernichtet, entfernt sind die konträren Handlungsabsichten von "Herr Frau (warum das?) Pernelle" gegenüber Orgon, desgleichen die Spannungen von Cléante und Dorine zu Orgon, Spannungen, die geeignet sind die Geschichte voran zu treiben. Reduziert ist die Verführung des Titelhelden auf das Wörtchen "geil". Ich fand das zu wenig.
Die anfänglichen Dialoge, die sicher als Unsinnigkeiten verstanden werden können, werden aber als solche nur erkennbar und komisch, wenn sie mit großem Ernste geführt werden. (Ich habe in der U-Bahn zwei junge Frauen beobachtet, die eine Reihung von geil-geil-geil benutzten, obwohl die Gesprächspartnerin schon weiter war, und die wohl beide meinten, sie würden miteinander reden. Eine beklemmende Komik.) In der Vorstellung fühlte ich mich eingeladen, ein albernes Spiel komisch zu finden - ?
Ich konnte auch an dem melancholischen Ende von Mariane und Orgon nicht
teilnehmen. Solche Weltuntergangsstimmung überkommt mich besser, wenn ich
im internet die Abendnachrichten ansehe.
Es ist mir nicht gelungen, die Erinnerungen an die lange zurück liegende
Inszenierung von Besson mit Düren in den Kammerspielen und an die politisch aufregende Inszenierung der Mnouchkine, die in der Arena in Treptow gastierte, zu verdrängen.
Als ich mich in der zweiten Hälfte der Vorstellung umsah nach den anderen Zuschauern - es war ein langer und heller Sommerabend, - sah ich
nicht so sehr viele Gesichter in vergnüglicher Betrachtung, sondern mehr
gelangweilte.

Am nächsten Abend am Ufer der Havel, sozusagen "zu Füßen" des Hans Otto-Theaters in Potsdam: "Der Diener zweier Herren" von Goldoni. Wieder eine "Neufassung", aber es war nur auffällig, dass der Dottore entfernt worden war, was freilich den Pantalone um einen Spielpartner bringt.
Eine schöne und ernsthafte Aufführung, die die existenziellen Probleme der Figuren verhandelte - was nicht zuletzt der Besetzung des Truffaldino mit einem reifen Darsteller und dem Spiel von Herrn Dathe zu verdanken ist. Zwei Arbeitsgeber haben zu wollen wurde zu einer Notwendigkeit, um nicht verhungern zu müssen - und damit war das alte Stück ohne Gewalttätigkeiten
im Heute gelandet.
Fortsetzung folgt!
Leserkritik: Sommerende II
Hier die Weiterführung.
(Anfrage an die Redaktion: Mir waren noch 7 freie Zeichen annonciert, aber
die Sendung wurde verweigert wegen Überlänge. Was mache ich falsch? Ich habe dann gekürzt, da ohnehin ein zweiter Teil nötig wurde.)

Der Bühnenraum: Eine "venetianische" Brücke aus Stahlrohr, ein günstiges Spielgerüst, die Havel oder der Canale grande war nicht zu sehen - leider gerahmt von den Wänden der Gassenbühne, die aussahen als wären sie einer misslungenen Inszenierung des "Weißen Röss´l" entlaufen.
Das Stück eignet sich sehr gut für Aufführungen unter freiem Himmel, kommt es doch aus der Tradition der comedia dell´arte. Das war auffällig.

Am nächsten Abend noch einmal Potsdam, im Gasometer, gleich hinter dem
Hans Otto-Theater:
"Genie und Verbrechen" von George F. Walker (Kanada)
Das Stück ist wohl eine Parodie auf eine besondere Art von Kriminalstücken, die auf deutschen Bühnen nicht besonders bekannt sind. Das ist eine Schwierigkeit, denn Parodie wirkt bekanntlich nur, wenn der parodierte Gegenstand gekannt wird. Im Programmblatt ist zu lesen, der Autor schreibt vorzugsweise über Menschen, die chancenlos sind in einer brutalen Welt, die nicht brutal genug sind, nicht skrupellos genug, nicht kapitalistisch genug, um "es zu schaffen", und die dafür bestraft werden.
Die Aufführung schien mir unentschieden in den inszenatorischen Mitteln:
Sie versucht einerseits den Zuschauer für das Schicksal der Figuren und deren merkwürdiges asoziales (?) Umfeld zu interessieren (ich konnte nur wenig Interesse für die Figuren aufbringen), und versucht andererseits die
dramatische Form, auf die sich der Text bezieht, zu parodieren. Wenn dann
einer der Darsteller eine längere Textpassage mit einer sportlichen Bodenkür kombiniert (und das gut macht), dachte ich: So könnte es gehen ?
Mir scheint, dass Dramentexte, die für die Aufführung in Innenräumen gedacht sind oder solche Formen parodieren, wenig geeignet sind für Aufführungen unter freiem Himmel. Die Freilicht-Aufführung hat doch immer etwas von der Weite und dem Marktschreierischen eben eines Marktplatzes.

Dazwischen:
Unter dem Dach der Deutschen Oper:
Die amüsante und anrührende Aufführung von "Das Rheingold", die neugierig
macht auf die gesamte Tetralogie, die es im Herbst geben soll.

Und zum guten Ende:
Wieder auf dem weitläufigen Hofgelände des Deutschen Theaters.
Eine Aufführung mit einem langen Titel in englischer Sprache, der mir dem Sinne nach so übersetzt wurde: Wenn nichts mehr brennt, dann musst Du selber brennen. Der Autor heißt Chris Michalski.
Der kürzeste Abend, und der Abend, der mich am meisten angerührt hat.
Es ging um Menschen und deren Verhalten zueinander.
Es gab sehr gute Schauspielkunst - ich werde nicht vergessen, wie Frau Anja Schneider die Antwort auf die Frage, warum sie Soldatin geworden sei, spielt.
Die kleine Geschichte hat eine politische Dimension, die mich interessiert.
Der sinnvolle Einsatz von Projektionen und Projektionsflächen im Freien ist verblüffend.
Die aufblasbare Ruine des schwarzen Colloseums habe ich nicht verstanden,
aber das wird wohl an mir liegen.

Die Saison 2021/2022 hat begonnen.

Ich danke allen, die diesen langen Text gelesen haben, für ihr Interesse.

Mit freundlichen Grüßen
aus Berlin-Pankow
Peter Ibrik

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Lieber Peter Ibrik,

danke für ihren ausführlichen Saisonüberblick / die Leserkritik.
Leider macht unser System manchmal Angaben, die so nicht ganz richtig sind. Die Aufteilung des Textes in 2 Abschnitte war daher gut. (Macht das Ganze ja vielleicht sogar spannender..;)).

Grüße aus der Redaktion!
Leserkritik: Der Leibarzt (SHL, Rendsburg)
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater startet in die Spielzeit 2021/22 mit der Uraufführung des Auftragswerkes „Der Leibarzt, sein König und beider Frau“ ein dänisch-deutsches Hof-Drama von Peter Schanz. Geplant war dieses Stück ursprünglich zur Eröffnung der ersten Spielzeit der neuen Generalintendantin Frau Dr. Lemm (2020/21), das dann aber der Covid-19 Pandemie zum Opfer fiel. Mit diesem Stück möchte das Schauspiel eine Reihe eröffnen, die sich mit Stücken befasst, die zum Norden, seiner Bevölkerung und deren Problemen passen. Die Story ist schnell erzählt. Struensee, Arzt der Armen in Altona, wird Leibarzt des psychisch labilen dänischen Königs Christian VII und verliebt sich in dessen junge Frau Caroline. Als er seine Vertrauensposition zum König nutzt, seine aufklärerischen Ideen durchzusetzen, bringt er den Adel gegen sich auf und die Affäre mit Caroline kommt ans Licht. Intrigen, Machtkämpfe und Prozesse führen letztendlich zur Hinrichtung Struensees, der Verbannung der Königin Caroline sowie zur Entmündigung des Königs. Das Stück spielt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Somit hat sich Martin Apelt für eine Bühne der Hoftheatertradition entschieden, die von Symmetrie und Formalisierung geprägt ist. Seine Kostüme sind historisch ausgerichtet und erzielen in einer klugen Lichtregie beeindruckende Effekte. In der Inszenierung von Wolfgang Hofmann beeindrucken vor allem die zahlreichen Tableaus, die an Gemälde der Zeit erinnern. Das Stück beginnt überraschend aktuell. Struensee (Felix Ströbel) impft Altonaer gegen Blattern und so beginnt sein Aufstieg bis hin zum tragischen Ende. Der erste Auftritt des Königs (Gregor Imkamp) macht deutlich, dass Peter Schanz gerne mit Worten spielt und so zwischen den Zeilen so manchen klugen Gedanken versteckt. Auch nutzt Schanz immer wieder gerne einen restringierten Sprachcode, mit dem er die herrschende Klasse demaskiert: „Habt Ihr verstanden Ihr Perücken. Ob Ihr verstanden habt Ihr Schranzen Schweine. Ich sage Euch ich bin es nicht und Ihr könnt scheißen gehen.“ Das Stück erzählt den Aufstieg und Niedergang Struensees und gerät dabei manchmal etwas langatmig und ermüdend. Doch es hat immer wieder Glanzpunkte, in denen es um Pressefreiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und ein besseres Leben für die Armen geht. Da klingt vieles, wie die Wahlprogramme zur anstehenden Bundestagswahl und man kann nicht verhehlen, das Gesellschaftskritik anklingt. So viel scheint sich in drei Jahrhunderten nicht geändert zu haben, denn auch die Gedanken von Machiavelli, Rousseau und Voltaire zeigen, was wir aus Geschichte lernen könnten. Kimberly Krall (Königin Caroline) beeindruckt in ihrer Rede ans Volk, wo sie durch Brot und Spiele, das in Aufruhr befindliche Volk zur Ruhe bringt. Da fallen einem sofort Wahlversprechen dieser Tage ein. Ein absoluter Glanzpunkt dieser Inszenierung ist Dennis Habermehl als dänische Dogge Gourmand in seinem Monolog als bester Freund des Königs. Wie er im Stil eines shakespeareschen Narren die Dinge beim Namen nennt und man plötzlich denkt, ist es heute nicht genauso? Beatrice Boca als intrigante Königswitwe und Stephan Schäfer für den erkrankten Simon Keel als Guldberg sind die perfekte Verkörperung von Missgunst, Intrige und Machtgier, die Struensee stürzen. Die Verurteilung Struensees und seine Hinrichtung sind ein weiteres starkes Tableau, da die Gräueltat der Vierteilung nicht gezeigt sondernd verbal beschrieben wird, so dass im Kopfkino des Publikums Horrorbilder der Folterung ablaufen, die uns durch Gewaltberichte aus aller Welt täglich durch die Medien offeriert werden. Eine märchenhafte Geschichte aus vergangener Zeit, ohne ein Happy End und mit der Frage „Muss man aus allem etwas lernen“. Nein, aber es wäre gut, wenn man es täte und Geschichte sich nicht ständig wiederholen muss. Ein gelungener Einstieg in eine neue Spielzeit.
Leserkritik: "Giovanni. Eine Passion" und "Humans"
Zwei Empfehlungen aus an das Sprechtheater angrenzenden Bereichen:

"Giovanni. Eine Passion", Neuköllner Oper auf dem St. Jacobi-Friedhof

Ein Highlight der kurzen Open Air-Saison ist die Musik-Performance „Giovanni. Eine Passion“, die Ulrike Schwab und Juri de Marco mit seinem STEGREIF. Orchester auf dem St. Jacobi-Friedhof an der Hermannstraße aufführen. In dieser unwirtlichen Gegend direkt an der Ausfallstraße, die den Hermannplatz mit den Vorort-Siedlungen im Südosten verbindet, würde man einen solch interessanten Spielort gar nicht vermuten.

In einer sakralen Prozession mit mehreren Zwischenstopps wird das Publikum durch die einbrechende Dunkelheit zu einer kleinen Arena geführt. Das Best-of der Mozart-Arien mischt sich an diesem anderthalb Stunden kurzen Abend mit viel Lust an der Improvisation, für die schon der Name des STEGREIF. Orchesters steht, und mit ironischen Ausflügen in den Jazz, den Flamenco, den Schlager und Songs von Marlene Dietrich.

„Giovanni. Eine Passion“ wird zum karnevalistischen Tanz über den Friedhof. Das Ensemble spielt mit den Motiven der berühmten Oper und dem Mythos des toxischen Liebhabers, der die Frauen verschlingt. Die Musik-Theater-Performance ist eine sehenswerte und überraschende Annäherung an ihren Stoff. Vor allem in der ersten halben Stunde beim Parcours über den Friedhof gelingt es dem Team glänzend, eine Inszenierung, die im Oktober 2019 in der Neuköllner Oper an der Karl-Marx-Straße lief, für die Open Air-Bühne weiterzuentwickeln.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/09/giovanni-eine-passion-neukollner-oper-kritik/

"Humans" von Circa, Chamäleon Theater

Zum Auftakt ihrer künstlerischen Residenz mit vier Inszenierungen bis Jahresende in Berlin hat die australische Circa Compagnie "Humans" mitgebracht. Ganz ohne Worte performen die elf Tänzerinnen und Tänzer beängstigend halsbrecherische Akrobatik. Der Titel „Humans“ wirkt zwar auf den ersten Blick beliebig. Umso eindrucksvoller sind aber die einzelnen Nummern dieser 70minütigen Revue, die in loser Folge ohne Pause präsentiert werden. Kleine Soli und Duette wechseln sich mit Gruppen-Pyramiden, in denen einzelne Tänzer die Last eines ganzen Knäuels von Kolleginnen und Kollegen bewältigen und tatsächlich die Grenzen menschlicher Belastbarkeit austesten. So verstanden, ergibt der Titel „Humans“ durchaus Sinn.

„Humans“ ist eine extrem körperliche und athletische Leistungsschau, in dem Circa demonstrieren, warum sie zu den erfolgreichsten Gruppen in ihrem Bereich des zeitgenössischen Zirkus zählen. Besonders gespannt darf das Berliner Publikum auf die Neufassung „Humans 2.0“ sein: nach den „Humans“-Vorstellungen bis 30. Oktober 2021 wird ab dem 4. November bis zum Ende des Monats eine Weiterentwicklung dieses Abends gezeigt. Für die 2.0-Version hat Ori Lichtik die Musik komponiert und Paul Jackson das Lichtdesign konzipiert. Beide arbeiteten auch schon mit dem Staatsballett, Lichtik war für die Komposition des Repertoire-Highlights „Strong“ seiner israelischen Landsfrau Sharon Eyal verantwortlich. Diese Show ist eine Empfehlung für den Theater-Herbst, falls er nicht wieder durch einen Lockdown torpediert wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/09/humans-circa-chamaleon-kritik/
Don Giovanni, Salzburg auf arte: Horror vacui
Beispielsweise Wikipedia weist darauf hin, dass die Fülle, der Prunk des Barock als Horror vacui bezeichnet wird. Vor Beginn der Oper lässt Romeo Castellucci das Bühnenbild einer barocken Kirche ausräumen; die entstehende, indifferent weiße Leere kann ihren Schrecken entfalten. Davide Luciano als Don Giovanni vertreibt sie mit seinem „barbaro appetito“ und wird dabei von Castellucci mit einem Feuerwerk an unserer (post-)modernen Konsumwelt entlehnten Effekten und zahlreichem Personal unterstützt, im 2. Akt – als Hauptpointe - von 150 Salzburger Mädchen und Frauen. Horror vacui, aber keine Lebensfreude, kein Miteinander der Sänger und Personen auf der Bühne! Ein Spiegelbild des von uns allen veranstalteten, keinen Aufwand scheuenden und Leben genannten Budenzaubers? Don Giovanni verschwindet schließlich – „Che inferno, che terror!” – im indifferenten Weiß. Als Einzelwesen wird uns allen solch Verschwinden nicht erspart bleiben.
Leserkritik: Kabale und Liebe, Rendsburg
Am 18. September hatte Schillers „Kabale und Liebe“ Premiere am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg. Thematisch ging es Schiller um die Ständekonflikte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dargestellt werden sie, an Hand der tragischen Liebe zwischen Luise (Lucie Gieseler), Tochter des bürgerlichen Musikers Miller (Reiner Schleberger) und Ferdinand (Steven Ricardo Scholz), Sohn des Präsidenten von Walther (René Rollin). Diese Liebe ist zum Scheitern verurteilt, weil sie den Gesetzen der damaligen Ständegesellschaft widerspricht. Die Liebe junger Menschen wird rücksichtslos den politischen Interessen der Erwachsenen geopfert. Dies sind die Eckpfeiler von Kabale und Liebe.
Was ist an diesen Konflikten heute noch aktuell? Auch in unseren Gesellschaften existieren Barrieren, die die Liebe beeinträchtigen können, wie z.B. Bildung, Migration, Religion, Sexualität, Vermögen und der Generationenkonflikt eine „Never Ending Story“. Sehnsüchte und Erwartungen lassen sich im Kampf der Generationen nicht vereinbaren.
Alexander Marusch vertraut in seiner Inszenierung ganz auf Schiller. Beeindruckend wie kraftvoll und bilderreich die Sprache Schillers ist. Das Spiel konzentriert sich auf die Konflikte des Stückes und die Charakterzeichnung der einzelnen Personen. Marusch bedient auch gesellschaftliche Missstände, wenn Lady Milford (Katrin Schlomm) verkündet, dass das herzogliche Geschenk, ein Diamant, mit dem Blut verkaufter Söldner nach Amerika erkauft wurde. Sie ist das schauspielerische Erlebnis an diesem Abend.
Dies unterstützt die Bühne, ein einziger, nüchterner, kahler Raum, den durchsichtige hintereinander gestellte Wände begrenzen mit spiegelnder Bodenfläche. Der Raum ein doppelwandiger, spiegelnder Irrgarten, indem Intrigen die Liebe scheitern lassen. Die Kostüme sind heutig. Die Vertreter der „Upper Class“ in hellen Tönen und die Vertreter der „Lower Class“ in dunklen Tönen. Nur Luise und Ferdinand tragen etwas Farbe als Ausdruck ihrer Gefühle in einer Welt, die durch Machtkalkül regiert wird (Bühne und Kostüme: Stephan Anton Testi).
Das Spiel beginnt mit einem herrlichen Disput zwischen Miller und Millerin (Karin Winkler) um Luises Beziehung zu Ferdinand. Schnell wird deutlich, dass Miller kein Hasenfuß ist, indem er seine Tochter vor dem Präsidenten und dem Sekretär Wurm verteidigt. Wurm (Marek Egert), Nomen est Omen, ein Emporkömmling, der für jede Intrige zu haben ist, wenn sie seinen Weg in die „Upper-Class“ ebnet, bleibt leider etwas farblos. Die Stärken des Stückes und der Inszenierung liegen in den Konflikten zwischen den Akteuren, die mit Empathie und Emotionen oft vehement geführt werden. Mit kraftvoller Sprache rebelliert Schiller gegen die Ständekonflikte und Missstände seiner Zeit. Kabale und Liebe ist eine literarische Rebellion gegen Machtmissbrauch, politische Intrigen und dem Scheitern einer Liebe, die politischen Interessen geopfert wird. Erstaunlich wie aktuell diese Themen sind, wenn wir an Fake News, Gendern, Generationskonflikte, Machtmissbrauch, Migration, politische Intrigen und Ähnliches denken. Unaufdringlich durch eigene Reflexion des Geschauten konfrontiert uns unser ICH mit diesen Dingen. Glanzpunkte der Inszenierung sind die Auseinandersetzungen Präsident/Ferdinand, Milford/Ferdinand, Luise/Wurm, Milford/Luise und besonderes Gewicht erlangen die Schlussszenen. Freitod als Ausweg in die Liebe (Luise/Miller; Ferdinand/Luise), ein Thema, das die Thematik um selbstbestimmtes Sterben streift und die Vernichtung des intriganten Emporkömmlings Wurm (Präsident/Wurm) zeigt, dass die Macht immer Bauernopfer findet, um sich von ihren eigenen Geschäften zu distanzieren. Wer will, findet die politische Relevanz dieses Stückes in unserer Zeit. Wer nicht, kann sich an der Sprache Schillers ergötzen. Kabale und Liebe eine beindruckende Ensembleleistung eines starken Stückes.
Leserkritik: Die Mutter, Berlin
"Die Mutter. Anleitung für eine Revolution" nach Bertolt Brecht, Regie: Christina Tscharyiski, Berliner Ensemble/Neues Haus

Hier und da schob die Regisseurin aktuelle Texte aus der postmarxistischen Theorie über Ausbeutung in der digitalen Uber- und Deliveroo-Ökonomie oder Queerfeminismus im Neoliberalismus ein. Peter Moltzen darf in einem längeren Impro-Solo in der zweiten Hälfte in ein Ketchup-Tuben-Kostüm schlüpfen und viel Quatsch machen, der mit dem Rest des Abends kaum etwas zu tun hat. Und auch die dreiköpfige Live-Band um Manuel Poppe bekam einige Freiheiten, die Musik von Hanns Eisler etwas poppiger zu arrangieren als sie aus dem Original bekannt ist. Auch die Drag Queen Jade Pearl Baker fügt sich auf High Heels recht homogen in das Ensemble ein.

Im Kern bekommt das Publikum deshalb an diesem Abend, der anders als angekündigt etwas länger als zwei Stunden dauerte, dann doch den guten alten Brecht und seine Fabel von der Proletarierin Pelagea Wlassowa geboten, die unter dem Druck der Verhältnisse zur überzeugten Revolutionärin wird. Die Hauptrolle übernimmt über weite Strecken des Abends mit Constanze Becker eines der Aushängeschilder des Berliner Ensembles. Erst in den letzten Szenen schlüpft ihre ältere Kollegin Josefin Platt, die bis dahin kleinere Auftritte als Kommissar und Lehrer hatte, in die Titelrolle. Dieser plötzliche Wechsel wirkt etwas unmotiviert.

An die legendäre Schaubühnen-Inszenierung von Peter Stein mit Therese Giehse reicht diese neue „Mutter“-Inszenierung natürlich nicht heran. Aber der Versuch, den Brecht-Text auf der Nebenbühne seines Stammhauses etwas lockerer und in sanft aktualisierter Fassung zu präsentieren, bekam am Premieren-Abend durchaus freundlichen Applaus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/18/die-mutter-berliner-ensemble-kritik/
Leserkritik: Schultheatertage 2021
Heute haben die Schultheatertage der Länder begonnen (19.-24.9.2021). 19 Inszenierungen und vieles mehr. Heute "Die Roller im Roggen." Es war eine fantastische Inszenierung. Man kann alle Inszenierungen in der SDL Mediathek schauen. Man benötigt nur den Gästepass. Diese Investition lohnt sich. Die gesamte Woche findet DIGITAL statt. Theaterbegeisterte lasst es Euch nicht entgehen.
Leserkritik: Digitale Schultheatertage der Länder
Die digitalen Schultheatertage der Länder 2021 aus Ulm begannen Sonntag mit der Eigenproduktion „Die Roller im Roggen“ von der Geschwister Scholl Schule Weingarten aus Baden-Württemberg. Die jugendlichen Spielerinnen und Spieler mit ihren Behinderungen lieferten großes Theater, obwohl sie nicht sprechen und meistens auch nicht laufen können. Trotz ihrer körperlichen Einschränkungen wollen sie auf Abenteuer und Selbstverwirklichung nicht verzichten. Ihre Sehnsüchte und Träume nach einem selbstbestimmten Leben bringen sie auf die Bühne mit Selbstironie und viel Humor. Sie brechen mit einem VW-Bulli auf in die Welt, wobei sie ihre Behinderungen immer wieder gewitzt zum Thema machen. Dies ist so lebendig und voller Fantasie, dass man als Zuschauer immer wieder ihre körperlichen Einschränkungen vergisst. Ergänzt wird das Spiel auf der Bühne durch Filmklips, in denen wir erfahren, was Frei-Sein für sie bedeutet. Wie die jungen Akteure dieser inklusiven Theatergruppe trotz und mit ihrer körperlichen Behinderung faszinierendes Theater auf die Bühne zaubern, ist umwerfend, entwaffnend und schafft einen neuen Blick auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Ein Projekt, das begeistert und Verständnis schafft. Lebensfreude!
Leserkritik, Tschewengur, Berlin: schwer zugänglich
"Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen", von Studio Platonow und Sebastian Baumgarten, Gorki Theater

Eigentlich sollte Sebastian Baumgartens Adaption von Andrei Platonows Roman im Januar 2021 auf der Gorki-Bühne Premiere haben. Da der Premierenstau allerorten wuchs, entschied sich das Team, nicht länger auf das mehrfach verschobene Ende des Lockdowns zu warten, sondern in Lichtenberg eine filmische Version zu drehen.

Die Brachlandschaft und die Industrie-Ruinen, die Baumgarten als Drehort wählte, atmen auch mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer die realsozialistische Tristesse, von der auch Platonow in seiner zu Sowjet-Zeiten verbotenen satirischen Dystopie erzählte. Wie Don Quijote und Sancho Pansa streifen Sascha Dwanow und sein Begleiter Kopjonkin (Jonas Dassler und Till Wonka) auf der Suche nach „Tschewengur“, wo der Kommunismus bereits verwirklicht sein soll, und nach dem Grab der sozialistischen Ikone Rosa Luxemburg durch die russischen Steppen.

Sonia Zekri bescheinigte dem Roman, als er in aktualisierter Übersetzung 2018 bei Suhrkamp erschien, in ihrer SZ-Rezension filmreife Szenen, geradezu tarantinoesk wirke vieles an diesem Trip ins Herz der revolutionären Finsternis. Baumgarten und sein „Studio Platonow“-Team entschieden sich allerdings dagegen, einen klassischen Film zu drehen: Chris Kondek im Schnitt meist nur Standbilder und Stills aneinander, die Schauspieler*innen lieferten das Voice-Over bei einer Nachbearbeitung im Container, der kleineren Spielstätte des Gorki-Theaters. Dementsprechend experimentell wirkt diese Lockdown-Produktion, die gestern Abend im Theater auf der Leinwand erstmals gezeigt wurde und nun in das umfangreiche Stream-Angebot des Gorki wandert.

Ein Erzählfluss kommt in diesen 95 Minuten nicht auf. Vor allem wenn man die mehr als 500 Seiten dicke Roman-Vorlage nicht kennt, die Dirk Pilz in einer seiner letzten Besprechungen als „Meisterwerk“ feierte, wirkt dieser Theaterfilm schwer zugänglich.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/25/tschewengur-gorki-theater-film-kritik/
Leserkritik: Berliner Runde, Volksbühne
"Berliner Runde Reenacted" mit Margarita Breitkreiz, Inga Busch, Christine Groß, Jürgen Kuttner, Suse Wächter und Puppen, Volksbühne

Es ist die Stunde der Heimkehrer am Rosa Luxemburg-Platz. René Pollesch hat die Intendanz übernommen und viele bekannte Namen aus der Castorf-Ära wie Kathrin Angerer und Martin Wuttke haben wieder Schlüsselrollen im Ensemble. Sophie Rois erfüllt noch ihren Vertrag am Deutschen Theater Berlin und kommt in der nächsten Spielzeit zurück an ihr Stammhaus. Und auch Jürgen Kuttner wird ab Januar mit seinen monatlichen Video-Schnipsel-Vorträge vom DT Berlin wieder an die Volksbühne zurückkehren.

So viel Kontinuität und so wohlgeordnete Verhältnisse sind beruhigend an einem Abend, der sonst so viel Neues und so wenig Gewissheiten bietet: Die Grünen erobern Direktmandate nicht mehr nur im gallischen Dorf Friedrichshain-Kreuzberg, sondern flächendeckend im Ländle und erstmals auch eines in Bayern. Die Union ist nicht mehr stärkste Kraft. Das kam in der Geschichte bundesrepublikanischer Wahlabende fast so selten vor wie das Kuriosum, dass zur Tagesschau noch nicht feststand, wer ins Kanzleramt einziehen wird.

Deshalb bot uns Jürgen Kuttner als Conférencier gleich noch eine Extra-Dosis Kontinuität: wie an jedem Schnipsel-Abend darf der Kult-Klassiker Grüner Wahlkampf-Spots „Lieber Sonne als Reagan“ mit Joseph Beuys nicht fehlen, der sein Mikro Anfang der 1980er Jahre mit Verve schleuderte und die Töne ebenso selbstbewusst nicht traf wie den Rhythmus. In diesem Bundestags-Wahlkampf hat Beuys bekanntlich würdige Nachfolger*innen gefunden. Die „Kein schöner Land“-Truppe um Sarah Wiener hat einen ähnlich hohen Cringe-Faktor, Kuttner entschied sich aber, statt der Grünen Wahlkämpfer*innen lieber noch mal die Version von Volksmusik-Ikone Heino über die Leinwand flimmern zu lassen.

Rainald Becker (ARD) und Peter Frey (ZDF) luden zur traditionellen „Berliner Runde“ der politischen Schwer- und Leichtgewichte aus den Führungsgremien der Parteien, die an der Volksbühne mit kleiner Zeitverzögerung nachgesprochen und reenacted wurde.

Olaf Scholz lässt buddha-artig alle aufgeregten Anwürfe und Nachfragen an sich abprallen, Inga Busch spricht die Textbausteine nach und guckt amüsiert-neugierig in die Reenactment-Runde, die vor allem drei Spieler*innen dominieren: Mit ausladenden Bewegungen unterstreicht die Armin Laschet-Puppe die Ausführungen ihres Alter egos, der trotz herber Verluste die Kanzlerschaft beansprucht. „In der Elefantenrunde erinnerte Laschet in seiner Trotzigkeit und Realitätsverweigerung an Gerhard Schröder im Jahr 2005“, konstatierte Nico Fried in der Süddeutschen Zeitung. Ähnlich aufgedreht wie die Laschet-Puppe war die von Suse Wächter geführte Annalena Baerbock-Puppe: Sie schmiegte sich an Inga Busch/Olaf Scholz und betonte bei jeder Gelegenheit, dass sie nun GEMEINSAM mit dem ROBERT handeln werde: die einstige Überfliegerin muss sich demonstrativ unterhaken. Von ganz links außen polterte die Alice Weidel-Puppe dazwischen. Weidels nachgebellte Milchmädchen-Rechnung, dass die Stimmen der „Basis“ und der Freien Wähler auf ihr schwaches Ergebnis draufgerechnet werden müssten, war ein Moment sehr eigenwilliger Interpretation der Realität und Komik aus dem Parallel-Universum: „Das ist so lustig, dass es wehtut. Vielleicht auch andersrum“, fasste Cornelius Pollmer in seiner TV-Kritik zusammen.

Sehr zurückhaltend blieb Margarita Breitkreiz als Christian Lindner. Sie/er konnte aber den entscheidenden Wirkungstreffer setzen: SPD und Union sollten sich zunächst zurückhalten. Die FDP werde jetzt mit den Grünen ausloten, welche Gemeinsamkeiten es gibt, gefiel sich Lindner sichtlich in der Rolle des Königsmachers.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/28/berliner-runde-reenacted-volksbuhne-kritik/
Hänsel und Gretel, Böblingen: Wunderbar
"Die Wahrheit über Hänsel und Gretel", Böblingen
Nach Tennessee Williams liegt die Wahrheit auf dem Boden eines Brunnens ohne Boden, in Magstadt liegt die Wahrheit über Hänsel und Gretel mitten im Wald, in der Nähe des Hölzer Sees. Dass die Suche nach der Wahrheit auch mit körperlichen Anstrengungen verbunden sein kann, hat die Theatertruppe des Dance und Art Theaters Böblingen gestern Abend den rund 40 'Wahrheitssuchenden' anschaulich vermittelt.

Die Generalprobe zu 'Hänsel und Gretel', eine Aufführung zum Jubiläum eines Lebkuchenherstellers, gerät durch das unvermittelte Erscheinen eines Märchen-Archäologen aus dem Ruder, der an das anwesende Publikum Pamphlete verteilt. Nachdem dieser auf geheimnisvolle Weise im Wald verschwunden ist, wird das Publikum in zwei Suchtrupps aufgeteilt. Die Trupps finden unabhängig voneinander verschiedene im Wald verborgene Hinweise und treffen, nach Einsetzen der Dämmerung, wieder zusammen bei einer Hütte im Wald, die anscheinend auf den Grundmauern des Hexenshauses aus dem Märchen steht. Dort enthüllt sich dann nach und nach eine schockierende Wahrheit...

Das unter der Regie von Prisca Maier-Nieden und der Textarbeit von Marc Dannecker, Alina Held, Cosima Rade und Fanny Steinheil entwickelte Action-Theater, basiert auf einem witzigen Buch aus dem Jahr 1978 von Hans Traxler. Hans Traxler, inzwischen 92 Jahre alt, hat laut Programmheft dieser Inszenierung seinen Segen erteilt und ich kann mir gut vorstellen, welchen Spass der Mitbegründer der Satirezeitschrift Titanic an dieser Bearbeitung seines Stoffes hatte. Ein Spass, der sich im Verlauf des Abends vom DAT-Ensemble auf das Publikum übertragen hat, das kurzerhand zum Mitwirkenden umfunktioniert worden war. Unsere Rolle: Gewinner eines Preisausschreibens einer Lebkuchenfirma.

Das war Theater im allerbesten Sinn, mit einer stimmigen Idee, kreativ und originell bearbeitet, gut gespielt und mutig umgesetzt. Trotz bitterer Kälte war selbst der etwa halbstündige Rückmarsch durch den dunklen Wald, gestärkt mit einer Lebkuchenration und ausgestattet mit Solarlaternen, voller Lachen und guter Stimmung. Ein wunderbarer Theaterabend. Einfach toll. Vielen Dank.
Leserkritiken: Cobain Project, Flensburg
Das Cobain Projekt zeigt es muss nicht immer Staatstheater sein. Rainer Hansen Leiter der Theatergruppe „Lichtgestalten“ der Dualen Hochschule Schleswig-Holstein hat das Stück „Kurt Cobain – Better Listen“ geschrieben und inszeniert. Ein im Norden geprägtes Ensemble mit L. Wagner (Kurt Cobain), Finja Sannowitz (Courtney Love/Tracy), M. Müller, JJ Cortés Alor und H. Stenzel, Schauspieler und Laienspieler, mit der Band Solid Water (Rock, Blues, Metal; O. Hansen: Gitarre, M. Schuhmacher; T. Schöneck), bringen die Lebensgeschichte des Frontmannes der Gruppe Nirvana mit mitreißendem Sound und einem „spielwütigen“ Ensemble auf die Bretter des Kühlhauses in Flensburg. Es ist die Geschichte des Aufstiegs und Falles von Kurt Cobains, der nicht Herr über seine Drogenabhängigkeit wurde. R. Hansen erzählt die Story Kurt Cobains spannend und kurzweilig mit viel authentischer Musik. Wichtige Szenen aus seinem Leben wurden auf der Bühne dargestellt, wie seine Beziehung zu Eltern und Großeltern, seine Beziehung zu Tracy, Stationen seines Aufstiegs mit Höhen und Tiefen, der Ruhm und die wachsende Heroinsucht, die Ehe mit Courtney Love und die Geburt seiner Tochter und zum Schluss sein Freitod mit einer Revolverkugel. Dies alles wird in kurzen, unsentimentalen Spielszenen spannend erzählt und durch Musik K. Cobains, brillant dargeboten von der Liveband „Solid Water“ und beeindruckend stark von Schauspieler L. Wagner gesungen, kommentiert. Die Songs zwischen den Spielszenen, erhöhen den Drive und die Emotionalität des Spiels und sind das Rückgrat dieser mitreißenden Inszenierung. L. Wagner leuchtet die Höhen und Tiefen der Gestalt Cobain aus und lässt dessen Weltschmerz, Unbehagen und Zukunftsangst deutlich werden. Besonders beeindruckend sind die Szenen zwischen K. Cobain und Tracy sowie Courtney Love. Das Duo Wagner – Sannowitz fesselt durch ihr entfesseltes Spiel zwischen Leichtigkeit und Schwermut. Spiel wird hier für den Betrachter nicht nur zu Erfahrbarem sondernd zu Erlebbarem. Musik Cobains verstärkt die Stimmungen der Spielszenen und wird zur Seele des Stückes, dank der enthusiastisch rockig-punkig aufspielenden Band. Das Bühnenbild (G. Brockmann) Pappkartons mit trashigen Sprüchen, die Spielräume schaffen und perfekt zu dieser Story passen, vor allem, wenn das Stück in alten Industriehallen gespielt wird. Der Abend ist mehr als ein Musical, er ist die ehrlich erzählte Geschichte einer Lebensgeschichte, die Fragen nach dem Sinn des Seins stellt, Fluchten aus der Realität beleuchtet, Korruptheit der Musikindustrie aufzeigt und die Verlorenheit des Stars in der Einsamkeit nach den Konzerten deutlich werden lässt und den Fluch der Droge, die dies ertragbar erscheinen lässt. Das Stück endet mit Zeilen des Abschiedsbriefes „It´s better to burn out than to fade away“. Ein toller Theaterabend mit starken Akteuren, doch letztendlich wird der Erfolg dieser Produktion von allen Beteiligten getragen und es zeigt sich erneut, dass das Gesamtergebnis mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Dieses Projekt hat erneut gezeigt das Theaterbegeisterte fantastische Ergebnisse produzieren können und dafür nicht immer subventionierte Theaterinstitutionen prädestiniert sind, wenn die Akteure eines solchen Projektes nach der Prämisse handeln „It´s better to burn out than to fade away“. Merci & Chapeau!!!
Maria Stuart, Potsdam: Gefallsucht
Ich sah die Vorstellung im Hans Otto-Theater am 16. Oktober.
Die größte Unverschämtheit findet zur Pause statt: Die große Szene der Begegnung der Königinnen wird unterbrochen, die beiden Darstellerinnen gehen wie gute Freundinnen zu jenem "Hochbett", auf dem Maria schon den größten Teil ihres Gefängnisaufenthaltes zugebracht hat, schalten ein kleines Radio ein und zu hören sind Beiträge zur Wahl und zur Regierungsbildung in der Bundesrepublik.
Meint denn das Regieteam, die Zuschauer seinen zu blöde, ihre eigenen Assoziationen zu finden (wenn die Aufführung sich denn auf Schiller genügend verlassen würde)?
Außerdem ist es verlogen, denn der platte Vergleich, der mit dieser
Maßnahme bewirkt wird, stimmt nicht.

Die Regisseurin äußert in einem Interview (in einer sehr spröden ungelenken Sprache) die Frage, ob denn das Frauenbild Schillers nicht antiquiert sei. Sie argumentiert mit der Rezeptionsgeschichte - die aber
entspricht an vielen Stellen nicht dem Stück und muss für eine heutige Inszenierung keine Rolle spielen. Die genaue Lektüre des Textes kann nur der Maßstab sein.
Schiller hat von Luise bis zur Stauffacherin starke Frauen geschrieben, die freilich unter den Situationen des Patriarchat handeln mussten.

Der Text des Dramas verhandelt in großartiger Weise, wie Politiker in einen Konflikt geraten zwischen ihrem Herrschaftsanspruch als Politiker und ihren privaten sozusagen "menschlicheren" Interessen. Ich halte das für einen sehr aktuellen Ansatzpunkt. Die Figuren streben nicht nach "Wahrhaftigkeit", sondern sie suchen nach Handlungsmöglichkeiten innerhalb des obwaltenden Systems, dessen Teil sie sind.

Aber die Inszenierung macht den Eindruck, als laufe sie ständig einer Originalitätssucht, einer Gefallsucht hinterher:
Das beginnt mit den unbrauchbaren Tonbändern, die Briefkorrespondenzen ersetzen sollen, geht weiter mit dem stummen Rittergespenst und dem Auftritt mit Frühstückswagen im Gefängnis (die eigentlichen Geschehnisse des ersten Akts werden einem vorenthalten), geht weiter mit einer unverständlichen weil stummen großen Audienz-Szene, einem Musical-Couplet des französischen Gesandten usw. Es scheint so, als wolle die Regisseurin inszenatorische Maßnahmen ergreifen, um das Stück "nach heute zu holen".
Der nun schon alte Satz von Benno Besson gilt aber noch immer:
"Die Ferne bringt die Nähe."

Wenn die Frauenfiguren aufgewertet werden sollten (ich halte das nicht für notwendig), warum dann wird das Gesicht der Elisabeth in einen Pappkopf gesteckt und die Schauspielerin wesentlicher Ausdrucksmittel beraubt, in dem Moment, wo die Figur sich selbst und ihrem Konflikt am nächsten ist?
Weil das am DT in Berlin auch so ist. Aber in Potsdam hat man nicht nur zwei "Pappköppe" sondern gleich sieben. Das ist doch mindestens berlin-verdächtig!!!

Warum muss uns Mortimer minutenlang vorführen, wie er mit seinen aufgeschnittenen Pulsadern verblutet? Weil Blut heutigentags auf dem Theater chic ist? Die Figur gewinnt dadurch nicht an Größe.
Warum muss sich Maria die Gurgel durchschneiden, wo sie doch hingerichtet werden soll (und es gibt einen sehr guten Text im Stück darüber.)
Warum wird der Schlusssatz, der geschrieben ist, um die zunehmende Vereinsamung der Königin Elisabeth zu erzählen, zu einer billigen Abgangspointe missbraucht?

Die Streichung der Rolle des Dawison ist ein Verbrechen am Stück - und die Geschichte kann nicht zu Ende erzählt werden, sondern landet in Hysterie
und Mystifizierung.

Die Kostüme geben dem Ensemble das Bild einer Fußball-Mannschaft
- aber Fußball ist beliebt und gefällt den Zuschauern?
Aber für den Darsteller des Leicester ist mit den kurzen Hosen nicht mehr zu erspielen, dass er für beide Königinnen eine erotische Anziehungskraft hat.
Es war ein ärgerlicher Abend -
wenn da nicht bei vielen Schauspielern zu sehen gewesen wäre:
sie wissen noch, was es heißt Theater zu spielen.
Besonderer Dank an die beiden Damen.

Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Leserkritik: Dawson, Staatsballett Berlin
"Dawson"-Doppelabend, Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper:

Parallel zu den ersten Prognosen am Bundestagswahl-Abend aus den Studios von ARD und ZDF im Reichstag hob sich am 26. September pünktlich um 18 Uhr einige Kilometer weiter westlich an der Deutschen Oper Berlin der Vorhang für eine Doppel-Premiere von David Dawson.

Mitten in der Unsicherheit und Tristesse des endlos scheinenden Januar-Lockdowns entwarf der britische William Forsythe-Schüler zwei Choreographien, die in diesem Herbst auf dem Spielplan des Staatsballetts stehen. Beide Choreographien sind dezidiert politisch und verbreiten eine sehr optimistische Grundstimmung.

„Citizen Nowhere“ konzipierte Dawson unter dem Schock des Brexit-Votums seiner Landsleute schon 2017 für das Dutch National Ballet in Amsterdam. Von der dortigen Uraufführung stammt auch die Einspielung von Szymon Brzoskas Komposition, der Orchestergraben bleibt leer. Die Bühne gehört ganz allein Alexander Bird, der ein träumerisches Solo nach Motiven aus dem Klassiker „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry tanzt.

Vor Eno Henzes oszillierender Bühne, über die markante Zitate der Buch-Vorlage, Schriftzeichen und immer wieder eine Frau ganz in Rot flimmern, schwelgt Bird in einem Traum von einer Idylle und einer schöneren Welt. In seltenen Momenten werden Angst und Unsicherheit spürbar, aber das halbstündige Solo „Citizen Nowhere“ versprüht eine fast schon kindliche Zuversicht nach einer harmonischen, heilen (Post-Corona)-Welt, wie sie in der berühmten Buchvorlage spürbar wird.

Voller Optimismus und Zuversicht ist auch der einstündige zweite Teil des Abends. Als „Voices“ werden die hehren Ansprüche aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hinter denen die Realpolitik so häufig zurückbleibt, in verschiedenen Sprachen beschworen. Zu einem Feel-good-Klangteppich von Max Richter tanzt das Ensemble des Staatsballets Berlin die Dawson-Choreographien. Oft wird an diesem Abend die Sehnsucht nach der Schönheit des klassischen Balletts und nach der Perfektion des Spitzentanzes der Ballerinen bedient, seltener lässt Dawson modernere Akzente einfließen.

Der ganz große Wurf war diese Doppel-Choreographie noch nicht, aber ein anerkennenswerter Neustart im doppelten Sinn: als Neustart der Spielzeit nach dem Lockdown und mitten im Neufindungs-Prozess nach dem unerwartet schnellen Abgang von Johannes Öhmann und Sasha Waltz an der Spitze des Staatsballetts.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/10/19/dawson-staatsballett-berlin-kritik/
Leserkritik, Kabale und Liebe, Kiel: Femizide
Was ist die gesellschaftliche Funktion von Theater? Für wen wird gespielt und wer gestaltet? Welche Verantwortungen ergeben sich dadurch? Wem soll eine Stimme gegeben werden und inwiefern ist es die Aufgabe der Kunst die Bedürfnisse/ Probleme einer Gesellschaft abzubilden? Ist Theater durch seine Öffentlichkeit nicht immer politisch?
Diese Fragen stellen sich mir bei aktuellen Produktionen des Theater Kiel und besonders beim großaufgezogenen Sommertheater von „Kabale und Liebe“ auf dem MFG-5-Gelände.
Kurz zum Stück und den Produktionsbedingungen- auf der Website des Theaters wird der Inhalt von Schillers Stück folgendermaßen beschrieben: „Ein diktatorischer Staat. Ferdinand, Sohn des Vizepräsidenten, ist in glühender Liebe zu Luise, Tochter eines einfachen Musikers, entbrannt. Ferdinands Vater will diesen jedoch mit der einflussreichen Lady Milford vermählen und initiiert einen perfiden Plan: Luises Eltern werden inhaftiert und dem Mädchen nur eine Chance zur Rettung eingeräumt – sie muss einen fingierten Liebesbrief an einen anderen verfassen. Daraufhin setzt der vor Eifersucht verblendete Ferdinand eine Kette von tragischen Ereignissen in Gang.

Große Klassik trifft auf großartige Rock- und Popmusik, bedingungslose Liebe auf rasende Eifersucht, jugendliche Leidenschaft auf finstere Machtpolitik: Schillers berühmtes Kammerspiel wird in der Regie von Daniel Karasek zu einem spektakulären Open-Air-Event direkt an der Kieler Förde. Das Schauspiel Kiel präsentiert sich mit seinem neuen Sommertheater erneut vor der maritimen Kulisse des MFG-5-Geländes in Kiel-Holtenau. Neben einer modernen Textfassung stehen Songs von einer der berühmtesten deutschen Indie-Rockbands: Kettcar!“.

Die Produktion wird von einigen großen Firmen gesponsert, sodass von Fahrzeugen von Mercedes-Benz für die Inszenierung, über das eigene „Kabale und Liebe“-Bier von Lille, bis hin zu Live-Übertragungen in viele gastronomische Betriebe der Stadt alles möglich scheint. Ein für Marketing-Zwecke traumhafter Ausgangspunkt.
„Moderne Textfassung“, „großartige Rock-und Popmusik“ , aufwendig produzierte Musikvideos flimmern von den riesigen Leinwänden (das „Liebespaar“ im Regen, Wurm mit Schlange, Lady Milford im Cabrio …). Dass in dieser Produktion sehr viel Geld stecken muss, wird schnell ersichtlich -aber was passiert auf der inhaltlichen Ebene mit den großen Problempunkten dieses Stückes, wenn man es im Jahr 2021 inszeniert? Wie fühlt sich dieses Stück an, wenn zur selben Zeit im Nachbarort Rendsburg ein Mann vor Gericht steht, der zwei Frauen brutal ermordet haben soll? Mit welchem Bewusstsein behandelt man das Thema Vergewaltigung und Femizid? „An jedem dritten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. Ein Erbe des Patriarchats, denn noch immer wähnen sich Männer in dem Glauben, dass ihnen eine Frau gehört.“(DFK, April 2021) Was in Schillers‘ Stück und auch in der aktuellen Inszenierung geschieht, ist eine Romantisierung dieser Gewalttaten. Ja, es ist eine Tragödie, aber vor allem für Ferdinand – den Mörder. Ein Mann, der seine „Geliebte“ aus Eifersucht tötet, weil sie nicht seinem Bild von Reinheit und Keuschheit entspricht. Ein Mann, der bereit ist alles zu opfern, damit „seine Luise“ niemandem außer ihm selbst gehört. Das ist keine Liebe. Das ist keine Romantik. Ferdinand ist nicht Opfer tragischer Umstände, sondern kaltblütiger Täter. Aber das wird nicht annähernd genug thematisiert. Der Abend ist ein leicht bekömmliches Musical-Spektakel. Mir schnürt sich beim Anblick die Kehle zusammen. Luise bittet ihren Mörder noch in den letzten Atemzügen um Vergebung und stirbt, möglichst hübsch, in seinen Armen. Ich frage mich, wie sich die beiden Frauen in Rendsburg in ihren letzten Minuten gefühlt haben müssen. Wie ihre Familien und Freunde versuchen den Mord ihrer Tochter, Schwester, Freundin zu überleben. Ich denke an die vielen anderen Schicksale. „Jeden zweiten bis dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Jeden Tag gibt es einen versuchten Mord. Mehr als 115.000 Frauen waren 2019 Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerade in Corona-Zeiten befürchten Zivilgesellschaft und Politik, dass die Zahl sogar deutlich steigen könnte. Dennoch wird das strukturelle Problem nicht anerkannt. Diese Morde sind Femizide: Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind“. (Petition: Femizide in Deutschland stoppen) All diese Frauen können nicht mehr für sich selbst sprechen. Ihnen wurde auf brutalste Weise ihre Stimme genommen, ihr Leben verweigert. Im Theater gibt es die Chance ihren Schicksalen Gehör zu verschaffen und meiner Meinung nach, liegt es in der Pflicht eines staatlich subventionierten Hauses, sich mit der Gesellschaft in der es sich befindet auseinanderzusetzen. Aber dies geschieht nicht. Die für die vielen Opfer stehende „Luise“ bleibt weiterhin stumm. Eine hübsche, bunt beleuchtete, leere Hülle. Weiterhin das „Idealbild“ eines Mannes, die in der Zugabe nach ihrem Bühnentod nochmals das Liebesduett vom Anfang singt, damit man die Zuschauer*innen mit einem „Happy End“-Gefühl entlassen kann.

Durch den gesamten Text zieht sich ein enormer Hass gegen Frauen. Entweder sind sie dumm oder Huren- oder ein heiliger Engel, der dann doch auch wieder eine Hure ist. (Zudem werden die „Frauen/Liebes-Szenen“ pink und die „Männer/machtpolitischen Szenen“ blau beleuchtet.)
Und das in einer Inszenierung, die mit einer modernen Textfassung wirbt?
„Schiller hat sehr viel über Gefühle gewusst“, sagt Daniel Karasek im Interview mit Sat1 regional. Er verkauft den Stoff als zeitlos, sehr aktuell – das mag ja auch sein, aber ich denke doch dass sich gewisse gesellschaftliche Strukturen und Themen seit der Uraufführung 1784 verändert haben dürften?
Und wäre ein Diskurs über diese Themen so schwierig herzustellen? Warum gibt es keine dramaturgische Einführung oder ein Nachgespräch? Warum gibt es keine Triggerwarnungen für Opfer (sexueller) Gewalt? Warum gestaltet man beispielsweise keine Ausstellung auf dem riesigen Gelände … neben dem Merchandise-Stand? Warum arbeitet man nicht mit dem Verbund der feministischen Mädchen- und Fraueneinrichtungen in Kiel zusammen? Es gäbe viele Möglichkeiten das Stück anders zu kontextualisieren und die große Reichweite, die man besitzt für mehr als Prestige zu nutzen, aber für mich bleibt die Frage nach den Gründen der Auswahl der Stücke (aus dem unendlich großen Kosmos an Theatertexten und Musicals), wenn sich die Beteiligten/Verantwortlichen nicht mit den darin vorkommenden Themen auseinandersetzen setzten möchten. Wo ist da die Kunst? Für mich sind das sind faule, privilegierte Scheuklappen, getragen von Menschen, denen nichts daran liegt die Welt zum Besseren zu verändern. Und es geht nicht darum ausschließlich utopische Welten zu kreieren, sondern darum das Bedürfnis der Menschen wahrzunehmen, für die das Theater gemacht ist. Ich möchte solche Inszenierungen nicht mehr sehen. Mir liegt nichts an der Selbstverherrlichung der Schauspieler*innen oder der Regie. Es interessiert mich nicht, wer auf Kommando weinen kann oder wie toll jemand singt. Keine Frage – da ist große Begabung vorhanden – aber wie wird diese genutzt? Und kann ich als Zuschauer*in mehr aus dem Abend lernen, als dass das ausschließlich weiße Ensemble super toll und hübsch ist? Dafür interessiere ich mich nicht. Und wenn das euer Theater ist, dann wundert mich nicht, dass so wenige junge Kieler*innen sich mit dieser Auslegung der Kunstform identifizieren können oder wollen.

Dies ist nicht das einzige, aber aktuellste Beispiel am Theater Kiel. Sehen sie sich die Spielpläne, die Besetzungen und das Ensemble an. Ganz offensichtlich gibt es ein großes strukturelles Problem mit Sexismus, Rassismus und fehlender Diversität.

Zuletzt noch ein paar Worte an das Ensemble selbst: Ich schätze euch sehr. Ihr seid wunderbare Menschen. Ich verstehe die Angst, die gerade viele Kunstschaffende trifft, ihren Job zu verlieren. Ich kenne die internen Machtstrukturen am Theater und den enormen Gruppenzwang durch die Kolleg*innen. Aber dennoch seid ihr diejenigen, die solchen Inszenierungen eure Körper und eure Stimmen zur Verfügung stellen. Es liegt genauso in eurer Verantwortung, welche Themen und Begriffe auf der Bühne reproduziert werden, wer nicht nein sagt, der sagt ja – und auch das ist eine Aussage.
Leserkritik: Act II & III, Frankfurt: intime Soli
Act II & III, Emanuel Gat Dance, Eröffnung Tanzfestival Rhein-Main, Frankfurt LAB

Binnen weniger Tage entwickelte der israelische Choreograph Emanuel Gat, der seinen Arbeits- und Lebensmittelpunkt seit langem in Frankreich hat, im Januar 2021 seine Lockdown-Choreographie "Act II & III".

Zu einer Aufnahme von Puccinis "Tosca" mit Maria Callas aus dem Jahr 1965 reiht er die Soli seiner Tänzerinnen und Tänzer aneinander. Nicht als lose Nummernrevue, sondern eng verzahnt. Beeindruckend an dem Abend ist, wie fein die Übergänge zwischen den auf- und abtretenden Tänzer*innen gearbeitet sind. Vor dem Finale begegnen sich die Ensemble-Mitglieder nur für Sekunden auf der Bühne.

Die intimen Soli der wie modelliert wirkenden, aus dem Halbdunkel ausgeleuchteten Körper nutzen den gesamten Raum des Frankfurt LAB. Der Industriehallen-Charme der Mousonturm-Spielstätte bildet den Gegenpol zum Puccini-Pathos.
Leserkritik: So much Pain!, Berlin
SO MUCH PAIN! A bodypiece for LIZ
- ein Theaterstück, das man sich nicht entgehen lassen sollte –
Am 19. November 2021 hatte in Berlin ein Theaterstück im Theater o. N. Premiere, das durch seine Idee, die Kraft der Mono- und Dialoge, die musikalische Untermalung und seine hintergründigen Aussagen gleichermaßen begeistert.
Die Regisseurin Katharina Kummer hat auf der Basis von zahlreichen Interviews mit betagten, lebenserfahrenen Frauen ein Stück geschrieben und zur Aufführung gebracht, das die (oft geheime oder zumindest nicht jedem zugängliche) Welt der Seniorinnen, z.B. unserer Großmütter, minutiös seziert – durch das Alter bedingt ohne Scham und dennoch mit einer verblüffenden späten, oft explosiven Erotik, mit frischen Erinnerungen an frühe Jahre und späten Träumen für vielleicht noch kommende kurze Zeiten, mit Fluchen, Schreien, Stöhnen und ganz leisen Tönen – bis hin zur letzten Stille…
Mit „So much pain! A bodypiece for LIZ“ ist Katharina Kummer ein großer Wurf gelungen, der anschließt an die ebenfalls Interview-basierten von ihr geschriebenen und inszenierten Stücke „wir werden alle unsre mütter“ (Uraufführung 2014 in Halle), und „MIRJAM & MYRIAM oder: Sieh dich vor, im Traum eines kleinen Mädchens gefangen zu sein“ (Uraufführung 2015 in Wien) die sich auch mit Frauen, aber eben ein bzw. zwei Generationen jünger, auseinandersetzen. Wieder hat jetzt in Berlin Frau Kummer, die bislang in Wien, Augsburg, Salzburg, Koblenz, Zürich und an zahlreichen anderen Theatern inszeniert und gespielt hat, das Glück, dass ihr Bruder Karl-Philipp Kummer, den Teil der musikalischen Hintergrunds- und Gesangsgestaltung souverän komponiert hat. Der Höhepunkt der Aufführung war neben Text und Musik natürlich in erster Linie die absolut überzeugende, großartige Darstellung von Iduna Hegen, Uta Lindner und Minouche Petrusch.
Man kann diesem Theaterstück und seiner Autorin nur wünschen, dass es neben den Aufführungen in Berlin (10., 11., 12. und 13. Februar 2022) noch an zahlreichen anderen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zur Aufführung kommt.

Dieses Interview mit Radio FRO / Oberösterreich bietet zahlreiche Zusatzinformationen über Katharina Kummer und ihr Werk: https://www.fro.at/buehne-als-szene-exzessiven-denkens/?fbclid=IwAR1CxGdsRt5KvqmCSJcNkxdEF9Vdi_0Tl4RYEJtRVMHsNK2uucQ0G8dgj40
 
Leser:innenkritik: Die Märchen, Stuttgart
Was macht einen Text zum Märchen? Sind es die Anfänge, wie etwa „Es war einmal…“, oder, „im Böhmerwald lebte einst ein Mann und hatte sieben Söhne…“ oder … „es geschah am XVIII Parteitag als Genosse Stalin sein Grußwort…“? Stopp: Stalin, Parteitag, das soll ein Märchen werden. Wo sind da die Zwerge und Kobolde und die Wunder, die am Ende alles gut ausgehen lassen? Oder sind es die Erzählenden, die eine Geschichte zum Märchen machen?

Dieser Frage stellen sich Schirin Brendel, Britta Scheerer und Karlheinz Schmitt unter der Regie von Dieter Nelle im Studiotheater Stuttgart und sie beantworten sie auf großartige Weise: Texte und Geschichten werden dann zum Märchen, wenn sich die Zuhörer mit kindlicher Offenheit auf sie einlassen können und wenn eine fast magische Atmosphäre entsteht, in der die Distanz zwischen Erzählenden und Aufnehmenden aufgehoben scheint.

Voraussetzungen dazu sind hohe sprachliche und darstellerische Qualität auf der Bühne und die physische Nähe zum Publikum. Das Studiotheater bietet hierzu fast ideale Bedingungen. Man ist so nahe dabei, dass man ohne es zu merken den Atem verlangsamt, wenn auf der Bühne langsam gesprochen wird. Und das funktioniert auch anders herum. Auch die Akteure bemerken wenn das Band zwischen ihnen und dem Publikum etwas brüchiger wird und reagieren darauf. Als etwa gegen Ende der Vorstellung die Geschichte, in der Sebastian nach und nach all seine Sinne aufgibt, sich etwas hinzieht, hebt die Erzählerin ihre Stimme um eine Nuance mehr oder schlägt bei der Geschichte über ’die Wilde‘ etwas heftiger auf den Tisch als ursprünglich beabsichtigt.

Die zwei Stunden vergehen wie im Flug und auf dem Weg nach Hause hat man Mühe, alle zehn Geschichten aufzählen zu können. Nicht, weil sie belanglos oder langweilig gewesen wären, sondern weil einem immer die aktuelle Geschichte derart in Bann geschlagen hat, dass die vorangegangene wie ausgelöscht war. Innwendig jedoch sind alle Geschichten fest verankert und suchen sich selbst die Gelegenheiten, um an die Oberfläche aufzutauchen.

Es gibt noch einige Vorstellungen und man sollte rasch zugreifen, denn die wenigen Plätze werden schnell vergeben sein.
Leserkritik: The Tragedy of Macbeth, Apple TV
"The Tragedy of Macbeth", Regie: Joel Coen, derzeit im Kino, ab Mitte Januar auf Apple TV+

Ein Fest für Shakespeare-Puristen ist die „Macbeth“-Verfilmung von Joel Coen, der erstmals allein ohne seinen kongenialen Bruder Ethan Regie führt. Er bleibt eng am Original und wenig lenkt von der Tonspur ab. In kargem Schwarz-Weiß geistern Lord und Lady Macbeth durch eine schroffe, düstere Welt.

Die Bilder sind in ein fast quadratisches Format gepresst und provozieren die Sehgewohnheiten des Publikums. Schwarz bleibt die Leinwand, als Kathryn Hunter die berühmten Verse der drei Hexen spricht und auch sonst kommen keine Farbtöne in dieses blutrünstige Drama. Aus der Zeit gefallen wirkt das Setting, betont künstlich und ja, oft auch altmodisch wirkt das Setting. An die Stummfilme der 1920er Jahre, an Ingmar Bergmans spätmittelalterliches Mysterienspiel „Das siebente Siegel“ oder – polemisch zugespitzt wie in der SZ – an die Salzburger Festspiele von 1968 oder gar noch früher, fühlten sich viele Kritiker erinnert.

Mit seinem schnörkellosen Purismus unterscheidet sich Coen deutlich von opulenteren „Macbeth“-Verfilmungen, wie zuletzt 2015 von Justin Kurtzel. Ganz zu schweigen vom anarchisch-galligen Humor, der die Filme der Coen-Brüder üblicherweise prägt. Dieser „Macbeth“ ist eine stilbewusste Fingerübung eines Star-Regisseurs.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/12/29/the-tragedy-of-macbeth-joel-coen-film-kritik/
Leserkritik: "Fischbrötchenblues" am SHL
"Fischbrötchenblues" am Schleswig-Holsteinische Landestheater, Premiere am 12. Februar 2022:
Wittenbrink, Gedeon und Bürk/Sienknecht sind die bekanntesten Autoren von unterhaltsamen Theaterabend mit viel Musik, die meist zu Kassenschlagern der Theater wurden und weiterhin werden. Nun hat das Schleswig-Holsteinische Landestheater seinen eigenen Autor Peter Schanz für unterhaltsame, musikalische Theaterabende mit Lokalkolorit. Er schrieb für das Landestheater das Stück „Fischbrötchenblues“, welches er als UA selbst inszenierte und landete einen großartigen Publikumserfolg. Es ist die Story von Touristen und Einheimischen im „Wahren Norden“ mit ihren Freuden und Sorgen. Ein spritziger, schräger Heimatabend mit viel Musik von Udo Lindenberg bis Brecht/Weill.
Schanz nimmt Themen wie Tourismuswirtschaft, Theaterneubau, Nord-Ostsee-Kanal, Bayern, Covid-19 und alles was zum Ärgernis reicht mit Ironie und Humor auf die Schippe. Man fühlt sich heimisch an diesem Abend. Zehn Bilder mit unterschiedlichen Themen, die von den nationalen und internationalen Gassenhauern mit norddeutschen Texten gespickt, die das Publikum fantastisch unterhalten. Bereits die Kostüme von M. Apelt sind ein Augenschmaus, wenn wir an die Quallen, das Walross, den Wolf Ulf und das Fischbrötchen denken. Die Inszenierung hat DRIVE und so springt der Funke sofort ins Publikum. Das Ensemble strotzt vor Spielfreude um nach langen Monaten der Corona-Pandemie mal wieder „auf den Brettern, die die Welt bedeuten“ Gas zu geben. Fridjof Bundel am Keyboard hat das musikalische Zepter fest in der Hand und seine Arrangements unterstützen den Gesang beeindruckend.
Doch nun zu den Höhenpunkten dieser Inszenierung: Neele F. Maak als Qualle Schantalle mit „Swimming in the Howachter Bucht“ (nach O. Redding „The Dock of the Bay“) ist in ihrer Interpretation marvellous. Als die alte Mutter Hansen hat sie Ihren zweiten Glanzpunkt. Sie fesselt allein auf der Bühne als Mutter Hansen das Publikum mit ihrem Monolog. René Rollin als Ulf der Wolf (mIeSEGRIM) überzeugt mit ständigem nörgeln und kritisieren und sein Song geht unter die Haut. Vor der Pause noch ein Knaller mit einem Song von H. Fischer, perfekt dargeboten von Kirstin Heil. Doch weiter im Takt, Karin Winkler als Emmi glänzt mit ihrem komödiantischen Talent und Ihr Brecht/Weill Song von der Seeräuber Jenny in eigenwilliger Interpretation, zeigt mit wieviel Engagement hier gearbeitet wurde. Reiner Schleberger als Herr Hansen wird literarisch mit seiner ständigen Wiederholung „Ich geh dann mal arbeiten“ (Tschechow: man muss arbeiten) oder Aale angeln mit dem Pferdekopf (G. Gras). Die Bürgermeisterin (Katrin Schlomm) in ihrer Strandkorbszene fesselt mit leiseren Tönen und als Square-Dance Tänzerin sprudelt sie nur so vor Energie. Ch. Hellrigl als Checker, der Manager der Tourismus Agentur führt gekonnt durch die 10 Bilder dieses Abends. Last but really not least Steven R. Scholz mit „Hoch im Norden” und als Walross, ein wahres Vergnügen. Fischbrötchenblues lebt von der Spielfreude des Ensembles und es bewahrheitet sich erneut, dass die Summe der Einzelteile mehr ist als die einzelnen Teile und darin liegt der Me(e)hrwert des Ensembletheaters. Ich bin gespannt, wie lange es dauert bis die niederdeutschen Bühnen dieses Stück für sich entdecken und es ins Plattdeutsche übersetzen. Das Konzept des Landestheaters mit regional bezogenen Theaterabenden zu punkten ist in diesem Fall aufgegangen. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass dieses Stück ein Kassenrenner wird. Und übrigens auch für diesen Abend lohnt sich eine Reise in den „Wahren Norden“. BRAVO - CHAPEAU - MERCI.
Leserkritik: SYM-PHONIE MMXX, Berlin
"SYM-PHONIE MMXX", Staatsballett Berlin, Sasha Waltz

Vor zwei Jahren sollte die „SYM-PHONIE MMXX“ bereits in der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt werden: Georg Friedrich Haas schuf als Auftragswerk eine flirrende, unruhig pulsierende Musik, zu der Sasha Waltz eine Choreographie entwickelte.

Damals fiel die Premiere dem Frühjahrs-Lockdown 2020 zum Opfer. Nun, fast auf den Tag zwei Jahre nach dem geplanten Termin, konnte die Uraufführung endlich stattfinden. Das Stück passt erstaunlich gut in die Zeit: düstere 100 Minuten erleben wir, unsichere, aufgewühlte Seelen, von David Finn in fahles Licht mit einigen Schwarzblenden getaucht.

Diese „SYM-PHONIE MMXX“ macht während des Abends zwar kaum eine spürbare Entwicklung durch und ist etwas zu lang und redundant. In seiner Aufgewühltheit und Düsternis ist der Abend jedoch ein Spiegel zur Weltlage zwischen Corona-Rekordinzidenzen und Flüchtlingsströmen, die von Putins Angriff auf die Ukraine ausgelöst wurden, und zu einer kulturellen Landschaft, in der selbst das Popcorn-Blockbuster-Kino mit „The Batman“ in melancholischer Schwärze versinkt.

Auch die Musik verstummt in dieser Choreographie mehrfach. Dann ist das Ensemble völlig auf sich zurückgeworfen. Aufgereiht zu einer Phalanx imitieren die Tänzerinnen und Tänzer in völliger Stille Gesten des politischen Aufstands wie Steinewerfen oder Posen von Gewalt.

Während der zwei Jahre hat sich auch sonst einiges verändert: Sasha Waltz ist nicht mehr Co-Intendantin des Staatsballetts Berlin, die Coproduktion tanzen ausschließlich Akteur*innen ihrer Compagnie Sasha Waltz & Guests. Es finden auch nur noch zwei Vorstellungen am kommenden Freitag und Samstag in der Staatsoper Unter den Linden statt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/13/symphonie-mmxx-sasha-waltz-staatsoper-kritik/
Leserkritik: Mephisto, Flensburg
Am 2.4 hatte Mephisto nach K. Mann in der Fassung und Regie von W. Hofmann Premiere am SH Landestheater in Flensburg. Hofmann rafft die 430 Romanseiten auf 110 Minuten. Es ist die Geschichte des Schauspielers H. Höfgen (G. Gründgens) von seinen Anfängen im Jahre 1926 bis zum gefeierten Star des 3. Reiches im Jahre 1936. Höfgen eine selbst unsichere Persönlichkeit, der unter dem kindlichen Trauma eines Chorerlebnisses leidet, ist süchtig nach Erfolg und Anerkennung. Er, eine ambivalente Person, versucht mehrfach Weggefährten zu retten, doch diese Rufe bleiben klein, da sein Erfolg immer Priorität hat. Höfgen, der Opportunist par excellence, steigt die Karriereleiter unter dem Naziregime nach oben und verliert alles: Freunde, künstlerische Integrität und letztendlich sich selbst. Höfgen wird zum Spielball der Macht. Eitelkeit und glamouröser Erfolg machen ihn blind für seine Rolle als Clown der Zerstreuung im Nazi-Regime. Er der Affe der Macht. Einen zweiten Strang verfolgt Hofmann in Höfgens Beziehungen zu Frauen (seine Mutter, Juliette, Dora, Barbara, Lotte, Nicoletta) die geprägt sind von Ambivalenz zwischen Vergötterung, sklavischer Hörigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen und stetiger Getriebenheit. Am Ende bleibt er verzweifelt zurück – ein Schauspieler.
Das Stück beginnt mit dem Vorspiel in der Garderobe in Analogie zu Goethes Faust mit dem Vorspiel auf dem Theater. Die Schauspieler*innen bereiten sich auf den Auftritt vor und diskutieren über die Rolle des/der Schauspielers*in. Ist Schauspiel ein Abbild der Historie oder eine Lesart der Geschichte? Theater verändert nicht die Welt, aber es ermöglicht Reflexion auf die Welt und was geschieht, wenn die Kunst einen Pakt mit der Macht schließt?
Hofmann inszeniert Mephisto als Theater auf dem Theater und schafft so ständig kritische Distanz des Zuschauers zum Gesehenen. Szenen fließen ineinander, Szenen frieren ein und neue beginnen. Ein ungebrochener Spielfluss schafft ein dichtes Netzwerk. Spannend ist die Inszenierung in Momenten der Auseinandersetzung von Dreier-Konstellationen (z.B.: Höfgen, Miklas, Ulrichs oder Bruckner, Martens, oder Martens, Ministerpräsident, Höfgen). Die Inszenierung hat viele Glanzpunkte, wie die Szenen zwischen Höfgen (M. Egert) und Juliette (G. Imkamp). Diese Beziehung mit BSDM-Praktiken mit zwei Männer zu besetzen ist ein gelungener Regie-Coup. Das Einrollen der Verliebten in den Vorhang als Synonym für Nähe, Intimität im Verborgenen ein starkes Bild. Richtig Fahrt nimmt die Inszenierung nach Höfgens Monolog als Mephisto auf. Nun wird seine Verstrickung mit dem Naziregime immer enger und bedrohlicher und er versucht sich durch rauschhaftes Leben und Selbstrechtfertigungen, der Erkenntnis zu entziehen, nur ein Schauspieler zu sein, der nichts anderes ist als ein Affe der Mächtigen. Ein weiterer Glanzpunkt ist Pelz (R. Schleberger), die Verkörperung des Mephistophelischen, eine doppelbödige Katastrophe. D. Habermehl als Ministerpräsident (Göring) bleibt etwas farblos, da er weder sarkastische Karikatur noch kaltblütiger Nazi ist. Beeindruckend aber wie er Höfgen beiläufig verabschiedet „ab Höfgen“ und deutlich macht, dass Höfgen nur eine Hofschranze der Macht ist. M. Egert als Höfgen überzeugt in allen Schattierungen dieser Figur und gibt ihr ein eigenes Profil – Chapeau. Doch ohne die geschlossene Ensembleleistung aller Beteiligten, wäre die fesselnde Geschlossenheit des Abends nicht möglich gewesen. Hofmanns Mephisto ist ein packender Theaterabend, der durch den Krieg in der Mitte Europas eine Aktualität gewinnt, die einen erschauern lässt und kritische Reflexion auf kriegerische Gräueltaten in unserer Zeit ermöglicht und im Lokalbezug an die Rattenlinie Nord erinnert. Chapeau!
Leserkritik: Transverse Orientation
"Transverse Orientation", Dimitris Papaioannou, Hellerau/Dresden

Slapstick trifft auf griechische Mythologie: so könnte man die neue Choreographie von Dimitris Papaioannou überschreiben, die seit einem Jahr auf Tour ist und im Dresdner Festspielhaus Hellerau nun auch erstmals in Deutschland zu sehen ist.

Selbstironisch merkte der griechische Star-Choreograph, der 2004 die Ehre hatte, die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Athen zu inszenieren, im Publikumsgespräch an, dass diese neue Arbeit für seine Verhältnisse regelrecht rasant sei. Zu Vivaldi-Klängen erleben wir elegant ineinanderfließende Szenen, die von skurrilem Humor geprägt sind und ästhetisch auch schon einige Jahrzehnte alt sein könnten.

Typisch für „Transverse Orientation“ sind Figurenkompositionen, bei denen jeweils zwei Spieler*innen miteinander zu Fabelwesen verschmelzen. Der Mythen-Mashup mündet auch immer wieder in Momente purer Spielfreude, in denen das Ensemble Quader durch die Gegend schubst oder aus Klötzen einen Turm nachbaut, der sofort in sich zusammenfällt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/03/transverse-orientation-hellerau-kritik/
Leserkritik: "It's Britney, Bitch!", Berlin
"It´s Britney, Bitch!" von Lena Brasch und Sina Martens, Berliner Ensemble

Das 70 Minuten kurze, seit der Premiere Anfang Januar stets ausverkaufte Stück ist ein ganz eigenes Genre: irgendwo zwischen nostalgischer Erinnerung, Hommage, Pop-Konzert, Dokutheater und mäandernder Reflexion.

Gleich vier Autorinnen (neben Lena Brasch noch Laura Dabelstein, Miriam Davoudvandi und Fikri Anil Altintas) haben zu diesem Mash-up beigetragen, das die wichtigsten Höhen und Tiefen der Spears-Karriere nachzeichnet, aber auch abschweift: mal teilt Martens Seitenhiebe gegen die "Richard III."-Shows von Lars Eidinger an der Schaubühne aus, mal reflektiert sie über Spears als Vorbild für feministisches Empowerment, mal geht es um mediale Schlammschlachten, sehr oft um Pop-Phänomene, an denen vor allem Insider Spaß haben.

Die Songs der Ikone hat Friederike Bernhardt verfremdt, Martens trägt sie im Stil düsterer Balladen vor, der gut zu den Reflexionen über Absturz und Fremdbestimmung passt. Erst zum "Oops, I did it again"-Finale aus der Früh-Phase von Britney Spears performt Martens einen Original-Hit der Frau, um den dieser ganze Abend kreist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/26/its-britney-bitch-berliner-ensemble-kritik/
Leser*innenkritiken: Altern?, Pilkentafel Flensburg
Pilkentafel oder es muss nicht immer Staatstheater sein!

Wie? Altern? Kein Wunschkonzert. Mit diesem Stück startet die Pilkentafel in Flensburg nach langer Corona-Pause wieder mit Live-Veranstaltungen.

Die Theaterwerkstatt Pilkentafel ist ein gut vernetzter, in verschiedenen Verbänden organisierter und international bekannter Ort für zeitgenössische darstellende Kunst, Tanz und Performances in Flensburg, die sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzt. 2019 wurde die Pilkentafel mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet.

Das neue Stück über das Alter wurde von Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, beide jenseits der sechzig, geschrieben und gespielt. Zeit vergeht – und wir vergehen auch! Altern nennt man diesen Prozess und er trifft uns alle. Was machen wir damit? Diesen Fragen geht die Pilkentafel in ca. 90 Minuten nach.
Die Bühne ein leerer Raum mit einer Bank und den Fotografien der Akteure (E. Bohde, T. Schütte) und einer klugen Lichtregie (Manuel Melzer). Die Kostüme: schwarze Hosen, schwarze Hemden und barfüßig (Gesine Hansen). Regie führte Anne Schneider. Der Abend beginnt mit einem Dialog der Beiden über die Folgen des Alterns: „Best Ager“ und „Alters-Boomer“ mit weißen Haaren, Glatze, Harre in Nasen und Ohren, Frauenbart, Doppelkinn und Cellulitis. In diesem Zwiegespräch über das Altern werden Klischees bedient, was Lacher provoziert, sobald man sich selbst ertappt fühlt. Das erste große Bild ist der Lichtweg – ein Weg über die Länge der Bühne wird ausgeleuchtet, an deren Ende, sich ein Tor befindet. Schritt für Schritt schreiten die Akteure barfuß diesen Lichtweg ab. Der Lichtweg ein zentrales Bild eine Metapher für den Lebensweg und das Tor - das Ende - der Tod. Nach ¾ des Weges schauen sie sich um und fragen was noch vor ihnen liegt. Leben als Kampf? Dann die Strong-Man-Pantomime von T. Schütte eine clowneske Macho-Parodie in der sein komödiantisches Talent glänzt. Danach Reflektionen über die Leistungsgesellschaft bis ins Hohe Alter und der Erkenntnis der zunehmenden körperlichen Schwäche mit zunehmendem Alter. Schwächeräume die Alternative in der Postwachstumsgesellschaft?! Die Grauen Panther demonstrieren für das Recht auf Schwäche! Nochmals die Auseinandersetzung mit dem Alter nur der nackte Rücken des Mannes im Lichtkegel und die Hände der Frauen ebenfalls im Lichtkegel mit den Insignien des Alters. Altersdiskriminierung von Frauen im und auf dem Theater und die Macht der alten wei(s)ßen Männer. Danach geht es auf das letzte Viertel des Weges. Ein stilles, schönes Bild. Die Akteure legen sich auf den Boden nähern sich mit ihren Händen. Letzte Gedanken um Rente, Rentendilemma, Fluch und Segen des Ruhestandes, Weitermachen oder Resignieren oder den Mut zum Neuanfang im Alter. Stille kehrt ein, das Licht verlöscht. Ein gelungener Abend mit starken Bildern, Musik, Pantomime und Tanz. Packen wir es an – definieren wir das Altern neu.
Leserkritik, Flensburg: Anywhere out of the World
Am Wochenende gastierten die exen und das Theater Triebwerk bei der Pilkentafel in Flensburg mit ihrer Performance „Anywhere out of the World“. Eine Hommage an den Lyriker und Dichter Charles Baudelaire, in der sie Texte aus Baudelaires „Le Spleen de Paris“ auf die Bühne zauberten. Baudelaire ein Meister der Ästhetik des Bösen, des Schreckens und der Leere wird auf der Bühne zu einem Fest des Schönen im Hässlichen und die dunklen Seiten im Leben beginnen zu strahlen. Bereits die Ausstattung von Christof von Büren verzaubert. Schräge Wandelemente, eine riesige Uhr, ein Sack, eine Weinflasche, eine Glaskugel, ein Hemd, eine Puppe, beschriebenes Papier, ein Cello und vieles mehr, eingehüllt in das blaue Licht des Firmamentes und des Meeres. Ein surreales, traumhaftes Bild, das mich an Alice im Wunderland erinnert. Im Laufe des 60minütigen abends werden alle Gegenstände zum Leben erweckt. Auf der Bühne agieren weiterhin Karin Schmitt (die exen) mit ihren Puppen und Uwe Schade (Theater Triebwerk) mit seinem Cello und schaffen die Imagination „Anywhere out of the World“ zu landen. Die Glaskugel wird zum Astronautenhelm, aus dem Hemd und dem Sack wird ein chimärenhaftes Wesen und später die Seele, mit der sich die Schauspielerin unterhält. Ständig entstehen traumhafte Bilder voller Schönheit, die dann wieder gebrochen werden von schrägen, surrealen Bildern, begleitet von Texten Baudelaires und den Tönen des Cellos. Alles verwebt sich miteinander zu einem traumhaften Netz in dem ich als Zuschauer voller Begeisterung gefangen wurde. So wurde ich Teil einer Traumreise, in der ich Spuren einer sich zerstörenden Welt und Scherben eines Paradieses artificiels fand und schließlich dem Streit, zwischen dem Ich und der Seele beiwohnte, indem die Seele überall hinwill, nur nicht an Orte auf dieser Erde und das Konterfei von Baudelaire zum Schmetterling wird und lustig am Himmel vor den Wolken tanzt. Ein 60minütiger Traum, indem Melancholie, Pessimismus, Schönheit und Desillusion miteinander tanzen und das Leben zwischen Hell und Dunkel sich auftut und vielleicht einen Schimmer einer besseren Welt auch im 21. Jahrhundert erahnen lässt, obgleich Baudelaire im Fortschritt eine Abnahme der Seele und eine Zunahme der Materie sah. Wer den Mut hat sich auf einen Traum surrealer Bilder voller Wahrheit einzulassen, sollte diesen Abend nicht versäumen. Diesen faszinierenden, originellen Abend verdanken wir Karin Schmitt, Uwe Schade und Elisabeth Bohde (Dramaturgie, Pilkentafel). Bravo – Merci – Chapeau.
Leserinnenkritik: "Wannst net sterbst...", Wien
"Wannst net sterbst sehn ma uns im nächsten herbst"

Ein Theaterabend mit Texten von Elfriede Gerstl
Von Johanna Orsini und Martina Spitzer
Eine Produktion von Pistoletta Productions in Kooperation mit dem TAG

Im Theater gewesen und endlich, endlich wieder begeistert! In Wien, aber nicht bei den Festwochen mit ihrer Relevantiasis, sondern in einer einheimischen Seitengasse, im TAG, bei einem bescheidenen Projekt mit Texten der 2009 verstorbenen Untertreibungskünstlerin Elfriede Gerstl. Die Schauspielerinnen Martina Spitzer und Johanna Orsini haben in der Corona Klausur daran herumgebastelt und herausgekommen ist ein kleines Theaterwunder.

Die Grundidee ist gut und unspektakulär: wir sind bei der Life Aufzeichnung einer Literatursendung fürs Radio. Offenbar ist es eine unterfinanzierte Nischenproduktion, denn die Moderatorinnen, zwei schrullige ältere Ladies, sind ihre eigenen Technikerinnen und müssen alles selber machen: Mikrofone und Kassettenrekorder einstöpseln, die rote Lampe für „Aufnahme läuft“ installieren, ihre Instrumente- Geige und Ukulele- bereitstellen. Nebenbei richten sie sich auch noch alles fürs Frühstückmachen her: Kochplatte, Eier, Schnittlauch und Kaffee. Weil sie eh keiner sieht – ist ja Radio- stapfen sie ungeniert in Schlafmänteln und Gummistiefeln herum, ungekämmt und grummelig.
Allerlei Absprungrampen für klassische Slapstick Nummern werden da gebaut, und man glaubt zu wissen was da kommen wird: irgendwann werden sie sich im Kabelsalat vermarthalern, werden auf einem zerbrochenen Ei ausrutschen, werden ihre Frühstückseier Loriotgemäß zu weich oder zu hart finden, und werden sich über Missgeschicke in die ohnehin schon wild zu Berge stehenden Haare kriegen. Ein bisschen von alldem passiert auch, anderes wieder nicht. Aber vor allem entwickelt sich zwischen den beiden grimmig entschlossenen Damen, die hier ihre 50. Literatursendung zusammen machen, ein faszinierendes Zusammenspiel aus kleinen Blicken und Reaktionen. Die eine ist ein wenig dominanter, die andere dafür stur wie eine Bergbäuerin, und beide lieben, was sie tun. Man weiß nicht genau, was in ihnen vorgeht, aber dass es viel ist, ganze Welten, das kann man sehen. Und nach und nach, erwachen sie zum Leben, sind nicht mehr Schauspielerinnen, die Figuren verkörpern oder irgendetwas darstellen, sondern neue Wesen, die es vorher noch nie gegeben hat, faszinierend in ihrem rätselhaften Eigenleben. Und was da in sie eingefahren ist, was ihre Beziehung bestimmt, ist der Geist von Elfriede Gerstl persönlich.

Dieser Geist spricht zwar auch den Texten selbst, ist dort aber schwer zu fassen oder zu beschreiben. Es sind alles kleine Formen, Gedichte, Szenen, Prosa, „Gedankenkrümel“, Interviews und Aphorismen. Sie sind immer voll scharfem Witz, pointiert, fast Kabarettszenen, aber immer spielt auch Gerstls persönliche prekäre Situation hinein, beschäftigen sich die Texte mit dem Altern, Krankheit und Tod; mit dem Frausein und Freundschaften. Es gibt Dialogszenen aus den Nächten im ersten Wiener Bezirk, von den Leuten, die vor den Lokalen mit ihren Weingläsern herumstehen. Elfriede Gerstl macht sich über sie lustig, über die Eitelkeit, über das Versteckspiel. Über die Einsamkeit, die dahintersteckt. Aber sie ist auch immer selbst Teil davon, und diese Leute waren ihre Heimat. Dass sie, 1932 geboren, als jüdisches Kind in einem Versteck überlebt hat, aus dem sie erst dreizehnjährig aufgetaucht ist, hat sie erst sehr spät erzählt und es kommt fast nie in den Texten vor.
Überhaupt enden Gerstls Geschichten nie in großen Dramen, Konflikte explodieren nicht und der bösartigste Witz bleibt melancholisch. Diese Contenance, dieses nie ganz Greifbare, hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie trotz vieler Preise nie den großen Durchbruch geschafft hat wie ihre Freundin Elfriede Jelinek. Aber hier, im Universum dieser Radioshow, wird der so schwer einzufangende Geist lebendig, wird zum schillernden Tanz zweier rätselhafter, liebenswerter Gigantinnen- und seine Melodie ist das Leben selbst.
Einmal funktioniert im Tonstudio eine Einspielung nicht, und die beiden Moderatorinnen müssen spontan die Lage retten. Sie vertonen das Gedicht: „Ich bin zu normal“ und brechen dabei plötzlich in wildes Punkrockgegröle aus, schreien sich und Elfriede Gerstl ekstatisch um Sinn und Verstand, als wären sie nie mehr zu bremsen– dann kehren sie beruhigt und enigmatisch zu ihrem Frühstücksei zurück. Verrückter Weise sieht man hier, was als undarstellbar gilt: eine glückliche Beziehung.
„May her memory be a blessing!” sagt man in der jüdischen Tradition über Verstorbene. Und genau das ist hier gelungen. Wie der Geist der Elfriede Gerstl in der Beziehung zwischen den zwei schrulligen Damen aufersteht, ist „a blessing“- ein Segen für alle, die dabei sein dürfen. In einer Zeit, in der in der alles schwarz oder weiß sein muss, ist das Universum, das sich hier öffnet in seiner Ambiguität fast schon sündig- und sich darin zu bewegen ein großes Theaterglück. Wer die Gelegenheit hat, sollte es nicht verpassen!
Leserkritik: Monte Rosa, ATT Berlin
"Monte Rosa" von Teresa Dopler, Regie: Matthias Rippert, Schauspiel Hannover zu Gast bei ATT Berlin

Die Bergsteiger-Tragikomödie über Männlichkeits-Entwürfe kommt mit knappen Ping-Pong-Dialogen und ist in einer halbrealen Alpen-Traumwelt angesiedelt: Matterhorn und Dolomiten werden immer wieder als vertraute Orientierungspunkte genannt, das Trio spinnt sich aber vor allem in die eigenen uneinangestandenen Sehnsüchte ein.

Auffällig ist, dass die Menschen in Hannover so stolz auf ihr lupenreines Hochdeutsch sind, viele Inszenierungen des dortigen Schauspiels aber sehr bewusst Dialekt in ihre Inszenierungen einbeziehen: Stella Hilb sprach in „Ein Mann seiner Klasse„, das in einem sozialen Brennpunkt in Kaiserslautern spielt, im Pfälzer Dialekt, diesmal lassen der Schweizer Lukas Holzhausen (Regisseur des zum Theatertreffen eingeladenen Abends) und der Österreicher Nikolai Gemel (Hauptdatsteller jenes Abends) ihre Heimat-Idiome durchschimmern.

„Monte Rosa“ bleibt hinter diesem tt-Überraschungshit zurück: Teresa Doplers skurrile Fingerübung ist ein kurzer Abend für die kleine Bühne in den DT-Kammerspielen. Die Figuren sind Stereotype, irgendwo zwischen Loriot und Godot, wie die Hannoveraner Lokalzeitung „Neue Presse“ ihre Premieren-Besprechung treffend titelte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/14/monte-rosa-schauspiel-hannover-kritik/
Leserkritik: "Die Räuber der Herzen", ATT Berlin
"Die Räuber der Herzen" von Bonn Park nach Friedrich Schiller. Deutsches Schauspielhaus Hamburg zu Gast bei den Autor:innentheatertagen am DT Berlin

Einen schönen Moment hat Bonn Parks „Die Räuber der Herzen“: Angelika Richter macht es sich in ihrem Schaumbad gemütlich, hört Obama-Reden an und die Live-Musikerin Fee Aviv Marschall singt ihr Lieblingslied: um das Jahr 2012 geht es darin. Deutschland gedachte der Mordopfer der NSU-Mordserie und Griechenland steckte im Schulden-Strudel, der die EU zu zerreißen drohte. Aber gemessen an Pandemie, Trump und Krieg in der Ukraine wirkte die Welt übersichtlicher und friedlicher – zumindest aus heutiger, nostalgisch verklärender Perspektive.

Doch eine hübsche Idee reicht nicht für einen 100minütigen Theaterabend: Bonn Park versuchte sich an einer Überschreibung von Schillers Jugend-Drama „Die Räuber“, das er mit Motiven aus der Feel-Good-Gangster-Komödie „Ocean´s Eleven“ mit George Clooney in der Hauptrolle verquirlt. Dieser Hollywood-Film erschien zwar erst 2001, einige Monate nach 9/11, atmet aber noch den Geist der postmodernen Beliebigkeit der 90er Jahre.

Beliebig, albern und banal ist auch der assoziative Mash-up, den Autor Bonn Park im Frühherbst 2021 auch selbst im Malersaal des Schauspielhauses Hamburg inszenierte. Bei den Autor:innentheatertagen polarisiert dieser schwächste Abend des Gastspiel-Programms sehr.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/15/die-rauber-der-herzen-schauspielhaus-hamburg-theater-kritik/
Leser*innenkritik: "Milchwald", ATT Berlin
"Milchwald" von Fritz Kater, Regie: Armin Petras, Theater Bremen zu Gast bei ATT Berlin

„Milchwald“ ist genau in der Region angesiedelt, auf die seit Anfang des Jahres und dem Aufmarsch russischer Truppen die ganze Welt blickt: die Ostgrenze der EU. Petras alias Kater befasst sich in seiner politisch engagierten Collage mit der EU-Flüchtlingspolitik, der Abschottung durch Frontex und der Abschiebung einer tschetschenischen Familie.

In kurzen, lose aneinandergereihten Fragmenten spielt die Szenerie mal in den linksalternativen Vierteln Bremens, mal in Polesien, das der karge Programmzettel als „riesiges Sumpfgebiet zwischen Polen, der Ukraine, Russland, Weißrussland und Litauen“ beschreibt. Die Handlung springt zwischen den Zeiten, verknüpft die aktuelle Flüchtlingspolitik mit historischer Kriegsschuld, die die NS-Gewaltherrschaft bei der fanatischen Suche nach „Lebensraum im Osten“ auf sich lud.

Das Wimmelbild der Figuren ist trotz aller Sprünge, Ortswechsel, eingestreuter Nostalgie-Songs und Cliffhanger eine recht papierne Angelegenheit, sehr plakativ erzählt Petras alias Kater mit erhobenem Zeigefinger seine Geschichte über eine ratlose politische Linke und den im Nebel versinkenden Milchwald.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/17/milchwald-theater-bremen-kritik/
Leser*innenkritik: "Paradise Lost", Neuköllner Oper
"Paradise Lost", Thomas Zaufke/Peter Lund mit dem 3. Studienjahr Musical/Show der UdK, Neuköllner Oper

In vielen Gesprächsrunden, Publikationen und Essays wird die Allmacht der Regie-Götter beklagt, deren Launen die Berufsanfänger oft ausgeliefert sind. In diesem sehr unterhaltsamen und dennoch tiefgründigen, dramaturgisch ebenso wie choreographisch präzise gearbeiteten Ensemble-Stück werden die verschiedenen Strategien durchgespielt, mit denen talentierte Künstler versuchen, in der Branche Fuß zu fassen.

Da ist z.B. der narzisstische Kai (Timothy Leistikow für den gestern Nathan Johns einsprang), der nach unten tritt und sich auf breiter Schleimspur beim meist abwesenden Regisseur anbiedert; da ist der talentiertere Alex (Manuel Nobis), der in seiner zurückhaltenden Art stets nur in der zweiten Reihe landet und schmollt; da sind Lilli (Annika Steinkamp), die zynisch-verbitterte Assistentin des Regisseurs, und ihr Ex Adam (Tobias Blinzler), der einige Widerworte gab, seitdem in Ungnade gefallen ist und durch die Provinz tingelt, um sich und seine Familie zu ernähren; schließlich auch Peedy (Paul Fruh), der es bereut, dass er für ein Engagement die Beine breit machte) und Maja (Isabella Seliger), das unerfahrene Küken im Ensemble, die am Ende des Stücks entscheiden muss, ob sie der Einladung ins Hotelzimmer folgen soll, wo sie sich den Text für die ersehnte Hauptrolle abholen soll.

In zweieinhalb kurzweiligen Stunden performt das Ensemble eine tolle Show, bei der zu spüren ist, wie sehr dieses sensible Thema die UdK-Studis auch ganz persönlich angeht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/26/paradise-lost-neukoellner-oper-kritik/
Leser:innenkritik: "Meine Schule brennt!", München
Traurig, packend, sehenswert
"Meine Schule brennt!" - Ohne jedes "Hurra, Hurra"

Damit hat es wahrlich nichts zu tun: Was im Deutschen-Neue-Welle-Song "Hurra, hurra, die Schule brennt!" in Anlehnung an den Filmklassiker von 1969 mit Peter Alexander so euphorisch besungen wird, sind die vorgezogenen Ferien, die gewünschte Auszeit, die Anarchie im Schulbetrieb. Luxusprobleme... Nichts dergleichen, sondern tiefe Trauer vermittelt das Stück "Meine Schule brennt!", das junge Schüler im Teenager-Alter aus Gymnasien, Berufs- und Mittelschulen am Samstagabend Open-Air in einer Seitenstraße der Münchner Maximilianstraße uraufgeführt haben.

Es geht um den Brand einer jüdischen Schule im Jahr der Novemberprogrome 1938. Die eben genau da stand, wo die Aufführung heute stattfand, in der Herzog-Rudolf-Straße am unteren Ende des Münchner Prachtboulevards. Aus der Sicht von Kindern beschrieben. Dargebracht als Tanz-, Sing- und Sprech-Performance von Jugendlichen, wie sie eindrücklicher kaum sein kann. Der Verlust der Schule als sozialer Raum, wie er auch den Schülern der jüngsten Vergangenheit, im Corona-Lockdown, abhanden gekommen war. Weitaus beklemmender, gefährlicher, zerstörerischer das Verbrennen der Jüdischen Volksschule mit all den bekannten Folgen...

Marzipan-Kartoffeln... Sie wurden von den Kindern der Jüdischen Volksschule morgens vor Schulbeginn gekauft und genascht. Süßigkeiten gab es damals noch für fünf Pfennig das Stück. Wer kennt das nicht, das erhebende Gefühl, von seinem Taschengeld Lutscher oder Ahoi-Brause zu kaufen? Die erste geschäftliche Transaktion im Leben von ABC-Schützen. - Deutsche Realität von damals, die auch wir Zuschauer heute kosten durften: Huldvoll von den Performern persönlich auf einem Tablett dargebracht wurde jedem von uns ein Nasch-Tütchen gereicht, und was war drin? Eine Marzipan-Karfoffel!

Haptisch, sensorisch, gedanklich war man sofort drin in der Schüler-Welt, in der Welt von damals, wo das Schrecken so schleichend begann, dass anfangs keiner so richtig begriff, wann es losging, dass es losging.

Stimmige Metaphorik: Im Stück beschreibt ein Jugendlicher, wie die Schüler auf ihrem Schulweg auf der herbstlichen - es war November - Maximilianstraße die herabgefallenen Blätter der Kastanienbäume aufsammelten und mit Papier zu Zigaretten drehten. Der Rauch drang beißend in ihre Lungen. Kurz drauf erfüllte beißender Rauch die Herzog-Rudolf-Straße mit braunem Qualm und die Schüler mit Entsetzen.

"Das Ausgegrenzt-Sein ist eine allgegenwärtige Erfahrung", sagt Alexander Wenzlik, Vorstand und Geschäftsführer des Vereins CultureClouds e.V., der das Stück zusammen mit Dorothee Janssen, Choreografin und Tanzpädagogin, mit den Schülern realisiert hat. "Heute nennen wir es Mobbing." Schüler werden bestraft für ein Anders-Sein, fürs Herausragen oder Untergehen. Der Aggressor ist freilich heute ein anderer als damals. Aber "Schüler, die bei unseren Projekten mitmachen, sagen immer wieder, das sei eine prägende Erfahrung für sie", so Wenzlik.

Und noch was: Viele Orte der braunen NS-Diktatur sind im Allgemeinwissen verankert - der Königsplatz, ehemals Weihestätte des Nationalsozialismus und heute Sitz des NS-Dokumentationszentrums, das bei der Realisierung des Stücks kooperierte, die Feldherrnhalle, Ort des gescheiterten Hitler-Putsches 1923, der ehemalige Führerbau an der Arcisstraße (die heutige Musikhochschule), das ehemalige Hitler-Domizil am Prinzregentenplatz (heute Polizeistation) und so weiter und so weiter.

Aber: Wer weiß schon, dass die Jüdische Volksschule im Seitenarm der Maximilianstraße stand? Und daneben die ursprüngliche Synagoge? Ich nicht. Viele andere auch nicht. Selbst direkte Anwohner nicht. "Da hat München noch was aufzuholen", sagt Wenzlik, der sich gegen das Vergessen wehrt und junge Menschen zur Achtsamkeit in jeder Hinsicht bringt. - Und DAS wiederum verdient ein "Hurra!".
Leser:innenkritik: "Meine Schule brennt!", München
Liebe Gudrun Kosche, vielen Dank für die einfühlsame Kritik! Nur eine kleine Richtigstellung: erarbeitet haben das Stück Dorothee Janssen und Julian Monatzeder zusammen mit den Jugendlichen.
Leserinnenkritik: Die Bremer Stadtmusikanten, Rosenheim
Alles Wusel!
Kaum eine Woche nach der Premiere hatte gestern die neue Produktion „Die Bremer Stadtmusikanten“ vom Jungen Theater Rosenheim schon Derniere – fürs erste. Im Foyer des Künstlerhofs drängelten sich erwartungsvolle Familien, die tiefen Sitzfenster und hohen Barstühle waren wie ein großer Spielplatz für das junge Publikum. Im Theaterraum selbst dagegen gings auf den Boden. Sitzkissen für alle, markierte Wege sollten frei gehalten werden. Ein paar Stühle für Großeltern standen auch an der Wand, aber nur wenige, denn die Hauptspielfläche waren bei dieser Inszenierung von Florentine Klepper die Wände. Das Bühnenbild von Bastian Trieb verwendet die Wände, schlicht mit aDinA4 Papierbögen gepflastert (hin und wieder von Benedikt Zimmermanns Esel angeknabbert), um mit dem Beamer einen 360 Grad Raum zu projizieren, der sich ruckzuck ändern konnte, plötzlich mit Theaterwind selbst Struktur annahm, als das Papier raschelte, und unmerklich überging in eine Nische für echtes Schattenspiel oder eine erhöhten Bühnensituation im Haus der Räuber. Die Lichteffekte und dezent eingesetzten Projektionen gaben nicht nur dem Schattenspiel einen modernen Touch, das Stück kippte auch blitzschnell aus der Drei- in die Zweidimensionalität und wieder zurück. Da schnarcht auch mal ein Maskenmann oder ein holzschnittartiger Comic-Räuber pinkelt aus der Tür. Derlei Kniffe waren für das Publikum gar kein Problem, selbst die Kleinsten konzentrierten sich ganz auf die liebevollen Details, mit der die 4 Schauspieler*innen ihre bekannten Charaktere zeichneten – ein alter Esel mit Rückenproblemen, ein tauber Hund, eine blinde Katze und ein fetter Hahn. Die vier sollen ausgemustert werden, denn sie sind nicht mehr fit für den Berufsalltag.

Mit Präzision und witzigen Ideen machten sich die vier eine kurzweilige Stunde lang den pfiffig verknappten Text von Philipp Löhle zu eigen und nutzen selbstverständlich alle Techniken, die den zeitgenössischen Theatermachern zur Verfügung stehen – Maskenspiel, Musik, Gesang (tolle Stimme: Rosalie Eberle), quer durch Publikum gewuselt – ja das war glatt immersiv, und keiner macht Zinnober drumrum. Es war wohltuend und vergnüglich, solides Handwerk zu sehen und in einer ausverkauften Vorstellung einer freien Gruppe zu sitzen mit Kindern, die sich bewegen durften, es aber kaum ausnutzten, mit feiner Technik, die sich aber vornehm in den Dienst der Sache stellt. Dieses Prinzip war die ganze Zeit spürbar und entließ einen beschwingt in den regnerischen Abend . Da nehmen sich welche zurück, um gemeinsam was zu schaffen, da baut alles aufeinander auf und werkelt aufeinander zu, da wird ohne Schnickschnack erzählt und alle hören zu. Schön. Mehr davon.
Leser*innenkritik: Schnee ist nichts ..., Berlin
"Schnee ist nichts nur eine Sammlung von schmelzenden Kristallen“ von Cordt Mannigel

- Dieser Schnee ist mehr als Hirngespinste -
Am 18. August wurde die Tragische Komödie am Theater shortvivant Berlin uraufgeführt. Und sie überrascht.
„Ich habe schon viel gemacht, aber was ihr getan habt, kann ich nicht glauben“ apostrophiert der sich selbst aus dem Wasser herausgezogene smarte Ganove eines Kleinstadtidylls, der lieber so sein möchte wie Marko, den er mal bestiehlt und mal begehrt.
Dieser Floyd meint damit Cliff und Ike, die sich nicht nur ebenso ambivalent und miteinander schachernd verhalten, sondern den Bruder Benjamin erst opfern und dann schützen.
Sie treffen sich mal zufällig, mal absichtlich, mal versteckt, mal offensichtlich in einen von Zikaden umgebenen Haus, in dem dieser spielerische Ballett-Tänzer Marko den Takt selbst nach vorbereiteter Abwesenheit anzugeben scheint.
Klara, seine Stiefmutter, beherrscht ganz in seinem Sinne weiter und liebäugelt mit dem Nachbarn Fynn, der sich zwischen Ihrem verschwundenen Sohn und ihr hin und her gezogen fühlt.
Alle verbindet eine besonders ambitionierte Figur des Balletts, die symbolisch bemüht wird, jedoch nur die Tänzer tatsächlich beherrschen.
Ike will tanzen lernen, den Hochzeitstanz, um bei Frauen zu landen. Doch nun ist der Tanzlehrer Marko weg. Nur warum? Alle kreisen um ihn und die Kollegen Javier sowie Guilherme sind längst eingebunden und wirken mit in diesem Ränkespiel.
Auf der befahrenen Straße am Haus geschah Ungeheuerliches und Unvorstellbares. Und das gleich zwei Mal. Es lohnt sich in den fast 70 Minuten geballter Spielfreude dranzubleiben und zu entdecken.
Meier (Ike), Blank (Cliff) und Dittrich (Fynn) gewinnen durch klare Akzente und Timing, Gomolka (Floyd) durch Timbre und Zurückhaltung, Krippner (Klara) durch Präsenz und Übertreibung, Dos Anjos (Guilherme) durch Kraft und Negreira (Javier) durch Gefühl und Authentizität.
Die Tragische Komödie „Schnee ist nichts nur eine Sammlung von schmelzenden Kristallen“ von Mannigel wird durch die Regie zum besonderen und fließenden Charakterwerk.
Leserkritik: Wie im Himmel, SHL Rendsburg
Die erste Spielzeit der Intendantin Dr. Ute Lemm sollte mit "Wie im Himmel" starten, doch Corona beendete diesen Traum. Nun endlich startet das SH-Landestheater nach zwei Jahren Pandemie mit "Wie im Himmel" in die neue Spielzeit. Eine große Herausforderung, die Theaterfassung des schwedischen Musikfilms "Wie im Himmel", der 2005 für den Oscar nominiert war, auf die Bühne zu bringen. W. Hofmann hat das Stück mit Musik von Kay Pollak in Szene gesetzt. Es ist die Story des gefeierten Dirigenten Daniel Dareus, der nach einem Zusammenbruch während eines Konzertes beschließt, in die Abgeschiedenheit eines Dorfes zurückzukehren, um dort Entspannung und Ruhe zu finden. Doch die Bewohner des Dorfes lassen ihm die ersehnte Einsamkeit nicht lange. Zunächst widerstrebend, dann mit zunehmendem Interesse übernimmt er die Leitung des Kirchenchors. Der Chor ist von seiner unkonventionellen Chorarbeit begeistert. Doch seine Methoden erregen Misstrauen und Widerstand, da das neue Selbstbewusstsein der Sänger*innen nicht jedem in den Kram passt. Trotz aller Widerstände wächst der Chor unter seiner Leitung zu Höchstleistungen und wird zu einem internationalen Wettbewerb nach Wien eingeladen. Dort stirbt er während des Auftritt seines Chores. Gespielt wird im Bühnenbild von M. Apelt auf leerer Bühne vor einem Prospekt des Gemäldes "Mönch am Meer" von Casper David Friedrich und 10 Holzbänken, die für die Szenen arrangiert werden. Das Spiel beginnt mit einem Dirigat von Daniel (F. Ströbel) im Lichtkegel auf schwarzer Bühne, bis zum Zusammenbruch. Nachdem er sich vom Boden erhoben hat, entledigt er sich seines Frackes. Nackt steht er auf der Bühne, etwas gebeugt und unsicher aber mit den Fragen "Wer hat genug Mut, sich neu zu erfinden? Wer geht das Wagnis des Unbekannten ein?" im Blick. Befreiung, Mut, Respekt, Selbstvertrauen, Toleranz, Befreiung – das sind die Themen des Abends. Felix Ströbel bleibt der gebrochene, verletzliche Musiker, der langsam und vorsichtig wieder in eine für ihn neue Welt findet. Diese leisen Töne geben der Figur die Kraft aus Liebe zur Musik und Sehnsucht nach Liebe zu überzeugen und kein Klischee zu bedienen. Daniel überrascht mit unkonventioneller Methodik: er sucht den persönlichen Ton eines jeden, lässt den Chor barfuß singen, die Sänger*innen ihre Körper gegenseitig beim Singen spüren. Gesang emotional und körperlich wahrnehmen. Gesang als Öffnung und Weitung der eigenen Wahrnehmung. Auch Tore (S. Bornemann) der von allen verlachte "Dorftrottel" klug und zurückhaltend gespielt und deshalb beeindruckend. Dies fördert lang Verborgenes an den Tag: verdrängte Sehnsüchte, Konflikte, Gewalt, Missgunst und Neid. So begehrt die Gattin des Pastors gegen dessen bigotte und machtlüsterne Haltung auf. Eine misshandelte Ehefrau findet endlich die Kraft sich gegen ihren Ehemann zu stellen. Zwei Senioren gestehen sich spät, aber nicht zu spät, ihre lebenslange Liebe ein. Grandios die Dialoge zwischen Pfarrer (R. Schleberger) und seiner Frau (M. Allendorf). Wie sie unbeirrt die These vertritt, dass es keine Sünde gibt, welch ein Glanzpunkt. Oder die Choristin, die dem bigotten Pfarrer ihren Kirchenaustritt kundtut. Der funkelnde Stern des Abends ist Gabriella (Neele Friederike Maak) in der Rolle der misshandelten Ehefrau, schüchtern, zurückhaltend, duldsam steigt sie mit ihrem Solo wie der Phönix aus der Asche. Dieses Lied mit dieser Stimme interpretiert macht atemlos – Chapeau. Amina Gaede als Lena überzeugt mit ihrer natürlichen Spielart und ihrem Gesang. Doch der Erfolg dieses Abends ist die Ensembleleistung an der weiter Anteil hatten: T. Wild, D. Tobi, T. I. Heise, F. Pasch, M. Stüdtje, L. Wittmann und last but not least der Himmelchor bestehend aus gecasteten Sängern*innen der Region unter Leitung von Stefan Schauer. Der Abend endet mit zwei starken Bildern, wenn Conny Daniel brutal niederschlägt und damit die Brutalität gegen Gabriella Gestalt annimmt und wenn Daniel stirbt und alle Choristen ihren persönlichen Ton anstimmen.
Leser*innenkritik: Das Amt, Pilkentafel Flensburg
Die Pilkentafel in Flensburg eröffnete ihre neue Spielzeit mit dem Musical „Das Amt“. Wie jeder Besuch eines Amtes beginnt auch dieser Theaterabend mit einem Formular und einer Berechtigungsnummer, den Zuschauerraum nach Aufforderung zu betreten. Da sind wir bereits mitten im Thema: Willkür ist schlecht! Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und gleiche Behandlung aller ohne Ansehen der Person ist gut. Dafür steht das Formular – ohne Ansehen der Person (der Mensch wird nicht gesehen) wird auf Aktengrundlage entschieden, es wird nach Gesetzen entschieden, die für alle gelten und kaum einer versteht; deren höchster Wert aber Rechtssicherheit und nicht Kommunikation ist. Die Person wird zur Nummer und wir Zuschauer werden auf nummerierte Plätze verteilt. Der Abend beginnt mit geschäftigem Nichtstun – Aktenberge und Formulare werden von A nach B und von B nach A bewegt. Die Verwaltungsfachangestellten – in ihrer „stummen Empathie“ – sind nur die Rädchen im Getriebe und nicht die Herren des Verfahrens, sie sind genauso gefangene der Rechtsvorschriften und Steigbügelhalter der Macht. Nach dem Formular folgt der Dschungel der Zuständigkeiten und die Suche nach dem richtigen Amtszimmer. Nach 21 Irrwegen landet der Antragsteller am Ziel, vor einer langen Schlange Wartender. Nach neuster Verordnung soll dies der Ausgang sein! Verarscht! Die Pilkentafel entlarvt mit Musik. Anträge und Bescheide werden choralartig und mit klerikalem Impetus vorgetragen. Und immer wieder Formulare, die nun im Stil von Schwitters oder Jandls Lautgedichten phonetisch intoniert werden. Willkommen im Formulardschungel – lästig, bremsend, verwirrend, bedrohlich - Leben konvertiert zu Akten, Leben degradiert zu Vorgängen. Die Absichten und politischen Ziele aller dieser gesetzlichen Regelungen sind verschleiert, die Macht verbirgt sich hinter all den Paragrafen und wirkt. Doch „DAS AMT“ schaut diesem Amtsschimmel ins Maul und demaskiert mit faszinierender Büropercussion, Beamtenschlaf, Chorälen und Büromöbel-Tänzen, um die Absurditäten, Fadenscheinigkeiten und Demütigungen aufzudecken. Die Themen der Antragsteller*innen wie Rente, Wohngeld, BAföG, Hartz IV, Heimkosten, Arbeitsfähigkeit, Krankenkassenleistungen und Beerdigungskosten, sind trotz der Absurdität, mit der sie uns begegnen, alles recherchierte Realitäten. Da keimt ein Gedanke im Raume auf. Wir werden verarscht! VERARSCHT! Der Amtsschimmel galoppiert weiter und wir stempeln uns in den Wahnsinn und alles wird registriert und abgeheftet, bis das Leben zwischen den Amtsdeckeln erstickt. Die Macht verbirgt sich hinter all den Paragrafen und entfaltet seine Wirkung. Die Inszenierung vermittelt Wut, Enttäuschung, Verletzung, Demütigung und Widerständigkeit in geballter Form und es bleibt zu hoffen, dass sich die Steigbügelhalter in den Ämtern sich darin wiedererkennen und begreifen, dass sie auch nur ausführende Gehilfen des politischen Systems sind. Mit der Pilkentafel gesprochen: Wir machen aus der Scheiße kein Gold, aber wenigstens Kunst, und das kann ja auch schon eine Entlastung sein! Ja, da kann ich nur zustimmen! BRAVO & CHAPEAU!
Leser*innenkritik: Rivka, Hannover
Das Mädchen, das Rivka heißt, darf jetzt nicht mehr Rivka heißen

Die Macht, die ihr Land besetzt hat, hat dem jungen Ehepaar Jacob und Erna per Brief eine Liste geschickt, in der die beiden aufgefordert werden, Ding für eine Fahrt an einen unbekannten Ort einzupacken. U.a. soll ein Topf – leitmotivisch immer wieder erwähnt – eingepackt werden. Dass diese Macht bedrohlich und gefährlich ist, erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer gleich zu Beginn: Die beiden haben soeben ihre zwei- oder dreijährige Tochter Rivka einer ihnen wenig bekannten Frau gegeben, die sich mit Rivka „durchschlagen" will und soll – in der Hoffnung, dass das Kind gerettet werden kann, dass es ein „Später", eine Zeit „nach dem Krieg" geben könnte. Die zurückgebliebenen Eltern leben in ihrem Leiden, ihrer Hilflosigkeit, ihrer Trauer, ihrer Verzweiflung, ihrer Wut.

Die niederländische Schriftstellerin Judith Herzberg hat ein dichtes, hoch emotional aufgeladenes Theaterstück geschrieben, zwei Figuren, die miteinander sprechen. Keine Prosa, keine Textfläche.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen direkt auf der Bühne (Katja Haß), auf einer Ebene, hautnah um Jacob und Erna herum. Kein Zuhause, gestapelte Möbel, leere Vitrinen, ein Ort des Durchgangs, des Durchzugs.

In dieser Nähe spüren und erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar die grenzenlose Verzweiflung des Paares. Jacob, Max Koch, sucht seine Frau zu halten und zu beruhigen, sucht die Situation rational zu begreifen – aber sein von Erna als typisch „männlich" bezeichnetes Angehen stellt auch nur eine hilflose und letztlich sinnlose Form des Handelns dar. Max Koch spielt diesen Jacob zurückhaltend, zugewandt seiner Frau gegenüber und immer wieder bereit, ihre Emotionen zu verstehen – oftmals vergeblich.

Tabitha Frehners Erna ist demgegenüber einerseits schneidend klar, sie versteht genauer als er, dass es kaum Hoffnung auf ein gutes Ende gibt. Andererseits lässt sie ihre Emotionen direkt zu, mal sanft und zärtlich, mal bebend vor Wut, mal träumend sich ablenkend.

Max Koch und Tabitha Frehner tragen dieses Kammerspiel, ziehen mit großer Ausdruckskraft und Gestaltungswillen die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihr Spiel hinein. Jene können wissen, was nach dem Schlussbild des Stückes vermutlich geschehen wird. Koch und Frehner müssen jedoch so spielen, dass ihre Figuren nicht wissen können und auch nicht wissen wollen, was geschehen könnte.

Spätestens an dieser Stelle würden in einer Rezension die biografischen Parallelen zur Lebensgeschichte von Judith Herzberg, geboren 1934, erwähnt werden, verbunden mit dem Hinweis, dass sie sich aber einer derartigen Sichtweise verweigern will. Nicht nur aus Respekt gegenüber der sich so klar positionierenden Autorin, sondern auch aus Respekt gegenüber dem Text verzichte ich auf biografische Details.

Das Stück lässt sich an verschiedenen Stellen – am markantesten ist die Jahreszahl 1942 im Personenverzeichnis – historisch konkret verorten.

Regisseur Stefan Kimmig löst sich an einzelnen Stellen von dieser Verortung. Darin könnte man einen Verlust an historischer Schärfe und Präzision sehen. Zugleich eröffnet Kimmig damit aber den Zuschauerinnen und Zuschauern die Möglichkeit, die Situation und die Konstellation zu verallgemeinern und in die Gegenwart zu nehmen. Sensibel verzichtet Kimmig aber darauf, den so genannten Gegenwartsbezug explizit herzustellen. Gleichwohl, wer wird bei der zugrunde liegenden Personenkonstellation nicht an die Bilder vom Flughafen Kabul vor einem Jahr denken, als aufgelöste Eltern ihre Kinder über den Zaun den Soldaten entgegenstreckten – in verzweifelter Hoffnung.

Ein dichtes Spiel, bedacht mit viel Beifall und Auslöser vielfältiger Gespräche und Diskussionen nach der Premiere.

Regie: Stefan Kimmig, 17.09.2022
Leser*innenkritik: Sound of Mind, München
Rock'n'Roll, Rassismus und Relativität

Das sind die Ingredienzien des musikalischen und visuellen Cocktails, den die politische Musiktheater-Company "Unity Too" in intensiver Vorabeit zusammenmischte und jetzt in der Konzertreihe "Sound of Mind" den Zuschauern in München kredenzte.

"Wir erschaffen eine fiktive musikalische Geschichte des Rock'n'Roll, die 70.000 Jahre umfasst und beginnt, als der Homo sapiens und dessen Musik die Welt eroberte", erklärt Carlton Bunce, Gründer von "Unity Too" und verantwortlich für Texte, Visuals und das Konzept. Seine poetischen Texte und das musikalische Konzept vertieften sich, voller Blues- und Rock'n'Roll-Zitate, in versteckten und offenen Rassismus.

Der Rock'n'Roll, der sich aus afroamerikanischer Musik heraus entwickelte, ist untrennbar mit der tragischen Geschichte der Sklaven verbunden, die jahrhundertelang aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden. Es waren deren Nachkommen, die den Rock'n'Roll erfunden haben, der seit den 1950er Jahren die Welt rockt. Bunce zollt den People of Color mit seinem Stück Tribut, nicht ohne auch moderne Formen der Sklaverei – Prostitution oder Kinderarbeit – anzuprangern.

Obwohl "Sound of Mind" eine fiktive Geschichte des Rock'n'Roll ist, wollen wir den verstörenden Tatsachen nicht ausweichen", erklärt Gabi Sabo, Vorstand des Grafinger Vereins Mehr Kultur! e.V., die das Stück gekonnt auf den Bühnen des Saal X im neuen Gasteig HP8 (am 18.09.22) und des MUCCA31 im Kreativquartier (am 16.09.22) in Szene gesetzt hat – in Kooperation mit Unity Too und dem Theater dasvinzenZ.

Die Landeshauptstadt München unterstützte das Projekt im Rahmen seines Programms AIR-M (Artist in Residence Munich), das es Künstlern unterschiedlicher Fachrichtungen erlaubt, ihre kreativen Tätigkeiten mit finanzieller Unterstützung außerhalb ihres Wohnsitzes für eine begrenzte Zeit in München in der Villa Waldberta oder im Ebenböckhaus auszuüben.

Carlton Bunce und Gabi Sabo, ein Künstlerpaar, das seit 30 Jahren zusammenlebt und -arbeitet, konnten über Artist in Residence Musiker:innen aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Schottland und Wales zu tonalen Recherchen einladen und sie in das Kollektiv "Unity Too" integrieren. "Mit der diesjährigen Konzertreihe "Sound of Mind" inszenieren wir den tonalen Zwischenstand unserer Recherche zu Organon", resümiert Gabi Sabo.

Das Musiktheaterprojekt "Organon" befasst sich mit Rassismus, Rock'n'Roll und Relativität. Der Projektname "Organon" spielt gezielt auf die Schriftensammlung "Organon" des griechischen Philosophen Aristoteles an. Darin beschreibt der Universalgelehrte die Kunst der Logik als Werkzeug der Wissenschaft. Die Münchner Theaterschaffenden nutzen den Begriff als Instrument des Verstehens.

Vom Instrument des Verstehens zu den Instrumenten der Tonerzeugung: Musikinstrumente spielen in diesem Stück ihre scheinbar ganz eigene Rolle. Zu sehen und zu hören waren neben Keyboards, Drums, Percussion, Bass, E-Gitarre, Posaune, Saxophon und Vocals auch außergewöhnliche Blasinstrumente wie das keltische Carnyx, Wald- und Muschelhörner, die indische Bansuri-Flöte oder das ungarisch anmutende Glissotar. Das ist – kurz gesagt – ein Blasinstrument aus Holz, das mit Metallfolie und einem magnetischen Band versehen ist, wodurch Klangspektren immens erweitert werden können.

Die Komposition von Etienne Rolin bestach durch filigrane Tongebilde, kontrastiert mit der kraftvollen Klangbreite des Glissotars. Die frei aufspielende Band ließ Raum zum Nachdenken und holte das Publikum in die Jetztzeit.
Leser*innenkritiken: Maß für Maß / Heilbronn
»Maß für Maß« von William Shakespeare neu übersetzt und inszeniert von Marc von Henning im Stadttheater Heilbronn.

Darf ein Klimaaktivist mit dem Flugzeug auf Fernreise gehen, darf ein Mensch mit heller Hautfarbe das Gedicht eines Menschen mit dunkler Hautfarbe übersetzen, darf ein Musiker Dreadlocks tragen, der nicht karibische Wurzeln hat? Auf solche und ähnliche Fragen haben moralische Rigoristen nur eine Antwort und die lautet: „NEIN!". Wie wäre wohl unser aller Leben, wenn derartige Rigoristen die Macht hätten, uns ihre Regeln aufzuzwingen. Um das und noch viel mehr geht es Marc von Henning in seiner Inszenierung von Shakespeares Theaterstück »Maß für Maß«.

Der Vorhang geht auf und auf leerer Bühne schiebt sich das Bühnenbild langsam aus dem Dunkel (der Geschichte) nach vorne ins Licht (der Gegenwart), eine Box, die entfernt an ein barockes Herrschaftszimmer erinnert mit Möbeln aus unterschiedlichen Epochen ausstaffiert. Die Tapeten fleckig und heruntergekommen und in der Stuckdecke klafft ein großes Loch, wie nach einem Bombenangriff. Herrschaftssymbol und auch Symbol der Zerstörung durch Herrschaft.

Die Handlung ist ein bizarres Spiel aus Betrug, Verbrechen, Lüge und Intrigen. Täuschungen sind allgegenwärtig und außer der Hauptrolle Isabella zeigt keine der handelnden Personen ihr »wahres Gesicht«.

Es fällt auf, dass Marc von Henning die weiblichen Rollen als starke Frauen inszeniert. Die Rolle der Marianna ist in dieser Intention problematisch, denn sie ist als naive Person angelegt, und eigentlich kann niemand nachvollziehen, warum sie den Schurken am Ende noch glaubhaft lieben soll. Sie ist das genaue Gegenteil einer starken Frau. Marc von Henning löst das Dilemma auf geniale Weise, indem er Maianna doppelt besetzt, einmal als junge Naive und zum anderen als starke erfahrene Frau, die im Rückblick ihre Geschichte erzählt und ihre eigenes früheres Verhalten hinterfragt.

Marc von Henning hat einen Weg gefunden, den Text in die Sprache der heutigen Zeit zu übertragen und trotzdem der besonderen Faszination und Präzision der Sprache Shakespeares gerecht zu werden. Und wie auch in den meisten Stücken Shakespeares gibt es einiges zu lachen und zu schmunzeln, denn nur so werden die ernsten Teile erträglich. Und Dramatisches gibt es wirklich mehr als genug, so dass während der ganzen zweieinhalb Stunden der Aufführung keine Sekunde Leerlauf entsteht. Echte Hämmer dabei sind zum einen das Lied kurz vor der Pause mit dem Refrain "... Gott hat sich verpisst!“ und die atemberaubende Schlussszene. In ihr stehen alle Akteure auf der Bühne, ein Happy End scheint sich anzubahnen. Der Herzog verheiratet auf selbstherrliche Art die Paare und verkündet - ohne sie vorher gefragt zu haben - dass er selbst Isabella heiraten werde. Was nun folgt, ist eine der besten Szenen, die ich je im Theater erlebt habe. Das Schweigen der Isabella breitet sich fast körperlich spürbar über die ganze Bühne aus, erfasst den Zuschauerraum bis in die letzte Ecke. Man fragt sich, wie kann diese Spannung jetzt aufgelöst werden? Das jetzt hier zu verraten, wäre unfair all denjenigen gegenüber, die diese Aufführung noch besuchen wollen. Ich kann ihnen aber versichern, die Auflösung dieser fast elektrischen Spannung wird ihnen für kurze Zeit den Atem verschlagen.

Bravorufe und starker Beifall beschließen die Premiere und man kann nur hoffen, dass noch viele Zuschauer/innen sich diese Aufführung nicht entgehen lassen.
Leser*innenkritik: Romeo & Julia am Schleswig-Holsteinischen Landestheater
Romeo & Julia hatte am Samstag in der Regie von Milena Paulovics am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg Premiere. Die Bühne ein düsterer Raum mit einem kahlen Baum (Bühne und Kostüme: Pascale Arndtz). Finster ist der Ort, an dem Liebe keimt und Leben vergeht. Paulovics beginnt das Stück mit dem Prolog von Thomas Brasch. Es geht um Bürgerkrieg und Hass, der "Kinderliebe sterben lässt in Kinderblut". Die Kostüme klug gewählt: die "Upper Class" in edler Robe mit klaren Farben, die händelsuchende Jugend in gedeckten, fahlen Farben, die sich eher der "Crude Class" zurechnen lassen. Nur Julia in einem weißen bzw. hellblauen Kleid, als Ausdruck ihrer kindlichen Unschuld? Die Story ist gesetzt: Liebe in düsteren Zeiten zwischen Bürgerkrieg und Pest und ist angekommen in unserer Zeit zwischen Corona-Pandemie und Krieg in Europa. Zu Beginn Händel zwischen den Capulets und Montagues, eine effektvoll choreografierte Fechtszene (Rainer Wolke). Fehde zwischen den Häusern, die sich der Liebe zwischen Romeo und Julia in den Weg stellt und ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Romeo (Steven Ricardo Scholz) und Julia (Lucie Gieseler) ist die Story einer überwältigenden Liebe, die die Liebenden, die herrschenden Umstände (Bürgerkrieg und Pest) vergessen lässt. Paulovic verzichtet hier auf romantisch, verkitschte Szenen und lässt die Bedrohung dieser Liebe durch die Lebensumstände mitschwingen, wie die Hindernisse, die dieser Liebe im Wege stehen und dem unterschiedlichen Verständnis dieser Liebe von Julia und Romeo. Dies gelingt Gieseler und Scholz in den Szenen der ersten Begegnung des Paares auf dem Fest der Capulets, der Balkonszene und der Abschiedsszene im Morgengrauen, ohne den Gefahren kitschiger Liebesromantik zu erliegen. Diese Szenen spielen vor einem weißen Vorhang, was den Eindruck eines geschützten Raumes vermittelt, indem kurzfristiges Glück möglich scheint. Ein weiterer Aspekt dieser Tragödie ist die Komik, die vor allem durch die deftige und pragmatische Lebensweisheit der Amme (Karin Winkler) und den spöttischen Witz Mercutios (Dennis Habermehl) reichlich Futter erhält. Komödiantische Glanzmomente dieser Inszenierung, weil die deftigen und anzüglichen Passagen insbesondere von Winkler und Habermehl mit Verve ausgespielt werden. Außerdem kennzeichnet das Stück die Eigenwelt der jungen Männer, die in ihren jeweiligen Gangs die Zeit totschlagen und sich durch ihre Gangzugehörigkeit im Streit mit der anderen Gang identifizieren. Ein Thema, das in unserer Zeit der Migration aktuell ist und nichts an Schärfe verloren hat. So reflektiert Paulovics Inszenierung ständig auf Zeitgeschehen, was im Leichenzug auf eindringlichste Weise deutlich wird und Bilder des nächtlichen Leichenzuges von Bergamo wachruft. Eines der stärksten und beeindruckendsten Bilder dieser Inszenierung. Das Interessante an Romeo & Julia ist die Ambivalenz und Vieldeutigkeit der Story und der Tod der Protagonisten Julia und Romeo, bewirkt durch die launenhafte Fortuna, ohne Sinn. Durch die unheilvolle Verkettung unglücklicher Umstände in düsteren Zeiten (Krieg und Pandemie) finden beide den Tod. Shakespeares "Romeo & Julia" zeigt, dass das Leben ein Provisorium ist, weil nichts gewiss und nichts für die Ewigkeit gemacht ist, außer der Tod. Auch wir leben in solchen Zeiten – Umweltzerstörung, Pandemie, Krieg – und nach dem Spiel, "kann sein: Dann wisst ihr mehr, kann sein: Nicht viel."
Leser*innenkritik: Mama ohne Plan am Brandenburger Theater
Der Name ist Programm

Das neue Stück am Brandenburger Theater handelt von einer überforderten Mutter zweier Söhne und einer Stieftochter, die ihren Alltag meistert und dem Publikum darüber erzählt. Wobei meistern ein bisschen weit gegriffen ist. Sie überlebt viel mehr ihren Alltag und versucht dabei das Beste rauszuholen. Das Beste allerdings in Bezug auf ihre Kinder. Diese stehen im Mittelpunkt und sie darf keine Sekunde alleine verbringen. "Wenn du Mutter bist, dann geht es um alle, aber nicht um dich." Das ist das Credo, das sich durch den Abend zieht.
Marie-Anjes Lumpp ist diese Mutter und wirft sich dabei in jede Rolle rein, als wäre sie ein ganzes Ensemble. Vom coolen Dreadlock-Typen bis hin zur hysterisch in der Mutterrolle verfallenen Schwester brilliert sie in allen Rollen. Vor allem aber stellt sie sich selbst in atemberaubender Offenheit dar. Immer wieder stellt man sich die Frage: Wie viel ist die Rolle "Marie" – wie viel ist die Schauspielerin Marie zu sehen. Hoffen wir, dass wir mehr von ihr sehen dürfen.
Die Reise, die Marie auf der Bühne hinter sich legt, lädt das Publikum ein diese empowernde Wirkung für sich zu verspüren. Denn Marie lässt sich nicht in der patriarchalen Mutterrolle runterkriegen. Nein, mit jedem Schritt wird sie mutiger. Bis hin zu dem Punkt, an dem sie sich auf der Bühne eine Pause gönnt und sich hinlegt, um die Augen zuzumachen. "Die einzige Me-Time, die ich habe." Zwar fragt sie sehr höflich und unaufdringlich, aber es lässt einen Eindruck da. Warum sollte ich die Mutterschaft individuell lösen müssen? Kann ich nicht auch mal Freunde, Familie oder familienunterstützende Institutionen um Hilfe bitten? Auch Marie lässt ihren Sohn in der KiTa zurück. "Mit Absicht" – wie sie sagt. Das hat zur Folge, dass ihre Schwester ihre Kinder zu sich nimmt und sie endlich Zeit zum Durchatmen findet und über ihre Situation nachdenken kann. Darauf nimmt sie einige Veränderungen in ihrem Leben vor: Sie darf wieder mehr an sich denken! Sie geht tanzen mit ihren lesbischen Freunden, ihr Mann soll mehr Verantwortung übernehmen und sie darf endlich zu ihrem lang ersehnten Yoga gehen.
Es gibt nur ein paar, wenige Kritikpunkte, die es sich dennoch lohnt anzusehen. Beispielsweise wird in dem ganzen Stück kein wirklich positives Männerbild gezeichnet. Nicht nur Frauen sollten aus ihrem Rollenbild ausbrechen, um ihre Individualität leben zu können, sondern auch Männer.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass ein Thema im Mittelpunkt stand, aber nie ausgesprochen und auch nicht wirklich zu Ende gedacht wurde: Bedürfnisorientiertheit. Marie kümmert sich beständig um die Bedürfnisse ihrer Kinder, lässt ihre eigenen aber außer Acht. Für mich hätte die Botschaft am Ende lauten sollen: Ja, die Bedürfnisse deiner Kinder sind wichtig, aber deine eigenen auch. Eine ähnliche Botschaft wird zwar während des Stückes vermittelt, die auch Marie das ganze Publikum gemeinsam sagen lässt. Allerdings bleibt auch die Lektion hängen: Du kannst zu deinen Kindern schlecht sein und sie werden sagen, dass du ihr Leben ruiniert hast, oder du kannst zu deinen Kindern gut sein und sie werden trotzdem sagen, dass du ihr Leben ruiniert hast. In dieser Dualität fehlt die Bedürfnisorientiertheit komplett! Wenn Kinder lernen, dass die eigenen UND die anderen Bedürfnisse wichtig sind, dann lernen sie Empathie. Dann lernen sie Bedürfnisorientiertheit. Und dann lernen sie Demokratie.
Das kreative Team hinter dem Stück leistet einen großen Beitrag mit diesem Stück für die Demokratiebildung und das auf ästhetisch wunderbare Weise. Es bietet eine Aktualität, die man jahrelange am Brandenburger Theater vermisst hat. Zwar waren Stoffe wie der Kontrabass ästhetisch spannend und auch aktuell. Aber die Inhalte waren doch teilweise 60 Jahre veraltet, oder auch noch älter, wie man in Bezug auf die Antisemitismuswoche mit dem Fokus auf dem Holocaust gemerkt hat. Jetzt scheint das Brandenburger Theater endlich in der heutigen Zeit angekommen.
Leser*innenkritik: "Virginia Woolf?", Biel-Solothun
THEATER ORCHESTER BIEL SOLOTHURN- WER HAT ANGST VOR VIGINIA WOOLF
Und da ist es wieder: grosses Theater auf kleiner Bühne in Biel, das zu überraschen weiss.
Adward Albees «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» feierte Mittwoch, 16.11.22, Premiere am TOBS mit grossem wohlverdienten Beifall.
Seit 60 Jahren zerfleischen und demütigen sich die beiden Protagonisten, Martha und George, in ihrem schonungslosen Ehe-Duell, hasserfüllt, enttäuscht, verbittert, wortgewitzt, wild um sich schlagend auf den Bühnen der Welt, um sich noch am Leben zu fühlen, auszumachen, wer Schuld trägt, an dem Elend ihrer Ehe, ihrem eigenen Elend, dem sie sich schicksalshaft unverdient ausgesetzt sehen, aus dem auszubrechen jedoch keine Alternative zu sein scheint, und das sie nicht müde werden vor den späten Gästen, Honey und Nick, laut verletzend zu demonstrieren.
Hier in Biel, in einem eher abstrakten, konsequent schwarz-weissen Setting (Bühne: Karin Fritz), das, an Filme der Nouvelle Vague erinnernd, dem Spiel einen leeren Raum mit drei weissen Ebenen vorsieht, schnörkel- und farblos, in eher kaltem Licht (Michael Nobs), das die Selbstzerfleischung der Beteiligten und deren sado-masochistische Perfidie erbarmunsglos ausstellt und von verschiedenen Seiten beleuchtet, entsteht, genauestens seziert und vorgeführt, sozusagen auf dem Präsentierteller, ein düsteres Psychogramm moderner Gesellschaft.
Oft hat man sie darin beobachten können, wie sie sich hassen, mit Genuss verletzen, und, durch atemlose Beleidigungen, Erniedrigungen und Beschuldigungen sich gegenseitig fortwährend blossstellend, nicht aus ihren Fängen lassen.
Man hat sie gehört, bemitleidet, verachtet – so gemein, so hinterhältig und berechnend böse sind sie, das man ihnen sogar amüsiert über die treffsicheren, schlagfertigen Paraden, und angewidert von der bestialischen Lust, den anderen zu quälen, bluten zu sehen, gerne dabei zuschaut, denn es hat ja mit einem selbst gar so wenig zu tun….
Selten war darin die Liebe zu vermuten, zu spüren, die sie zusammenbrachte und noch immer daran hindert, endlich und ganz verlorenzugeben, was nicht mehr zu retten geht.
Und darin besteht nun das kleine Wunder, das der Inszenierung in Biel unter der feinen und präzisen Regie von Janusz Kica gelungen ist, dass man diese Liebe ahnt, und damit umso schmerzlicher getroffen, dem brutalen ausweglosen Ringen der Beiden ausgesetzt wird.
Aber was wäre ein Kampf ohne Zuschauer - und so werden die jungen, spontan eingeladen Gäste Honey und Nick, Teil des Geschehens, in dem auszuteilen, zu vernichten man sich vorgenommen hat.
Sie selbst sind nicht minder Spieler einer Gesellschaft, in der Erfolg das Mass aller Dinge und Versagen das Aus bedeutet. Er aufstrebender Akademiker, wie sein Gastgeber, sie das Mittel zum Zweck, da finanziell vielversprechend ausgestattet, und darin ihrer Gastgeberin ähnlich.
Alkohol, viel Alkohol, verbindet die Verlorenen; sie trinken unentwegt und andauernd, ihre Sehnsüchte darin ertränkend, ihre wütenden Abgründe befreiend. Nach etlichen gemeinen Spielen, ganz offensichtlich Teil der grausamen Ehehölle, die Namen tragen wie, Mach den Hausherrn fertig, Bums die Hausfrau oder Die Gästefalle, steht kein Stein mehr auf dem anderen, liegt die Wahrheit aller aufgedeckt, blank die Nerven, leer die Seelen, erschöpft, enttäuscht, gebrochen, gestrandet.
Fast zufrieden über seinen tödlichen letzten Zug, singt George am Ende :»Wer hat Angst vor Virginia Woolf», das Kinderlied Wer hat Angst vorm bösen Wolf parodierend. Und Martha antwortet leise, geschlagen und verstört: «Ich…ich…»
Man guckt ihnen gerade ins Herz, fühlt mit und hält den Atem an vor soviel Zerstörung: Vier virtuosen und brillanten Darstellern (Martha: Silke Geertz; George: Günter Baumann; Honey: Miriam Joya Strübel;
Nick: Jürgen Herold) gelingt eine bittere Analyse der Psyche eines vermeintlich amerikanischen Lebensstils, in dem das Versagen des Anderen die eigene Impotenz erklärt, nur Wut und Zorn als Lebensenergie übrig lässt, und Zynismus,
Zerstörung zum guten Ton gehört.
In der immer noch sehr modernen Übersetzung von Pinkas Braun ist es eine Freude den vier glänzenden Spielern zuzusehen, wie sie soviel schrecklich Wahres zu einem wundervollen grossen Theaterabend werden lassen.
Leser*innenkritik: Der kleine Prinz, Hamburg
Am vergangenen Sonntag startete das St. Pauli Theater in Hamburg mit einem Kracher in die besinnlichste Zeit des Jahres. Im diesjährigen Weihnachtsmärchen inszeniert das Team um Felix Bachmann einen Klassiker der Weltliteratur. Nach beliebten Produktionen wie: „Janosch – Komm wir finden einen Schatz“ oder „Das Dschungelbuch“, ist auch dieses Stück, geprägt durch ein großartiges Ensemble, super Musik, tollem Gesang und gut intendierten Witzen für jung und alt, ein absoluter Erfolg. Die poetische Kritik an der Konsumgesellschaft und den fantasielosen, in ihrem Hamsterrad gefangenen erwachsenen Menschen passt hervorragend in unsere krisengeplagte Zeit. Eine Zeit, in der die Wirkung in den Social-Media-Kanälen wichtiger geworden zu sein scheint als die Tugenden und Wertevorstellungen, die uns der kleine Prinz, gespielt von Kim Rosner, im kurzweiligen Kindertheaterstück vermittelt.
Schon der erste Auftritt der Schauspielerin:„Zeichne mir ein Schaf!“, lässt Kinder- und Erwachsenenherzen höherschlagen. Felix Bachmann und Cornelius Henne haben es mit ihrer Inszenierung geschafft, uns des Prinzen Reise und seine Suche nach einem Freund auf hinreißende Weise näher zu bringen. Die einzelnen Stationen die der kleine Prinz dabei durchwandert sind köstlich, kurz und knackig, sodass die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder nicht überstrapaziert wird und der Humor für die Eltern nie zu kurz kommt. Durch kreative Kostüme, ein bezauberndes Bühnenbild und hervorragende schauspielerische Leistungen verstehen selbst die Jüngsten, dass sich die Welt der unterschiedlichen Geschöpfe, denen der Prinz auf seiner Reise begegnet, stets nur um sie selbst dreht, ohne sich für sonst etwas zu interessieren. Spätestens als der Fuchs, atemberaubend angelegt und ebenso von Marina Lubrich umgesetzt, sich vom Prinzen zähmen lassen möchte wird deutlich, dass wahre Freundschaft einfach Zeit braucht. Selbst die Kleinsten sind in dieser Szene still, berührt und nachdenklich. Der Eitle, grandios gespielt von Peter Neutzling, lässt das erwachsene Publikum sehr einfach Parallelen zu unserer teils oberflächlichen, von „sozialen Netzwerken“ geprägten Gesellschaft ziehen. „Bewundere mich!“, so der Eitle immer wieder.
Unter der musikalischen Leitung Thorben Korns, mit den Texten von Anne X. Weber, gesungen von allen auf der Bühne, reiht sich der kleine Prinz in die musikalische Erfolgshistorie des St. Pauli Theaters ein. Ob nun das Duett des kleinen Prinzen und der Rose: „Geh Fort, wir brauchen eine Pause … komm zurück nach Hause.“, die Soloperformance des Piloten in seinem Flugzeug: „Keine Sorgen von hier oben, ganz weit oben“ oder „Das ist die Erde … mit dem blauen Ozean, bestimmt ist da wer der mein Freund sein kann“, eingängig sind sie alle. Auch Martina Müllers Kostüme kommen super an. Besonders hervorragend ist die Frisur der Geografin hinter ihrem Atlas, das Zahlenoutfit der Geschäftsfrau und natürlich der Hut der Rose und ihre spitzen Dornen. Das Bühnenbild ist entzückend einfach gehalten. Neben dem bunten Holzflugzeug und den von der Decke hängenden Planeten, findet dennoch jede wichtige Requisite ihren Einsatz am Spielbudenplatz.
Die schwere Aufgabe, die Botschaft der Erzählung in einer Stunde an das breite Publikum, ab einem Alter von 5 Jahren, zu vermitteln, wird hier bravourös gelöst, obgleich das Stück relativ abrupt mit einer Verabschiedung des kleinen Prinzen endet. Insofern hat es das Team um Felix Bachmann den traurigsten Teil der Geschichte, nämlich den Tod des kleinen Prinzen, gekonnt umschifft, ohne sich von der Handlung zu entfernen. Kurz, Chapeau!
Die Adventszeit ist prädestiniert um sich auf die wirklich wichtigen Werte zu fokussieren. Schade, dass das Stück nur noch bis 22.12 zu sehen ist.
Für mich persönlich? Die sehenswerteste Inszenierung des Jahres, denn auch aktuell gilt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!“
Antoine de Saint-Exupéry
Leser*innenkritik Der kleine Prinz: Gut beschrieben
Sehr anschaulich und gut beschrieben. Vielen Dank!
Bin nicht eben eine Freundin dieses Theaters. Stücke werden da hochgejubelt, die übers (provinzielle)Mittelmaß nicht herauskommen. So genannte TV - Stars glauben (und werden darin von einer unkritischen oder gekauften Presse unterstützt), das Theater-Handwerk auf eben dieser Bühne zu beherrschen. Peinlich dann oft das Ergebnis.
Aber jetzt werde ich mal schaun, ob es noch Karten gibt für meinen Enkel und mich.
Leserkritik: Fracking for Future, SHL
Das Schleswig-Holsteinische Landestheater zeigt in Zeiten der Energie- und Klimakrise das Stück „Fracking for Future“ des britischen Polit-Satirikers Alistair Beaton. Während die meisten deutschen Theater die Themen Klimawandel und Energiekrise derzeit nicht auf dem Schirm haben, um nicht zu sagen, dass sie dieses Thema schlichtweg verschlafen haben.
In „Fracking for Future“ soll eine PR-Agentur (Joe: Gregor Imkamp) die Bewohner einer Kleinstadt vom Segen der Gasförderung mittels Fracking in ihrer Region überzeugen. Grandios beherrscht die PR-Agentur die Klaviatur des Lobbyismus und der Korruption, um Fracking gewinnbringend zu vermarkten. PR-Agentur, Energie-Konzern und Bürgermeisterin, wollen in einer Info-Veranstaltung die Zustimmung der Bevölkerung erringen. Doch die emeritierte Professorin Elizabeth (Karin Winkler) boykottiert das Plädoyer der Politik, des Energie-Konzerns und der PR-Agentur für die fragwürdige Fracking-Technik. Der Abend eskaliert und die Professorin wird dem Saal verwiesen, was zu überregionalen Pressemeldungen führt, die Elizabeth als Klima-Aktivistin feiern, zum Leid Ihres Mannes Jack (Rene Rollin). Dies wollen die Anti-Fracking-Aktivisten Jenny (Friederike Pasch) und Sam (Aaron Rafael Schridde) für ihren Widerstand nutzen. Der Kampf beginnt, skrupellose Profitgier und Ignoranz des Klimawandels gegen mutigen Widerstand und Verantwortung für die Zukunft der Erde. Politik, Werbung und Konzerne müssen erkennen, dass sie mit ihrer Macht nicht immer gegen andersdenkende Menschen erfolgreich sind.
Fracking for Future ist eine messerscharfe Satire zum Klimawandel, wo in Deutschland gerade das umstrittene Fracking auf Grund der Energiekrise wieder hoch aktuell ist. Scharfzüngig blickt das Stück hinter die Machenschaften der Energiewirtschaft und deren Interessen. Wachstum und Profit sind wichtiger als die Zukunft der Erde. Philippe Besson inszeniert diese britische Politik-Satire als unterhaltsame Komödie und die Figuren geraten teils zu klischeehaft, als dass sie ein Lachen erzeugen, dass einem im Halse stecken bleibt. Viel Komödie, statt Politik-Satire, die stärker ins Mark trifft und vielleicht mehr Betroffenheit erzeugt hätte, aber da ist vielleicht auch A. Beatons britisches Gegenwartstheater mit unkomplizierter Zeitkritik in Komödien-Verpackung Schuld; denn es geht ihm nicht nur um Fracking sondernd auch um leidenschaftliche, engagierte Menschen, die bewundernswert und auch lächerlich sein können, weil sie im Eifer des Gefechts jede Perspektive verlieren. Es wird über beide Seiten gelacht, denn Theater ist keine Predigt. Dennoch bezieht das Stück Position, wenn Elizabeth am Ende zu Blockaden oder dem Niederreißen von Zäunen auffordert. Es macht auch betroffen, wenn dem Zuschauer seine Doppelmoral vor Augen geführt wird. Mal eine Petition gegen Klimawandel unterzeichnen oder gar eine private Spende gegen den Klimawandel, aber nicht auf Flugreisen, SUVs und die Annehmlichkeiten unserer Industriegesellschaft verzichten. Der Abend gelingt auf Grund einer geschlossenen Ensembleleistung und einer Regie, die die Waage zwischen Komödie und Politsatire hält. Besondere Erwähnung verdienen die beiden Protagonisten K. Winkler als Elizabeth und G. Imkamp als PR-Leiter Joe, die ihren Rollen glaubhafte Empathie verleihen. Einen besonderen Reiz versprüht R. Rollin als Jack, der mit trockenem Humor immer wieder an gemütliche vergangene Zeiten erinnert. Mit A.R. Schridde als Sam hat das SHL einen jungen Schauspieler, der Rollen differenziert und vielgestaltig Leben verleiht, was er bisher als schrägen Vogel Sam und Lady Capulet unter Beweis gestellt hat. Auf weitere Rollen von ihm darf man gespannt sein.
Leser*innenkritik: Alice im Wunderland, Thalia HH
Erster Weihnachtstag 2022, das Thalia Theater Hamburg ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit Kindern, Jugendlichen und jung gebliebenen Erwachsenen, um sich von Alice ins Wunderland entführen zu lassen.
16:00 Uhr: der Intendant J. Lux tritt vor den Vorhang, was meist nichts Gutes bedeutet. Corona, RS-Virus, Grippe und sonstige Erkältungskrankheiten haben auch das Ensemble des Thalia Theaters fest im Griff und "Alice im Wunderland" in arge Bedrängnis gebracht. Sechs Umbesetzungen wurden notwendig und auf dieses Wagnis bzw. Experiment hat man sich eingelassen. Den Schauspielern*innen stellte man 3 Souffleusen zur Seite, die über Mikrophone die Akteure*innen mit Text versorgten, sofern noch erforderlich.
Die gesamte Crew von "Alice im Wunderland" hatte Weihnachten bis zur Aufführung geprobt um diese Aufführung sehnsüchtigen Kinderaugen, ob jung oder alt zu ermöglichen. Applaus für diese Mammutanstrengung und auf ging es in das Wunderland von Alice.

Thomas Birkmeir hat Alice mit Musik, Tanz und Tempo auf die Bühne gezaubert. Alice (Meryem Öz) eine furchtlose Heldin kämpft frech und selbstbewusst mit dem durchgeknallten, hosen-schissigen Weißen Kaninchen – W.K. – (S. Siegmund) für Freiheit und Gerechtigkeit, denn das Wunderland wird von der bösen roten Königin beherrscht. Im Wunderland herrscht Gewalt und niemand traut sich Widerstand zu leisten, ohne das eigene Leben zu riskieren. Grinsekatze, Hutmacher, Humpty Dumpty und andere sind alle etwas verrückt, weil sie mit dieser verrückten Herrschaft im Wunderland nicht klarkommen. Diese Welt mischt Alice auf, da sie fähig ist bestehende Verhältnisse als veränderbar zu betrachten und auch eine rote Königin nicht fürchtet. Beleuchtung, Bühnentechnik, Bühnenbildner, Garderobiere, Inspizient, Kostümbildner, Maskenbildner, Werkstätten und alle noch Beteiligten haben ein überwältigendes Bildermärchen auf die Bühne gezaubert und durch ihre Bereitschaft am ersten Weihnachtstag nochmals alles zu proben zu einem bravourösen Erlebnis für tausende erlebnishungrige junge und alte Kinderaugen gezaubert. Dieses Wagnis wurde ein voller Erfolg. Alle Beteiligten haben alles gegeben, um dieses Märchen am ersten Weihnachtstag möglich zu machen. Die Schauspieler*innen haben voller Elan, Empathie, Esprit und der Unterstützung der drei unsichtbaren Souffleusen diesen Zauber auf die Bühne gebannt.
Bravo – Merci – Chapeau und uns blieb nur die Möglichkeit mit tosendem nicht enden wollenden Applaus uns für dieses einmalige Erlebnis zu bedanken.
Leserkritk: Medea Moment, Flensburg
Das Theaterkollektiv „Tante Anti“ gastierte am Wochenende mit seiner Performance „Medea Moment“ in der Pilkentafel in Flensburg. Anaela Dörre und Kristina Mücke stellen die Frage: Wer ist Medea und was trennt oder verbindet sie mit heutigen Frauen?

Medea die zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis wird von ihrem Mann Jason verstoßen, für den sie ihre eigene Familie verraten und verlassen hatte und rächt sich grausam, indem sie ihre Rivalin Kreons Tochter und Kreon vergiftet und ihre Söhne tötet, aus Rache an Jason. Euripides Figuren sind geprägt durch ihre Leidenschaften, Widersprüche und Missverständnisse und erzählen die Geschichte der Zerstörung einer Familie und die Wandlung von bedingungsloser Liebe in blindwütigen Hass und Rache. Diese Handlungsweise wird mit nachvollziehbaren Motiven erklärt; denn in einer Männer dominierten Welt ist Medea in jeder Hinsicht „die Fremde“, und zwischen ihrer emotional dominierten Sicht und der rationalen Argumentation Jasons klaffen unvereinbare Welten. Diese Story ist so monumental, dass Autoren wie Seneca, Grillparzer, Hans Henny Jahnn und Jean Anouilh ihre eigenen Dramen zum Medea-Stoff verfassten.

Anaela Dörre und Kristina Mücke beeindruckt von Medea, der Frau, die zu laut lacht, zu sehr hasst, leidet und liebt. Medea handelt, statt zu erdulden und zahlt den Preis für ihre Freiheit. Sie die Mutter, die für ihre Bedürfnisse einsteht. Dörre und Mücke fragen sich als Mütter: Was ist eine „gute“ Mutter und wer entscheidet das? Wann entscheidet man sich, dass vermeintlich Beste für seine Kinder zu tun, wann folgt man seinen Bedürfnissen trotz Kindern? Wo bleibt Raum für die eigene Person außer der Mutterrolle? Heute wird suggeriert, eine moderne Mutter kann alles haben: Kind, Karriere, persönliches Glück, perfektes Aussehen und eine liebevolle Beziehung. Die mannigfaltigen Ansprüche und Konventionen lassen weder Raum noch Zeit eigene Bedürfnisse zu realisieren. Diese Story erzählt der Abend.

Es beginnt mit der Maskierung des Publikums am Einlass mit Gesichtsmasken. Die beiden Frauen begrüßen uns in motiv- und farbenprächtigen Jumpsuits. Der Raum liegt geheimnisvoll in halbdunklem violetten Licht. Die Darstellerinnen berichten aus der Geschichte der zauberkundigen Medea und dann wird es laut und ausgelassen. Sie tanzen wild und ekstatisch und fordern zum Mittanzen auf. Anschließend werden Pezzibälle verteilt und wir werden zu Teilnehmerinnen eines Geburtsvorbereitungskurses. So geht es performativ mit allzu viel klischeehaften Shortstorys weiter (Lachyoga, Demonstration für Mütterrechte, Bloggerin für die Gestaltung der Lunchbox für die kleinen „Monster“, Werbespot mit Tutus, und vieles mehr). Das Publikum war immer Teil der Performance und ständig an den Aktionen aktiv beteiligt. Es gab viele humorvolle Einfälle wie die Klo-Szene, der riesige Teddybär und weitere Gags. Persönlich hat der Abend bei mir nicht so recht gezündet. Mir fehlte das Brodeln unter der Oberfläche, das Hervorbrechen eigener Bedürfnisse, das Einstehen für diese Bedürfnisse und der Mut in der Gesellschaft von Zeit zu Zeit als „schlechte Mutter“ angesehen zu werden. Mehr Medea, die für ihre Bedürfnisse kämpft. Dieser Reise durch das Erfahrungsland des Mutter-Seins fehlten aus meiner Sicht differenzierte Bilder, der Widersprüchlichkeit zwischen Mutterliebe und Eigenliebe und der innere Kampf um die Bewältigung dieser Herausforderung. Das Publikum bedachte den Abend allerdings mit reichlich Applaus. Wenn Mehrheiten recht haben, dann war es eine gelungene Performance.
Leserkritik: "Clockwork Orange", BE: Unentschieden
"Clockwork Orange" von Anthony Burgess, Regie: Tilo Nest, Berliner Ensemble/Neues Haus mit Studierenden der HfS Ernst Busch

Kostüme zwischen Teletubbies und Harklekin hat Esther von der Decken für die „Clockwork Orange“-Inszenierung kreiert. Als clownesken, trippelnden Sprechchor präsentiert das Quintett (Marc Benner, Anna Köllner, Maeve Metelka, Leonard Pfeiffer, Laura Talenti) vor allem während der ersten Stunde den Text, den BE-Dramaturg Johannes Nölting aus dem Roman von Anthony Burgess destilliert hat.

Trotz Triggerwarnung bleibt die brutale Gewalt, in der die Spiralen der von Stanley Kubrick verfilmten Vorlage kulminieren, an diesem Abend im Neuen Haus des Berliner Ensembles stets nur angedeutet. Aber auch das Clowneske wird nicht ausagiert, so dass die als Talentprobe des Ernst Busch-Nachwuchses als Inszenierung recht unentschieden wirkt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/15/clockwork-orange-berliner-ensemble-hfs-ernst-busch-theater-kritik/
Leserkritik: "Yahya Hassan", Gorki: Beliebig
"Yahya Hassan", Regie: Murat Dikenci, Schauspiel Hannover/Cumberlandsche Bühne zu Gast im Studio Я des Gorki Theaters

Als der staatenlose Sohn palästinensischer Flüchtlinge mit nur 24 Jahren starb, widmete ihm die FAS einen langen Nachruf. Mit wütender Lyrik, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde, hatte er in alle Richtungen ausgeteilt: gegen die islamische Religion, gegen die als rassistisch empfundene dänische Mehrheitsgesellschaft, gegen den linksliberalen Kulturbetrieb, der ihn als Shootingstar feierte.

Zwei Jahre nach Yahya Husseins Tod widmete ihm Murat Dikenci, Künstlerischer Leiter der Universen in der Cumberlandschen Bühne des Schauspiels Hannover, einen einstündigen Abend, der an diesem Wochenende im Studio des Gorki Theaters gastierte. Aus dem Off kommt die Stimme von Hassan Akkouch, der bei der mittlerweile legendären „Verrücktes Blut“-Inszenierung am Ballhaus Naunynstraße dabei war, später am Gorki Theater und den Münchner Kammerspielen spielte und zuletzt vor allem in TV-Krimis und Serien wie „4 Blocks“ zu sehen war. Überraschend monoton, fast wie eine Litanei, spricht er die Texte. Wie beiläufig sind die kleinen wütenden Spitzen in einen Text eingestreut, der mit sonorer Stimme vorgetragen wie in Watte gepackt wirkt. Diesen sehr speziellen Rezitierstil habe Yahya Hassan als „das genau kalkulierte Gegenteil der handelsüblichen Emphase von Spoken Words Poetry“ geprägt, erklärte die taz-Rezension zur Hannoveraner Premiere dieser Performance.

Begleitet wird der Text aus dem Off von einigen kurzen Video-Einspielern und vor allem von der Performance des ivorischen Tänzers Bi Vro Alain Serge Irie und des montenegrinischen Künstlers Edi Kastrati. Fast ständig sind die beiden in Aktion und bespielen den gesamten kleinen Bühnenraum. Zu beliebig wirkt jedoch ihre Choreographie, zu selten ergänzen sich Off-Lesung und Performance schlüssig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/15/yahya-hassan-cumberlandsche-buhne-gastspiel-gorki-theater-kritik/
Leser*innenkritik: Lovetrain2020, Berliner Festspiele
"Lovetrain2020", Emanuel Gat Dance, zu Gast im Haus der Berliner Festspiele

Wie ausgehungert das Berliner Publikum nach internationalen Tanz-Gastspielen ist, zeigte sich gestern Abend: die Karten für „Lovetrain 2020“ waren so schnell weg, dass noch eine zusätzliche Late Night-Vorstellung im Haus der Berliner Festspiele organisiert wurde. Die 75 Minuten kurze Show wurde von einem Teil des Publikums mit Standing Ovations gefeiert.

Thomas Bradley, einer der 13 Tänzer*innen von Emanuel Gat Dance, hat die opulenten Kostüme kreiert, die voller Rüschen und Glitzer ein rauschendes Fest versprachen. Thematisch ist dieser Abend, der während der kurzen Phase zwischen den Lockdowns im Frühherbst 2020 in Montpellier zur Premiere kam, eine Hommage des Choreographen an Idole seiner Teenager-Zeit.

Wie viele im Saal ist der aus Israel stammende, seit 2008 in Frankreich lebende Emanuel Gat ein Kind der 1980er Jahre. Er suchte sich das britische New Wave-Duo „Tears for Fears“ aus, elegisch und melancholisch gleiten viele Tableaus dahin.

Als Hommage war es ein Fest für Fans dieser Band und der von ihnen geprägten Stilrichtung. Eine Schattenseite dieses ganz auf ein Duo fokussierten Abends war, dass sich die Songs sowie ihre tänzerischen Interpretationen oft sehr ähnelten.

Zwei Highlights stachen heraus: Zu „Mad World“ zuckten die Körper in trauriger Verzweiflung, zu „Shout let it all out“ lief das Ensemble kurz vor Schluss ebenfalls noch mal zu großer Form in einer raffinierteren, mitreißenderen Choreographie auf.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/22/lovetrain-2020-tanz-kritik/
LeserinnenHinweis: Gaia rettet die Welt, Nürnberg
Uraufführung: "Gaia rettet die Welt" von Nele Stuhler, Regie: Branko Janack, Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

"Die Autorin verbindet die griechische Mythologie mit der Schöpfungsgeschichte der Menschheit und ihrem selbstverschuldeten Untergang. Und das ist großartig." (Süddeutsche Zeitung)

Kritik Süddeutsche Zeitung:
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/staatstheater-nuernberg-nele-stuhler-gaia-rettet-die-welt-kritik-1.5736907
Leser*innen-Krituk: Jérôme Bel/Ruth Rosenfeld, Berlin
"Jérôme Bel/Ruth Rosenfeld", autobiographische Lecture Performance, HAU

Am hinteren linken Bühnenrand sitzt Ruth Rosenfeld vor ihrem Laptop und begrüßt das Publikum im HAU 2 lächelnd: Jérôme Bel sei ihr Name und die folgenden zwei Stunden könnten ganz schön langweilig werden. Deshalb solle man doch ganz ungeniert gehen, wenn es zu viel werde, das störe sie nicht. Eine überraschende Wendung sei jedenfalls nicht zu erwarten.

Der erste Teil dieser Einführung ist offensichtlich eine Lüge: Ruth Rosenfeld, seit 2017 Mitglied im Ensemble der Schaubühne einige Kilometer weiter westlich, leiht den Reflexionen des französischen Choreographen Bel nur ihre Stimme.

An der zweiten Aussage von Ruth Rosenfeld ist ein wahrer Kern: Tatsächlich beginnt der Abend zäh und ermüdend. Es wirkt wie die narzisstische Nabelschau eines älteren weißen Mannes, wenn er tief in seine Kindheit und Jugend eintaucht und eine wesentlich jüngere Frau zu seinem Medium macht, das seine Texte vorträgt.

Überfrachtet mit Theorien, beseelt von antikapitalistischer Konsumkritik und Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“, setzte Bel seinem Publikum zu Beginn seiner Karriere quälend-verkopfte Abende vor, bei denen möglichst wenig Emotion aufkommen sollte und es auf keinen Fall spektakulär zugehen durfte. Bei einem Festival-Gastspiel sei der Saal am Ende leer gewesen, nur noch der Intendant, seine Frau und seine Pressesprecherin seien im Saal geblieben. Wie gut man die Gründe für diese Massenflucht nachvollziehen kann! Die Aussicht, die merkwürdige Installation, die Rosenfeld/Bel beschreiben, eine Stunde ertragen zu müssen, ist wirklich grauenhaft. Aber auch dieser Abend im HAU ist bis dahin nicht sehr vergnüglich, sondern trockene Lecture Performance-Pflichtübung. Wie soll das nur in den restlichen anderthalb Stunden weitergehen?

Langsam kommt der Abend beim ersten Höhepunkt im Werk des Choreographen an: „The Show must go on“ hat das Konzept des Anti-Spektakels und das Spiel mit den Erwartungen perfektioniert. In einer Mischung aus Anekdoten und Selbstreflexion erklärt Rosenfeld/Bel die gezeigten Filmausschnitte, die Kamera schwenkt immer wieder ins damalige Publikum. Spannend zu sehen, wie die Reaktionen zwischen Ratlosigkeit und Amüsement schwankten.

Ähnlich legendär wie „The Show must go on“ ist Bels Zusammenarbeit mit dem Zürcher Theater Hora: „Disabled Theater“ war ein Meilenstein des inklusiven Theaters. Die Spieler*innen wirken nicht gehandicaped oder behindert, sondern traten als selbstbewusste Persönlichkeiten auf, die ganz eigene, oft überraschende Qualitäten haben und den Abend mit ihrer enormen Spielfreude zum Spektakel machten. Seine Zusammenarbeit mit dem Theater Hora wurde nicht nur 2013 zum Theatertreffen eingeladen, sondern führte ihn auch von seinem alten Mantra weg. Der Lehrsatz, Spektakel um jeden Preis zu vermeiden, wich einer entspannteren Haltung.

Mit dem „Disabled Theater“ ist auch die HAU-Lecture auf der richtigen Betriebstemperatur angekommen. Trotz des kargen Settings und entgegen der selbstironischen Warnungen zu Beginn entwickelte sich die autobiographische Lecture Performance zu einem überraschend anregenden Abend, der einige aufschlussreiche Einblicke in das Schaffen eines wichtigen Choreographen bot.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/23/jerome-bel-ruth-rosenfeld-hau-tanz-kritik/
Leser*innenkritik: "Silver Dollar Duke", Hamburg
"The Silver Dollar Duke. A transformance", Madame Nielsen, Gastspiel im Nachtasyl, Lessingtage des Thalia Theaters Hamburg

Vorsichtig öffnet Simon Toldam die Tür und leuchtet sich mit der Taschenlampe durch das Nachtasyl im dritten Stock des Hamburger Thalia Theaters. Langsam sucht er sich den Weg zu seinem Keyboard. Fast unbemerkt huscht hinter ihm eine Gestalt herein: verborgen unter einer schwarzen Kutte wirkt sie wie ein Gespenst oder der Tod persönlich.

Unterstützt von einer Assistentin entledigt sich Madame Nielsen, die dänische Performerin und Schriftstellerin, des Umhangs und wechselt mehrfach ihre Kostüme. Mit brüchiger Stimme singt sie Songs der androgynen Glamrock-Legende David Bowie.

Nur schemenhaft ist Nielsen anfangs hinter einem Gaze-Vorhang zu erkennen, erst nach und nach wird ihre ganze Erscheinung sichtbar. Der fast überirdisch schönen, ätherischen Erscheinung des jungen Bowie setzt Nielsen ihre sehr fragile, beängstigend ausgemergelte Statur entgegen.

Konzept dieser düsteren, vor einem Jahr beim Festival in Bergen entwickelten Hommage ist es, die Hymnen vergangener Jahrzehnte („Heroes“, „Space Oddity“, „Let´s dance“) nicht so kraftvoll und glamourös wie gewohnt erklingen zu lassen, sondern dass sie hier ein hohlwangiges, mit jeder Geste die Vergänglichkeit des Menschen ausstrahlendes Wesen vorträgt, das so verletzlich und mit ihrer Lebenskraft am Ende wirkt. Auf ganz andere Art als Bowie ist auch sie nicht klar zwischen den binären Geschlechterrollen zu verorten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/27/the-silver-dollar-duke-performance-kritik/
Leser*innenkritik: "Danse Macabre", Hamburg
"Danse Macabre", Dakh Daughters, Gastspiel Thalia Gaußstraße, Lessingtage

Mit Punkrock entern die Dakh Daughters aus Kiew die Bühne. So habe ich sie auch an einem Sommerabend 2019 in der Box des Deutschen Theaters Berlin kennengelernt.

Krieg herrschte bereits damals im Osten der Ukraine. Doch die Situation hat sich seitdem dramatisch verändert: Wladimir Putin nahm sich bekanntlich vor, Russland die gesamte Ukraine einzuverleiben und auch auf die Hauptstadt vorzurücken. Die Schauspielerinnen und Performerinnen flüchteten zuerst in den äußersten Westen des Landes, dann nach Frankreich, wo sie im Juni 2022 erstmals ihre Totenmesse für die Opfer von Butscha und Irpin im Pariser Odéon präsentierten.

Von der rotzigen Latzhosen-Attitüde, mit der sie vor vier Jahren auftrumpften, ist bis auf kurze Anklänge im Intro nichts geblieben. „Danse macabre“ ist ein Abend, der seinen Schmerz herausschreit und von Regisseur Vlad Troitskyi und seinen performenden Musikerinnen unmittelbar unter dem Schock des Angriffs und der Flucht erarbeitet wurde.

Zwischen die Berichte von Vergewaltigungen und Erschießungen ist leitmotivisch die biblische Hiob-Figur eingeflochten. Überdeutlich ist die Bildsprache des Abends: mit Rollkoffern irren die Frauen über die Bühne, kauern zum Schluss vor flackernden Grabkerzen.

Ein Aufschrei und ein politisches Manifest will dieser Abend sein: die seit Monaten allgegenwärtige blau-gelbe Flagge wird ausgerollt, unter „Slava Ukraini“-Rufen danken die Dakh Daughters dem Publikum für die westliche Solidarität mit ihrer Heimat.

In der Gaußstraße, der kleineren Bühne des Thalia Theaters Hamburg, war dieser Abend am Eröffnungs-Wochenende der Lessingtage erstmals zu sehen. Am 12. März wird er das Radar Ost-Festival beschließen, das Birgit Lengers seit 2018 für das Deutsche Theater Berlin kuratiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/27/danse-macabre-dakh-daughters-konzert/
Leserkritiken: Amore, Berlin
"Amore", Aram Tafreshian und Studiengang Schauspiel der HfS Ernst Busch, Gorki Theater, Studio Я

Viele Jahre (2013 – 2020) war Aram Tafreshian im Ensemble des Gorki Theaters, als Gast ist er dem Haus weiter verbunden, heute präsentierte er dort seine erste Regie-Arbeit.

„Amore“ ist der Titel seiner Stückentwicklung mit den Studierenden der HfS Ernst Busch und auch der Name der queerfeministischen Band, die das Sextett gründet. Ihr Weg an die Spitze der Charts, ihre Krisen, Eifersuchtsdramen und Selbstfindungsprozesse sind der rote Faden eines 80 Minuten kurzen Abends zwischen Performance und Konzert: Anthony Hüseyin, der im September das queere „Pugs in Love“-Festival und die Spielzeit eröffnet hat, komponierte Songs, die mal etwas alberner, mal etwas expliziter ausfallen und von den Spieler*innen in einem knöcheltiefen Wasserbecken performt werden.

Zu Beginn stellen sich alle mit Pronomen vor, Themen wie Nonbinarität und das gegenseitige Unverständnis zwischen Generation Z und „Boomern“ fließen an mehreren Stellen in den Abend ein, der auch anekdotisch auf den RomCom-Klassiker „Tatsächlich…Liebe“ (2003), den Oscar-Schmacht-Blockbuster „Titanic“ (1997) oder Bundesinnenminister a.D. Horst Seehofer anspielt.

Nach dem launigen Ausflug in die Welt von Pop, Liebe und Gender gab es als Zugabe noch den schon auf dem Abendzettel angekündigten „Hidden Track: Wrack“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/28/amore-studio-gorki-theater-kritik/
Leser*innenkritik: Terror, SHL
„Terror“ von F. von Schirach in der Regie von W. Hofmann hatte am SHL eine beeindruckende und umjubelte Premiere. Das Theater wurde zum Gerichtssaal und das Publikum zu Schöffen, die am Verhandlungsende, Stellung beziehen mussten. Der Luftwaffen-Major Lars Koch (T. I. Heise) hatte eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren abgeschossen, die von einem Terroristen entführt worden war und als Bombe in das mit 70.000 Menschen besetzte Fußballstadion zu rasen drohte. Koch entschied eigenmächtig die LH-Maschine mit 164 Passagieren abzuschießen und 164 Menschen zu töten, um 70.000 Menschen das Leben zu retten. L. Koch stand vor dem Dilemma einer Pflichtenkollision, da er sich potenziell im Falle des Abschusses durch Handeln und im Falle des Nichtabschusses durch Unterlassung strafbar machte. „Terror“ stellt die Frage, ob der Einzelne über Leben und Tod entscheiden darf. Das deutsche Recht sagt: Nein; denn laut Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar (N. Kermani wies 2014 im Bundestag darauf hin, dass dies ein Paradoxon sei; denn wenn das so wäre, müsste der Staat sie weder achten noch schützen, wie es der zweite Satz verlangt). So wurde gegen die Abschussermächtigung im deutschen Luftsicherheitsgesetz (2005) Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Bundesverfassungsgericht (bvg) erklärte die Abschussermächtigung für Passagierflugzeuge als verfassungswidrig. Das bvg verbietet dem Gesetzgeber, einen solchen Abschuss zu erlauben und straffrei zu stellen, ohne entschieden zu haben, wie der Pilot in solchem Fall strafrechtlich zu behandeln wäre. Einige Strafrechtler sehen in der Pflichtenkollision einen Rechtfertigungsgrund, andere einen Entschuldigungsgrund (übergesetzlicher entschuldigender Notstand), womit die Tat rechtswidrig, aber nicht schuldhaft wäre.
Die Bühne (L. Peter) entsprach in stilisierter Form einem Gerichtssaal mit zusätzlicher Projektionsfläche im Hintergrund, auf der im Wechsel die Mimik der einzelnen Personen in Nahaufnahme eingeblendet wurde, was eine konzentrierte und differenzierte Wahrnehmung ermöglichte und den Kammerspielcharakter verdichtete. Hofmanns Regie zeichnet sich dadurch aus, dass Verteidigung (Biegler: L. Gieseler) und Staatsanwaltschaft (Nelson: B. Boca) ebenbürtig ihre Argumente darlegten. Beide waren starke Kontrahentinnen, die ihre Wortduelle zu einem „Wort-Thriller“ stilisierten und so in ihren Rollen überzeugten. Die Spannung und Faszination bezieht „Terror“ aus Fallstricken des Rechtssystems und spitzfindigen Offenlegungen derselben. Hofmann vergaß nie, dass „Terror“ Theater ist und kein juristisches Seminar. So strich er nicht die Story das F. Wilhelm I. 1726 die Robe für Anwälte einführte, damit man „die Spitzbuben“ gleich erkenne oder die Floskel des Richters „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“, die eine Äußerung des Kommunarden Fritz Teufels in einer Verhandlung war. Auch die Frage, ob das bvg-Urteil den Terroristen nicht Tür und Tor öffnet wurde von Hofmann gebührend beachtet. Der Star war für mich R. Rollin als Oberstleutnant Lauterbach, der als Zeuge aussagte. Ein überkorrekter, um nicht zu sagen pedantischer Offizier (Ausrichtung der Aktentasche neben dem Tisch, Korrektur der Sitzhöhe des Zeugenstuhles, etc.), der das Prinzip „Befehlsgehorsam“ verinnerlicht hatte und mit der Gerichtsbarkeit seine Kompetenzrangelei ausfocht. F. Meiser (K. Heil) als Nebenklägerin, die Witwe eines getöteten Passagiers, überzeugte durch ihre Verlorenheit und nicht zu realisierenden Trauer. T. I. Heise als Lars Koch brachte die Selbstsicherheit, die seine Ausbildung zum Piloten erwarten ließ, überzeugend auf die Bühne und vergaß dabei nicht die Betroffenheit über die Tötung von 164 Menschen. R. Schleberger als Richter beeindruckte durch sachliche Distanz. Gute Idee die Souffleuse (K. Pick) als Protokollführerin ins Spiel zu integrieren. In dieser Verhandlung wurde entschieden, ob Lars Koch des Mordes an 164 Menschen schuldig war, oder freigesprochen wurde. Das Publikum entschied für Freispruch.
Leser*innenkritik: Bros, Hamburg
"Bros", Romeo Castellucci/Societas, Lessingtage, Thalia Theater Hamburg

Zwanzig Uniformierte treten mit Schlagstöcken auf. Über Headseats dirigiert Romeo Castellucci die Laien, die er in jeder Stadt neu rekrutiert. Seit 2021 ist „Bros“ auf Tour, nach der Deutschland-Premiere bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen gastierte die Inszenierung nun auch bei den Lessingtagen am Thalia Theater.

In den knapp 90 Minuten werden die schlimmsten Exzesse von Polizeiübergriffen reenactet. Mit Schlagstöcken dreschen die Polizisten auf ihre wehrlosen Opfer ein, Waterboarding ist ebenso an der Tagesordnung wie der Einsatz von Schäferhunden.

Selten waren Triggerwarnungen so angebracht wie bei dieser Inszenierung, die Castellucci nach mehreren Polizeieinsätzen gegen die französischen Gelbwesten konzipierte, die er während der Proben zu einer Pariser Operninszenierung miterlebte. Die bloße Dopplung stumpfer, brutaler Gewalt und die Zitate der Black Lives Matter-Morde durch Polizisten rahmt Castellucci mit einem Stilmittel, das schon aus früheren Arbeiten bekannt ist: Der Gewaltporno ist gerahmt von sakralen Motiven, der Anbetung einer Statue und einem Auftritt des 80jährigen Valer Dellakeza mit einem rumänischen Monolog als Prophet Jeremias zu Beginn des Abends. Philosophisch angehauchte Motti werden vorab auf Flyern verteilt und auf großen Aufstellern auf Latein mit deutscher Übersetzung aus dem Off in die Inszenierung eingebracht. Über weite Strecken wirkt Castelluccis neue Arbeit kunstgewerblich und auf bloßen Effekt hin inszeniert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/03/bros-romeo-castellucci-theater-kritik/
Leser*innenkritik: Göttersimulation, München
Mein Eindruck von gestern Abend:
Wow, was für ein Abend! Ich bin immer noch erstaunt und begeistert von der gestrigen Aufführung der Göttersimulation an den Münchner Kammerspielen, bei der ich als Zuschauer dabei war (Habe es bisher ignoriert bis meine Tochter mich zwang hinzugehen). Das digitale Bühnenbild hat meine Erwartungen übertroffen (Hatte in der SZ Kritik davon gelesen). Aber was mich wirklich beeindruckt hat, war die jugendliche Besetzung im Alter von 11 bis 18 Jahren. Diese Kinder und Jugendlichen trugen den ganzen Abend kraftvoll, auch wenn das Textverständnis manchmal litt. Aber wenn man sich erst einmal auf das Geschehen und das große Ganze eingelassen hatte, wurde man immer tiefer in den Strudel hineingezogen, den dieses Stück entwickelte. Es war eine surreale und schmerzhafte Welt, die mich erstaunt und auch verloren zurückließ.

Was ich besonders bemerkenswert fand, war, dass es in dem Stück um verschiedene Ebenen und Perspektiven ging, die sich um das Thema "Menschheit" drehten, trotz oder gerade wegen all der Digitalität. Dieser wirklich nicht einfache Text (Und er hätte gerne noch Striche vertragen) und die positive und eindeutig überfordernde Inszenierung könnten Menschen mit normalen Theatervorstellungen ausschließen, aber ich verstand ganz intuitiv, dass die mantraartige, fast berauschende Inszenierung für jeden etwas bereithielt - wie eine Wunderkiste. Die beiden alten Figuren, die uns Zuschauer auf ihrer letzten Reise an die Hand nehmen, waren mein persönlicher Faden, ich konnte mich an ihnen festhalten und fühlte mich auch wie sie, erstaunt und verloren in einer Welt der Jugend und der Zukunft.
Ich muss sagen, dass ich wirklich überrascht war, dass der Zuschauerraum bei dieser Aufführung voll war, in einer Zeit, in der das Publikum immer weniger wird. Das Publikum war wahnsinnig divers und der Applaus frenetisch (Obwohl es keine Premiere war). Im Nachhinein war ich umso mehr überrascht, dass hier in der Nachtkritik nicht darüber berichtet wurde. Daher mein persönlicher Eindruck. Jetzt. Hier.
Noch am nächsten Tag bin ich in Gedankenschleifen in diesen Bildern, den Stimmen und Momenten und froh, dass ich als Zuschauer Teil dieses sonderbaren und eigensinnigen Erlebnisses sein konnte. So kann Theater! Weiter so!
Leser*innenkritik: 72 Days, Hamburg
"72 Days" von Ene-Liis Semper & Tiit Ojasoo, Lessingtage, Thalia Gauß, Hamburg

Gut vernetzt im Festival-Zirkus ist das estnische Duo Ene-Liis Semper & Tiit Ojasoo. Mit ihrer neuen Arbeit „72 Days“ feierten sie an diesem Wochenende Deutschland-Premiere am Thalia Theater Hamburg, wo sie im vergangenen Jahrzehnt auch schon einige Arbeiten fürs Repertoire inszeniert haben.

Der Titel markiert laut Programmheft den Probenzeitraum, spielt aber auch auf ein Projekt der amerikanischen Reporterin und Investigativ-Journalistin Nellie Bly an, die 1889 die Weltreise der Protagonisten aus dem Roman von Jules Verne im Auftrag der „New York World“ nachahmte und mit 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten einen Rekord aufstellte.

Dieses Hintergrundwissen ist für das Gastspiel in der Gaußstraße nicht notwendig. Die Pop-Revue, die das Duo mit elf jungen Frauen von der Estonian Music and Theatre Academy, Tallinn einstudierte, ist ein schön choreographierter, aber etwas beliebiger Bilderbogen. Von der Selbstinszenierung der Generation Z auf Instagram und Co. über gestrandete Flüchtlinge im Mittelmeer bis zum Wohlstandsmüll, der die Bühne phasenweise fast komplett überwuchert, zum Schluss feinsäuberlich weggeräumt wird, werden viele Motive und Szenen angetippt. Musikalisch wirkt der Soundtrack von Klassikern wie „Je t´aime“ von Jane Birkin und Serge Gainsbourg bis zu aktuelleren Songs ähnlich beliebig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/04/72-days-lessingtage-thalia-theater-kritik/
Leser*innen-Kritik: Woyzeck, Rendsburg
Am 11.2.2023 hatte „WOYZECK“ nach Georg Büchner mit Songs von T. Waits und K. Brennan und dem Konzept von R. Wilson in der Textfassung von A-C. Rommen und W. Wiens eine grandiose Premiere, die frenetisch bejubelt wurde, dank starker Regie und überzeugender Ensembleleistung. 110 Jahre nach der UA am Residenztheater München und 23 Jahre nach der UA der Fassung von Wilson/Waits in Kopenhagen, zeigt das SHL seine Version dieser Woyzeck-Fassung. Seit 2008 darf diese Wilson-Version neu inszeniert werden. Waits Musik ist mittels der CD „Blood Money“ reproduzierbar, Wilsons „Visual Design“ ist Veränderungen preisgegeben. Wilson ließ seinen Woyzeck auf dem Varieté spielen, M. N. Koch verlegt seinen Woyzeck auf ein Karussell (Bühne/Kostüme: M. Weinand), was die Getrieben- und Gehetzheit Woyzecks symbolisiert. Das Rummelplatz-Setting passt exzellent zu Waits Songs mit seiner Ader für Kurt Weill, indem er klingende Melodien mit knarzenden und klirrenden Arrangements untergräbt, die von der Büchner Band unter Leitung von F. Bundel überzeugend instrumentalisiert werden. Die Songs sind melancholisch, traurig, aggressiv oder verzweifelt und spiegeln die Zustände der Kreaturen. „Woyzeck“ ist revolutionär für seine Zeit, da es einen Menschen der Untersicht zur Hauptperson des Dramas macht und die Sprache aus verkürzten, verknappten und verdichteten Sätzen, das Wissen um die Not der Menschen und deren soziale Realitäten reflektiert. Diese Sprache offenbart die Einsamkeit, Leiden und Verzweiflung Woyzecks. Die Story handelt von Woyzeck, einem Soldaten, der ums Überleben kämpft, sich als Proband für Menschenversuche und als Barbier Geld dazu verdient und von allen Menschen bis auf Andres missbraucht wird. Er entwickelt Halluzinationen und tötet schließlich Marie, weil sie ihm untreu ist. Es ist ein Plot über Demütigungen, Instrumentalisierung der Kreatur und Gewalt, sowie Liebe, Eifersucht, Einsamkeit und Wahnsinn. Die Ausruferin (F. Pasch) preist marktschreierisch die tierische Kreatur mit Kunststücken an, hinter denen sich die menschliche Kreatur [z.B. Woyzeck (D. Habermehl)] verbirgt und gedemütigt wird. Sie kommentiert das Geschehen beeindruckend mit hämischer Lache und rauchiger Singstimme. Woyzeck begegnet dem Hauptmann (T. Wild) und dem Doktor (F. Ströbel) und erfährt laufend Demütigungen und Erniedrigungen. Er wird zum Spielball der Upper-Class. T. Wild klar und prägnant als Hauptmann ohne Rückgrat. F. Ströbel findet eine exaltierte Darstellung seiner Rolle, die am stärksten an Bewegungsmuster Wilsons erinnert und ein skurriler Glanzpunkt der Inszenierung ist. Marie (N.F. Maak) verleiht diesem „Woyzeck“ eine besondere Note, indem die Frauenrolle an Kontur gewinnt und das Schicksal von Marie selbstbewusst und selbstbestimmt ist. Sie, ist die geschundene Frau - voller Lebensenergie, die das Messer wie eine Waffe trägt und Woyzeck auffordert „rühr mich an“. N.F. Maak wird zum Zentrum der Inszenierung mit ihrer rauchigen unverwechselbaren Stimme, die an Winehouse und Hart erinnert. Ihre Liedinterpretationen allein lohnen den Besuch. Der Tambourmajor (S. Keel) eine brutale Karikatur eines Mannes, der der fleischlichen Lust frönt und seinen Song mit F. Mercurys Gestik auflädt. S.R. Scholz als Andres überzeugt in seinen Liedern mit beeindruckender Feinfühligkeit. D. Habermehl als Woyzeck hat es schwer in dieser Rolle, da er gegen seinen Typ anspielen muss. Dies gelingt ihm am ehesten in den Wahnsinnsszenen, die durch penetrante Geräusche untermalt werden und er der Figur eigene Konturen verleiht. Szenen der Nacktheit, sexuellen Gewalt und des Mordes an Marie werden als Schattenspiel visualisiert, was der Fantasie des Zuschauers Tür und Tor öffnet, um das Grauen wirken zu lassen. Das Kind als Puppe (Puppenbau: Grabo/Tasche) entpuppt sich als Clou, da die Puppe die Einsamkeit und Verlorenheit des Menschseins verstärkt und im Epilog des Andres zum Menetekel einer verlorenen Menschheit im unendlichen Universum wird – die Puppe, das Kind.
Leser*innen-Kritik: Miroloi, Berlin
"Miroloi", nach dem Roman von Karen Köhler, Regie: Liesbet Pauwels, Junges DT , Kammerspiele des DT Berlin

Weit gingen die Meinungen in den Feuilletons im Sommer 2019 auseinander, als Karen Köhler ihren Debüt-Roman „Miroloi“ veröffentlichte. Die einen schwärmten von einer packenden Coming of Age-Geschichte einer jungen Frau, die auf einer dystopischen Insel gegen das Patriarchat und religiöse Fanatiker kämpft. Andere fanden, dass der Roman zu holzschnittartig auf dem feministischen Zeitgeist surfe und nur ein gut gemeintes Buch für junge Leser*innen sei.

An diese Gruppe richtet sich „Miroloi“, das Liesbeth Coltof mit einem bemerkenswert diversen Ensemble meist junger Laien (11 Kinder und Jugendliche vom Jungen DT und zwei Erwachsene) vor einem Jahr einstudiert hat. Die Bühnenfassung bleibt nah am Roman-Plot, die jungen Spieler*innen wechseln sich in den Hauptrollen kontinuierlich ab.

Die Einschüchterungen der jungen Frau, ihr Freiheitswille und das Pochen des Patriarchats auf die religiösen Vorschriften der „Qurabel“ sind von der Autorin und vom Team der Theater-Adaption ganz bewusst überzeitlich angelegt, erinnern jedoch frappierend an die aktuellen Proteste im Iran.

Auch wenn „Miroloi“ nicht an die mitreißendsten Inszenierungen des Jungen DT wie „Draufgängerinnen“ heranreicht, ist es doch ein solider Empowerment-Abend, der auf seine Zielgruppe zugeschnitten ist und ein halbes Jahr nach der Premiere im vergangenen Herbst mit dem FAUST des Deutschen Bühnenvereins für die beste Inszenierung für ein junges Publikum ausgezeichnet wurde.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/11/miroloi-junges-dt-kritik/
Leser*innen-Kritik: Taylor Mac, Hamburg
"Taylor Mac - A 24-Decade History of Popular Music", auf zwei Stunden gekürzte Hamburger Fassung, Lessingtage, Thalia Theater

Statt des 24 Stunden-Marathons gab es eine zweistündige Best of-Version zum Reinschnuppern und eine 15minütige Zugabe plus Shanty-Chor. Judy (selbstgewähltes Pronomen von Taylor Mac) gelang es auch in dieser Version für die „fishheads“, wie Taylor Mac immer wieder betonte, erstaunlich gut, die Essenz des stark gekürzten Abends vorzustellen.

Nach der Wahlniederlage von Trump sprach judy auch den Namen des Ex-Präsidenten aus, der für das andere Amerika steht, von dem sich Taylor Mac mit der Geschichte der Befreiungskämpfe der Minderheiten so eloquent abgrenzt. Besonders oft fällt in der neuen Fassung natürlich der Name des russischen Präsidenten, dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine judy anprangert.

Durch das Publikum, das am Thalia wesentlich älter und bürgerlich-gesetzter ist als damals in Berlin, tigert Taylor Mac auch diesmal wieder und freut sich daran, die Nervosität der Zuschauer*innen zu riechen, wer wohl als nächster auf die Bühne gezerrt wird. An der Alster ist niemand dabei, der es mit Hannelores Charisma aus dem Berliner Festspiele-Event von 2019 aufnehmen könnte. Die Pingpong-Bälle fliegen auch diesmal durch den Saal, aber die vielen ausufernden, zum Teil recht albernen Mitmachspiele sind gestrichen. Dafür dominieren die leiseren Töne in dieser gelungenen Best of-Version.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/13/taylor-mac-a-24-decade-history-of-popular-music/
Leser*innenkritik: K(No)w Black Heroes, Hannover
K(No)w Black Heroes - Real Black Heroes im Schauspiel Hannover
In Hannover gibt es auch Gutes von den Bühnen zu berichten. ;)
Kleine Wortspiele im Titel einer Inszenierung wie „K(No)w Black Heroes“ können locken und Neugier evozieren, sie können aber auch bemüht wirken. Und wenn man im Programmheft Fotos und biografische Angaben zu schwarzen Erfinderinnen und Erfindern sieht, die wohl nicht nur einem selbst unbekannt sind, könnte man denken, man müsste sich einem politikdidaktischen Crashkurs in Black History und Black Herstory aussetzen. Zeigefinger - vielleicht auch Mittelfinger.
Doch wie falsch ist eine solche Skepsis gegenüber der wunderbaren begeisternden Inszenierung von Mabel Preaches „K(No)w Black Heroes“ – die Autorin führt selbst Regie - auf der Studiobühne des Ballhof 2 im Schauspiel Hannover.
Zwei lebendige, überzeugend agierende Schauspielerinnen (Florence Adjidome, Precious Wiesner), immer in Bewegung, immer präsent, ausdrucksstark in Mimik und Gestik, mit deutlich politischen Aussagen und mit Erzählungen, ernsthaft und spielerisch, mit Tanz und Gesang agieren hier nicht moralisierend oder anklagend, sondern zeigen im besten Sinne das, was Theater im Spiel mit Sinnlichkeit und Reflexion zu leisten vermag.
Das bunt gemischte Publikum – unterschiedliche Altersgruppen, unterschiedliche ethnische Prägungen – springt auf und spendet langanhaltenden begeisterten Beifall.
Die Inszenierung beginnt emotional dicht, macht betroffen.
Eine Figur berichtet über ihre Erfahrungen als kleines Mädchen: Die „pädagogisch wertvoll handelnde“ Mutter einer Freundin erzählt Geschichten, Geschichten von angstfreien starken Kindern. Doch diese Kinder sind weiß und haben blonde oder rote Haare. Das schwarze Mädchen fragt nach einer Geschichte von starken schwarzen Mädchen oder Jungen – und wird ausgelacht. Es gebe keine schwarzen Heldinnen und Helden. There are no black heroes.
Das Mädchen, erwachsen geworden, bricht mit einer Freundin auf – mit einer eigenen Rakete zu einem fernen, der Erde ähnlichen Planeten in einem anderen Sonnensystem. Eine im Spiel überzeugende Behauptung. Dabei nehmen die beiden Frauen Erinnerungen an schwarze Heldinnen und Helden, die sie inzwischen kennengelernt haben, mit. Now they know black heroes.
Und sie reflektieren, was dieses neue Wissen für eine Begegnung mit den Lebewesen auf dem anderen Planeten bedeuten könnte.
Es ist unwichtig, ob es zu einer Begegnung kommt, ob es sich um Träume oder Phantasien handelt.
Die Inszenierung endet emotional dicht, reißt mit.
Die beiden Figuren formulieren mit wachsender Emphase, wachsender Energie und wachsender Überzeugung in mehrfacher Wiederholung ein kraftvolles politisches Statement. Eine Paraphrasierung kann die Power dieses Statements nur andeuten:
Die beiden betonen, dass sie Afrikanerinnen sind – auch wenn manche sie lieber als Deutsche sehen würden. Sie betonen, dass sie Deutsche sind – auch wenn manchen ihre Hautfarbe nicht passen würde. Und sie versichern, dass sie weitergehen und weiterkämpfen werden.
Black. Begeisterter Applaus!
Leser*innenkritik: Extrawurst, Schleswig
„Extrawurst“ von D. Jacobs und M. Netenjakob ein Dauerbrenner am SHL in der Inszenierung von Moritz Peters begeistert erneut nach Wiederaufnahme vor fast ausverkauftem Haus durch temporeiches, hochpointiertes Spiel mit aktuellen Bezügen. In der Pandemiesaison 2020/21 belegte diese „Dramödie“ über Integration und Rassismus mit 224 Aufführungen den ersten Platz im deutschen Sprechtheater. Momentan passt diese böse, schwarze Fastnachtsposse perfekt in die unterkühlte nordische Karnevalszeit. Die Autoren verbinden clever Komik und Tragik mittels satirischer Distanz und suchen mit schlagfertigem Scharfsinn das Drama in der Komödie. Mittels harmoniesprengender, die Vereinsidylle untergrabenden Argumenten heizen sie in dieser harmlos beginnenden Dramödie, die Diskussion um relevante gesellschaftliche Themen, durch hintergründige Wortgefechte, an. „Extrawurst“ zeigt, wie sich eine harmlose Diskussion verselbstständigt und aus nichtigem Grund - einem „Extragrill“ - Rassismus hervorbricht. Allein der Nutzungskonflikt eines Vereinsgrills führt auf politisch vermintes Gelände und liefert eine vergnügliche Provinzposse, die der Eskalationslogik gegenwärtiger Empörungshysterie Rechnung trägt. Tief tauchen die Personen in ihr Unbewusstes und finden nicht wieder heraus. Ebenso respektlos wie komisch treffen Gläubige und Nicht-Gläubige, Deutsche und Türken, Softies und Hardliner aufeinander und stellen Fragen: Wie viele Rechte muss eine Mehrheit einer Minderheit einräumen? Muss man Religionen tolerieren, die man ablehnt? Gibt es auch beim Grillen eine deutsche Leitkultur? Sind Vegetarier auch eine Glaubensgemeinschaft? Es geht eben um mehr als einen Grill. Es geht um unser Zusammenleben. Es offenbart sich, dass die Grenzen zwischen „rechts und links“, „tolerant und intolerant“, „gläubig und ungläubig“ fließender sind als angenommen. Alle Personen sind nicht so locker und tolerant, wie es anfänglich schien und es zeigt sich, wie schnell sich eine Gesellschaft zerlegen kann. M. Peters inszeniert die Dramödie mit vielen Lachern, die sich aus der Balance zwischen schonungsloser Gesellschaftskritik und situativer Komik ergeben. Er führt das Publikum leichtfüßig durch das Themenminenfeld von Rassismus, Pegida, fragile Männlichkeit und weiteren explosiven Konflikten und bedient hemmungslos Klischees, um sie anschließend zu brechen und umzudrehen. Bühne und Kostüme von J. Scheeler entsprechen dem Setting Tennisclub und die Tennisschläger sind Ausdruck für so manches verbal gesetzte As bzw. verbale Match-Bälle. Dieses verbale 3 Satz-Match wird durch eine herrliche ironische Tennis-Choreografie und eine Pause unterbrochen. Die Dramatik dieser bitterbösen Komödie wird von allen Darstellern [Heribert Bräsemann (Kai Möller); Matthias Scholz (Gregor Imkamp); Erol Oturan (Simon Keel); Melanie Pfaff (Karin Winkler); Torsten Pfaff (Reiner Schleberger)] in den von Intoleranz, Ängsten und Offenbarungen bestimmten Diskussionen, in den sich immer schärfer zuspitzenden Dialogen, mit Humor und pointiertem Sprachwitz voll zur Geltung gebracht. Das Quintett spielt mit allen Mitteln der schauspielerischen Klaviatur und nutzt selbst „Kliff“-Hänger zu Applausstürmen im Publikum. Besser kann man sein Publikum zu Zeiten des Karnevals nicht unterhalten und dennoch nicht auf Gesellschaftskritik verzichten. Dieses Feuerwerk wurde vom Publikum mit tosendem Applaus honoriert. Theater in Schleswig lebt. Merci & Chapeau für diesen "tollen" Theaterabend.
Leser*innenkritik: Karneval in Köln 2023, ARD
Ausnahmsweise kein Theaterbesuch, vielmehr eine Fernsehübertragung von karnevalistischen Prunksitzungen in langer Tradition:

2023: Karneval in Zeiten des Schreckens: Frohsinn und Melancholie

... nach Wahrnehmung der Schlusspartie des Mainzer Karnevals in dessen traditioneller Festsitzung im Abendprogramm des Fernsehens am vergangenen Freitag habe ich auch dem Kölner Karneval am Rosenmontag in der entsprechenden Fernsehsendung des 1. Programms zu später Stunde für die letzten 80 Minuten seiner Übertragung meine Aufmerksamkeit geschenkt -- der Kölner Karneval: auf seine Weise ebenfalls sehr professionell!

Die Sendung hatte vermutlich wie bisher eine hohe Einschaltquote. Hervorzuheben ist u.a. der Vortrag eines nicht ganz unbekannten Mitwirkenden namens Bernd Stelter, begleitet von dem deutsch-ukrainischen Konzertviolinisten Aleksey Semenenko, der zu dem Vortrag von Stelter eine Kadenz, wie man in der musikalischen Fachsprache sagt, von bahnbrechender Virtuosität darbot. Stelters Gesangstext dazu war ganz unprätentiös: "Du hast nicht vier, drei, zwei, du hast nur ein (!) verdammtes Leben ... ." Und man verspürte - insgesamt wohl durch die spezifische Verquickung von Text und Melodieführung bei aller sprachinhaltlichen Simplizität des Dargebotenen - recht intensiv, wie sehr hier aufs Ganze gesehen doch Frohsinn und Melancholie eng beieinanderliegen. Diese Ambivalenz beider Gefühlsdispositionen ließ sich nicht verdrängen, gerade wenn man sich insgesamt dessen bewusst war und sich auch weiterhin darüber im Klaren ist, dass karnevalistischer Trubel derzeit auf dem Boden einer von Krieg und Zerstörung geprägten, von Not, Elend und Verzweiflung gezeichneten Weltlage stattfindet. Die Koinzidenz von beidem ist einerseits schrecklich, andererseits realistisch. Gibt es nicht die recht simple, dabei durchaus zutreffende und insofern keinesfalls dumme, vielmehr der Lebensrealität aufmerksam abgewonnene Floskel, so möchte man fragen, hier in ihrer umgangssprachlichen Qualität: Je schlimmer die Zeiten, desto größer das "Remmidemmi"? Eine simple, wohl aber doch zutreffende Feststellung, die uns daran erinnert, dass "Frohsinn und Melancholie", "Lachen und Weinen" - die tragenden Ausdrucksformen menschlicher Gefühle - gar nicht mal so selten, eher wohl häufiger, als man denkt, eng beieinanderliegen. Und genauso auch hier in unserer tiefgründig von Einsturz und Abgrund bedrohten Gegenwart und Zukunft, um es ein wenig ebenso pathetisch wie pessimistisch in Worte zu kleiden, mit "Jubel, Trubel, Heiterkeit" auf ihrer Oberfläche, auf der Seite ihrer Darstellungskunst nach außen…



Michael Pleister, d. 22.02.2023
Leserkritiken: Music von Angela Schanelec /Berlinale
Music was my first love...and it will be the last (John Miles/1976)
Mindestens einmal im Jahr sitzt man auf der Berlinale in seinem Kinosessel und fragt sich, wie konnte das passieren, wie bekam dieser Film den Ritterschlag eines Wettbewerbsbeitrages. Die Regisseurin Angela Schanelec ist keine Unbekannte, man könnte auch sagen Wiederholungstäterin. Bereits 2019 nahm sie mit ihrem Film: „Ich war zu Hause aber...“, teil und ließ viele fragende Gesichter zurück, nahm zu allem Überfluss auch noch einen Regiepreis mit.
Was ist das Markenzeichen der Professorin für bildende Künste. Sie erzählt keine Geschichten und sie zeigt auch keine. Ihr neuer Film ist wortkarg, in der ersten Viertelstunde werden nur drei Wörter besser noch Worte gesprochen, es sind ausschließlich Vornamen von Mitwirkenden. Während des Gefängnisaufenthalten nehmen die Laute zwar zu, jedoch überwiegend in musikalischer Form (aha, ein Hinweis auf den Titel!) beginnend bei Barock-Musik und endend mit moderneren Singer-Songwriter Klängen.
Der Film ist abgehackt in Sequenzen, die übergangslos aufeinander folgen. Es beginnt irgendwo in der griechischen Natur, dann folgen Szenen aus dem Gefängnis, wo sich der Hauptdarsteller wieder findet, er muss der Protagonist sein, denn er ist der einzige der aus der Anfangsszene wieder auftaucht und auch auch als einziger in allen folgenden Abschnitten wieder auftauchen wird. Dann folgen Bilder in der Wohnung der Gefängniswärterin, die anschließend als seine Gattin mit ihm zu ihren Eltern aufbricht. Nach ihrem Selbstmord treffen wir Jonathan/Ion/John mit seiner Tochter in Berlin wieder.
Wie nähert man sich einem solchen Film, bzw. wie trifft man vorab seine Entscheidung, sich diesen überhaupt anzuschauen. Es bleibt erst mal nichts anderes übrig als die karge Ankündigung im Programmheft,die zu allem Überfluss auch noch künstlerisch verquast ist. „Der Mythos des Ödipus, führt uns...bis ins heute.“ Hier fängt schon das erste Problem an. Fragt man die Menschen, was sie über Ödipus wissen, kommt als erstes: Der Inzest mit der Mutter, dann noch die Tötung des Vaters, und von Beleseneren das Ausstechen der Augen. Bei Schanelec geht es aber nur um die wunden Füße, die irgendwann auch keine Rolle mehr spielen, sei es dank der Gefängniswärterin, die ihm Salbe besorgt, oder sei es, dass die Regisseurin ihre wenig tragende Idee vergessen bzw. über Bord geworfen hat.
Weiter schreibt das Programmheft: „Ein Film als Rätsel, Spiegel. Traum, Puzzle...“ Alles schön und gut, aber dem Zuschauern müssen doch wenigstens, sprachliche und/oder bildliche Andeutungen, Hinweise oder „Hilfestellungen“ anderer Art an die Hand gegeben werden. Nichts davon bietet die Regisseurin an. Weiter heißt es: „Nüchtern, blutig, barock. Und elliptisch in Perfektion“. Lassen wir alles einmal so stehen und konzentrieren uns auf den Begriff elliptisch. Eine Beschreibung, die sich ,zufällig oder eher wahrscheinlich nicht, in jeder Filmkritik Platz findet. In der Kunst versteht man darunter eine Inszenierung, die mit Suggestion an die Vorstellungskraft des Zuschauers appelliert. Ein Erzählmoment wird dem Zuschauer vorenthalten jedoch nicht die Geschehnisse davor und danach. In diesem Gestrüpp verheddert sich das Werk und wird zunehmend unansehnlich.
Ein Film, der einen dazu nötigt, sich zu Hause hinzusetzen, um nach Quellen und Deutungen zu forschen, kann kein guter sein. Ein Film, der einen im Kino nicht mitnimmt, egal ob positiv oder negativ, hat in einem Wettbewerb kein Existenzberechtigung.
Uwe Fischer
Leser*innenkritik: The Last Word, Berlin
"The Last Word" von Anna Narinskaya, Regie: Maxim Didenko, Gorki Theater, Berlin

Der Gerichtssaal sei der letzte Ort in Russland, an dem Kritik noch frei und unzensiert geäußert werden kann, sagte Anna Narinskaya (Journalistin, Dokumentarfilmerin und Ausstellungskuratorin) über ihre Collage aus Stimmen verurteilter Frauen, die im Studio des Gorki Theaters gezeigt wird.

Die meisten Namen kennen nur Insider*innen, sie stehen im Schatten der prominenteren Fälle von Kirill Serebrennikow und „Pussy Riot“. Letztere bilden auch den Höhepunkt des knapp einstündigen Abends. Alisa Khazanova, die mittlerweile in London lebt, brüllt sich die Punkrock-Songs der russischen Gruppe aus der Seele und performt den Schlussappell von Maria Aljochina und Nadezhda Tolokonnikova: ihre Verurteilung wegen Blasphemie im Jahr 2012 war eines der ersten Warnsignale für eine noch autoritärere Linie in Russland, nachdem Dmitiri Medwedews Präsidentschaft immerhin einige Spurenelemente von Liberalisierung aufwies.

Zuvor stellte Khazanova Szene für Szene die letzten Worte im Gerichtssaal vieler weiterer Protagonistinnen vor, deren Namen an die Gaze-Wand projiziert wurde. Maxim Didenko, der wie Narinskaya seit vergangenem Jahr im Berliner Exil lebt, hat die politische Dokumentartheater-Collage eingerichtet. Khazanovas Studiobühnen-Partner Valentin Tszin krümmt sich zu den Erzählungen von Repression und Gewalt am Boden.

„The Last Word“ ist ein kurzer, eindringlicher Kommentar zur aktuellen Lage in Russland und feierte am 30. Dezember Premiere im Studio des Gorki Theaters. An zwei Abenden war das Stück dort in dieser Woche wieder zu erleben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/06/the-last-word-gorki-theater-kritik/
Leser*innenkritiken: Anthropos Ex (Machina), Berlin
Anthropos Ex (Machina). Theater.Musik.Performance Art, Brotfabrik, Berlin (Theater.Macht.Staat / Regie des Stücks: Sonja Keßner)

„Leider sind wir damit nicht ganz fertig geworden“: Dieser Satz von Sonjas Keßner steht am Ende dieses Abends, aber eben auch nicht. Ein Triptychon aus Theaterstück, Konzert und performativer Installation sollte Anthropos Ex (Machina) sein, zurPremiere stehen aber nur die ersten beiden Teile. Vom dritten gibt es Fragmente: eine Rauminstallation mit den ausgedruckten texten, die darin verarbeitetet werden sollten und ein einzelner Film aus der geplanten Arbeit, die baldmöglichst separat nachgeholt werden soll, vorgeführt lange nach dem offiziellen Ende im Raum der Premierenparty. Hier endet nichts, hier wird nur pausiert, folgt auf die (fertige?) Kunst der Teaser, der nicht teil des Ganzen ist aber eben auch doch. Das passt zum Abend, zeichnet er sich doch nicht nur in seiner Gesamtheit, sondern auch in seinen Teilen, durch Unvollendetheit aus, den Charme – und mitunter die Nervigkeit – des Skizzierten, des noch nicht zu Ende Gedachten.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2023/03/25/unfertige-zukunft/
Leser*innenkritiken: StEcHeN uNd stErBen, Berlin
was ich finde - StEcHeN uNd stErBen zeigt - es gibt keine Regel wie etwas zu sein hat - wir können uns alle darüber hinwegsetzen und es unterlaufen - (ich meine natürlich nicht Gewalt und irgendwelche anderen fiesen Sachen)
der Text ist eine Schwimmleine - zum Springen von dem einem Schwimmkörperdonut zu dem nächsten -
(wer will - es müssen nicht alle) -
dazwischen ist eine Schnur und darum sind da die Pausen -
alle Beteiligten plus Text und Sprache sind mutig - und aufrichtig und nicht zynisch
Menschen auf Sprach-Luftkissen in einer anderen Ebene -
Die Sprache und die Pausen schärfen mein Gehirn -
die Hinterbühne wird schön -
die Pause, bevor die Bücher auf dem Bett unter der Decke erwähnt werden für das Stipendium für die Dissertation -
überhaupt die Pausen finde ich super -
das Gefühl der Spielenden -
der Parcours am Ende und das Suchspiel

Berlin, Volksbühne
StEcHeN uNd stErBen
Bäckerei Harmony - Martha Mechow, Leonie Jenning
Franz Beil, Brigitte Cuvelier, Judith Gailer, Ann Göbel, Milan Herms, Jan Koslowski, Gigi Spelsberg
Toni Montgomery, Nina von Mechow, Leonard Neumann, Charlotte Brandhorst, Toni Mosebach, Hans Broich, Bastian Gascho, Vanessa Unzalu Troya
Leser*innenkritiken: Kein Schiff wird kommen, Rendsburg
Am Samstag hatte „Kein Schiff wird kommen“ von Nis-Momme Stockmann in der Inszenierung von Finja Jens Premiere am SHL in Rendsburg. Damit setzt das SHL seine Stückreihe mit Lokalbezug fort; denn „Kein Schiff wird kommen“ spielt auf Föhr und Nis-Momme ist gebürtiger Friese. Im Alter von 28 Jahren schrieb er das Stück als Auftragswerk für das Stuttgarter Theater, wo es 2010 uraufgeführt wurde.
Finja Jens inszeniert das Stück als Kammerspiel im kleinen Haus. Die Bühne (V. Hegemann) besteht aus einem metallenen Oval, dessen Innenraum durch graue Vorhänge verschlossen wird und die Enge des Raumes physisch erfahrbar macht. Als Schattenspiel wird zu Beginn die Beziehung der Eltern gezeigt. Finja Jens lässt drei Personen agieren: den Sohn (S.R. Scholz), den Vater (R. Schleberger) und die Mutter (F. Pasch), um die Story auf dem Theater zu erzählen. Jeder der mal auf Föhr war, weiß, dass wenn die letzte Fähre weg ist, kein Schiff kommen wird, bis zum nächsten Morgen. Man kann der Insel nicht entrinnen und der Sohn kann seiner Vergangenheit nicht entkommen und damit sind wir im Thema.
Der Autor (Sohn) soll, ein Stück über die Wende schreiben. Ein nachhaltiges Drama, das auf dem Markt „Theater“ seine Abnehmer finden und Profit generieren soll. Aber ihm fehlt der Bezug zum Mauerfall, denn er war ein Kind, nicht in Berlin, fernab von den politischen Ereignissen, auf der Insel Föhr. Dorthin kehrt der Autor zurück, um seinen Vater zu interviewen für Material zu einem großen Drama zur Wende, das Intendanten, Dramaturgen und Lektoren von ihm erwarten. Unerwartet und schmerzhaft stößt er dabei auf sein eigenes Drama, auf die verdrängte Erinnerung an seine Mutter, deren Wahnsinn und Sterben, was die Politik jener Zeit überschattete. Finja Jens gelingt es diesem vielschichtigen, monologisch strukturierten Text überraschende Frische und komödiantische Züge zu verleihen, was insbesondere dem ersten Teil des Stückes Leichtigkeit verschafft. Herrlich die Szenen zwischen Sohn und Vater, wo der erwachsene Sohn, dem ewigen Kindsein nicht entkommen kann, obwohl der klugscheißende Sohn aus dem hippen Berlin sich dem bodenständigen Vater haushoch überlegen fühlt. Vater (Schleberger) und Sohn (Scholz) reden viel, reden aneinander vorbei, missverstehen sich oder schweigen gar – Fluch der Kommunikation zwischen den Generationen. Die Mutter (Pasch) als integrierender Gegenpart mit emotionalem Verständnis für den Sohn. Im Laufe der Inszenierung wird es ernster und das Stück nähert sich unweigerlich dem verdrängten Familientrauma, dem Wahnsinn der Mutter, ihr Wegsperren durch den Vater und ihr Sterben, ob durch Mord oder Selbstmord bleibt der Wahrnehmung des Zuschauers überlassen. Die Vorhänge am Oval werden von Scholz Stück für Stück abgerissen und symbolisieren, wie der Autor seiner verdrängten Vergangenheit immer näherkommt. S.R. Scholz meistert nicht nur die Unmengen Text, sondern stürzt sich mit Bravour in die unterschiedlichen Emotionen – aggressiv, ernst, nachdenklich, still, trotzig, verzweifelt - des Sohnes, sowie distanziertes, monologisches Reflektieren des Geschehenen als Autor. Scholz gibt dem Abend das Gesicht, er zieht das Publikum in den Bann, was Schleberger und Pasch flankierend unterstützen und verstärken. Gelungen auch der Part, wo der Vater seinen Sohn kritisiert für das Familiendrama über seine Mutter. Wie kann man das Leid anderer Menschen ausnutzen, um Profit und Erfolg zu generieren. Das Stück verbindet die Ebenen der Wende, des Vater-Sohn-Verhältnisses, dem Trauma des Todes der Mutter, die Selbstzweifel des Autors sowie die Kritik am Markt „Theater“, der Texte und Menschen teils mit ökonomischem Zynismus verbraucht. All dies hat das Ensemble in Teamarbeit mit Finja Jens beeindruckend auf die Bühne gezaubert, ohne in Kitschmomente abzugleiten, indem man sich einem natürlichen Spiel verschrieben hat und den Konflikten feinsinnig, entdeckend nachgegangen ist. Merci & Chapeau.
Leser*innenkritik: Der Kirschgarten (SHL, FL)
Tschechow, Arzt und Liberaler, glaubte an den Fortschritt und war überzeugt das gesellschaftliche Veränderungen, positive Änderungen für die Menschheit bringen. Sein Kirschgarten ist die satirische Demontage des Mythos von „der guten alten Zeit“ und der Unvereinbarkeit der alten und neuen Zeit. Der Kirschgarten als Symbol todgeweihter Schönheit. Stehen nicht auch wir 2023 erneut an einer Zeitenwende, die durch den Raubbau an unserem Planeten mittlerweile zu einer Bedrohung unserer Existenz geworden ist, da wir auf bestem Wege sind unsere Erde zu vernichten, getrieben durch unstillbare Profitgier? Das Stück spielt um 1900 auf einem russischen Landgut, das von einem prächtigen Kirschgarten umgeben ist. Der Garten bringt aber keine Erträge mehr und symbolisiert so den Niedergang des russischen Adels, der für die Gesellschaft keinen Nutzen mehr hat. Die prächtigen Kostüme der Inszenierung (Marc Weeger) haben nur noch dekorative Funktion und symbolisieren das vermeintlich Schöne. Es ist die Story des verarmten Adels, der die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, bis die Wirklichkeit sie einholt. Heute wie vor hundert Jahren zerfällt unsere Welt unaufhaltsam und wir wollen es nicht wahrhaben, da die Erinnerungen an „die gute alte Zeit“ zu schön scheinen. Während die Ranjewskaja (K. Winkler) diesen sentimentalen Erinnerungen nachhängt und eine Zwangsversteigerung des Gutes unabwendbar wird, plant die nächste (letzte) Generation bereits die neue Zeit. Das Gegenbild, zu dieser maroden, die Zeit ignorierenden Aristokratie, ist Lopachin (T. Wild), der vorschlägt den Kirschgarten abzuholzen, um Datschen für Städter auf dem Land zu bauen und Profit zu generieren. Hendrik Müller nimmt Tschechow beim Wort und inszeniert den Kirschgarten als Komödie. Er sucht das Komische in den 12 Personen des Stückes und stellt dies holzschnittartig bis hin zur Farce und Groteske auf die Bühne. Dies verdeutlicht z.B. Dunjascha (N.F. Maak) mittels übertriebener Gesten und eckigen, verharrenden Bewegungsabläufen oder Charlotta (F. Ströbel) durch manieristisches Verhalten. Dieser Kirschgarten ist nicht die filigrane Komik des Menschenfreundes Tschechow sondernd die demaskierende, entlarvende Komik eines Georges Feydeaus. Auch das Bühnenbild (Weeger) verweigert sich der Kirschgartenromantik und naturalistischen Elementen im Sinne Stanislawskis. Weegers Bühne erinnert mehr an eine Varieté-Bühne mit seinen Podesten und Lichtreifen, wie an Bilder von Toulouse-Lautrec. Müller inszeniert eine Karikatur der Gesellschaft, die die Realität ignoriert und in ihrer unbekümmerten Arroganz kläglich zu Grunde geht. Müller hält uns einen Spiegel vor, der beim genauen Hinschauen verdeutlicht auf welchem Vulkan wir tanzen und wenn wir nicht handeln, statt zu lamentieren, dann hat die letzte Generation die Apokalypse eingeläutet, was möglichweise die Glocke vom Bühnenhimmel verdeutlicht. Im 3. und 4. Akt wandelt sich Müllers Regie von der Komödie zur Tragikomödie, was ich gelungen finde, da es auf diese Weise, das Komische nicht verlässt, aber der politischen Brisanz des Textes und den Schicksalen der Personen gerecht wird. Lopachin hat den Garten gekauft, das Geld der neuen Zeit hat triumphiert und hinter der Larmoyanz des Adels lauert die Gefühlskälte des Geldes. Über den Geist einer glücklichen neuen Zeit wird viel lamentiert, er kommt aber nie zum Vorschein. Das Ensemble spielt in Hochform und es ist eigentlich nicht angemessen einzelne Personen besonders zu erwähnen. Dennoch möchte ich Tom Wild als herausragenden Lopachin erwähnen, und Karin Winkler als mondäne Lady Ranjewskaja. Alle geben Ihren Rollen ein eigenes Gesicht und sorgen so für herrliche Kabinettstückchen menschlichen Handelns und sind somit die Garanten für diesen komischen bis tragikomischen Tschechow. Merci & Chapeau!a
Leser*innen-Kritik: Theatertreffen der Jugend 2023
Theatertreffen der Jugend 2023 begeistert mit „ERWIN OLAF RE: WORKS“ von der Oberstufentheatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums in Haar. Diese Performance ist außergewöhnlich, da sie mit eigenwilligen Ideen und sensationeller Kreativität neue Maßstäbe im Theater mit Jugendlichen setzt. Ausgangspunkt sind Arbeiten des Foto- und Videokünstlers Erwin Olaf (NL), die auf die Bühnenrückwand und Monitore projiziert werden. Das Publikum wird eingeladen sich zu diesen Bildern Gedanken zu machen und die Gruppe setzt eigene Bilderwelten auf der Bühne dagegen. Der Abend besteht aus einer Folge assoziativer, szenischer Bilder, die zusätzliche Resonanzräume eröffnen und verzaubern. Dieser Besuch einer Ausstellung ist neuartig, da er zwischen den projizierten Kunstwerken und den Bearbeitungen der Darsteller auf der Bühne Neuentdeckungen beim Zuschauer erweckt. Die weiße Kleidung der Akteure wird im Licht der Projektionen selbst zur Projektionsfläche. Durch ihre Aktionen kommentieren, doppeln und kontrastieren sie die Bilderwelt Erwin Olafs und verführen das Publikum sich intensiver mit dieser Kunst zu befassen. Das fantastische dieser Bilder möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Zunächst eine leere Blechtonne auf der Bühne, dann ein Darsteller und eine Darstellerin in der Tonne. Da denkt man schnell an Becketts „Endspiel“ was sich im absurden Dialog und den silbrigen Wurmgestalten mit viel Humor fortsetzt. Im Spiel wird zum intellektuellen Zugang auch noch der körperliche Zugang zur Kunst Erwin Olafs vermittelt. Folgen Sie dem Rat der Mitspielerin, verlassen Sie die passive Rolle des Zuschauers, lehnen Sie sich aufmerksam nach vorn und machen Sie sich den Weg nach Ihren Bedeutungen für diese Bilder. Auch das Bild mit der Kapitulation ist überraschend! Die Gruppe zeigt zum Schluss den „Rot Front Gruß“ und schreit Kapitulation. Das Ende ist ruhig und ausklingend mit einem Bild von Erwin Olaf. Wer Zeit hat, sollte sich auf der Mediathek der Berliner Festspiele diese Produktion bis zum 30. Mai anschauen. Sensationell – BRAVO – MERCI – CHAPEAU!!!
Leser*innenkritik: "Ode", ATT Berlin
"Ode" von Thomas Melle, Regie: Rafael Sanchez, Schauspiel Köln-Gastspiel ATT Berlin

Als Lesedrama ist Melles „Ode“ anregend, es auf die Bühne zu bringen, ist jedoch eine Herausforderung, mit der schon Lilja Rupprecht bei der DT-Uraufführung 2019 zu kämpfen hatte: sie entschied sich, den Text mit einem Overkill an Theatermitteln, Videoschnipseln, Tomatenwürfen und Farb-Klecksen zu beballern. Dennoch franste der Abend an einigen Stellen aus.

Weniger hochtourig inszenierte Rafael Sanchez, Hausregisseur am Schauspiel Köln, die dortige „Ode“-Inszenierung, die im September 2021 herauskam. Er setzt auf eine szenische Folge von kleinen Karikaturen-Tableaus, zu denen sich das Team aus vier langjährigen Ensemble-Mitgliedern und drei Nachwuchs-Spieler*innen, die mit dieser Produktion ihr erstes Engagement antraten, immer wieder neu formiert.

Für die Neuinszenierung bestellte das Schauspiel Köln bei Melle noch einen vierten Teil. Dieser Epilog, „Delirium“ überschrieben, ließ die Dramaturgin und den Regisseur ratlos zurück, wie sie beim Einführungsgespräch berichteten: Tapfer müht sich das Ensemble dennoch durch die 15 Minuten, die ohne sinnvolle Verbindung zum Rest als klamaukiger Nachklapp einen ohnehin langen Abend nur unnötig in die Länge ziehen.

Beim Heidelberger Stückemarkt wurde die Kölner „Ode“ mit dem Nachspielpreis ausgezeichnet: eine überraschende Entscheidung, denn in den drei Hauptteilen findet diese Arbeit keinen originellen Ansatz, der über die Uraufführung hinausginge, und der vierte Teil steht wie ein überflüssiger Fremdkörper im Raum.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/05/06/ode-schauspiel-koln-kritik/
Leserkritiken: Rio-König von Deutschland, SHL
Die UA von „RIO – König von Deutschland“ nach Motiven von „Rio Reiser – Mein Name ist Mensch“ der Autoren F.L. Schröder und G. Möbius in der Regie von Moritz Peters ging am SHL in Rendsburg glanzvoll über die Bühne. Peters inszeniert das Stück als musikalische Politcollage mit Bezügen zu heutigen Klimaaktivisten und postkapitalistischen Gesellschaftsalternativen. Er teilt die Story in zwei Teile: die „Ton Steine Scherben“ (TSS) Zeit bis zur Pause und anschließend die Solo-Karriere Rio Reisers. Peters interessiert primär nicht die biographische Collage Rio Reisers, sondernd die Frage, was transportierte die Musik Reisers in Bezug auf gesellschaftliche Missstände und persönliche Erfahrungen und welche Bedeutung hat seine Musik in unserer Zeit. Peters inszeniert seinen Rio postdramatisch, indem er soziale Themen (Homosexualität, Liebe) und gesellschaftliche Ereignisse der 60iger und 70iger Jahre (Hausbesetzungen, Kommunen, Drogen, RAF) in Bezug zu aktuellen Themen mit vergleichbaren Bezügen setzt (RWE, Hambacher Forst) und reflektiert so auf Problemstellungen unserer Zeit. TSS machten kompromisslose deutsche Rockmusik mit radikalen, anarchistischen Parolen die gesellschaftliche Sprengkraft hatten (Keine Macht für Niemand; Macht kaputt was Euch kaputt macht) und von den gesellschafts-politischen Strömungen der Zeit genutzt wurden. Peters arbeitet geschickt mit Filmmaterial aus damaliger Zeit (Demonstration während des Schah-Besuches 1967 und Ausschreitungen bis zur Ermordung von B. Ohnesorg) und verbindet dies mit TSS-Songs, um die Kraft der Musik erfahrbar zu machen. Der zweite Teil befasst sich mit der Solo-Karriere Reisers und seiner verletzlichen, empfindsamen Seite „Mein Ziel ist die Liebe, … kein Panzer kann mich so beschützen wie die Liebe, …“. Rio gerät in die Maschinerie einer marketing orientierten Musikbranche, die ihn bis auf die Knochen aussaugt. In dieser Zeit entstehen Hits wie „König von Deutschland“ und „Junimond“. Peters lässt den „König von Deutschland“ mit dem Originaltext und anschließend mit einem Text heutiger Zeitbezüge von den Klimaaktivisten singen. Reisers Musik ist top aktuell – Musik ist eine Waffe. Die Stärken des Abends sind zwei Komponenten: erstens, dass die Biografie Reisers gut mit politischen Ereignissen der Zeit und aktuellen Themen verflochten sind und zweitens die klug gewählten Songs, die die verschiedenen Seiten Reisers Persönlichkeit wieder spiegeln und auch in unserer Zeit gesellschaftspolitisch aktuell sind. Der aufrüttelnde „Agitrock“ der frühen Jahre bis zum poetischen Spätwerk zeigen die Vielfalt des Musikers Rio Reisers und wie Musik gesellschaftspolitische und persönliche Geschicke befeuern und reflektieren kann. Besonders starke Eindrücke hinterlassen „Der Traum ist aus“ und „Junimond“ von Reiner Schleberger, Menschenfresser von Gregor Imkamp und „Halt Dich an Deiner Liebe fest“ von Tom Wild. Aaron Rafael Schridde als Rio überzeugt am stärksten mit den Liedern „König von Deutschland“ und „Der Krieg“. Natürlich fehlen nicht Lieder wie „Macht kaputt was euch kaputt macht“, „Keine Macht für niemand“, „Rauch-Haus-Song“, die mit der erforderlichen musikalischen kämpferischen Macht dargeboten wurden. Karin Winkler liefert eine gelungene Parodie auf Claudia Roth, die Managerin von TSS war, bevor sie zu den Grünen ging. Fridtjof Bundel arrangiert die Musik durchaus Reiser gerecht, erreicht aber nicht die Härte des TSS-Rocks, der von amerikanischem Blues und Rock beeinflusst war, insbesondere wenn es um Gitarrensoli von Lanrue geht. Die Lieder der Solo-Karriere Rio Reisers sind musikalisch authentischer, da sie dem musikalischen Mainstream eher entsprechen. „Rio – König von Deutschland“ ist kein Agitprop-Theater sondernd eine musikalische Politcollage, die zeigt, wie Musik unsere Gesellschaft beeinflusst und reflektiert. Regie, Musik und Ensemble haben einen sehenswerten Rio Reiser kreiert, der mit dem Schlussbild eine Hommage an Rio Reiser ist.
Leser*innenkritik: Eröffnung Gezi Ten Years After, Berlin
"Gezi Ten Years After"-Festival, Gorki Theater, Berlin

Der 6. Berliner Herbstsalon des Gorki Theaters mit zahlreichen Ausstellungen, Diskussionen und Performances steht ganz im Zeichen der politischen Lage in der Türkei und startete gestern mitten im lange ersehnten Frühling mit einem Prolog. Der Grund dafür sind zwei Daten: das zehnte Jubiläum der Gezi-Proteste, als sich erstmals breiter Protest gegen die zunehmend autoritäre Herrschaft von Staatspräsident Erdogan formierte, und natürlich die Stichwahl an diesem Wochenende, in die Erdogan trotz der gemeinsamen Mobilisierung der Opposition als Favorit geht.

Das „Gezi Ten Years After“-Festival eröffnete gestern mit einem Panel, auf dem Peter Steudtner und Deniz Yücel, die beide vor einigen Jahren in der Türkei inhaftiert waren, saßen, zum Abschluss des Tages legte „Gegen die Wand“-Regisseur Fatih Akin als DJ auf.

Am frühen Abend hallten laute Schreie über den Vorplatz des Gorki-Studios. Eine größere Menschenmenge drängte sich in dem abgesperrten Bereich bis zum Deutschen Historischen Museum, der israelische Regisseur Omer Krieger und sein Team performten „Eviction“, eine „Public Action“, die Polizeigewalt, Verdrängung und Entmietung thematisiert. Realistisch stellen die Künstler*innen die Auseinandersetzungen zwischen Aktivist*innen und Polizeikräften nach: Nebelschwaden, Hilferufe, Stunt-Performances, Verfolgungsjagden, das Publikum immer mittendrin. Im vergangenen September wurde „Eviction“ beim Israel Festival in Jerusalem uraufgeführt und war nun ans Gorki eingeladen. Mit dieser eindrucksvollen, immersiven Kunstaktion bewies das kuratorische Team des Festivals ein glückliches Händchen: im Gegensatz zu den kleineren Aktionen auf dem Vorplatz im Rahmenprogramm des Theatertreffens war dieses Event nicht zu übersehen und zog interessierte Passant*innen an.

Drinnen auf der Studiobühne folgte später „Alles wird schön sein.“, ein kleiner, nur knapp einstündiger Liederabend des langjährigen Hausregisseurs Hakan Savaş Mican: in der Rahmenhandlung stellt sich Taner Sahintürk als krebskranker Mann vor, der für die Geburt seines Sohnes ein Mixtape aufnimmt. So will er seinem Sohn, den er wohl nie kennenlernen wird, in Erinnerung bleiben.

In edler Garderobe haben sich Emre Aksızoğlu (Gorki-Ensemblemitglied am Keyboard) und die beiden Musiker*innen Peer Neumann und Merve Akyildiz neben ihm aufgereiht. Während in der ersten Hälfte deutsche Songs von Roberto Blancos Schlagern bis Rio Reisers „König von Deutschland“, die B-Seite stand dann ganz im Zeichen melancholischer türkischer Musik, zu der Sahintürks Figur jeweils kurze Hintergrundgeschichten lieferte. Die kleine Studioproduktion „Alles wird schön sein.“ kam aber doch nicht über eine Liederabend-Fingerübung hinaus.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/05/27/eviction-alles-wird-schoen-sein/
Leserkritik: Dirk und ich, DT Berlin
"Dirk und ich" von und mit Marcel Kohler, Box des DT Berlin

Der Titel klingt wie ein kleines Projekt für Basketball-Fans, nach einer persönlichen Hommage an den NBA-Superstar Dirk Nowitzki. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen: das Projekt „Dirk und ich“, das Marcel Kohler und sein Team erarbeitet haben, ist ein überraschender, radikal ehrlicher Abend, der weit über den engen Kreis der DAZN-Sportfreaks hinaus Relevanz hat.

Im März 2018 war es, als sich Daniela Löffners „Sommergäste“ nebenan auf der großen Bühne des Deutschen Theaters schier endlos in die Länge zog. Im Stil ihres Lehrmeisters Jürgen Gosch waren die Spieler*innen die ganze Zeit über präsent, bis Marcel Kohler plötzlich auf der Bühne zusammenbrach und die Klinik gefahren werden musste. Die Vorstellung wurde natürlich abgebrochen. Nach meiner Erinnerung aber war es - anders als Kohler berichtet - Anja Schneider und nicht Alexander Khuon, die das Publikum verabschiedete und einlud, für eine Folgevorstellung wiederzukommen.

Diese reale Situation, die ich live miterlebt habe, ist der Aufhänger dieses Solo-Projekts von Kohler, der über die Monate einer existentiellen Lebenskrise spricht: über seine Todesängste, über seinen Körper, der plötzlich nicht mehr mitspielt, über seine Selbstzweifel und Zwangsgedanken. Der Superstar Nowitzki, der damals kurz vor dem Ende seiner Karriere stand, war es, der ihm Halt gab.

Wie deckungsgleich die Bühenfigur mit dem Menschen Marcel Kohler ist, muss natürlich dahinstehen und geht uns als Publikum nichts an, aber die schonungslose Offenheit, mit der Kohler hier über psychische Ausnahmesituationen berichtet, ist beeindruckend.

Es handelt sich auch keinewegs um eine reine Selbstmitleid-Suada, sondern eine dramturgisch mit David Heiligers, der Ulrich Khuon nach Zürich begleiten wird, sehr präzise durchdachte Arbeit, die komische Momente, Publikumsansprache, Popsongs und von Linn Reusse vom Band eingesprochene Fachliteratur geschickt verzahnt.

Jede der 10 Arbeiten, die beim Theatertreffen gezeigt wird, steht für ein ganzes Arsenal ähnlicher Inszenierungen, betonte Jurorin Valeria Heintges heute bei der tt-Abschlussdiskussion. „Dirk und ich“ fällt aus diesem Rahmen: Die Radikalität dieses 90minütigen Projekts auf der kleinsten Spielstätte des DT Berlin hebt sich deutlich von den üblichen Seherfahrungen der vergangenen Monate und Jahre ab. Am ehesten lassen sich vielleicht noch die frühen Yael Ronen-Arbeiten am Gorki Theater mit diesem Abend vergleichen, auch sie unterscheiden sich aber von „Dirk und ich“ darin, dass sie ihre autofiktionalen Elemente viel deutlicher markierten und noch stärker auf comic relief setzten.

Bemerkenswert ist an „Dirk und ich“ allein schon, dass es kaum Vergleichbares gibt. Bis zum Wechsel der Intendanz am DT Berlin steht der Abend nur noch drei Mal auf dem Spielplan.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/05/29/dirk-und-ich-marcel-kohler-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leser*innenkritik: Phädra, in Flammen, BE
"Phädra in Flammen" von Nino Haratischwili, Regie: Nanouk Leopold, Koproduktion Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen

Dies ist eindeutig der Abend von Constanze Becker. Wie auf ihren Leib geschrieben scheint diese Phädra-Adaption, die Nino Haratischwili während eines BE-Dramatiker:innen-Fonds-Stipendiums in der vergangenen Spielzeit erdacht hat.

Diese Phädra ist eine Urgewalt, ganz in der Tradition von Beckers Klytemnästra in der „Orestie“, ihrer Medea oder ihrer Penthesilea, all ihrer berühmten Rollen in den wuchtigen antiken Tragödien von Michael Thalheimer. In den vergangenen Jahren verschwand sie am Berliner Ensemble oft in der zweiten Rolle, war häufig in Rollen zu sehen, die zu leichtgewichtig waren und sie zu unterfordern schienen. Stefanie Reinsperger, die vor einem Jahr in einer „Phädra“-Bearbeitung über die kleinere Bühne im Neuen Haus tobte, war stärker präsent, ist aber nicht mehr Ensemble-Mitglied, sondern gastiert künftig nur noch am Schiffbauerdamm.

„Phädra, in Flammen“ ist also eine Art Comeback dieser großen Schauspielerin, die alle Register ihres Könnens ziehen darf. Eingesperrt zwischen drei Stellwände (Bühne: Elsje de Brujin), auf die Videos und Standbilder voller Tristesse projiziert werden (Video: Daan Emmen), kauert Beckers Phädra am Boden und schleudert die Wut auf ihre unglückliche Ehe mit Theseus heraus (Oliver Kraushaar als Karikatur toxischer Männlichkeit, halbnackt brüllend und ins Bärenfell gewickelt).

Eine Stärke des Textes der deutsch-georgischen Autorin Haratischwili ist, dass sie mit den Sprachebenen jongliert. Der hohe Tragödien-Ton der Weltschmerz-Klage schlägt häufig um in Alltags- und Gossensprache, mit der Beckers Phädra ihre ganze Verachtung über ihre mediokre Umgebung hinrotzt. Wie sie ihre spätere Geliebte Persea (Lili Epply) bei einer der ersten Begegnungen mit einem höhnischen „Überschätz Dich nicht, Mäuschen“ auflaufen lässt, oder die verächtlich heruntergezogenen Mundwinkel in späteren Szenen machen diese Rolle von Constanze Becker auf der kleinen Bühne zu einem der Höhepunkte der zu Ende gehenden Spielzeit am BE.

Jenseits von Becker lässt der Abend wenig Raum, ihr Sohn Demophon (Maximilian Diehle) ist ebenso Karikatur wie Kraushaars Theseus. Zum stärksten Gegenspieler der Phädra wird der Tempelherr Panopeus (Paul Herwig), der als orthodoxer Fundamentalist und eiskalter Strippenzieher die Liebe zwischen Phädra und Persea zerstört und letztere als Menschenopfer auf dem Scheiterhaufen verbrennen lässt. Laut Programmheft hatte Haratischwili die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Pride-Aktivist*innen und Kirche/Regierung in ihrer georgischen Heimat vor Augen. Wie zerrissen das Land zwischen Ost und West, Demokratie und Autoritarismus ist, wurde im Februar/März bei der Eskalation der Proteste gegen das sogenannte „Agentengesetz“ deutlich und auch beim „Medea“-Radar Ost-Gastspiel thematisiert.

Haratischwilis Überschreibung erreicht natürlich nicht die Komplexität ihrer dicken, preisgekrönten Romane, die Jette Steckel mehrfach am Thalia Theater adaptiert hat. Ihre „Phädra, in Flammen“ ist eine typische Überschreibung, die vom Mythos nur Spuren-Elemente lässt und mit der scheiternden lesbischen Emanzipation eine neue Geschichte erzählt. Zum Auftakt ihrer Antiken-Trilogie, die nächste Spielzeit ein paar Meter weiter in der DT-Kammer mit einer von ihr selbst zweisprachig (deutsch/georgisch) inszenierten „Penthesilea“-Überschreibung weitergehen wird, wie sie am Donnerstag im Gespräch mit der neuen Intendantin Iris Laufenberg berichtete, bleibt das antike Setting im Gegensatz zu radikaleren Überschreibungen erhalten (Kostüme von Wojciech Dziedzic, Namen der Figuren).


Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/03/phadra-in-flammen-nino-haratischwili-berliner-ensemble-kritik/
Leser*innenkritik: Die Bagage, Studiotheater Stuttgart
Ich kann mich nicht erinnern, dass mich eine Theateraufführung derart angefasst hat wie »Die Bagage« von Monika Helfer im Studiotheater Stuttgart. Vielleicht lag es an der Handlung mit ihrem realen Kern, vielleicht an den zwei erstklassigen Schauspielerinnen Gundi-Anna Schick und Nathalie Imboden und dem erstaunlichen erst 11 jährigen Schauspieler Elias Widmann, vielleicht auch der intimen Atmosphäre des Studiotheaters, dem intelligenten Bühnenbild oder dem perfekten Zusammenspiel all dieser Teile.

In kaum einem anderen Theater ist man so nahe an den Akteuren. Als Zuschauer spürt man ihren Atem, sieht ihnen 'direkt ins Augeninnere', hört selbst die feinsten Nuancen und in der ersten Reihe sitzt man mehr oder weniger fast selbst mit auf der Bühne.

Beide Schauspielerinnen verkörpern mehrere Rollen, männliche und weibliche. Die Übergänge zwischen den Rollen geschehen fast fließend und in beeindruckender Körpersprache. Requisiten, die normalerweise dem Zuschauer die Rollenwechsel anzeigen sind kaum nötig. Gundi-Anna Schick und Nathalie Imboden gelingt es, eine intensive Aura zu erzeugen, die uns Zuschauer einschließt und ins Geschehen mitnimmt.

Für gerade mal 14 Euro bekommt man Kunst vom Feinsten im intimem Ambiente einer Privatvorstellung. Das Studiotheater ist ein unglaublich wertvoller Gewinn für die Stuttgarter Theaterszene. Ganz großes Theater im Kleinen, großen Respekt und großes Kompliment allen Beteiligten.
Leser*innenkritik: Achtsam Morden (SHL, Schleswig)
In der Forsa-Umfrage des Liz Mohn Centers der Bertelsmann-Stiftung sprachen sich 76% der Befragten dafür aus, dass Theater weiterhin mit Steuergeldern finanziert werden. 82% waren der Meinung, dass Theater zu Deutschlands kultureller Identität gehören und 91% sagten, dass die Angebote der Theater erhalten bleiben sollen. 43% der Befragten unter 30 finden, dass die Theater zu wenig Produktionen für diese Altersgruppe anbieten. Wünsche an die Theater waren soziale Eintrittspreise (89%), spezielle Kinder- und Jugendstücke (85%) sowie humorvolle Stücke (83%), was besonders häufig als "sehr wichtig" oder "wichtig" genannt wurde.

Seit dem 15. Oktober 2022 steht das Stück „Achtsam Morden“ bis heute vor ständig ausverkauftem Haus auf dem Spielplan des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters. Karsten Dusse, Autor und Rechtsanwalt, schreibt seit Jahren für Comedy-Serien wie „Ladykracher“. Sein Romandebüt „Achtsam Morden“ erschien 2018 und führte fast ein Jahr lang die Bestsellerliste an. Sonja Streifinger inszeniert „Achtsam Morden“ von K. Dusse in der Bearbeitung von Bernd Schmidt als Kriminalkomödie, in der drei Schauspieler*in (Lucie Oldenburger, Dennis Habermehl und Gregor Imkamp) in fünfzehn verschiedenen Rollen diesen Krimi in einer rasanten Fassung mit überbordender Spielfreude auf die Bühne bringen. Staranwalt Björn Diemel (G. Imkamp) besucht ein Achtsamkeits-Seminar, um seine aus den Fugen geratene Work-Life-Balance wieder herzustellen und setzt die Ratschläge des Coaches konsequent um. Er nimmt eine Auszeit - ein Wochenende am See mit seiner Tochter - ohne an Arbeit zu denken. Er ist so konsequent, dass er seinen Mandanten, den Mafiaboss Dragan, den er auf dem Weg zum See in seinem Kofferraum versteckt hatte, total vergisst. Am Ende des Wochenendes ist Diemel tiefenentspannt – und Dragan tot. Ganz im Sinne seiner neuen Lebensphilosophie macht Diemel das Beste aus der Situation, etliche Morde nach allen Regeln der Achtsamkeit. Das Geheimnis des Erfolges dieser Inszenierung sind die kurzen Szenen mit immer neuen Rollen, die von nur drei Personen gespielt werden. Es ist ein göttliches Vergnügen L. Oldenburger und D. Habermehl dabei zuzuschauen, wie sie ständig neue Charaktere verkörpern und mit ihrer Spielfreude ein Feuerwerk der Schauspielkunst entfalten. Komödie vom Feinsten. G. Imkamp als Staranwalt Diemel fasziniert mit seinem sonoren Sprachgestus, der etwas Besonderes und Unverwechselbares ist. Tempo und originelle Texte sind dann weitere Sahnehäubchen in dieser turbulenten Krimikomödie. Im Gegensatz dazu, das triste Bühnenbild (M. Apelt): 2 Türen, 6 Stühle und ein Flip-Board, alles in Grau, nur belebt durch eine rote Fußleiste und eine rote Bordüre zur Decke. Auch die Kostüme der drei Darsteller*in nur tristes Grau. In diesem trostlosen Bühnenraum entfacht sich das Feuer der Schauspieler*in besonders kontrastreich. „Achtsam Morden“ eine Komödie über bewusste und entschleunigte Morde, ein längst fälliger Schulterschluss zwischen Achtsamkeitsratgeber und Krimi, vor allem aber eine originelle, spritzige Komödie, die das Publikum begeistert und wie nach jeder Vorstellung zu frenetischem Applaus führt.

Mit dieser Inszenierung trifft das SHL den Geschmack insbesondere des jüngeren Publikums und erkennt den Trend der Zeit, wie die Forsa-Umfrage zeigt. Auch mit vier Theaterpädagoginnen ist das SHL den Wünschen des Publikums gerecht geworden, nach mehr Kinder- und Jugendtheater und für soziale Preisgestaltung könnte das Land mehr Gelder in die Theater investieren. Merci & Chapeau!
Leserkritik: "Die Vielleichtsager", Berliner Ensemble
"Die Vielleichtsager" von Alexander Eisenach, Berliner Ensemble

Zwischen Musical, sehr freier Brecht-Bearbeitung, tagesaktuellem Polit-Kommentar und Sci-Fi-Klimakrisen-Drama versuchte sich Alexander Eisenach mit „Die Vielleichtsager“ im Neuen Haus des Berliner Ensembles an seinem ganz eigenen Genre.

Von Brechts Lehrstück „Der Jasager und der Neinsager“ bleibt immerhin das Grundgerüst: das Trio (Malick Bauer, Lili Epply, Peter Moltzen) begibt sich auf unterschiedliche Missionen. Wie beim Ahnherrn des Theaters am Schiffbauerdamm willigt Malick Bauer ein, dass die anderen ihn einfach zurücklassen. Er ist bereit, sich fürs Kollektiv zu opfern. Im nächsten Durchgang stemmt sich Lili Epply mit einem Nein dagegen und pocht auf ihre Individualität.

Ansonsten ist von Brechts Original nur wenig geblieben, interessanterweise schimmert allerdings das Nō-Theater-Stück Tanikō aus dem 15. Jahrhundert, von dem sich Elisabeth Hauptmann, Kurt Weill und Bertolt Brecht für ihre Neuköllner Schuloper 1930 inspirieren ließen, in den traditionellen Gewändern (Kostüm: Julia Wassner) der Protagonist*innen, in der Bühnen-Verkleidung (Daniel Wollenzin) und im hohen, pathetischen Ton deutlich in Eisenachs Bearbeitung durch.

Nach und nach blättern der Duktus und die Ornamente, in einer Art Taucheranzug macht sich das Trio im letzten Drittel auf eine Expedition zu den Riesenkraken. Die Slapstick-Momente, die den hohen Ton schon zuvor immer wieder durchbrachen und ironisierten, nehmen nun überhand, allerdings zum Glück nie so stark wie in Eisenachs „Stunde der Hochstapler – das Krull-Prinzip“, die 2019 vollends in der Klamotte versank.

Während der erste Teil noch ganz unmittelbar an die tagesaktuellen Diskussionen aus dem Herbst 2022 andockte, als Politik und Gesellschaft zitterten, ob es gelingen werde, Wohnungen, Fabriken und Theater im Winter mit Gas zu versorgen, driften die beiden nächsten Teile mehr und mehr in Richtung Fantasy. Auf dem Mars und in der Tiefsee sollen neue Lebensräume erkundet werden, nachdem die Menschheit den Planeten Erde zugrunde gerichtet hat, wie Eisenach bereits in seiner Volksbühnen-Inszenierung „Anthropos, Tyrann“ thematsierte, die im Corona-Lockdown Anfang 2021 nur als Stream gezeigt werden konnte.

Unvermittelt endet dieses von Song-Einlagen abgetrennte Gedankenexperiment-Triptychon. Eine runde Inszenierung glückte Eisenach aus diesen zu verschiedenen Versatzstücken leider nicht. Kurz vor Spielzeitende hatten „Die Vielleichtsager“ heute ihre Dernière. Den Regisseur zieht es ein paar hundert Meter weiter hinüber ans Deutsche Theater Berlin, wo er die Eröffnungs-Inszenierung der Intendanz von Iris Laufenberg stemmen muss.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/11/die-vielleichtsager-berliner-ensemble-theater-kritik/
Leserkritik: Strawinsky, Staatsballett Berlin
"Strawinsky", Staatsballett Berlin, mit "Petruschka" von Marco Goecke und "Das Frühlingsopfer" von Pina Bausch.

Mit einem kraftvollen, energiegeladenen Strawinsky-Doppelabend lässt das Staatsballett diese Interims-Spielzeit ausklingen, bevor Christian Spuck die Intendanz übernimmt.

Im unverkennbaren Marco Goecke-Stil zappeln und zucken die Ensemble-Mitglieder um „Petruschka“, eine Puppe auf dem Jahrmarkt. Im Februar war eine Premieren-Besprechung von FAZ-Tanzexpertin Wiebke Hüster der Auslöser für einen Eklat. Der Choreograph ärgerte sich so sehr über einige Formulierungen, in denen Hüster kritisierte, warum sie mit seinem Stil wenig anfangen kann, dass er ihr im Foyer während der Pause Hundekot ins Gesicht schmierte.

Einige Häuser beendeten die Zusammenarbeit mit Goecke, einem der gefragtesten und erfolgreichsten Choreographen der vergangenen Jahre. Die Berliner Interims-Intendantin Christiane Theobald hielt an dem Plan fest, Goeckes Zürcher „Petruschka“-Choreographie von 2016 im Juni in Berlin zur Aufführung zu bringen. Die Einstudierung übernahm allerdings Nicole Kohlmann.

Mit der Puppe im Zentrum der Jahrmarkt-Szenerie passt Strawinskys „Petruschka“ sehr gut zu den abgehackten Goecke-Bewegungen, die Signatur seines Stils sind. Im wie üblich sehr ausführlichen Programmheft beleuchtet die finnische Tanzhistorikerin Hanna Järvinen die weiteren Schwierigkeiten, die dieses Stück aus dem Jahr 1911 bei den Proben aufwarf. Die Figur des „Mohren“ mit ihren rassistischen Stereotypen und die Tradition des Black-Facing sind im Jahr 2023 nicht mehr vermittelbar, deswegen spielt er in der sehr abstrakten Choreographie von Goecke keine Rolle mehr.

Nach Verhandlungen mit der Pina Bausch Foundation gelang es dem Staatsballett, die Rechte am Wuppertaler Meisterwerk „Das Frühlingsopfer“ (1975) zu bekommen. Auf dem Torfmull, der in der Pause hereingekarrt wurde, wird jeder Schritt zur Belastung. Die Frauen des Ensembles werden zu den aufwühlenden Strawinsky-Klängen von ihren männlichen Kollegen verfolgt und in die Ecke gedrängt. Diese Choreographie eines sehr archaischen Geschlechterkampfs wurde von der Japanerin Azusa Seyama-Prioville einstudiert und von Tänzer*innen aus der Uraufführung begleitet.

Sichtlich mitgenommen von dieser strapaziösen Doppel-Choreographie wurde das Staatsballett gefeiert. Nach den drei Vorstellungen in dieser Woche folgen nur noch zwei bereits ausverkaufte Abende in der Staatsoper, in der kommenden Spielzeit ist keine Strawinsky-Wiederaufnahme geplant.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/17/strawinsky-staatsballett-berlin-kritik/
Leserkritik: Jugendclub-Projekte, SHL
Die Spielzeit 2022/23 neigt sich dem Ende und die Theaterjugendclubs (TJCs) des SHLs präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit. Die vier Theaterpädagoginnen des SHLs haben mit interessierten Jugendlichen in Flensburg, Rendsburg und Schleswig jeweils ein Stück auf die Bretter, die die Welt bedeuten, gebracht. Alle Stücke wurden von den Teilnehmern der einzelnen TJCs entwickelt und befassen sich mit Themen und Fragen, die sich die Jugendlichen stellen.
In Flensburg „Eine Olympische Odyssee“. 12 weibliche Jugendliche als griechische Götter verkleidet, wollen zur Generalprobe ihres Theaterstückes. Doch es kommt alles anders als geplant. Gefangen im Probenraum beginnen sie darüber nachzudenken, was ihr Götterleben ausmacht. Es ist verdammt menschlich: Umweltkatastrophen, Elternabende, Gemeindeversammlungen, Gerichtsverhandlungen, Liebe, Eifersucht, Leben und Tod. Die Götter beherrschen das Chaos genauso, wie wir Menschen. Götter sind halt auch keine besseren Menschen. Das beeindruckendste Element dieser Produktion sind die ästhetisch arrangierten Tableaus. Ein weiterer starker ästhetischer Moment ist das Tanz-Solo der Athene. Schauspielerisch beschränkt sich die Inszenierung meist auf sehr statisches rezitieren des Textes, was sich leider nur im letzten Viertel der Inszenierung etwas ändert. Masae Nomura (Leiterin der Theaterpädagogik) hat meiner Ansicht nach durch die Vielzahl ästhetischer Tableaus, das dialogische Spiel der Jugendlichen etwas ausgebremst, wodurch das Projekt leider recht statisch wirkte. In Schleswig den „CIRCULUS VITIOSUS“. Die Geschichte spielt im Mittelalter und im heute. Ein Alchemist, der vor einer großen wissenschaftlichen Entdeckung steht, geht den Bund mit dem Teufel ein und verliert dabei sein Herz. Auch Theo ein Junge im heute wird vom Teufel umgarnt und in die Sekte des „Circulus vitiosus“. Doch bevor er den Kontrakt unterzeichnet und auch er sein Herz verliert, retten ihn seine Freunde. Die Stärke dieser Arbeit liegt in dem Plot, das Laura Huber alle Rollen mal von allen Teilnehmern*innen spielen lässt, dadurch werden die Figuren farbiger und interessanter. Weiter überzeugt die Arbeit durch die sehr kurzen aber klar strukturierten Szenen. Allerdings hätte ich auf Gesang und Tanz verzichtet, da hier deutliche Schwächen zu Tage traten, die ich den Akteuren*innen gerne erspart hätte. Doch die Spielfreude aller Beteiligten war deutlich zu spüren. In Rendsburg „MAABY“. Tja, wer oder was ist Maaby? Das wüssten die drei Mädels auch gern, die sich plötzlich im Mittelalter wiederfinden, statt ihr Geschichtsreferat vorzubereiten. Verzweifelt versuchen sie Maaby zu finden, um wieder in die Gegenwart zu gelangen, was schwierig ist, denn im Mittelalter ist einiges los. Maaby ist die Geschichte eines Zwerges, der zwischen den Zeiten wandert, über die Verfolgung lesbischer Hexen, den Freiheitskampf der rebellischen Prinzessin und eines Prinzen, der nicht heiraten will, da er lieber mit seinem Freund zusammenlebt. Len Binsack inszeniert mit 14 Jugendlichen eine Story zu Themen wie Diversity, Gender, Integration und Selbstbestimmung. Das fantastische dieses Projektes ist, dass die Jugendlichen ein weites Spektrum an Diversität bereits durch Alter, Muttersprache, Ethnizität und Verschiedenheit körperlicher und geistiger Eigenschaften vereinen. Len Binsack hat es großartig vermocht, diese Verschiedenheit der Projektteilnehmer*innen zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. In diesem Projekt war, im besten Sinne theaterpädagogischer Arbeit, der Weg das Ziel. Das SHL hat mit seiner starken theaterpädagogischen Abteilung beeindruckend gezeigt, mit welcher Spielfreude Jugendliche einen Entwicklungsprozess in Bezug auf erfolgreiche Teamarbeit spielerisch mit allen Sinnen erfahrbar machen. Nach diesen Präsentationen kann man das SHL beglückwünschen, das es konsequent auf Jugendarbeit setzt und diese in Zukunft weiterhin fördert. Möge die Kulturpolitik diese Qualität erkennen und stärker finanziell fördern.
Leserkritik: No Milk Today, Satrup
Es (war) ist einmal ein kleiner Ort (Satrup) in Angeln, da machten sich 12 Jugendliche des Bernstorff-Gymnasiums auf den Weg um die Bretter, die die Welt bedeuten, zu suchen. Vorbei an Kühen in Halbtrauer kamen sie auf die Idee: Mit einem Theaterstück aus der Provinz zum Broadway. „No Milk Today“ von Herman's Hermits, war die Initialzündung und nach 9 Monaten war alles fertig. Zwei Nachbarn, die eines Tages keine Milch mehr geliefert bekommen und der Sache auf den Grund gehen wollen sind der Ausgangspunkt der Story. Schon am Einlass der erste Plot. Ich erhielt eine Ausreisegenehmigung des Staates Lactasiens, die am Saaleingang von bewaffneten Grenzposten kontrolliert wurde, bevor ich den Saal betreten durfte. Es begann live mit dem Ohrwurm „No Milk Today“. Auf der Bühne erscheint ein Zeitungsjunge mit Kopfhörern, der begeistert seine Musik hört und Zeitungen im American Style (lässiger Wurf über die Schulter) verteilt, ihm entgegen kommt ein Jogger. Fantastische Körperarbeit ohne einen Ton und es folgt der Milchmann, der seine Milchtüten ausliefert. Nun erwachen die Nachbarn, begrüßen sich und ziehen mit Zeitung und Milch ab. Die erste Szene wiederholt sich in gleicher Weise aber mit neuen Bewegungsmustern und der Milchmann bringt diesmal Milchtonnen. Die Nachbarn erwachen und das Begrüßungsritual wiederholt sich, diesmal aber mit einer herrlichen Slapstick Nummer mit den Milchtonnen, großartig durchdacht und super choreographiert. Dieses Spiel wiederholt sich ein drittes Mal, mit der Überraschung, dass der Zeitungsjunge beim zweiten Zeitungswurf den Jogger trifft und diesmal gibt es keine Milch. Die beiden Nachbarn beschließen der Sache auf den Grund zu gehen. Nun wird es crazy. Im Vatikan begegnen wir Statuen mit verhangenen Genitalien, einer Riege Mönche, die sich mit leeren Milchtüten geißeln, indem sie diese ständig zwischen der Liturgie sich vor den Kopf knallen oder die Demo gegen den Pilotenstreik, da sie keine Milch für ihren Kaffee haben. Fliegen nur für Fliegen lautet der Kampfruf der Demonstranten und auch das Kleben der letzten Generation wird in einer gelungenen Choreografie mit Sinn für britischen Humor erspielt. Doch weiter geht es mit einem klassischen Duell zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern im Kampf um die Milch. High Noon Atmosphäre auf der Bühne (Spiel mir das Lied vom Tod). Die Kontrahenten bringen sich in Position und dann Ching-Chang-Chung mit Brunnen zur Überraschung der Arbeiter. Die Mächtigen haben die Arbeiter mal wieder übers Ohr gehauen. Das fantastische an dieser Inszenierung ist, wie sich die Jugendlichen an Themen unserer Zeit (Migration, Klimakrise, Kapitalismus, uneingeschränktes Wachstum, Ressourcenknappheit etc.) immer unter dem Aspekt „No Milk Today“ abarbeiten, mit feinsinnigem, oft hintersinnigem Humor, britisch like. Ein weiterer Leckerbissen ist die ironische Szene des Henkers, der die unterschiedlichen Strickvarianten präsentiert für einen einmaligen Tod. Die Gesellschaftskritik geht immer ironisch subkutan und zeigt wie überlegt jede Szene gearbeitet wurde. Auch der Song „Alles wird gut“ ist der Hammer. Ständig berichtet der Song über die Katastrophen unserer Zeit aber am Ende jeder Zeile wird alles gut. Dieser Song geht unter die Haut. Dann der Epilog, indem uns vor Augen gehalten wird, dass wir auf einer Wendeltreppe ständig nach höherem (MEHR) streben und dabei unsere Welt und wir haben nur eine vernichten. Es schließt mit den Anfangsszenen, nur das diesmal die Zeitung ausbleibt und dann ertönt der Song „No News Today“ und Black-out. Ich habe selten so beeindruckendes Schultheater gesehen und ich verstehe, wenn diese Stücke mit ersten Preisen für Darstellendes Spiel belohnt werden. Ein Tipp! Eine Reise nach Satrup lohnt sich! Schultheater vom Feinsten.
Leserkritik: Alias Anastasius, BE
"Alias Anastasius" von Matter*Verse, Regie: Fritzi Wartenberg, Berliner Ensemble Werkraum

An eine genderfluide Person aus dem 17. Jahrhundert nähert sich die Werkraum-Inszenierung „Alias Anastasius“ in der Nachwuchsreihe „WORX“ des Berliner Ensembles an: Catharina Margaretha Linck soll in einer Art gelebtem Schelmenroman ihren Namen und ihre Identität mehrfach gewechselt haben: nach ihrer Kindheit im Waisenhaus war sie den Quellen zu Folge als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel als Prophet und später als Musketier im spanischen Erbfolgekrieg quer durch Europa unterwegs. Nach ihrer Desertion heiratete sie eine Frau in Halberstadt und wurde schließlich wegen „Sodomiterey“ verhaftet und hingerichtet.

Auf einem Flokati-Teppich im kleinen Bühnenrund wechselt das Duo Max Gindorff/Via Jikeli häufig die Rollen, mal sind sie Catharina/Anastasius, mal die Stützen der männlichen Gesellschaft, die sich von der Protagonistin angegriffen fühlen. Der Text, den das Duo Matter*Verse für diese Auftragsarbeit geschrieben hat, lässt viel Raum für Komik und Spielfreude. Gindorff stottert sich durch die Plädoyers vor Gericht, voller Abscheu und Ekel bekommt seine Figur die Lederdildo-Details der Anklage kaum heraus. Die Facetten toxischer Männlichkeit überzeichnet Via Jikeli, als sie Gindorff mit vorgehaltener Knarre rekrutiert und mit Saufgelage-Initiationsriten in den soldatischen Männerbund aufnimmt, während Gindorff vor Entdeckung der genderfluiden Identität zittert.

„Alias Anastasius“ ist nach „The Writer“ die zweite Regie-Arbeit der Österreicherin Fritzi Wartenberg, die im März im Rahmen des WORX-Nachwuchsprogramms für die kleinste Spielstätte des BE entstand.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/18/alias-anastasius-berliner-ensemble-kritik/
Leserkritik: Marina Otero, Fuck me, Berlin
"Fuck me" von Marina Otero im HAU 1, "Protagonistas"-Festival

Erstmals in Deutschland war in dieser Woche „Fuck me“ der argentinischen Radikalperformerin Marina Otero zu erleben. Sie stützt sich im Zentrum der Bühne ab, klagt, wie sehr ihr zerschundener Körper leidet, und macht sich einen Spaß daraus, die fünf nackten Performer über die Bühne zu scheuchen.

In den kurzen Verschnaufpausen, die sie ihnen gönnt, spielt sie Video-Material ihrer früheren Posen ein, die sie dann prompt von ihren Tänzern reenacten lässt. Eine satirische Abrechnung mit den toxischen Milieus, in denen Otero aufwuchs, der Militärdiktatur in Argentinien und dem Drill der Tanz-Welt mit ihren #metoo-Abgründen, will dieser 70 Minuten kurze Abend sein. Otero richtet den Schmerz, den sie selbst erlitten hat, gegen andere. Sehr plakativ und demonstrativ zugespitzt ist ihr Gestus.

Das HAU labelt das Gastspiel unter dem “¡PROTAGONISTAS! Resistance Feminisms Revolution”-Festival, das in dieser Woche stattfindet und von Ulrich Seidlers in der Berliner Zeitung erhobenem Antisemitismus-Vorwurf gegen eine andere Performance überschattet ist. Mit Florentina Holzinger verglich er Oteros Stil, wie Cousinen wirken die beiden tatsächlich. Sie sind schmerzfrei und konfrontativ, Holzinger taucht aber noch wesentlich anspielungsreicher in die Mythen ein, treibt Exzess und Stunts noch viel weiter auf die Spitze und feiert bombastisches Spektakel. Otero würde ich deshalb eher auf halber Strecke zwischen Mette Ingvartsen, deren Idee, dass sich die Performer im Publikum ausziehen und auf die Bühne kommen, sie zitiert, und Florentina Holzinger verorten.

Dass ihr Lamento über die malträtierten Knochen, die so kaputt sind, nur satirischer Fake war, demonstriert sie ganz zum Schluss: die Männer durften sich zum Schlussapplaus anziehen und in der Garderobe verschwinden, sie dreht nun selbst nackt schier endlose Runden über die Bühne und den sich leerenden Saal. Am Wochenende folgt im HAU 3 noch das Solo-Projekt „Love me“ von Marina Otero.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/23/fuck-me-marina-otero-hau-kritik/
Leserkritik: Bonusmaterial, Berlin
Die Veranstaltung im Roten Salon der Volksbühne hat es wirklich in sich. Im Guten, wie auch im Schlechten. Da stellen sich regelmäßig zwei Künstlerinnen, Anaïs Urban und Leonie Jenning, auf die Bühne und lassen dem Zufall knapp zwei Stunden freien Lauf. Nicht mit voller Gewissheit lässt sich sagen, was geplant ist und was aus Versehen passiert.
In jeder Folge sind immer zwei InterviewpartnerInnen zu Gast, die mehr mit dem Publikum gemein haben, als mit den hiesigen ExpertInnen, die normalerweise in solchen Formaten zu Wort kommen. Die Agenda bei dem Format "Bonusmaterial" ist, so könnte man meinen - die Bühne kann jede erobern, die/der/das etwas zu sagen hat. Künstlerisch richtig gut gelungen finde ich an dem Format die Entspanntheit von Anaïs Urban und Leonie Jenning, auch in Momenten, die sicher nicht geplant waren, deren Erscheinung aber grundsätzlich gewollt sein muss. Also ein lässiger Umgang mit dem Zufall und eine neue Form, in der dem Publikum die Möglichkeit zur Selbstorganisation zugestanden wird. (Konsequent auch im Sinne der Teilchenphysik - also deren künstlerischen Umsetzung).
Vergangenen Montag war ich wieder da, diesmal bei der Kinderspezialausgabe - tatsächlich sehr buchstäblich. Das war wirklich sehr beeindruckend, denn auch hier wurde wieder einmal unter Beweis gestellt, dass ca. 9-jährige Kinder eine Show dieser Größenordnung mit links handeln können. Die Interviews mit einer Hackerin und einer Künstlichen Intelligenz auf einem Smartphone waren kurz. Das ist interessant. Was können Erwachsene daraus lernen? Was ist nützlich, was ist nicht nützlich an Künstlicher Intelligenz und an Hackerinnen?Man konnte einen Eindruck gewinnen, worum es den Kids an ihrem Elternabend ging: allen zu zeigen, dass sie auch ohne Erwachsene eine inhaltsvolle und amüsante Show auf die Beine stellen können. Ihnen auch zu zeigen, was sie interessiert und was nicht. Wohin das Auge reichte, waren Kinder zu sehen. Alle technischen Positionen (Licht, Ton, Video, Nebel) waren besetzt mit Kindern, die so aussahen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.
Bonusmaterial ist bisher wirklich jedes Mal ein Erlebnis. Eine emotionale Achterbahnfahrt: Man weiß nie, was einen erwartet, weder von sich selbst noch von den Gastgeberinnen des Abends.

Bonusmaterial im Roten Salon
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Von und mit :
Leonie Jenning, Ananis Urban, Kerstin Grassmann
und Lilith Klaus
Mein Leben in Aspik, DT Berlin: Verwirrspiel
"Mein Leben in Aspik", nach dem Roman von Steven Uhly in einer Fassung von Friederike Drews, Deutsches Theater Berlin Box

Als Verwirrspiel hat Steven Uhly seinen Debütroman angelegt, der bereits 2010 erschien und vor allem von Florian Illies in der ZEIT gefeiert wurde. Ständig neue, immer aberwitzigere Volten schlägt der Familien-Trauma-Selbstfindungs-Trip der Hauptfigur, die aus dem Kreuzberger Mauer-Biotop der 1980er auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblickt.

Neben der Oma mit ihren Giftmord-Phantasien kommen von Inzest und Pornographie bis NS-Zwangsarbeit diverse, sich gegenseitig widersprechende, falsche Fährten auslegende Geschichten dieser Familie zu Wort. Für eine Bühnen-Bearbeitung drängt sich dieser Roman jedoch nicht auf.

13 Jahre nach dem Erscheinen des Buchs wagte sich Friederike Drews, Regieassistentin am Deutschen Theater Berlin, für eine ihrer ersten Arbeiten in der Box an diesen Stoff. Zwei Spieler*innen, beide nur zu Gast am DT, aber mit langer Erfahrung an anderen Häusern, teilen sich die zahlreichen Rollen und switchen zwischen den Figuren. Der Verwirrspiel-Charakter des Stoffs wird damit noch zusätzlich betont, das Regie-Konzept lässt dem Duo Simon Brusis/Susanne Jansen wenig Raum für eigene Akzente.

Im Frühjahr war „Mein Leben in Aspik“ zum „Radikal jung“-Festival ans Münchner Volkstheater eingeladen, gestern fand in der Box am vorletzten Abend von Ulrich Khuons Intendanz parallel zu den Promi-Abschiedsreden die Dernière auf der kleinsten Bühne statt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/07/01/mein-leben-in-aspik-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: Bürgertheater, SHL in RD/FL
Nicht nur die Jugendclubs des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters präsentieren die Ergebnisse Ihrer Spielzeitarbeit auch die Erwachsenen, wie die Raum-Stadt-Spieler in Rendsburg und das Mehrgenerationen-Projekt in Flensburg. Die Raum-Stadt-Spieler seit mehr als einem Jahrzehnt in Rendsburg aktiv, brachten dieses Jahr „Frag doch Babette oder: Jeder tickt anders“ in der Regie von K. Springborn (Schauspielerin/Regisseurin) auf die Straße und die Bretter, die die Welt bedeuten. Der Name der Gruppe „Raum-Stadt-Spieler“ ist „Omen“.

Das Spiel beginnt vor dem Theater, geht eventuell über einige Stationen in der Stadt und endet im Theater. „Frag doch Babette“ ist die Story dreier Schwestern und ihrer Familien. Alle haben ein anderes Zeitverständnis: Maria kommt immer zu spät, Olaf hat nie Zeit, Thea lebt ihren Terminkalender, Amelie geht alles zu schnell und Babette hat angeblich immer Zeit! Weiterhin gibt es den Digital-Freak Matteos, Leonie die „Unsterbliche“, die von Kryokonservierung träumt und Alexa, die jegliche Digitalität verweigert. Dieses Setting verspricht eine Menge an komischen Konflikten. Kern der Story ist, dass alle Babette ausnutzen, weil sie ihnen allen hilft, aber keine Hilfe erfährt, wenn sie diese benötigt.

Bewunderung gebührt den Darstellern*innen für ihre Textsicherheit und die perfekten Einsätze aufs Stichwort, was der Aufführung Tempo verleiht. K. Springborn hat mit ihrer Regie die Spielfreude der Akteure befeuert, was man allen anmerkte und eine Qualität in der Arbeit von K. Springborn ist. Mit über zwei Stunden war der Abend recht lang und einige Straffungen hätten sicher gutgetan.

Den Abschluss bildete Flensburg mit „Verschlossene Gesellschaft“ in der Regie von L. Münte (Theaterpädagogin). Acht Personen, acht unterschiedliche Meinungen und der Leidenschaft des Theaterspielens. Diese Amateurtheatergruppe, bestehend aus acht Egozentrikern*innen einigen sich auf das Stück „Peer Gynt“ und mit Probenbeginn fangen die Probleme erst richtig an. Denn Jede*r dieser Gruppe verfolgt eigene Ziele, und eine Premiere steht bei den wenigsten auf der Prioritätenliste. Für alle gilt, heute Amateur, morgen am Broadway.

So geht es auf die Reise durch PEER GYNT zu sich selbst und der Frage: Wer bin ich? Ein Peer Gynt von heute? Mit der Frage, wenn man sich ständig häutet, welcher Kern tritt am Ende zutage? Einer, der sich ständig in neuen Projekten übt und alles wieder stehen lässt, einer, der Großes will und nichts vollendet, ein Getriebener, der sein Leben doch nur aus Versatzstücken des Zeitgeists montiert, um am Ende festzustellen, dass er nur bedeutungsloser Durchschnitt war, keine Singularität. All dies wäre denkbar gewesen. Nein diese verschlossene Gesellschaft war bieder und konservativ, wollte alles bringen und brachte nichts.

Aber unter den Darstellerinnen gab es erfreuliche Lichtblicke, die Leben auf die Bühne brachten und beeindruckend spielten: Stacy, Cecilie und Viktoria. Leider wurde teilweise zu leise und undeutlich gesprochen. Schade diese verschlossene Gesellschaft blieb harmlos und eine Aneinanderreihung von Szenen, denen eine wahre Story fehlte und Peer Gynt fand nur die/der wer seinen Ibsen auch kennt. Die Darsteller*innen wurden aber mit herzlichem Applaus für ihr Spiel belohnt. Die Mehrgenerationenprojekte des SHL sind ein unverzichtbarer Aspekt in der Theaterarbeit und man kann nur hoffen, dass die Stadt-Raum-Spieler unter Katinka Springborn weiter lebendiges Bürgertheater bieten und das Mehrgenerationsprojekt - mit vielleicht etwas Supervising - wieder wachsen kann.
Leserkritik: The Romeo, Tanz im August
"The Romeo" von Trajal Harrell und Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble im Haus der Berliner Festspiele (Tanz im August)

Die Tänzerinnen und Tänzer stehen großteils schon auf der Bühne, während sich die Zuschauerreihen langsam füllen. Sie plaudern entspannt, winken ins Publikum oder halten Small-Talk mit alten Bekannten am Bühnenrand. Das Saallicht bleibt auch noch an, während sie sich nacheinander mit einer charakteristischen Eigenschaft vorstellen. In der kurzen Umbaupause ziehen sie sich zurück, während kleine Flugblätter mit Hintergrundinfos zur Choreographie durch die Reihen gegeben werden: „Stellen Sie sich diesen Tanz vor, den Menschen aller Herkünfte, Geschlechter und Generationen, aller Temperamente und Stimmungen tanzen, wenn sie ihren Tragödien ins Auge blicken und nur noch tanzen.“ Dementsprechend divers ist das Ensemble: neben durchtrainierten, normschönen Modellathleten erleben wir auch übergewichtige Körper.

Von Pink Floyd über Opernarien bis zu sanfter Klaviermusik reicht der Soundtrack für die Bewegungen des Ensembles: Natürlich bietet Harrell die Markenzeichen seines Stils, das elegante Voguing, die Kostüme werden fast im Minutentakt gewechselt und originell kombiniert, erinnern mal an antike Togen, oft sind sie KitKatClub-kompatible, hedonistisch-laszive Kreationen.


Der große Unterschied zu „The Köln Concert“, dem Festival-Highlight des vergangenen Jahres, ist, dass der neue Abend nicht ganz so stringent wirkt. Die Musik und die pandemischen Abstandsregeln gaben damals einen strengen Rahmen vor, den Harrell und sein Ensemble meisterhaft nutzten. „The Romeo“ ist wesentlich freier, statt melancholischer Soli gibt es viele Gruppenszenen, im Mittelteil ballt sich das Ensemble mehrfach zu Trauben, auf dem Catwalk befummeln sie gegenseitig die neuesten Roben, die sie präsentieren. Statt Schmerz und Unsicherheit, die das Stück in der kurzen Zeit zwischen den Corona-Lockdowns prägten, pendelt die neue Arbeit zwischen ironischen kleinen Einlagen und einer schwebenden Traumverlorenheit.

„The Romeo“ stellt die typischen Charakteristika des Harrell-Stils aus und läutet bereits seinen Abschied als Zürcher Hausregisseur ein. Nach dem angekündigten Aus der Intendanz von Nicolas Stemann/Benjamin von Blomberg wird er kommende Spielzeit wie auch seine sieben Kolleginnen und Kollegen eine letzte Premiere erarbeiten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/12/tanz-im-august-2023-festival-kritik/
Leserkritik: Erinnerung eines Mädchens
"Erinnerung eines Mädchens", Schaubühne Berlin, nach dem Roman von Annie Ernaux, Bühnenfassung von Veronika Bachfischer, Sarah Kohm und Elisa Leroy.

Im vergangenen Herbst wurde die französische Schriftstellerin Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Sie wurde bekannt durch die kühl-sezierenden autobiographischen Romane wie „Das Ereignis“ (im Original 2000, auf Deutsch erst 2021) oder „Erinnerung eines Mädchens“ (Original 2016, auf Deutsch 2018). Meist in der dritten Person beschreibt und analysiert die am vergangenen Freitag 83 Jahre alt gewordene Essayistin die Verletzungen, die sie als junge Frau in der konservativ-patriarchalen Gesellschaft der 1950er Jahre erlitten hat. Autobiographische Erinnerungsarbeit und soziologische Gesellschaftsanalyse greifen ineinander, ähnlich wie es das deutsche Lesepublikum von Didier Eribon und Èdouard Louis kennt, die Ernaux als eines ihrer Vorbilder nennen.

In „Erinnerung eines Mädchens“ schildert sie mit dem Abstand mehrerer Jahrzehnte ein Erlebnis im Sommer 1958. In einem Feriencamp war sie als junge Betreuerin dabei und wurde von einem wenige Jahre älteren Chefbetreuer verführt, missbraucht und fallengelassen. Begleitet vom Soundtrack der 1950er Jahre erinnert sich Veronika Bachfischer aus dem Ensemble der Schaubühne an diese einschneidenden Erlebnisse. Auf fast leerer Bühne schildert sie in ihrem 100minütigen Monolog präzise, wie die junge Frau das Eindringen in ihren Körper erlebte.

In der zweiten Hälfte des Abends liegt der Fokus auf den Konsequenzen der kommenden Monate. Als „Nutte“ wird die Protagonistin Annie verhöhnt, in Großbuchstaben schreibt Bachfischer dieses Wort auf die Spiegelwand, die als eines von wenigen Requisiten verwendet wird. Sie stürzt sich in One Night Stands und leidet unter Essstörungen, das Erlebte kann sie lange nicht verarbeiten. Entsprechende Triggerwarnungen zu den expliziten Schilderungen stellte die Schaubühne natürlich auf ihre Website.

Gegen Ende meldet sich aus dem Off ein Chor, zunächst ist nur die unverkennbare Stimme von Ilse Ritter zu hören, weitere Frauen kommen hinzu, es entsteht ein Klangteppich aus feministischem Empowerment von Simone de Beauvoir und anderen. Immer noch allein, aber selbstbewusst steht Bachfischer nun auf der Bühne: der Abend ist in der Gegenwart angekommen, die Autorin Ernaux hat sich den Traumata gestellt und sie literarisch verarbeitet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/04/erinnerung-eines-madchens-schaubuehne-kritik/
Leserkritik: Emotionen, TD
In schon wenigen Jahren wird dieses Gebäude nicht mehr stehen, Stand heute. Ein altes Fernmeldeamt, in der DDR gebaut auf historischem Grund: Hier soll das Klosterviertel neu entstehen, nun ja. Der Theaterdiscounter hat hier seit Jahren Quartier aufgeschlagen, nachdem das noch ältere Fernmeldeamt in der Oranienburger Straße aufwertungsbedingt nicht mehr als Herberge bot, und doch tickt die Uhr. Ein klares, schlichtes, linoleumatmendes Gebäude mit einem hinreißend langen Flur; wie gemacht für freies Spiel.

Der Spielraum kürzer, doch lang für Tiefenstaffelung. Und genau die schichten Christina Berger (die den Text gebar & im Spiel herrlich präsent Text und Herren Paroli bietet), Patrick Wegenroth (Großmeister der leicht-wie-tiefen Verknüpfung von Motiven/Fragmenten/Gedankenlinien) und Matze Kloppe (dem musikalischen Tausendsassa und Performancekatalysator) mit "Emotionen" voll.

"Von der Blase, für die Blase, um die Blase ... zum Zerplatzen zu bringen." führt Wengenroth ein. Fraglich, ob das eingelöst wird. Es geht um die Hetzerei der Gegenwart, es geht um Abgehängtsein und Nichtverstehen. Ein einer Mischung aus faszinierter Perplexität und fragilem Schwermut. Ernie, Tiffy und Grobi haben ihren Auftritt als Bezugspersonen. Ob sie imaginiert sind oder stellvertreten bleibt offen. Ein enger Freund ist gestorben und bringt das Kreisen um die Fragen nach verschiedenen Arten von (gedanklichen? emotionalen? diskursiven?) Abfällen in Gang. Ein ganz subjektiver Blick, der nichts Allgemeines, Dogmatisches behauptet, sondern eher melancholisch staunt.

"Against all odds!" strahlt die Energie wie auch die Songs, die den Text gliedern. Den dreien gelingt eine herausragender Arbeit, die balanciert zwischen Selbstbefragung, der immer impliziten Frage an das Publikum, wie es dort wahrgenommen wird, dem Schwanken zwischen Aufraffen und gemeinsamer heiterer Energie.

Was für ein Abend. Was für ein Wegenroth. Wie er aus dem Moment schöpft, halben Schritt voraus ist und abbiegt oder anhält, uns mitnimmt, das ist bewegend und kaum erreicht! Allein das lohnt; doch der Abend ist mehr. Die Bühne: klug minimal akzentuierend. Wahre Energie aus den Spielenden.

Dem TD ist zu wünschen, dass der Neubau des Klosterviertels seine grandiose Arbeit durch den absehbaren Ortswechselt nicht in Mitleidenschaft zieht. Bravo & Verbeugung an Haus und Produktion!
The Visitors, Berlin: Überzeugend
"The Visitors" von Constanza Macras, Gastspiel Volksbühne

Großen Jubel gab es für das „The Visitors“-Ensemble, das Constanza Macras aus einigen Stammkräften ihrer DorkyPark-Compagnie, Performer*innen und Tänzer*innen vom The Windybrow Arts Centre, Johannesburg und vor allem Kindern und Jugendlichen aus sozialen Projekten im Stadtteil Hillbrow zusammenstellte, mit denen sie schon 2018/19 am Gorki Theater mit "Hillbrowfication" einen Überraschungshit landete.

Von Constanza Macras ist man es gewohnt, dass sie mit den Genres spielt, munter kleine Monologe, Popkultur, Songs und Tanzstile mixt, die oft nur lose um Motive kreisen und Revue-Charakter haben. An diesem bewährten Rezept hält sie fest, legt aber noch ein paar Schippen drauf, so dass die Berliner Kritik von rbb-Kulturradio bis Tagesspiegel stöhnte, wie überfrachtet das alles sei.

Den Auftakt macht eine kurze Spielszene aus Julio Cortázars Erzählung „Das besetzte Haus“, die Macras mit Berichten über Gentrifizierungs- und Entfremdungsprozesse und soziologischen Schnipseln assoziativ kurzschließt. Von Gilles Deleuze und seinem „Anti-Ödipus“ geht es in die Welt der B-Movies und Slasher-Filme. Verfolgungsjagden und Axtmorde werden als Groteske re-enacted, Kino-Hits wie "Halloween" oder "Nope" werden zitiert.

Die Zombies und Monster aus dem Kino, die die Kinder bedrängen, weichen im zweiten Teil des 1 Stunde 45 Minuten langen Abends mehr und mehr den politischen Fehlentwicklungen, die das Leben der Jugendlichen im Würgegriff halten. Von Spätfolgen der Apartheid über die hohe Gewaltkriminalität bis zu Korruption werden viele Probleme der südafrikanischen Gesellschaft sehr plastisch aufgezeigt. Was als munteres Filme-Raten begann, wird zur Polit-Musical-Revue.

Es ist eine Leistung, dass Constanza Macras all die Themen, die sie in dem Abend unterbringt, nicht um die Ohren fliegen. Dramaturgisch könnte manches schlüssiger verknüpft sein, einige assoziative Gedankensprünge drohen die Revue aus der Kurve zu tragen. Aber am Ende fügt sich dieser wilde Genre-Mix zu einem Panorama der aktuelle Probleme der jungen Performer*innen und ist überzeugender als die letzten Volksbühnen-Produktionen "The Future" und "Drama", die stärker um die Kunst- und Popkulturblase kreisten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/24/the-visitors-constanza-macras-volksbuehne-kritik/
Leserkritik: 6. Gorki-Herbstsalon, Berlin
6. Gorki-Herbstsalon "Lost - You Go Slavia"

Der zentrale Programmpunkt zur Eröffnung des 6. Gorki-Herbstsalons musste leider kurzfristig abgesagt werden: Oliver Frljic wollte sich auf der großen Bühne mit dem „Frankenstein“-Mythos auseinandersetzen, doch die Premiere wurde nach einem Trauerfall in der Familie des Regisseurs kurzfristig abgesagt und auf die 2. Spielzeithälfte verschoben.

Zu sehen und erleben gab es beim „Lost – You Go Slavia“-Festival-Auftakt dennoch einiges. Traditionell wird beim Herbstsalon Bildende Kunst in den Räumen des Gorki Theaters und angrenzenden Gebäuden gezeigt. Wegen des schrumpfenden Budgets ist diese Ausstellung, die bis 10. Dezember läuft, nicht mehr so umfangreich wie von früheren Ausgaben gewohnt und konzentriert sich auf zwei Künstlerinnen aus dem postjugoslawischen Roman.

In mehreren Videos dokumentiert die Zenica Trilogie von Danica Dakić die Situation in der ehemaligen Vorzeigestadt der Industrialisierung des sozialistischen Jugoslawien. Die größte Aufmerksamkeit bekommt sicher ihr Video „Vedo“: das Publikum wird auf dem Treppenaufgang zum Theatersaal direkt auf den Jungen zulaufen, der vor dem leeren Hauptbahnhof von Sarajewo ein Partisanenlied singt.

Dokumentarisch ist auch der Ansatz der zweiten Künstlerin, die im Kiosk ausstellt: Milisa Tomić zeigt unter dem Titel Four Faces of Omarska ein Modell dieses Lagers aus den Prozessen des UN-Kriegsverbrechertribunals sowie Landkarten der Fluchtwege und Massaker-Orte.

Statt der Theaterpremiere wurde der Gorki-Saal gestern zum Kino umfunktioniert. Das Highlight der achtteiligen Filmreihe des Herbstsalon-Festivals ist sicher das beklemmende Drama "Quo vadis, Aida?" von Jasmila Žbanić, das 2020 im Venedig-Wettbewerb lief und 2021 drei Europäische Filmpreise gewann. Die bosnische Regisseurin schildert darin die Verzweiflung einer fiktiven Dolmetscherin, die auf dem Gelände der von niederländischen Blauhelmen bewachten UN-Schutzzone vergeblich versucht, ihre Familie vor dem Genozid in Sicherheit zu bringen.

Eine kleine Theater-Performance gab es aber auch schon am Eröffnungsabend: Marina Frenk lud zu einer Doppelvorstellung von "Eine Niere hat doch nichts mit Politik" zu tun. Mit Zitaten gespickt befasst sie sich mit Terror, Justiz-Willkür, Folter und Gewalt. Sie verlässt dafür den postjugoslawischen Raum und befasst sich mit dem postsowjetischen Raum, wo sie 1986 in Chisinau, der Hauptstadt der damaligen sowjetischen Teilrepublik Moldawien, geboren ist.

Mit 90 Minuten ist diese kleine Fingerübung deutlich zu lang geraten. Frenk springt zwischen den Textschnipseln, Video-Installationen und Songs, die sie mit ihrer dreiköpfigen Live-Band "The Disappointalists" performt, hin und her. Zwischendurch setzt sie sich in einen winzigen Käfig, um die Haftbedingungen zu demonstrieren, oder stellt Fragen ans Publikum, das sie an diesem Premierenabend auflaufen ließ.

„Eine Niere hat doch nichts mit Politik zu tun“ spielt auf den Satz einer Gefängnis-Ärztin im Dialog mit einem Hungerstreikenden an und hat sich vorgenommen, die „gespenster des totaliautaripostkommupseudoeurasiismus“, so der Untertitel, auszuloten. Zwischen belesenen Zitaten von Dissidenten und Soziologen und manchen zu albernen Abschweifungen fehlt dieser Produktion noch der dramaturgische Schliff. Die Songs, die zwischen dissonantem Jazz und melancholischer Osteuropa-Folklore pendeln, und ein paar interessante Gedanken aus der Überfülle von Textschnipseln könnten einen sehr guten Grundstock für einen gelungeneren Abend bieten, wenn Frenk und ihr Team ihre Version überarbeiten würden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/29/eine-niere-hat-doch-nichts-mit-politik-zu-tun-6-herbstsalon-lost-you-go-slavia-gorki-kritik/
Leser*innenkritik: Mutter Courage, Schleswig-Holstein
Am Samstag hatte „Mutter Courage und ihre Kinder“ in der Regie von W. Hofmann Premiere am SHL. Brechts „Courage“ entstand im schwedischen Exil auf Grundlage von Grimmelshausens Lebensbeschreibung der Courasche. Er verzichtete 1939 auf eine zeitliche Aktualisierung in Anbetracht des Krieges. Er wollte den Nährboden des Krieges zeigen: Krieg als Geschäft und Gier nach Profit. Das Stück führte zu unterschiedlichen Wahrnehmungen: „Courage“ die Geschichte von der erschütternden Lebenskraft einer Mutter, oder als Lehrstück, um das Volk aus seinem Fatalismus gegen den Krieg zu aktivieren. Brecht antwortete darauf: „Dem Stückeschreiber obliegt es nicht, die Courage am Ende sehend zu machen, ihm kommt es darauf an, dass der Zuschauer sieht.“ Betrachtet man das Plakat des SHL zur „Courage“ (Mutter Courage mit einer riesigen Registrierkasse im Vordergrund) so wird deutlich, dass das Geschäft mit dem Krieg ein zentrales Thema sein wird. Hofmann inszeniert Brecht treu. Er wendet die Gestaltungsmittel des epischen Theaters an, wie z.B. einleitende Zusammenfassungen der Szenen der Erzählerin (A. Kurzeja) vor der „Brecht-Gardine“. Die balladenhaften Songs zur Musik von P. Dessau emotionalisieren das Bühnengeschehen, um den Zuschauer zu erreichen (Verstand & Emotion). Die Lieder sind Glanzpunkte der Inszenierung, wie das Lied vom Weib und dem Soldaten (A.R. Schridde), das Lied vom Fraternisieren (M. Allendorf) in sehr eigenwilliger, beeindruckender Interpretation, das Horenlied (T. Wild) und der Salomon-Song (F. Ströbel). I. Oehlmann interpretiert ihre Lieder eindringlich und aufrüttelnd zum Akkordeon von K. Schnack (Musik: F. Bundel), eine sehenswerte Courage. Die anti-illusionistische Bühne (L. Peter) ist leer und begrenzt durch graue Drehwände, im Zentrum ein Lastendreirad, die Kostüme symbolisieren die Funktionen der Personen (M. Apelt). I. Oehlmann als „Courage“ verkörpert eine Frau, die im Krieg ihren Profit sucht, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Ihr Geschäft hält sie für die Lebensgrundlage, aber es vernichtet ihre Kinder. Hofmann hält seine Courage in der Waage zwischen einer Mutter, die um ihre Kinder besorgt ist und einer Frau, die die Fronten wechselt wie Kleider, alles fürs Geschäft und Profit. Dies bringt I. Oehlmann überzeugend und nicht moralisierend auf die Bühne. Weiter überzeugen T. Wild (Feldprediger) und F. Ströbel (Koch), die in ihren Dialogen, wie These und Anti-These aufeinanderprallen. T. Wild setzt einen Glanzpunkt mit seinem Statement ans Publikum, dass er Massen für den Krieg begeistern kann und F. Ströbel mit seiner Interpretation des Salomon Songs, über Risiken von Menschlichkeit und Tugenden in Kriegszeiten – „beneidenswert, wer frei davon!“. Die Kinder der Courage, Schweizerkas der Redliche (G. Imkamp), Elif, der Mutige (A.R. Schridde) und Kattrin die Gutmütige (A. Kurzeja) bleiben recht farblos, was im Sinne der Regie klug ist. M. Allendorf, D.S. Greis und J. Ohlen tragen ihren Teil zur gelungenen Ensembleleistung bei. Hofmann spitzt die Dramatik und Bedrohlichkeit des Stückes konsequent zu. Beiläufig verliert die Courage Elif an das Militär, während sie eine Gürtelschnalle verkauft. Um das Leben des Schweizerkas feilscht sie um ihren Karren und verliert ihren Sohn und schließlich stirbt Katrin, während sie auf dem Markt Geschäfte macht. Hofmann nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise, um über das Gesehene nachzudenken. Wer Hofmann folgt, kommt zum grausamen Widerspruch von Profit und Tod. Ja solange das Volk (WIR) das Objekt der Politik ist, werden wir die Umstände (Kriege, Unterdrückung, etc.) als Schicksal begreifen und wir lernen nichts aus der Katastrophe, es sei denn wir entdecken die wachsende Kluft zwischen Ansichten (Fake News) und Fakten und erkennen „Verflucht sei der Krieg!“ und die Profitgier der unersättlich Mächtigen. Theater kann, ohne plakativ zu sein, Kritik an unserer Gesellschaft leisten. Brecht: Top-Aktuell! Und WIR können es richten!
Leser*innenkritik: Marlene, Berlin
"Marlene", Renaissance Theater, Berlin

Das Renaissance Theater hatte in seiner Geschichte einige große Hits: In Ewig jung rocken Katharine Mehrling, Timo Dierkes und Co. das Haus als Senioren-Combo schon seit 2009. Besonderen Kultstatus genießt allerdings die „Marlene“-Show, mit der Judy Winter mehr als 500 mal um die Jahrtausendwende zu erleben war.

Nun wagte sich der regieführende Intendant Guntbert Warns an eine neue „Marlene“-Version und engagierte für die Titelrolle den wandlungsfähigen niederländischen Entertainer Sven Ratzke, der am Haus in der Knesebeckstraße in der City-West regelmäßig als „Hedwig“ zu erleben ist und dem Berliner Publikum ansonsten durch seine David Bowie-Programme vertraut ist.

In der ersten Szene ist er nur schemenhaft hinter einem Vorhang zu erkennen: die niederländische Autorin Connie Palmen schrieb zwei neue fiktive Monologe, in der sie Marlene Dietrich über ihr Leben und den Umgang mit ihrem Ruhm sinnieren und sich an ihre Kindheit erinnern lässt. Diese neuen Texte ziehen der mehr als zwei Jahrzehnte alten Stückvorlage von Pam Gems eine Meta-Ebene ein und waren eine sehr glückliche Wahl von Warns und seinem Team.

Als sich der Vorhang hebt, erleben wir Ratzke in der Bettengruft. Zurückgezogen von der Weltöffentlichkeit lebte die Dietrich während ihres letzten Lebensjahrzehnts in ihrer Pariser Wohnung. Die erste Stunde dieser Marlene-Hommage imaginiert, wie sich der alternde Star gefühlt haben mag: melancholisch auf den Ruhm zurückblickend, von einem Comeback träumend. Mit ihrer Assistentin als Side-Kick (gespielt von Johanna Asch) zeichnet der Abend das Porträt einer Frau, die nach Kontrolle strebte: nach der Kontrolle über sich, nach Selbstdisziplin und nach Kontrolle über ihr Bild in der Öffentlichkeit. Spielerisch lässt dieser Teil des Abends dem Kammerspiel-Duo wenig Rauim zur Entfaltung: gut abgehangener Edel-Boulevard.

Nach der Pause wandelt sich die „Marlene“-Hommage erneut: die Spielszenen werden auf ein Minimum reduziert. Der Abend wird zum Best of-Konzert, bei dem Ratzke mit den dramaturgisch geschickt angeordneten Dietrich-Hits punkten kann. Großer Jubel am Ende dieses knapp zweistündigen Abends für den Weltstar aus Schöneberg, der in Berlin zu Lebzeiten so lange als „Verräterin“ geschmäht wurde, und für den Entertainer, der ihre Songs auf seine eigene Art bietet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/09/marlene-renaissance-theater-kritik/
Leserkritik: All adventurous women do, Berlin
"All Adventurous Women Do", Gastspiel aus Belgrad, Gorki Herbstsalon

Vor einem Jahrzehnt ging ein ungewöhnlicher Fall durch die Weltpresse: sieben Teenagerinnen aus Bosnien-Herzegowina kamen angeblich schwanger von einer Klassenfahrt nach Hause. Vieles bleibt im Dunkeln, ob diese Story wirklich wahr ist oder nur eine weitere Fake News in den Kulturkämpfen sei dahingestellt.

Tanja Šljivar machte daraus ein Stück, in dem sie die 13jährigen Mädchen selbst zu Wort kommen ließ: „All adventurous women do“ besteht aus kurzen Monologen und Szenen, in denen sie über ihre jugendliche Euphorie berichten, mit der sie sich ins Abenteuer Schwangerschaft stürzen, und über die harschen Reaktionen von Ärzten, Eltern und der konservativen Gesellschaftsmehrheit.

2018 kam dieses Stück zur Uraufführung: "Draufgängerinnen" war ein toller, kleiner Abend in der Box des Deutschen Theaters Berlin, der leider längst nicht mehr im Repertoire ist. Salome Dastmalchi und Niloufar Shahisavandi entwickelten mitreißende Choreographien mit den Spieler*innen des Jungen DT, die nur wenige Jahre älter waren als ihre Figuren: eines der Highlights in der Jugendsparte, die Birgit Lengers lange verantwortete.

Das Stück wurde von USA bis Italien nachgespielt und kam gestern nach Berlin zurück, als Gastspiel des Belgrader Theaters Atelje 212, das zu sozialistischen Zeiten mit einem mutigen Spielplan und Samuel Beckett aneckte, im Rahmen des Herbstsalons „LOST – YOU GO SLAVIA“ : Kao i sve slobodne djevojke (All Adventurous Women Do) erzählt die Geschichte der sieben Teenagerinnen mit einem erwachsenen Ensemble, gemischt aus Männern und Frauen, laut Info des Dramaturgen in der Einführung einige aus der Generation 50+, nur eine Spielerin ist 17.

Auch sonst ist das Setting anders als bei der DT-Aufführung: sie beginnen frontal aufgereiht an Mikros an der Rampe. Der sehr textlastige Abend (bosnisch, kroatisch, serbisch mit deutschen Übersetzungen links und rechts der Bühne) ist aber auch danach weniger spielerisch als die Uraufführungs-Fassung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/13/all-adventurous-women-do-gastspiel-herbstsalon-kritik/
Lerser*innenkritik: Put your head under ..., Berlin
"Put your head under your feet ... and walk!" von Steven Cohen, Performing Arts Season, Berliner Festspiele

Mit einer rätselhaften einstündigen Hinterbühne-Performance eröffneten die Berliner Festspiele ihre Performing Arts Season, eines der neuen Formate, die Matthias Pees ausprobiert.

Der weiße, schwule, jüdische, südafrikanische Performer entwickelte diese Arbeit bereits 2017 für Montpellier Danse und tourte vor den Corona-Lockdowns über diverse Festivals wie ImPulsTanz in Wien. An diesem Wochenende gastiert er erstmals in Deutschland (drei Vorstellungen vom 13.-15. Oktober). Die Arbeit ist als sehr persönliches Trauerritual gedacht, da Cohen seinen langjährigen Lebenspartner Elu verloren hat. Der Titel stammt aus einem Gespräch mit einer Freundin, die ihm diesen Rat mit auf den Weg gegeben hat.

In schillernd-androgynen Kostümen, die vor allem in der zweiten Hälfte mit Schmetterlingsmotiven spielen, und auf überdimensionalen High Heels stakst Cohen über die kleine Bühne, über lange Zeit stumm, selten von melancholischen Songs z.B. von seinem wesentlich bekannteren Namensvetter Leonard Cohen, begleitet.

Als Schockeffekt werden sehr explizite Video-Aufnahmen aus Schlachthöfen eingeblendet: Cohen stakst zwischen den Leichen der Tiere umher, die Gedärme quellen auf den Boden, er watet durch Blutlachen. Eine merkwürdige Parallele versucht Cohen zwischen dem Tod seines Partners und den Kadavern der Tiere, die zur Fleischerzeugung wie am Fließband industriell geschlachtet werden. Die Reihen lichten sich, viele gehen zum Ausgang.

Kurz vor Schluss richtet Cohen ein paar persönliche Worte an sein Publikum, bevor sich seine Schmettterlingsfigur im wabernden Bühnennebel auflöst und bewusst auf den Applaus verzichtet.

Mit dieser kleinen Fingerübung trafen die Berliner Festspiele eine seltsame Wahl zur Eröffnung der Reihe. In den nächsten Monaten werden einige bekannte Künstler folgen, manche erstmals in Berlin, manche bewährte Stammgäste auf den Bühnen der Stadt. Mit diesen Auftritten werden die Berliner Festspiele hoffentlich eine glücklichere Hand haben als mit den „10 Treffen“ im Rahmenprogramm des Theatertreffens vom Mai 2023 und dem aktuellen Gastspiel.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/14/put-your-heart-under-your-feet-and-walk-performance-kritik/
Leserkritik: Die Lage, Halle
In der Ankündigung des letzten Posts ist ein "r" zu viel: "Lerser...kritik"

"Die Lage" von Thomas Melle, neues theater Halle

Nach dem verrätselt-anspielungsreichen Auftragswerk Ode für das Deutsche Theater Berlin, in dem er die Kunstblase karikiert, veröffentlichte Thomas Melle eine kleine Satire, in der es nichts misszuverstehen gibt. In einer munteren Farce, die stellenweise etwas zu plakativ wirkt, führt er die Probleme auf dem Mietmarkt vor.

„Die Lage“, 2020 in Stuttgart von Tina Lanik uraufgeführt und im März 2023 am neuen theater in Halle inszeniert, führt die Verzweiflung von Miet- und Kaufinteressenten vor. Abwechselnd schlüpft das Ensemble in die Rollen von Maklern der besonders schmierigen Sorte, die den schlangestehenden Interessenten völlig überteuerten Wohnraum anbieten.

Das Stück schnurrt in kleinen Episoden ab, die zunächst betont realitätsnah dem Haifischbecken zeitgenössischer Immobilienmärkte abgelauscht sind, gegen Ende in grotesk-stilisierte Handgreiflichkeiten münden. Als es der Makler mit dem Zwang zur finanziellen Selbstentblößung der potentiellen Klienten deutlich zu weit treibt, drehen diese den Spieß um und zwingen ihn zum Striptease.

„Die Lage“ ist nicht besonders vielschichtig und wohl auch nicht Melles bestes Stück, bietet aber einen unterhaltsamen Abend und wird landauf, landab nachgespielt. Max Radestock, der selbst lange am neuen theater Halle als Schauspieler engagiert war und in diesem Jahr sein Regie-Studium an der HfS Ernst Busch abgeschlossen ist, inszeniert den Abend im Wechsel aus präzisen chorischen Passagen und temporeichen Dialogen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/14/die-lage-thomas-melle-neues-theater-halle-kritik/
Leser*innenkritiken: Neues aus Neubrandenburg
KÄNGURU-CHRONIKEN Neubrandenburg, Premiere 12.10.23 & FRANZISKA LINKERHAND, Neubrandenburg 14.10.23

Endlich ist was los in Neubrandenburg. Unter der neuen Schauspieldirektion von Maik Priebe erfindet sich das Schauspiel in der mecklenburgischen Seenplatte neu! Nach dem psychologisch ausgefeilten Auftakt mit Simon Stephens hatte nun ein unglaublicher Abend Premiere: DIE KÄNGURU-CHRONIKEN von Mark Uwe Kling. Als Hörtheater. Und was für ein Ritt! Lisa Scheibner als Känguru, Robert Will als Kleinkünstler und Dirk Schmidt in allen anderen Rollen liefern einen atemberaubenden Parforceritt. Mit unzähligen Requisiten quietscht, knarzt, blubbert, pfurzt es, das es eine Freude ist. Regisseur Eike Hannemann schickt die Spieler und das Publikum in eine derart witzige und kluge Achterbahn, dass es schier unmöglich scheint, alle Details beim ersten Besuch zu erfassen. Das sind auch noch Birgit Stoessels einmalige Animationen, allein beim Bankberater braucht man einen zweiten Besuch, um alle visuell versteckten Witze neben der eigentlichen Szene zu entdecken. Die Songs von Matthias Herrmann gehen so ins Ohr, dass man nach der Premiere Damen in feinem Zwirn singen hört: „Scheißverein“. Und auch die politische Ebene schaffen Hannemann und das Team spielend. Eine klare Positionierung gegen Fremdenfeindlichkeit, Hass und Hetze. Ein grandioser Abend. Schon jetzt Kult!!!

Und dass Schauspieldirektor Priebe größeres vorhat, war u.a. am Samstag zu erleben: Da kam es zu einer Art „Lecture Perfomance“. Priebe hatte Angelika Waller eingeladen, die 45 Jahre nach der Uraufführung nochmal in die Rolle der Franziska Linkerhand schlüpfte. Wie diese beeindruckende Schauspielerin alle Rollen las, sprach, dachte, das sieht man nur noch selten im deutschen Theater. Begleitet von Szenenfotos der Schweriner Uraufführung von 1978 und Ausschnitten eines (scheinbar heimlichen) Mitschnitts dieser schließlich verbotenen Inszenierung, beschrieb die damalige Dramaturgin Bärbel Jaksch die Umstände der Inszenierung und Proben. Ein eindrückliches Zeitzeugnis. Jubel an beiden Abenden.
Der geflügelte Froschgott, Berlin: unterhaltsam & temporeich
"Der geflügelte Froschgott" von Ingrid Lausund, Regie: FX Mayr, DT Berlin Kammer (UA)

Was für eine Leistung! Völlig ohne Hilfe der Souffleuse performen Bernd Moss und Regine Zimmermann gemeinsam "Der geflügelte Froschgott" in einem atemberaubenden Tempo. Ingrid Lausund, nicht nur als Theater-, sondern auch als Drehbuchautorin der TV-Comedy "Tatortreiniger" bekannt, schrieb ein unscheinbares kleines Stück, das als Monolog konzipiert ist.

Der österreichische Regisseur FX Mayr, dessen Arbeiten schon mehrfach im Rahmen der Autorentheatertage am DT Berlin zu sehen waren, vertraut die religionsphilosophische Tragikomödie "Der geflügelte Froschgott" diesem bewährten Duo Moss/Zimmermann an. In froschgrünen Kostümen von Korbinian Schmidt denken sie darüber nach, was wohl nach dem Tod kommen wird und welches spirituelle Angebot wohl die wahre Religion ist.

"Angenommen mal" zieht sich als leitmotivische Formulierung durch ihre gedanklichen Pirouetten. Ebenso kenntnisreich wie pointiert pflügt dieser Text durch die Besonderheiten der Weltreligionen und vieler kleiner Kulte wie z.B. dem um den titelgebenden Froschgott. Sie grübeln, räsonieren, verwerfen und dies alles in dem schon beschriebenen rasanten Tempo.

Kurze Atempausen erhalten sie nur bei den Tanzeinlagen, für die FX Mayr ein Quartett (Johanna Baader, freie Schauspielerin, die regelmäßig in Österreich mit ihm arbeitet; Lisa Birke Balzer, die in Iris Laufenbergs Grazer Ensemble war und nun regelmäßig gastiert; Volksbühnen-Veteran Jean Chaize aus Kresnik-, Schlingensief- und Castorf-Arbeiten, der zuletzt auch mit She She Pop arbeitete; Diane Kimbonen, die auch in der Junges DT-Produktion "Nathan" zu sehen ist) zu skurrilen Verrenkungen bittet. Diese kleinen Intermezzi fallen deutlich ab und wirken überflüssig.

Eigentlich wäre nach knapp einer Stunde Schluss, aber Mayr hatte noch einen weiteren Gag auf Lager und bittet das Publikum zu Freibier und Brezen auf der Bühne: Durch die Partystimmung geistert eine Spielerin als personifizierter Tod.

Während die Zuschauer noch mit ihren Bechern auf der Bühne stehen, setzen Moss/Zimmermann schließlich zum Finale an. Zimmermann rechnet mit der Drohbotschaft ab, die viele Religionen auszeichnet. "Schieb dir deine Hölle in den Arsch!!", faucht sie Gott an.

Welche nun die wahre Religion ist, kann auch diese Diskurskomödie nicht klären. "Der geflügelte Froschgott" ist aber auf jeden Fall ein unterhaltsamer Abend, der noch stärker wäre, wenn der Regisseur ganz auf den Text und sein zentrales Duo vertraut hätte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/20/der-geflugelte-froschgott-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritik: Ink, Berliner Festspiele
"INK" von Dimitris Papaioannou, Gastspiel Performing Arts Season, Berliner Festspiele

Ein Star der internationalen Choreographen-Szene gastiert erstmals in Berlin: Dimitris Papaioannou sorgt für drei ausverkaufte Vorstellungen im Haus der Berliner Festspiele und beschert der neuen Performing Arts Season einen Kassenerfolg und bildstarke Tableaus.

Natürlich gelingen Papaioannou und seinem Lieblingstänzer Šuka Horn eindrucksvolle Szenen bei ihrem Paar-Duett. Das Machtgefälle ist von Beginn an klar: Papaioannou bleibt angezogen und ist in bedrohliches Schwarz gekleidet, er hat den Zugriff auf die Sprinkleranlagen, mit denen er die Bühne nach Belieben wässert oder den Strahl abstellt. Nach einigen Minuten kriecht Horn herein, splitternackt zusammengekrümmt unter einer transparenten Plastik-Plane.

Mit Schlägen und Tritten malträtiert Papaioannou seinen Tänzer. Die stilisierte brutale Gewalt weicht der Andeutung zärtlicherer Szenen, z.B. wenn Horn seine Athletik in einem Handstand über seinem Master/Choreographen und sich langsam auf den unter ihm Liegenden fallen lässt. Schließlich kippt das Machtgefälle kurz: aus lauernder Position schlägt Horn zurück, rächt sich und unterwirft seinen ehemaligen Peiniger. Irritierend ist, dass er auch in diesen Szenen manchmal mit so grobschlächtigen Affen-Posen agiert, wie wir sie in Ruben Östlunds Kino-Farce "The Square" gesehen haben.

Der dramaturgische Spannungsbogen bleibt blass, im Mittelteil hängt die Choreographie mehrfach durch und plätschert dahin wie das Wasser aus der Sprinkleranlage. Kitschig wirken die Babypuppe, die plötzlich auftaucht und Papaioannou an seiner Brust säugt und die vom Tonband kommende Musik von Teodor Currentzis/musicAeterna.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/22/ink-berliner-festspiele-kritik/
Leser*innenkritik: Hate me, Tender_Revisited, Berlin
"Hate me, Tender _ Revisited", Solo von Teresa Vittucci, DT Berlin Box

Der Zusatz „Revisited“ verrät es schon: bei dieser Solo-Performance, die am 14. Oktober 2023 ins Repertoire der Box des Deutschen Theaters Berlin übernommen wurde, handelt es sich um die neue Fassung eines schon mehrere Jahre alten Stücks, das Vittucci im Rahmen ihres Studiums entwickelt hat und beim Premio Nachwuchspreis der Schweizer Hochschulen 2018 einen zweiten Platz belegte.

In den folgenden Jahren bis zu den Corona-Lockdowns tourte das Stück durch die Freie Szene, war zum Impulse Festival nach NRW und zu ImPulsTanz nach Wien eingeladen, gewann den Swiss Dance Awatd und gastierte 2019 auch schon bei der „Queer Darlings“-Reihe in den Sophiensaelen.

Dort passte es auch sehr gut in das ästhetische Konzept von Franziska Werners im Sommer zu Ende gegangener Intendanz: Selbstbewusst setzt Vittucci ihren gesamten Körper ein, der, wie sie in Interviews betonte, dem Idealbild einer Tänzerin nicht so recht entsprechen will. Im Lauf der 75 Minuten steigt der Wortanteil, mal im Plauderton einer Stand up-Comedian, mal im Studien zitierenden Lecture-Tonfall.

Das Hymen, das bis heute in patriarchalen Gesellschaften für „Jungfräulichkeitstests“ missbraucht wird und vielen jungen Frauen dort große Schmerzen verursacht, wenn es vor der Ehe zugenäht wird, steht im Zentrum des Schlussdrittels ihrer Performance. Vittucci erklärt die veralteten, ideologischen Ansichten, die dahinter stecken. Den Bogen zur Jungfrau Maria, über den das Programmheft reflektiert, deutet Vittucci an, bevor der Abend mit banalen Mitmach-Aktionen der ersten Reihe endet.

Es ist ein programmatisches Statement der neuen Intendantin Iris Laufenberg, dass sie eine feministische Performance aus der Freien Szene in die Box holt: nach ungewöhnlich vielen Übernahmen aus dem Repertoire ihres Vorgängers Uli Khuon setzt sie damit eigene Akzente. Allerdings gibt es aus diesem Spektrum wesentlich interessantere Arbeiten als dieses Solo, das dramaturgisch auch in der „Revisited“-Version noch zu sehr wie eine unfertige Hochschul-Produktion wirkt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/22/hate-me-tender-revisited-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: Bovary, Berlin
"Bovary" von Christian Spuck nach Gustave Flaubert, Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin

Seine erste Spielzeit als Intendant des Staatsballetts Berlin eröffnet Christian Spuck mit einer Choreographie, die er einem der berühmtesten Romane des 19. Jahrhunderts nachempfunden hat: Emma Bovary, die der Enge ihrer lieblosen Ehe in der Provinz entfliehen will, sich in leidenschaftliche Affären und Phantasien flüchtet, stark verschuldet und schließlich den Suizid als letzten Ausweg sieht, war eine Romanfigur, die ihre Zeitgenossen empörte und schockte.

Spuck zeichnet die wesentlichen Stationen des Romans von Gustave Flaubert nach: für die Ball-Szenen kommt ein großer Teil des Corps de Ballet zum Einsatz, im Zentrum stehen Emma Bovary (Weronika Frodyma) und die drei Männer in ihrem Leben, ihr dröger Ehemann Charles (Alexei Orlenco) und ihre beiden Liebhaber Léon (Alexandre Cagnat) und Rodolphe (David Soares).

Unterlegt von der schwelgerischen Klaviermusik von Camille Saint-Saëns reiht Spuck gediegene Choreographien aneinander: Klassisch-elegante Pas de deux und Hebefiguren für die raren Glücksmomente im Leben der Emma, bevor ihre Stimmung zu den atonalen Klängen von György Ligeti in Zerrissenheit oder Verzweiflung umschlägt.

Die atmosphärisch stärksten Momente sind die Passagen, die Marina Frenk (derzeit auch mit ihrer musikalischen Lecture-Performance "Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun" beim Gorki-Herbstsalon zu erleben), aus Elisabeth Edls 2021 erschienener „Madame Bovary“-Übersetzung liest, und die Szenen, in denen Emma Bovary zum leitmotivisch wiederkehrenden „She was“ von Camille (2011) ganz auf sich zurückgeworfen ist.

Der „Bovary“-Abend schwelgt als Preziose im Kostümfundus (Emma Ryott) des 19. Jahrhunderts, handwerklich ist alles sehr gekonnt, wirkt aber doch sehr museal. Das Publikum in der Deutschen Oper Berlin spendete freundlichen Applaus, Jubel gab es für Weronika Frodyma in der Titelrolle.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/25/bovary-staatsballett-berlin-kritik/
Leser*innen-Kritik: Mein süßes Lieb, Berlin
"Mein süßes Lieb - AIDS und Gentrifizierung in Berlin" von Tilman Hecker, Prater Studios, Volksbühne

Woher die Titel-Zeile stammt, dürfte noch einigen bekannt sein: Heinrich Heines gleichnamiges Gedicht rahmt den Abend. Anfangs trägt es Christine Groß alleine vor, während sie einsam durch die Katakomben am Rosa Luxemburg-Platz Richtung Bühne kommt, zum Schluss spricht es das gesamte Ensemble des Abends gemeinsam. Dazwischen kreist „Mein süßes Lieb“ um viele zeithistorische Texte aus den 1970ern, 1980er und 1990ern, Lecture-Schnipsel über die Anfänge der Lesben- und Schwulenbewegung und ihre Konflikte in West-Berlin wechseln sich mit Berichten aus einem Schwabinger Krankenhaus kurz nach den ersten HIV-Diagnosen, die aus Ronald M. Schernikaus Feder stammen dürften, und einer lippensynchron nachgesprochenen Rede der damaligen Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit Rita Süssmuth über die wichtige Arbeit der Aids-Hilfe.

Recht viele Puzzle-Teile stammen aus der noch unveröffentlichten Übersetzung des Buchs „The Gentrification of the Mind“ der New Yorker Historikerin und Act up-Aktivistin Sarah Schulman, das 2012 erschien. Worauf dieser Abend hinaus will und welche Verbindungslinien Tilman Hecker und sein Team zwischen Gentrifizierung und AIDS ziehen möchten, lässt sich nach der Lektüre der interessanten, begleitenden Essays im Programmheft erahnen.

Der knapp 80minütige Abend kommt aber nicht über eine Aneinanderreihung oft recht erwartbarer, historischer Texte zur Früh- und Hochphase der AIDS-Epidemie hinaus. Ein Manko der Inszenierung ist, dass das herausfordernde chorische Sprechen vor allem in der ersten Hälfte oft nur recht holprig gelingt und die Souffleuse auch bei Soli unterstützen muss.

So bleibt am Ende dieser „Mein süßes Lieb“-Uraufführung der Eindruck, dass sich die Volksbühne zwar eines wichtigen Themas annimmt und thematisch auch den Bogen zu Ronald M. Schernikaus legende aus Klaus Dörrs Interims-Intendanz schlägt, aber die Inszenierung bei einer Collage und Textsammlung stehen bleibt. Obwohl dem Programmheft bereits eine tiefere Auseinandersetzung des künstlerischen Teams anzumerken ist, ist zu wenig an interessanten Bezügen und Querverbindungen in die Bühnenfassung eingeflossen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/26/mein-susses-lieb-volksbuehne-kritik/
Leserkritik: Cement Beograd, Berlin
"Cement Beograd" von Milan Ramšak Marković, Regie: Sebastijan Horvat, Dramatheater Belgrad-Gastspiel beim Gorki-Herbstsalon

In zwei grundverschiedene Hälften zerfällt die serbische Heiner Müller-Überschreibung „Cement Beograd". Eine Stunde lang hämmert Techno in gefühlter Endlosschleife, sechs junge und nicht mehr ganz so junge Tänzer*innen feiern und springen in einer Choreographie von Ana Dubljević. Dazwischen rufen sie Slogans und Parolen in die Mikros vorne an der Rampe, die Solidarität und Aufbruchstimmung propagieren.

Unermüdlich stampfen und hüpfen sie weiter, während das Bühnen-Räumkommando umbaut und sie hinausscheucht. Die zweite Stunde spielt in der ärmlichen Wohnung eines alten Belgrader Ehepaars. Er (Miodrag Miki Krstovic) ist dement und so hilfsbedürftig, dass er stürzt und sich blaue Flecken zuzieht, während sie (Milena Zupančič) draußen unterwegs ist. Die Rente ist so mickrig, dass es zehn Tage vor Monatsende nicht mal mehr für Kekse zum Tee und für das Austauschen der nur noch schwach flackernden Küchenlampe reicht.

Hyperrealistisch inszeniert Sebastijan Horvat in dieser Produktion des Belgrader Dramatheaters das Aneinandervorbeireden des alten Paares. Seine Krankheit ist so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr zu ihm durchdringt und er die Namen der Bekannten und Verwandten nicht mehr zuordnen kann.

Diese Alters-Demenz soll sehr plakativ die politische Demenz spiegeln, die Regisseur Horvat und Milan Ramšak Marković, der Autor und Dramaturg dieser Müller-Überschreibung, den postjugoslawischen Gesellschaften zwei Jahrzehnte nach den Balkankriegen diagnostizieren. Dass das Geschehen im Belgrad des Jahres 2021 verortet ist, machen Radio-Meldungen über die Folgen des Corona-Lockdowns und innenpolitische Auseinandersetzungen deutlich, die an dem alten Mann vorbeirauschen.

Die Belgrader „Zement“-Überschreibung bildete für Horvat den Abschluss einer Trilogie nach zwei Adaptionen des Stoffs in Zagreb und Ljubljana. Von Heiner Müllers Vorlage bleiben in dieser sehr freien Weiterschreibung nur Motive und Spurenelemente, so soll das alte Ehepaar an die Hauptfigure Dascha und Gleb Tschumalow erinnern. Beide knapp einstündigen, ohne Pause aneinandergereihten Einzelteile strapazieren durch ihre Loops und demonstrative Tristesse der zweiten Hälfte die Geduld des Publikums. Zu einem schlüssigen Ganzen fügen sie sich nicht.

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Leser*innenkritik: Berlin, Du coole Sau!
"Berlin, Du coole Sau! - Die Berlin-Revue" im tipi am Kanzleramt

Wegen der Corona-Lockdowns musste die große Zeitreise-Revue, die Sharon Brauner und das tipi am Kanzleramt planten, mehrfach verschoben werden, bis sie im mit nachgeholten Premieren vollgestopften Sommer 2021 endlich doch losgehen konnte. In dieser November-Woche gibt es fünf Wiederaufnahme-Shows.

Unterstützt vom Capital Dance Orchestra beschwören Sharon Brauner (Idee/Regie/Gesang) und ihre Duett-Partnerin Meta Hüper das Flair der 1920er Jahre: von Friedrich Hollaenders „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ aus Josef von Sternbergs/Marlene Dietrichs „Der blaue Engel“ über eine Hommage von Lola La Tease an die Burlesque-Tänzerin Anita Berber bis zum von den Nazis verbotenen Swing reicht der Bogen bis zur Pause.

In der zweiten Stunde folgen auf das nostalgische „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“, das in den Versionen von Marlene Dietrich und Hildegard Knef berühmt wurde, die großen Berlin-Hymnen von Ideal und „Dickes B!“ von Seed.

Da eine Aneinanderreihung der Songs allein etwas dünn wäre, wurde Ades Zabel, bekannt aus der Kreuzberger Travestie- und Kleinkunstszene, als Toilettenfrau Adele mit Berliner Schnauze engagiert. In kurzen, stets sehr verqualmten Sketchen kommentiert Zabel das Geschehen aus der Sicht einer Figur mit sehr schlichtem Gemüt. Achselzuckend geht sie über das plötzliche Verschwinden der jüdischen Nachbarn hinweg und auch nach dem Mauerbau ist ihr Blick betont unpolitisch. Für ihren Fleischermeister zieht Adele nach Pankow, lässt sich nach dessen Tod heimlich im Kofferraum zurückschmuggeln und nimmt ihren Platz vor den Toiletten wieder ein. Von der Eisbahn im West-Berliner Europacenter über Techno-Jünger der Loveparade verschlägt es sie bis ins Berghain. Adeles Gags bleiben oft recht platt. Die Stars des Abends sind natürlich die Ohrwurm-Songs und die Stadt, die sie besingen.

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Leserkritik: Bunbury, Berlin
"Bunbury. Ernst sein is everything!", von Oscar Wilde, Regie: Claudia Bossard, Übernahme aus Graz am DT Berlin

In ihrer Antritts-Pressekonferenz im Juni betonte Iris Laufenberg, die neue Intendantin des Deutschen Theaters, wie sehr ihr gut gemachte Komödien am Herzen liegen. Neben stärkeren feministischen und postkolonialen Akzenten fallen die zahlreichen komödiantischen Stoffe als wesentliche Neuerung gegenüber Uli Khuons Amtszeit in ihrer ersten Spielzeit auf.

Aus Graz hat sie „Bunbury. Ernst sein is everything!“-Inszenierung mitgebracht, die dort einem Jahr ihre letzte Spielzeit in Österreich eröffnete und nun mit einer Umbesetzung ins Berliner Repertoire der DT-Kammer übernommen wurde.

Es ist der Trumpf dieses Abends, dass hier ein offensichtlich über Jahre gewachsenes Ensemble seine Spielfreude gemeinsam auslebt. Das Tempo ist hoch, das Timing sitzt, die Figuren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind überzeichnet, Claudia Bossard und ihr Team halten jedoch die Balance und rutschen nicht in reinen Klamauk.

Charakteristisch für diese Oscar Wilde-Interpretation ist das konsequente, schon im Titel angelegte Denglish. Häufig wechseln die Spieler*innen mitten im Satz von einer Sprache in die andere. Dabei tänzeln sie auf der fast leeren Bühne über den schmalen Catwalk, den Elisabeth Weiß in schwarz-weißen Schachbrett-Farben im Zentrum angelegt hat.

Die Verwechslungskomödie nimmt ihren Lauf, handwerklich ist nichts zu beanstanden, könnte bis auf das Faible für die Sprachverwirrung so auch an die großen Privattheater verlegt werden, ohne das dortige Boulevard-Komödien-Publikum zu verschrecken.

Nach der Auflösung aller Doppelrollen und Missverständnisse durch Katrija Lehmanns etwas zu sehr in die Karikatur einer Gouvenante abgleitende Miss Prism weicht Bossard erstmals deutlich vom Original ab. Wie bei Wilde gibt es zwar ein Happy-End, aber die heteronormative Ordnung der viktorianischen Gesellschaft wird nicht wiederhergestellt. Die beiden Dandys John Worthing (Frieder Langenberger) und Algernon Moncrieff (Andri Schenardi), die sich mit einem erfundenen Bruder bzw. kranken Freund die nötigen Freiräume für den Ausbruch aus dem strengen Korsett erlogen haben, heiraten hier nicht ihre Angebeteten, sondern küssen sich in der letzten Szene innig an der Rampe.

Eine Schwäche von Bossards Inszenierung ist, dass dieser homosexuelle Kuss nicht aus dem Stück heraus entwickelt wird, sondern nur angeklebt wirkt. Warum sie sich für dieses Ende entschied, machte sie im Interview auf dem Abendzettel deutlich: der Verweis auf die autobiographischen Erfahrungen von Oscar Wilde, der seine Homosexualität verstecken musste und letztlich dafür verurteilt wurde, ist ein naheliegender Ansatz für einen heutigen Blick auf sein Stück „Bunbury“, das im Original „The Importance of Being Earnest“ heißt und 1895 uraufgeführt wurde. Doch dieser neue Blick zeigt sich erst in den letzten zwei Minuten, die zwei Stunden davor erleben wir eine recht konventionelle Lesart.

Die beiden Dandy-Hauptdarsteller Langenberger und Schenardi bleiben von dieser Inszenierung dennoch besonders in Erinnerung. Langenberger ist sogar neben Promis wie Burgtheater-Star Michael Maertens für einen Nestroy, den österreichischen Theaterpreis, als bester Schauspieler nominiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/05/bunbury-ernst-sein-is-everything-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritik: Fucking Truffaut, Berlin
Fucking Truffaut, Bliadski Circus Queelective, Gorki Studio, Berlin

Welche Rolle bleibt für die Kunst, wenn der Verteidigungsminister fordert, dass die Gesellschaft „kriegstüchtig“ werden soll oder wenn ein Land wie die Ukraine Opfer eines Angriffskriegs wurde? Große Fragen hat sich das Bliadski Circus Queelective unter Leitung der ukrainischen Regissurin Roza Sarkisian in dieser polnisch-deutschen Koproduktion teilgenommen.

Etwas mehr als eine Stunde dauert die ratlose Suchbewegung der grell überschminkten Performerinnen, die zwischen Vergewaltigungstrauma und Slapstick wild hin und herspringen. Die Performance, die als Koproduktion mit dem Teatr Dramatyczny Warschau an zwei Abenden im Rahmen des Herbstsalons auf der Studio-Bühne des Gorki Theaters läuft, flüchtet sich immer wieder in Eskapismus. In den wenigen ruhigeren Momenten werden Videos von Antonina Romanova eingespielt, die 2014/15, als der Krieg auf der Krim und im Donbass begann, noch zögerte, wie sich sich verhalten soll und nun als trans Soldatin an der Front kämpft.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/11/fucking-truffaut-gorki-herbstsalon-kritik/
Leserkritik: Mass for Yugoslavia, Berlin
"Mass for Yugoslavia", Regie: Oliver Frljić, Gastspiel Gorki-Herbstsalon, Berlin

Mit brachialem Theater, das sein Publikum verstören wollte und auch vor ekligen Szenen nicht zurückschreckte, machte sich der kroatische Regisseur Oliver Frljić vor einem Jahrzehnt einen Namen. Aus dieser früheren Schaffensphase stammt auch „Mass for Yugoslavia“, das an drei Abenden beim Gorki-Herbstsalon „Lost – You go Slavia“ auf der Studiobühne gastiert.

Als Mix aus Liederabend und Performance lässt sich der eine Stunde kurze Abend beschreiben. Das Ensemble singt Partisanen-Lieder wie „Bella Ciao“ oder eine Cover-Version von Nirvanas „Entertain us“, dazwischen formieren sie sich zu ritualisierten Spielen, stopfen sich große Mengen Würfelzucker in den Mund und versuchen, unter enormem Speichelfluß weiterzusingen, beschmieren die Landkarte des in den 1990er Jahren in blutigen Bürgerkriegen zerfallenen Jugoslawien mit Obst oder urinieren darauf.

Manche Anspielung mag in dieser 2015 als Koproduktion von Theatern aus Ljubljana, Rijeka, Belgrad und Skopje entstandenen Arbeit versteckt und nur für ein Publikum zu entschlüsseln sein, das mit den kulturellen und historischen Hintergründen vor Ort sehr vertraut ist. Als „theatrale Exhumierung des Leichnams der jugoslawischen Kultur und eine Verkörperung ihrer verschiedenen Geister“ wurde „Mass for Yugoslavia“ beschrieben. Wiederkehrende Motive sind neben viel Kunstblut die Brautkleider, die am Ende alle Spieler*innen tragen, und Stalin-Masken, hinter denen sie sich in einer zentralen Szene verbergen.

Frljićs neuere Arbeiten sind meist ruhiger und subtiler als diese Gastspiel-Inszenierung. Als Shermin Langhoffs künstlerischer Co-Leiter am Gorki Theater war er maßgeblich an der Konzeption des Herbstsalons „Lost – You Go Slavia“ beteiligt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/17/mass-for-yugoslavia-gorki-herbstsalon-kritik/
Leserkritik: Recycling Dance, Bochum
Am 16.11 hatte die Performance „Recycling Dance“ der Gruppe MFK Bochum in der Flensburger Pilkentafel Premiere. Mit dieser Performance stellt die Pilkentafel erneut unter Beweis, wie stark sie innovative Theaterformen fördert und den Anspruch verfolgt solche Innovationen interessierten Theatergängern*innen zugängig zu machen, was außerhalb der Metropolen Deutschlands nicht einfach ist. Der Abend startet im Foyer, indem eine Performerin ins Foyer tritt. Überraschung, die Frau ist mit einer Jeansjacke bekleidet und unten herum erscheint Sie im „Evaskostüm“, wobei ihre Scham mit einem Schamhaartoupet bekleidet ist. Interessant die Reaktionen des überwiegend jungen Publikums. Immer wieder schweifen Blicke des Publikums auf die unbekleideten Körperregionen, um dann schnell wieder sich dem Gesicht der Frau zuzuwenden. Die Akteurin gibt eine kurze Einführung in die Performance und sucht dabei ständig den Blickkontakt zum Publikum. „Recycling Dance“ ist die Auseinandersetzung mit den lähmenden Erfahrungen während der Pandemie. Es ist die Antwort auf die Zeit körperlich passiven Konsums mittels digitaler Medien. Das MFK Bochum hat bereits während der Pandemie begonnen sich seiner Körperlichkeit zu besinnen, indem es Choreografen*innen und Gruppen um Videoausschnitte ihrer Performances bat, um sie zum Mit- und Nachmachen zu nutzen. Daraus entstand „Recycling Dance“ eine Performance, die sich mit REUSE, REDUCE, REPAIR und RECYCLE von existierenden Tanzstücken befasst und die Fragen aufwirft, nach den Energien und Erkenntnissen, die aus recyceltem Tanz erwachsen und was sie Neues schaffen können. Die Performance besteht im Wesentlichen aus den Elementen: Sound, Körper, Objekten, Licht, Video und Tanz. Die drei Performerinnen (Katarína Marková, Marlene Ruther und Franziska Schneeberger,) und der Performer (Lars Blum) sind nackt, nur bekleidet mit einem Schamhaartoupet sowie Socken und Schuhen. Der Sound wird hauptsächlich von hämmernden Beats und Rhythmen getragen. Zunächst werden gymnastische und turnerische Übungen gezeigt, die in Figuren münden, die den Eindruck vom Fliegen, Leichtigkeit und Freiheit vermitteln. Auf einem Monitor laufen Ausschnitte von Tanzproduktionen, die von dem/den Performer*innen in ihre dreidimensionale Körperlichkeit recycelt werden. Digitale, zweidimensionale Choreografieausschnitte werden „reused“ mittels der dreidimensionalen Körperlichkeit der Performerinnen in Bezug auf Ausschnitte der Videochoreografien. Es geht um Körper:Bilder: indem Choreografieausschnitte nachgetanzt werden, um sich als Nicht-Tänzerinnen den gewählten Choreografien körperlich anzunähern. Es geht darum die Schwingungen bewegter Körper zu erfahren und sie wieder zu einem realen körperlichen Erlebnis zu transformieren. Dies wird realisiert durch Nachahmung, Reproduktion und Wiederholung. Diese physische Transformation von Videoausschnitten wird dann mit Videoaufnahmen (Großaufnahmen von Gesichtern, Körperteilen, etc.) wieder in zweidimensionale Bilder übersetzt, die jetzt aber mehr den Charakter von Bildern aus der Malerei erhalten. So werden Momente der Körperlichkeit in den Fokus gerückt wie Gesten, Mimik und Berührungen. Der gesamten Produktion wohnt ein DIY-Charakter inne, der verdeutlicht das Kunst etwas mit Körperlichkeit im ursprünglichen Sinne verbindet und im „embodied mind“ seine Vollendung finden kann. Diese personalisierte Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen wie nachhaltiges Leben, Ressourcenschonung Abfallreduktion, CO² und Klimaschutz am Beispiel recycelter Tanzausschnitte, schafft eine neue Form der Wahrnehmung dieser Herausforderungen und stellt gleichzeitig die Frage nach der Bedeutung von Kunst und in wieweit sie den gleichen Bedingungen unterliegt oder Neues schafft durch die Konfrontation mit nackter Körperlichkeit um den Dualismus von Körper und Geist im „embodied mind“ zu vereinen und somit eine neue Qualität der Wahrnehmung schafft. Danke für diesen inspirierenden Abend an alle Beteiligten. Merci & Chapeau.
Leser:innenkritiken: Médée, Berlin
"Médée", Regie: Peter Sellars, Staatsoper Unter den Linden

So viel geballte Prominenz erlebt man selten an einem Opernabend: Peter Sellars führt Regie, von Frank Gehry stammt das Bühnenbild und Sir Simon Rattle dirigiert das Freiburger Barockorchester bei dieser „Médée“-Produktion für die Barocktage der Staatsoper Unter den Linden.

Angesichts so glamouröser Namen fällt das Bühnenbild allerdings sehr karg aus: Gehry beschränkte sich auf Gaze-artige Vorhänge, zwei glitzernde Wolken, die sich auf das Stichwort im Prolog auf- und abbewegen, sowie Absperrgitter vorne an der Rampe. Diese Gitter stehen im Zentrum der Sellars-Lesart des Medea-Mythos: für ihn ist diese von Euripides bis Christa Wolf so unterschiedlich gedeutete Figur vor allem eine gedemütigte, in die Enge getriebene Migrantin. Mit Sturmhauben und in voller Kampf-Montur treiben die Schergen des Königs von Korinth sie in die Enge, an den Rändern der Bühne werden Medea (Magdalena Kožená) und ihre Kinder getrennt voneinander eingepfercht.

Am selben Abend, an dem Robert Habeck, Annalena Baerbock und Ricarda Lang mit vereinten Kräften in die Parteitags-Bütt müssen und mit dem Ende der Ampel-Koalition drohen, falls die Basis dem Antrag der Grünen Jugend zustimmt, der statt der „Ordnung“ vor allem die „Humanität“ betont, erzählt Sellars vom Schicksal einer rechtlosen Migrantin und reichert seine etwas schlichte Medea-Deutung mit zahlreichen O-Tönen von Aktivistinnen und Reporterinnen zum aktuellen Flucht- und Asyl-Diskurs im Programmheft an.

Während man an Bühnenbild und szenischen Einfällen Abstriche machen muss, präsentieren Rattle und das Freiburger Barockorchester die selten gespielte Barockmusik von Marc-Antoine Charpentier makellos. Der Franzose, der zu seinen Lebzeiten stets im Schatten von Jean-Baptiste Lully, dem Hofkomponisten des Sonnenkönigs Ludwig XIV., stand, ist heute vor allem durch sein Präludium zum „Te Deum“ bekannt, das als Eurovisions-Hymne auch parallel zur Oper wie üblich vor der wohl nun tatsächlich allerletzten „Wetten dass“-Show von Thomas Gottschalk zu hören war.

Nicht ganz so viele Längen wie die Moderationen des Samstagabend-Fernsehlieblings der 1980er/1990er Jahre weist die Barockoper auf, allerdings ziehen sich diese drei Stunden 15 Minuten (inklusive Pause) streckenweise auch ziemlich.

Zum Abschluss der Barocktage folgen noch zwei „Médée“-Vorstellungen am 30. November und 2. Dezember.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/27/medee-staatsoper-berlin-kritik/
Leser*innenkritik: Dänische Delikatessen, SHL Rendsburg
Nach „Sweeney Todd“ nun „Dänische Delikatessen“! Fleischwaren sind beim SHL in diesem Spielplan die Renner. „Dänische Delikatessen“ ist eine dänische Filmkomödie schwarzen, hintergründigen Humors mit böser, morbider Komik des Regisseurs und Drehbuchautors Anders Thomas Jensen, die von Florian Battermann und Jan Bodinus für das Theater bearbeitet und 2012 in Heilbronn uraufgeführt und jetzt von Finja Jens am SHL inszeniert wurde.
Bjarne (A.R. Schridde) und Svend (R. Schleberger) sind Angestellte des Metzgermeisters Holger (B. Hoche), der sie ständig piesackt. Sie entrinnen dieser Tyrannei, indem sie ihre eigene Fleischerei gründen. Diese läuft mies und Svends Freundin Tina (K. Winkler) verlässt ihn. Ein versehentlich im Kühllager eingeschlossener Elektriker erfriert. Als Svend die Leiche findet, gerät er in Panik und zerlegt sie in Filets, die er verkauft. Diese marinierten Filets werden zum absoluten Renner! Erfolg macht erfinderisch und so verarbeiten sie weitere unliebsame Mitmenschen, um die Nachfrage decken zu können. Holger wird misstrauisch und veranlasst eine Kontrolle der Lebensmittelaufsicht, doch Bjarne hat aufgeräumt, so dass nichts Verdächtiges mehr zu finden ist. Am Ende stellt sich heraus, dass Svends Marinade der Hit war und nicht das Menschenfleisch. Die Moral dieser schwarzen Groteske ist, dass Vertrauen in die eigene Kreativität (Svends Marinade) mehr bringt als das Verbrechen (Menschenfleisch).
Garniert wird diese Story noch mit der Liebe zu Astrid (A. Utzelmann) einer Bestattungsgehilfin und Aigil (S.R. Scholz) dem Bruder Bjarnes. Auf die traumatischen Erlebnisse in Kinder- und Jugendzeit von Bjarne und Svend sowie den Überlebensschwierigkeiten, die zu ihrem Außenseiterdasein geführt haben, wird fast vollständig verzichtet.
Der Abend oszilliert unentschlossen zwischen schwarzem Humor und schenkelklopfendem Klamauk statt sich, wie der Film zumindest für eine bizarre Tragödie schwarzen Humors zu entscheiden. Dabei geht der Wortwitz - dank verdrehter Dialoge - des Filmes völlig verloren, statt daraus Würze für die Marinade zu gewinnen. Zur tiefschwarzen Humordelikatesse fehlt es leider an Raffinesse
Das Bühnenbild von V. Hegemann eine leicht marode Fleischerei in den Farben beige, grün und grau schafft eigentlich gute Voraussetzungen für eine makabre Groteske schwarzen Humors und auch die Kostüme von S.A. Testi passen zu diesem Genre.
Dennoch der Abend hat seine Glanzpunkte in drei Darstellern. Reiner Schleberger als Svend ist ein fulminantes Erlebnis wie Mads Mikkelsen im Film. Gestik und Mimik wechseln ständig, wie ein Chamäleon die Hautfarbe, zwischen den verschiedenen Stimmungen und Situationen. Aron R. Schridde als Bjarne ist der phlegmatische, dröge Companion Svends. In ihrer Gegensätzlichkeit liegt der Reiz dieses kruden Paares, denen das Leben bisher immer nur in den Hintern gekniffen hat. Zwei fantastische Theaterfiguren, denen Reiner Schleberger und Aron R. Schridde sehenswerte Kontur verliehen haben. Dann Steven R. Scholz als Aigil mit seiner Giraffe. Er schafft rührende Momente menschlicher Außenseiter im Dialog mit seiner Stoffgiraffe. Eine kleine Rolle, die mit leisen Tönen eine Ahnung vermittelt, wie Randfiguren der Gesellschaft im Humor eine Lebensstrategie finden können. Allerdings passt dies nicht recht in den galligen Grundton der eigentlichen Geschichte.
Das Programmheft von L. Rosenhagen ist dann ein weiterer Leckerbissen mit seinen Geschichten über Koans, Humor, Komik und das Lachen.
Leider fehlt diesem Hotdog ein wenig Remouladensoße, um zur dänischen Delikatesse zu avancieren.
Leserinnenkritiken: 2 Chapters Love, Berlin
"2 Chapters Love" von Sol León und Sharon Eyal, Staatsballett Berlin

Zwei prägende Choreographinnen der aktuellen Tanzszene stellten sich an einem Doppelabend in der Staatsoper Unter den Linden vor: die Spanierin Sol León war fast 20 Jahre gemeinsam mit Paul Lightfoot Hauschoreographin des Nederlands Dans Theaters. Ihr langjähriger Arbeitspartner arbeitete auch bei der Bühnen-Gestaltung ihrer neuen Produktion „Stars like Moths“ mit ihr zusammen, für die Choreographie zeichnet León aber alleine verantwortlich.

Dieses Stück ist eine knapp 45 Minuten kurze poetisch-skurrile Clownerie, die sich mit dem Werden und Vergehen allen irdischen Lebens befasst. Ganz unscheinbar kommt keine Geringere als Polina Semionova, die dem Staatsballett Berlin weiter als Principal Guest verbunden ist, auf die Bühne und lässt sich von Matthew Knight mit einer Wassermelone füttern. Mit diesem unerwarteten Moment beginnt eine musikalische Reise durch Barock-Musik von Bach oder Rameau und ätherisch angehauchte zeitgenössische Musik von Jóhann Jóhannson und Hilldur Guonadóttir. Das Ensemble trägt Kostüme von Joke Visser und Hermien Hollander, die zunächst an Windeln, später an Totenhemden erinnern.

In einer poetischen Schlusseinstellung nahe an der Kitschgrenze blicken alle gemeinsam auf eine Sternenhimmel-Projektion von Ennya Larmit. Typisch für diese kleine Arbeit ist, dass die Atmosphäre ironisch gebrochen wird und sich einer der Partner von Semionova, die sie umschwirren, lakonisch verabschiedet: er müsse jetzt verschwinden. Wie alle anderen friert er in der Bewegung ein, zurück bleibt die Star-Tänzerin im Zentrum, die sich wieder ihrer Wassermelone widmet.

Noch etwas kürzer ist die Arbeit von Sharon Eyal und ihrem bewährten Co-Choreographen Gai Behar, der wie der gesamte Doppelabend „2 Chapters Love“ heißt. Mit den für das israelische Duo typischen minimalistisch-zuckenden Bewegungen kommt Danielle Muir nach der Pause allein auf die Bühne. Sie ist das Bindeglied zwischen den stilistisch ganz unterschiedlichen Einzelteilen, was die Probenarbeit der künstlerischen Teams erschwerte, die nicht wie gewohnt parallel arbeiten konnten, wie Dramaturgin Katja Wiegand berichtete.

Nach und nach kommt das übrige Tanz-Ensemble hinzu und formiert sich zu einer martialischen Phalanx, während der Techno-Score von Ori Lichtik anschwillt. Beides ist für Eyals Regiehandschrift prägend. Die Kostüme von Isabel Theißen erinnern im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht an Roboter-Science-Fiction oder Berghain-Clubnächte, sondern wurden von antiken griechischen Marmorstatuen von Göttern wie Apoll inspiriert. Wie in Stein gemeißelt wirken die Körper der Tänzer*innen in ihren enganliegenden Bodysuits. In düstere Lichtstimmung taucht Alon Cohen das Bühnengeschehen.

Ein Meilenstein wie „Half Life“, mit dem sich Eyal 2018 in Berlin vorstellte und einen Triumph feierte, ist der neue Abend nicht. „2 Chapters Love“ ist zu sehr eine Variation bekannter Stilmittel und schon der Titel macht deutlich, dass sie sich unmittelbar auf ein früheres Stück, nämlich „Love Chapter 2“ (2017), bezieht. Sehenswert ist diese Choreographie dennoch: auch wenn sich Sharon Eyal nicht neu erfindet und sicher auch nicht die Wucht und das hohe Energie-Level von „Half Life“ erreicht, beeindruckt immer noch die Präzision, mit der sie bekannte Muster durchexerziert und leicht variiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/12/09/2-chapters-love-staatsballett-berlin-kritik/
Leserinnenkritiken: Das Sparschwein, SHL Schleswig
Am Samstag hatte Eugène Labiches Komödie „Das Sparschwein“ in der Übersetzung und Bearbeitung von Botho Strauß am SHL, Premiere. Labiches Komödien gehören seit über 150 Jahren zum Repertoire des Boulevardtheaters und sind Pariser Gesellschaftskomödien des 19. Jahrhunderts. „Das Sparschwein“ (UA 1864) nimmt die Bourgeoisie mit Witz und Humor auf die Schippe, ist dabei aber mehr als Klamotte. Labiches Komödien sind Spiegel der Mittelklasse und ihrer Werte. Diese temporeiche, komische Handlung zeigt Gefahren auf, die durch das Überschreiten von Normen provinzieller Wohlanständigkeit erwachsen können. Die Bearbeitung von B. Strauß (1973) verstärkt dies. Die Teilnehmer einer kleinbürgerlichen Kartenrunde schlachten ihr Sparschwein, um nach Paris zu reisen, wo sie „Unvergessliches“ erleben wollen. Jeder hat eigene Wünsche, wie z.B. Léonida (L. Oehlmann), die auf das Date mit einem Heiratskandidaten hin fiebert oder Colladan (T. Wild) der von einer neuen Hacke träumt. In Paris entwickelt sich dieser Ausflug - unerfüllter Träume - zu einer Katastrophe. Die Provinzler werden übers Ohr gehauen, für Diebe gehalten und landen auf dem Polizeirevier, wo sie mit Müh und Not entwischen. Die Nacht verbringen sie auf einer Baustelle, um am nächsten Tag ernüchtert in ihr Provinzstädtchen zurückzukehren. Die preiswürdige Bühne wird beherrscht von einem riesigen Schwein in den Farben der Trikolore (Bühne, Kostüme: Martin Apelt). Aus dieser Idee ergeben sich alle Bühnenbilder mittels der Dreiteilung des Schweines. Das Schwein - Symbol tierischer Natur - in der der Mensch gefangen ist. Beeindruckend auch die Kostüme (S. Wiedemann) und die Maske (J. Buck), die dem Bühnenbild in nichts nachstehen. W. Hofman inszeniert „Das Sparschwein“ in dieser grandiosen Kulisse als Komödie, in der alle ihr Fett abbekommen, wie z.B. naive Kleinstädter, denen ihr Egoismus zum Verhängnis wird, sowie rücksichtslose Weltbürger, die nur nach Profit schielen. Hofman entlarvt lustvoll mit humoristischem Blick menschliche Wesenszüge. Im I. Akt schafft er eindringliche Bilder, wie die sakrale Schlachtung des Sparschweines, die das Tor zu „Unvergesslichem“ öffnen soll, oder das Missverständnis zwischen Felix (G. Imkamp) und Champbourcy (D.S. Greis) als dieser um Blanche (L. Oldenburger) anhält und der Brautvater nur mit zählen des Geldes beschäftigt ist. Auch im II. Akt setzt Hofmann auf filigranen Humor, wenn sich Sylvain (T.I. Heise) an den anderen Gästen vorbei drängt, um Platz zu nehmen. Akt III – herrlich wie das dreigeteilte Schwein zum Gefängnis wird. Dann Akt IV, das Paradestück. N.F. Maak als Heiratsvermittler Cocarel und F. Pasch als Joseph, Diener bei Cocarel. N.F. Maak mit manieristischen Gesten, ein androgynes Wesen zwischen Nosferatu und Femme fatal mit ihrem sich marionettenhaft bewegenden Diener (F. Pasch), ein „pas de deux“ skurriler Komödie, das einem den Atem raubt. In diesem Duo erklimmt der Abend den Olymp. Akt IV ist die tollste Kerze auf der Torte und spart nicht an Gags, wie die Schläge mit der „Blumenkeule“. Akt V die Baustelle, das Schwein mit einer Plane verhangen, wie ein Christo Monument und abgesperrt mit rot-weißen Sicherheitsbändern. Alles löst sich in Wohlgefallen auf und der Alptraum träumender Kleinbürger findet ein Ende. Cordenbois (F. Ströbel), der immer zu bauchig war und Léonida (L. Oehlmann), die einen jungen Liebhaber suchte, überlegen, ob sie nicht eine respektable wirtschaftliche Gemeinschaft abgeben würden. Doch dies soll erst wieder in der Provinz entschieden werden. Dieses Sparschwein war der triumphale Abend der Schauspielerinnen (N.F. Maak, F. Pasch, L. Oldenburger und L. Oehlmann), der aber ohne die starke Unterstützung des „starken Geschlechts“ (F. Ströbel, D.S. Greis, G. Imkamp, T. Wild, T.I. Heise, K. Möller und D. Pörtner) nicht hätte gelingen können.
Leser*innenkritik: Die große Klassenrevue, Berlin
"Die große Klassenrevue" von Christiane Rösinger, HAU 1

Markenzeichen von Christiane Rösingers HAU-Revuen sind ihr Sprechgesang und der aufklärerische Elan, mit dem sie sich durch politische Missstände wühlt. Im September 2019 beschäftigte sich sich zum Spielzeitauftakt mit den galoppierenden Mieten und der Gentrifizierung, die nicht nur das Kreuzberger 68er-Biotop, das im Schatten der Mauer so prächtig gedeihen konnte, in den vergangenen Jahren so grundlegend veränderte.

Zum Auftakt der aktuellen Spielzeit widmet sie sich einem eng verwandten Thema: den Klassenschranken, der sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich und dem seltsamen Phänomen, dass sich in Deutschland fast alle als Mittelschicht definieren, von Privatflugzeug-Besitzer Friedrich Merz bis zur Supermarkt-Kassiererin. Diese rätselhafte Entwicklung thematisieren Rösinger und ihre Mitstreiter*innen pointiert in einem der ersten Songs.

Zuvor legen alle aus dem Bühnen-Ensemble ihre Herkunft offen: beim Privilegien-Check darf jede einen Schritt nach vorn, die ein besonders bildungsfernes Elternhaus und schwere Startchancen hatte. Diese autobiographischen Schnipsel ziehen sich als roter Faden durch den knapp 100minütigen Abend.

Dazwischen gibt es kleine Musical-Nummern, die in ihrem bewusst dilettantischen Charme an das „Hyäne Fischer“-Musical der Volksbühne erinnern, und klassisches Polit-Kabarett. Die Ballade „Eternal Flame“ wird zum Plädoyer für ein Grunderbe umgedichtet. In einer Talkshow-Parodie stöhnt eine Streetworkerin über die abgeschotteten Reichen-Clans im Grunewald, die für sie einfach nicht zu erreichen sind.

In solchen Momenten blitzt das Potenzial auf, der Rest kommt nicht über eine launige Revue hinaus. Zum Schluss klinkt sich noch als Stargast aus Wien Stefanie Sargnagel ins Geschehen ein.

Nach der Premiere am 21. September 2023 wurde „Die große Klassenrevue“ im HAU 1 am 8./9. Januar 2024 wiederaufgenommen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/09/die-grosse-klassenrevue-hau-kritik/
Leser*innenkritik: Mann ist Mann, Berlin / BE
"Mann ist Mann" von Bertolt Brecht, Regie: Max Lindemann, Berliner Ensemble, Koproduktion mit HfS Ernst Busch

Für ihre aktuelle Koproduktion mit dem Berliner Ensemble suchten sich die Studentinnen und Studenten der HfS Ernst Busch ein selten gespieltes Stück des Ahnherrn der Bühne am Schiffbauerdamm aus: Bertolt Brecht bezeichnete sein vielfach umgeschriebenes Stück „Mann ist Mann“ als Lustspiel, befasst sich aber mit sehr ernsten Themen trauriger Aktualität.

Im Mittelpunkt des Stücks steht der Packer Galy Gay (Nele Trebs, ihre beiden älteren Brüder Theo und Enno sind dem Theater- und Kinopublikum vertraut), der zu wenig Rückgrat hat und immer nur ja sagt. Von den Soldaten, die zufällig seinen Weg kreuzen, wird er gedrängt, vorübergehend eine falsch Identität anzunehmen, um den Sergeant am Zählappell zu täuschen. Der Abend erzählt, wie die Manipulation immer rücksichtsloser wird und Galy Gay alias Jeraiah Jip „ummontiert“ und zur Kampfmaschine abgerichtet wird.

Der junge Regisseur Max Lindemann, der am Berliner Ensemble in dieser Spielzeit auch schon eine Sibylle Berg-Uraufführung inszeniert und die szenische Lesung des Romans „Fremd“ eingerichtet hat, betont die farcehafte Komik des Plots. Mit viel Tempo und Slapstick beginnt der 100 Minuten lange Abend im Neuen Haus des BE, nur langsam verdüstert sich die Atmosphäre.

Schon in der Cross-Gender-Besetzung der männlichen Hauptfigur ist das Spiel mit Rollenklischees angelegt. So tragen einige Soldaten Röcke zum figurbetonten Tank Top und schon die erste Szene zwischen Gay und seiner Frau (Dominikus Weileder) parodiert machohafte Übergriffigkeit.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/13/mann-ist-mann-berliner-ensemble-kritik/
Leser*innen-Kritik: Tanztage, Sophiensaele
Tanztage, Sophiensaele, Berlin

Kurz nach dem Festival-Eröffnungswochenende heizte das exilkubanische „Colectivo Malasangre“ mit "Qué Bolero o En Tiempos de Inseguridad Nacional" im Berliner Winter ein. Das war anfangs nicht zu vermuten: Betont unterspannt tasten sie sich heran, lange plätschert die Performance etwas ziellos vor sich hin. Latino-Karneval-Motive werden anzitiert und der Anführer des Trios gibt auf halber Strecke schließlich den Richtungswechsel vor: als schillernd-exaltierte Diva tänzelt er durch den Rest des Abends.

Irgendwann kommt man dann schließlich zum titelgebenden „Bolero“: einer der berühmtesten Repertoire-Klassiker der westlichen Moderne trifft auf eine laszive Workout-Performance des Trios Lazaro Benitez, Luis Carricaburu und Ricardo Sarmiento. Alle drei sind in den 1990ern auf Kuba geboren, das sich auch nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts weiter abschottete. Sie gingen nach Europa und kontrastieren das Meisterwerk französischer Kompositionskunst mit klischeehaften Gesten und Posen von lateinamerikanischem Machismo in Unterwäsche. Das Spektakel mündet in einen Aufruf zur Freilassung politischer Gefangener auf der Karibik-Insel.

Erschreckend war, wie unsensibel und stumpf einige im Sophiensaele-Publikum fast die gesamte Show über mitfilmten und mit ihren hell erleuchteten Smartphone-Displays die gedämpfte Lichtstimmung störten. Zum Glück waren solche Zustände an den weiteren Festival-Abenden nicht mehr zu erleben.

Wenige Tage später folgte im Hochzeitssaal im Dachgeschoss der Sophiensaele das Gastspiel „Fists to Flowers“ von Yotam Peled & The Free Radicals. Das Publikum gruppiert sich um das zunächst leere Rechteck, auf ihren Stühlen in jeder Ecke lauern die vier Performer*innen wie vor einem Boxkampf.

Knapp eine Stunde lang interagieren Erin O’Reilly und ihre drei Mitstreiter Andrius Nekrasovas, Nicolas Knipping sowie der israelische, in Berlin lebende Choreograph Yotam Peled mit viel Körperkontakt. Die Stimmung wechselt zwischen zärtlichen, sich gegenseitig beschützenden Momenten und testosterondampfend-aggressivem Kampfsport. Zeitgenössischer Tanz trifft in dieser ungewöhnlichen Arbeit auf Elemente aus dem Boxen und Wrestling: ein vielversprechender Auftritt!

Der dramaturgische Bogen wirkte noch nicht ganz schlüssig, da es zwischendurch eine Phase des Leerlaufs gab, bevor sich das „Weichwerden“ und „Verhärten“ der Körper fortsetzte, das die Ankündigung beschrieb.

Als minimalistisches Duett zu wummernden Beats beginnt „We are (nothing) everything“ von Makisig Akin (they/them) und Anya Cloud (she/they). Sie lassen sich gemeinsam über die Bühne treiben, verharren im Mittelteil eng umschlungen in einem ausgedehnten Moment der Stille und fahren das Energie-Niveau wieder hoch. Nach einem Wrestling-Kampf mischen sich die beiden Performer*innen unters Publikum, klettern auf ein Gerüst und küssen sich leidenschaftlich.

Im Abschluss-Statement betont Akin den Kampf für „Queer and Trans Liberation“ als zentrales Anliegen dieser Choreographie der „The Love Makers Company“ und stellt sich in die Tradition schwarzer Aktivistinnen wie Audre Lorde. Dies war aus der ca. 75minütigen Arbeit auch klar herauszulesen. Überraschend bruchlos ging das das Statement in eine vom Publikum bejubelte Solidaritäts-Erklärung mit Palästina über: der Kampf für Palästina und Trans-Rechte gehöre zusammen. Das kurze Statement mündete in einen „Ceasefire“-Appell, der offensichtlich den Nerv des Freie Szene-Publikums traf.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/11/tanztage-2024-sophiensaele-kritik/
Leser*innen-Kritik: Corps extrêmes, Berlin
"Corps extrêmes", Compagnie de Chaillot / Rachid Ouramdane, Gastspiel Performing Arts Season, Berliner Festspiele

In einem Video-Einspieler erleben wir den französischen Hochseilartisten Nathan Paulin, wie er über eine Gebirgsschlucht balanciert. Aus dem Off kommentiert er seine Aktion, philosophiert über seine Motivation, sich diesem extremen Nervenkitzel zu stellen.

Mit neun weiteren Akrobat*innen und Extremsportler*innen, darunter auch Nina Caprez, ehemalige Schweizer Meisterin im Sportklettern, folgt eine einstündige Leistungsschau ihres Könnens auf der Slackline und an der Boulderwand, die im Haus der Berliner Festspiele aufgebaut wurde, garniert mit viel Paarakrobatik. Unterbrochen wird die Live-Show mit weiteren Video-Einspielern und meditativem Nabelschau-Off-Kommentar.

Ähnliche akrobatische Einlagen sieht man in Berlin regelmäßig im Chamäleon, das in den Hackeschen Höfen allerdings für eine derart großformatige Performance zu klein wäre, wie sie Rachid Ouramdane mit „Corps extrêmes“ inszeniert. Der Direktor des Pariser Chaillot – Théâtre national de la Danse brachte diese Arbeit in Frankreich bereits kurz nach den Corona-Lockdowns im Sommer 2021. Damals mag diese Performance noch eine andere Wucht entfaltet haben, als die Künstlerinnen und Künstler nach langen Monaten der Stream-Isolation den gemeinsamen Theaterraum zurückeroberten.

Bei dem dreitägigen Gastspiel dieser Deutschland-Premiere ist zwar die Körperbeherrschung der zehn Sportler*innen beeindruckend, künstlerisch bleibt dieser nur eine Stunde kurze Cirque Nouveau-Abend irgendwo zwischen Leistungsschau und raunendem Off-Kommentar stecken. Ein klarer kuratorischer roter Faden zeichnet sich in der ersten „Performing Arts Season“ der Berliner Festspiele nicht ab. Jeder einzelne Abend ist mehr oder minder hübsch anzusehen, die Reihe springt jedoch wild zwischen Genres und Kunstgattungen hin und her. In dieser Woche geht es mit politischen Dokumentartheater von Rimini Protokoll weiter.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/23/corps-extremes-berliner-festspiele-kritik/
Leserkritik: Antigone in the Amazon, HH
Das NTgent gastierte auf den Lessingtagen am Thalia Theater in Hamburg mit „Antigone in the Amazon“ in der Regie von Milo Rau. Stück und Inszenierung stehen in der Theatertradition Augusto Boals dem „Theater der Unterdrückten“ und dem „Legislativen Theater“. Rau verbindet die „Antigone“ des Sophokles mit den Protesten indigener Landbesetzer in Brasilien und erarbeitet mit ihnen „Antigone in the Amazon“. Zentrales Thema ist die blutige Niederschlagung des Protestes der „Bewegung der Landlosen“ aus dem Jahr 1996. Es ist ein Lehrstück auch in der Tradition des epischen Theaters, das vom Kampf der unterdrückten Landbevölkerung im wirtschaftlich armen Bundesstaat Pará handelt. Die schwarze Bühne (Bühne: Anton Lukas) ist mit roter, staubiger Erde bedeckt. Nahe der Bühnenrampe stehen links einige Musikinstrumente und rechts ein Tisch mit Plastikstühlen und ein Garderobenständer mit Kostümen. Aus dem Schnürboden können bei Bedarf Videowände herabgelassen werden, auf denen Aufnahmen aus der Antigone-Produktion in Brasilien abgespielt werden und den zentralen Fixpunkt der Geschehnisse in Brasilien reflektieren. Eine Schauspielerin (Sara De Bosschere) und drei Schauspieler (Frederico Araujo, Pablo Casella, Arne De Tremerie) bestreiten den Abend in verschiedenen Rollen. Pablo Casella erzählt von der Antike und Antigone und setzt das Zeichen „Es geschieht manch Ungeheuerliches, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, dem folgt die Erzählung über den Kampf der brasilianischen Landbesetzer, die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage aus Macht- und Habgier wehren. Dieses Theater ist Revolution! Trotz des blutigen Massakers 1996 eine ungewöhnlich empfindsame Inszenierung, der weder Zorn noch Empörung verloren geht. Beklemmend wirkt manches durch das Verschmelzen der antiken Antigone mit dem Widerstand der brasilianischen Bevölkerung. Die Brasilianer sind nur in den Videos gegenwärtig aber in Wechselwirkung mit den Schauspielern auf der Bühne, was exzellent gelingt. Diese Antigone ist eine interessante Verflechtung von Theater, Politik und Poetik. Interessante Sichtweisen werden präsentiert, da der Suizid, bei den indigenen Landbewohner, als hohes Gut geachtet wird, da er die Befreiung aus einem qualvollen Leben ist und der Kampf um ein menschenwürdiges Leben bis zum Ende geführt wird. Ständig bricht sich der antike Antigone-Stoff mit den Bildern des empathischen Kampfes der brasilianischen Landbevölkerung. So wird das Auftreten des Sehers Teiresias ironisch kommentiert mit der Bemerkung, das Seher in antiken Tragödien immer erst dann auftreten, wenn das Unglück schon seinen Lauf nimmt. Ein Abend über die Probleme der indigenen brasilianischen Bevölkerung, der durch das Erzählen von Geschichten an Lebendigkeit gewinnt. Milo Rau hat einen intelligenten politischen Theaterabend auf die Bühne gestellt, der in seiner Empfindsamkeit zur Reflexion und Nachdenklichkeit anregt. Erwähnenswert ist auch das Programmbuch, das eine Menge zusätzlicher Informationen liefert und den Theaterabend komplettiert.
Leserkritik: Employees, Lessingtage HH
Das polnische STUDIO teatrgaleria gastierte auf den Lessingtagen des Thalia Theaters in Hamburg mit einer Performance des Romans „The Employees/ Die Angestellten“ von Olga Ravn in der Regie von Lukasz Twarkowski. Dieser Science-Fiction handelt von dem Projekt Menschen und Humanoide („Maschinen“) in ihrer Arbeitseffizienz zu analysieren und zu optimieren, um die Arbeitskraft des Menschen durch Humanoide, im Falle größerer Effizienz, zu ersetzen. Thema sind Wissensoptimierung, Checklisten kontrollierte Arbeitsabläufe und definierte Zielvorgaben, um nicht effektive Arbeitskräfte konsequent und brutal zu eliminieren. Dies geschieht in einem Raumschiff mit Wesen, die geboren wurden und sterben werden (Menschen?) und solchen die mittels Algorithmen entwickelt und optimiert werden und abgeschaltet werden können (Humanoide?). Diese Performance wird in einem Quader (Bühne: Fabien Lédé) bespielt, der zentral im Raum steht und von Zuschauertribünen umgeben wir. Im Zentrum des Quaders steht eine Säule aus Lichtröhren. An den Längsseiten des Quaders befinden sich jeweils ein riesiger Bildschirm und mit durchsichtigen, farbigen (grün, gelb, rot) Plastikbahnen verhangene Eingänge in den Quader. Die obere Hälfte des säulenförmigen Quaders sind riesige Projektionswände. Im Inneren des Quaders befinden sich an den Längsseiten vier Korridore und ein zentraler Raum, der auch noch durch farbige, durchsichtige Plastikbahnen begrenzt werden kann. Das Publikum darf sich während der ganzen Performance frei im Raum bewegen und das Geschehen aus wechselnden Perspektiven beobachten (Controller des Projektes). Zu den sieben Akteuren*innen gesellen sich drei Kameraleute, die die Videos produzieren und in den dreiminütigen Pausen wie Humanoide sich im Raum bewegen. Dieses Setting aus Licht, Musik, Video, Sprache (Text) und Spiel wird zu einem grandiosen, bildgewaltigem Erlebnisraum, der den Zuschauer*in als Beteiligten mit auf die Reise nimmt. Zunächst erweitern die Humanoiden ihre Algorithmen in Bezug auf menschliches Verhalten durch Fragen und Wahrnehmungen, was die Menschen zum Teil sehr nervt und emotional „ausrasten“ lässt. Im Laufe der Zeit entsteht zwischen den Menschen, Humanoiden und Objekten (z.B.: schwarzer Stein) eine menschenähnliche Zuneigung und Solidarität. Das Projekt gerät zunehmend aus den Fugen, da sich die Humanoiden nicht immer im Sinne der Projektleiter updaten lassen, sondern sich nach Abschaltung auch wieder anschalten können und einmal gespeicherte Algorithmen nicht verloren gehen. Mensch und Humanoide kommen sich immer näher in ihren Gefühlswahrnehmungen und Austausch von Zärtlichkeit und Trans-Spezies-Zuneigung greift um sich. Die „Vermenschlichung“ der Humanoiden wird bildlich fassbar durch das metallene Ei, das beim Kuss zwischen Menschen und Humanoide übertragen wird oder der Blutstropfen, der einer Humanoiden aus der Nase läuft. Twarkowski wird noch bildgewaltiger, indem Mensch und Humanoide - nackt - ein Gemälde des Sündenfalls im Paradies nachstellen. In diesen Momenten erreicht die Performance transzendente Ausmaße, die man nur sehr selten im Theater erleben kann. Dem Publikum eröffneten sich die unterschiedlichsten Wahrnehmungen durch die freie Bewegung im Raum. Videoaufnahmen, direktes Spiel der Darsteller*innen, Perspektivwechsel und die Beobachtung des Publikums. Das Publikum wurde aktiver Teil des Projektes und einige Darsteller*innen reagierten sogar auf Kontaktaufnahme aus dem Publikum mit Blicken oder kleinen Gesten. Twarkowski bebildert phänomenal wie Grenzen zwischen Menschen und Humanoiden verschwimmen und was letztendlich das Menschsein in der Zukunft noch ausmacht. Erschütternd zu sehen, wie austauschbar Einzelne werden, am Beispiel von Menschen und Humanoiden, die sich im Denken und Handeln immer mehr angleichen, obwohl sie zwei unterschiedlichen Entitäten angehören. Das Projekt wird storniert und damit bleibt das Ende offen, obgleich alle Versuchsobjekte verloren sind.
Leserkritik Apocalypse Tomorrow, Hamburg: extrem physisch
"Apocalypse Tomorow", Kirill & Friends, Lessingtage, Thalia Theater

Durch kraftraubende 105 Minuten jagen Evgeny Kulagin und Ivan Estegneev ihr sechsköpfiges Ensemble. Der Weltuntergang steht unmittelbar bevor: die letzten verbliebenen Menschen zappeln und zucken, fallen ein letztes Mal lustvoll übereinander her oder prügeln sich.

Die Handschrift ihres Mentors Kirill Serebrennikow ist an diesem Abend, der im Rahmen der Lessingtage in der Thalia Gaußstraße Premiere hatte: „Apocalypse Tomorrow“ ist extrem physisches Theater, das den Spieler*innen in puncto Athletik und Ausdauer sehr viel abverlangt und in der Schönheit der Körper schwelgt. Es ist eine Performance, in die sich die Krisenstimmung und die Kriegserfahrungen der vergangenen Monate und Jahre tief eingeschrieben haben und die unter dem Überdruck der Gefühle und Themen, die sich Gehör verschaffen wollen, fast zu bersten droht.

„Apocalypse Tomorrow“ ist eine der ersten Produktionen des neuen Labels „Kirill & Friends“: Kulagin/Estegneev arbeiten mit einigen Spielern zusammen, die fest zum Inventar von Serebrennikow-Inszenierungen am mittlerweile geschlossenen Gogol Center oder am Thalia Theater gehören, wie Odin Biron und Nikita Kukushkin. Eine perfekte Ergänzung ist Campbell Caspary, der an der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz im vergangenen Jahr mit Constanza Macras und René Pollesch arbeitete und in seiner Radikalität oft noch einen Schritt weiter geht als der Rest des Casts.

Campbell Caspary und Nikita Kukushkin

Der Abend lebt von der Körperlichkeit. Auf der spielerischen und textlichen Ebene ist es eine lose Abfolge kleiner Szenen mit emotionalen Ausrufen (meist auf Englisch ohne Untertitel, seltener auf Deutsch). Die Stückentwickung umkreist ihrer Thema des nahenden Weltuntergangs und der hysterischen Reaktionen der Figuren. Aus dem Material hätte Serebrennikow selbst mit dramaturgischem Feinschliff vermutlich noch etwas mehr herausholen können. Aber auch ohne die Zuspitzung bleibt der Eindruck einer Tour de Force eines Ensembles, das sich in seine Verzweiflung hineinwirft, bevor der Abend überraschend optimistisch endet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/02/apocalypse-tomorrow-lessingtage-kritik/
Leserkritik: Grandpa Puss, Hamburg
"Grandpa Puss; or how God disappeared" von Lisaboa Houbrechts / Gastspiel laGeste, Gent Belgien, Lessingtage Thalia Theater

Zum Abschluss der Lessingtage gastiert Lisaboa Houbrechts mit einer ebenso wuchtigen wie düsteren belgischen Familiensaga am Thalia Theater. Der Großvater (Stefaan Degand) erinnert sich mit seiner Enkelin an traumatische Missbrauchserfahrungen als Ministrant durch einen katholischen Pfarrer.

Houbrechts überfrachtet ihre autobiographisch inspirierte Geschichte durch ein Übermaß von Theatermitteln. Die Choräle aus Johann Sebastian Bachs Johannespassion begleiten den Leidensweg der Familie, der vom Missbrauch bis zu Krebserkrankungen reicht. Zwischen Tanzeinlagen, Rap, Hiphop und Akkordeon thront in der Mitte der Bühne ein schwarzer Quader, der die Figuren so zu erschlagen droht wie die Theatermaschinerie den Plot.

Die junge Regisseurin setzt in ihrer Cross-over-Produktion aus Tanz (laGeste, ehemals les ballets C de la B), Oper (Opera Ballet Vlaanderen) und Schauspiel (Toneelhuis Antwerpen, dort ist sie seit 2022 im Leitungsteam) in der zweiten Hälfte stärker auf das Wort. Der Abend steuert auf das Rededuell des Missbrauchsopfers mit der Großmutter des Mädchens zu: Er hat den Glauben an Gott verloren und hasst die katholische Kirche, in deren Namen ihm so schweres Leid zugefügt wurde. Für sie bleibt die Religion der zentrale Anker ihres Lebens. Auf die Theodizee-Frage, wie ein angeblich allmächtiger Gott das zulassen könne, rechtfertigt sie sich mit den klassischen, theologischen Argumenten. Die Rolle der gläubigen Frau spielt Elsie de Brauw, die mit Johan Simons ans Schauspielhaus Bochum kam.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/02/grandpa-puss-or-how-god-disappeared-lessingtage-kritik/
Leser*innenkritiken: Die Blechtrommel, Flensburg
Der Roman „Die Blechtrommel“ von Günter Grass erschien 1959 als erster Teil der Danziger Trilogie und ist einer der meistgelesenen Romane der deutschen Nachkriegsliteratur. 2010 gab es die erste Bühnenfassung in der Regie von Jan Bosse/Armin Petras auf der Ruhrtriennale. Es folgten weitere Bearbeitungen der Blechtrommel für die Bühne wie z.B. 2015 im Schauspiel Frankfurt, dem Berliner Ensemble und dem Thalia Theater Hamburg mit Barbara Nüsse als Oskar sowie 2016 im Lübecker Theater in der Bearbeitung von Peter Schanz und eine mobile Konzertlesung mit Schlagzeug. 2024 bringt nun das SHL die Bearbeitung der Blechtrommel von Peter Schanz auf die Bühne. Ulrich Leitners Bühne besteht aus einem zentralen Holzpodest, über dem ein Kronleuchter artiges Gebilde aus Zetteln besteht, die Oskar in der Heilanstalt schrieb. Die Bühne wird durch drei Stellwände begrenzt, die als Projektionsfläche dienen und an denen die Kostüme für die verschiedenen Rollen hängen. Weiterhin finden sich drei Plastiken aus Metallstangen auf der Bühne, die an Ruinen erinnern. Alle Personen bis auf Oskar (Tom Wild) und Bebra (A.R. Schridde) haben bandagierte Köpfe aus denen Haare hervor scheinen als Zeichen einer politisch kranken Gesellschaft? Das Bühnenbild weist typische Elemente des epischen Theaters auf. Moritz Peters inszeniert die Blechtrommel als ironisch, zynisches Spiegelbild des aufkommenden Nationalsozialismus, indem eine Gesellschaft auseinanderdriftet, um in einer Katastrophe zu enden, was als Menetekel „Nie wieder“ über uns schwebt. Die einzelnen Szenen folgen chronologisch der Romanvorlage, worin eine Schwäche liegt, da den Schauspielern*innen teils zu wenig Raum bleibt, um echte Figuren zu schaffen. Dies gelingt im Laufe der Inszenierung immer besser und so sind die hektischen, verhuschten Szenen am Anfang schnell vergessen. Besonders eindringlich sind die Szenen zwischen Oskar und Bebra, in denen die Bedeutung von Macht – „es ist besser auf oder unter der Bühne zu sein, als vor der Bühne“ - deutlich wird. Eine weitere sehr feinfühlig gearbeitete Szene ist die Geschichte zwischen Maria (I.F. Sander) und Oskar mit dem Brausepulver und etliche mehr. Je weiter die Story voranschreitet, desto eindringlicher werden die Bilder und die Bedrohlichkeit wächst und wächst, eine der Stärken dieser Inszenierung. Doch das Juwel dieser Inszenierung ist Oskar Matzerath (Tom Wild), der im Alter von drei Jahren beschließt sein körperliches Wachstum einzustellen und sich somit der Welt der Erwachsenen verweigert. M. Peters tut gut daran, dass er die Rolle des Oskars nicht auf mehrere Darsteller aufsplittert und so die Entwicklung und Wandlung Oskars (Tom Wild) in allen Facetten seines Wesens miterleben lässt. Aus der Kinderperspektive beobachtet er mit analytischem Blick private und zeitgeschichtliche Entwicklungen. Oskar der Störfaktor - Narr und Anarchist - in einer Welt, die dem Wahnsinn anheimzufallen droht, bringt deren Grausamkeiten und Widersprüche ans Licht, mit Hilfe seiner rot-weißen Blechtrommel und seiner Stimme, die Gläser zerspringen lässt. M. Peters gibt seiner Inszenierung einen noch besonderen Kick, indem er Oskar (Tom Wild) zwei Songs performen lässt, die einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Der Roman zeigt drei Hauptperspektiven Oskars auf: Oskar als Kind - Oskar als „Jesus/Hitler“ - Oskar als Künstler. Diese Stationen Oskars werden alle erwähnt aber nicht immer mit der besonderen Intensität aufgeladen, um das Grauen der Zeit ins Publikum zu transportieren. Dennoch trifft die Inszenierung ins Mark; denn das Verhältnis des Kleinbürgertums zum Nationalsozialismus wird klar. Der Abend zeigt uns, was es bedeutet Übernahme von Verantwortung zu verweigern und wie Mitlaufen im alltäglichen Geschehen, Risiken für autokratische Systeme fördert. Wir - jeder einzelne - rücken ins Zentrum des Geschehens; denn uns wurde gezeigt, wie durch Wegsehen, Mitlaufen, Dulden und schließlich Ausführen ein System des Grauens etabliert wurde.
Leserkritik: Prima Facie, S.-H. Landestheater
PRIMA FACIE der MeToo-Monolog von S. Miller (Juristin und Dramatikerin) in der Übersetzung von A. Rabe steht derzeit auf dem Spielplan des SHL und wird auch als „mobiles theater“ für Schulen angeboten. Millers PRIMA FACIE (Lat. dem ersten Anschein nach) ist eine feministische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem, in der die Frage gestellt wird, ob mit einer Reform des Sexualstrafrechts bereits alles getan wäre, um Opfern sexueller Gewalt gerecht zu werden. Die Komplexität von Recht und Gerechtigkeit im Kontext sexueller Gewalt wird dargestellt und fordert zum Nachdenken über die Realität von Tätern und Opfern auf. PRIMA FACIE macht die patriarchale Macht der Justiz anhand eines Falles auf beeindruckende, einfühlsame Weise sichtbar. Ein brandaktueller Monolog, da auch die BRD eine EU-Richtlinie (seit 2022) zur europäischen Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts blockiert, in der „Sex ohne Zustimmung“ als Vergewaltigung definiert wird und somit nur ein „JA“ zur Straffreiheit führt und nicht ein „NEIN“ wie im deutschen Strafrecht. Die BRD blockiert, da die EU nur Straftaten einheitlich regeln darf, die im Katalog besonders schwerer Straftaten aufgeführt sind und Vergewaltigung bisher nicht dazu gehört. Neele F. Maak spielt die Anwältin Tessa in der Regie von S. Streifinger. Tessa hat es geschafft aus einer unteren sozialen Schicht in einer renommierten Kanzlei zur Top-Strafverteidigerin aufzusteigen. Sie verteidigt Männer, die wegen sexueller Straftaten angezeigt wurden. Tessa nimmt Zeuginnen der Anklage systematisch ins Verhör, um Zweifel am sexuellen Vergehen - im Sinne ihrer Mandanten -offenzulegen; denn „er wusste nicht, dass es kein Einvernehmen gab“. Sie reiht gewonnene Fälle aneinander, bis sie zum Opfer eines sexuellen Übergriffes wird. Nun wird sie mit Erfahrungen konfrontiert, die ihre Selbstbestimmtheit in Frage stellen. Sie erstattet Anzeige und findet sich vor Gericht als Klägerin wieder. Von der Strafverteidigerin ist sie zur Zeugin der Anklage geworden, deren Aussagen angezweifelt werden und solange Zweifel an der Tat bestehen, reichen ihre Aussagen nicht, um den Täter zu verurteilen. Auf fast leerer Bühne stehen ein Tisch, Stuhl und Akten. Tessa ist in einen grauen Hosenanzug mit weißer Bluse gekleidet. Tessa (N.F. Maak) ist als Strafverteidigerin, zunächst die knallharte Verfechterin des geltenden Rechtssystems. Später durchlebt sie als Klägerin die Angst der Wiederbegegnung mit dem Täter, die Selbstzweifel, das endlose Warten auf den Prozess, die Demütigungen der Befragungen bis hin zur Retraumatisierung. N.F. Maak bringt all diese Facetten Tessas überzeugend und ins Mark treffend auf die Bühne, da sie es nicht scheut ständig an Grenzen zu gehen und sich und die Zuschauenden nicht zu schonen. Zunächst der kämpferische Profi, der seine Triumphe zelebriert, mit Arroganz, Überheblichkeit und sich für unschlagbar hält. Das gnadenlose, retraumatisierende Kreuz-Verhör ihre schärfste Waffe. Dann die Wandlung zum verletzlichen Menschen, der selbst dem vertrauten Justizsystem nicht gewachsen ist, bis hin zur alten Stärke, um mit Empathie das System zu ändern. All diese Phasen durchlebt man mit Tessa, da N.F. Maak immer authentisch und überzeugend agiert. Maak versteht es durch ihr variables, erschütterndes Spiel den Zuschauer diese Entwicklung Tessas miterleben zu lassen. Diese außergewöhnliche, schauspielerische Leistung schafft nachhaltige Wirkung beim Zuschauen und begreift, dass weibliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt nicht in ein männlich geprägtes Strafrecht passen. Dieser Leidensweg sexuell missbrauchter Frauen verdeutlicht, warum die Dunkelziffer bei Sexualstraftaten hoch ist und viele sexuelle Übergriffe nicht zur Anzeige kommen, da die Opfer es nicht ertragen. Dieser Monolog ist ein Plädoyer für besseren Schutz sexuell missbrauchter Frauen im Rechtssystem und man kann nur hoffen, dass die geplante EU-Richtlinie zum Sexualstrafrecht doch noch umgesetzt wird.
Leserkritik: Schall & Rausch, Berlin
"Schall & Rausch"-Festival der Komischen Oper in Neukölln

Den Turner Yuri van Gelder kennen hierzulande wohl nur die wenigsten. Anders sieht es in den Niederlanden aus: er war ein vielversprechendes Talent, wurde 2005 nach einem Welt- und drei Europameistertiteln zum Sportler des Jahres in seiner Heimat gewählt, als "Lord of the Rings" gefeiert, stand jedoch 2009 vor den Trümmern seiner Karriere, als bei einer Dopingkontrolle Kokain nachgewiesen wurde. Nach Sperre und Suspendierung aus dem Sportkader der Armee kämpfte er sich zurück, schaffte im zweiten Anlauf die Qualifkation zu den Olympischen Spielen in Rio 2016. Im Finale konnte er nicht antreten, da ihn das NOK erneut suspendierte: er war bei einer Sauftour kurz vor dem Wettkampf erwischt worden.

Dieser Athlet, der sich mit so viel Einsatz an die Spitze kämpfte, über eigene Fehler und seinen Rauschzustand stürzte, sich zurückkämpfte und erneut über seine Fehler und seinen Rausch stürzte, bietet so viel tragikomisches Potenzial, dass man ein großes Biopic oder eine mehrteilige Serie über ihn drehen könnte. Das niederländische Performance-Kollektiv entschied sich, seine Geschichte in dem 40minütigen Stück „Yuri“ zu erzählen.

In einer kraftraubenden Performance schildern sie Aufstieg und Fall, Wiederaufstieg und erneuten Fall aus der Ich-Perspektive ihrer Figur. Fast nonstop sind sie in Bewegung und keuchen die auf Englisch übertitelte Lebensgeschichte in die Mikros, während sie ihr Workout-Programm im KINDL - Zentrum für zeitgenössische Kunst durchziehen. Von dieser einen Idee lebt die kurze Performance. Die Figur Yuri hätte noch mehr spannendes Material für weitere Auseinandersetzungen geboten.

Wenige Gehminuten entfernt lud Daniel Cremer zu „Like A Prayer“ ins SchwuZ. Nach „Born to Make you happy“ und „The Miracle of Love“, das 2019 beim Gorki-Herbstsalon zu sehen war, schließt er mit dieser Solo-Performance eine Trilogie ab. Zwei Inspirationsquellen nennt Cremer auf dem Abendzettel: die Popheroin Madonna, der monatlich mit der „Madonnamania“-Party im SchwuZ gehuldigt wird, und der Schlager-Nackt-Party am selben Ort.

Die einstündige Performance könnte man am ehesten als Stand up-Comedy mit ein paar Mitmachaktionen und eingestreuten Schlagern aus den 1970ern und 1980ern beschreiben. Garniert wird das Ganze mit einem Trommelritual und der wiederholten Beschwörung, wie einzigartig jedes Individuum sei. Das Publikum hatte seinen Spaß zum Ausklang des Wochenendes, aber dramaturgisch gelungen war dieser ziemlich belanglose Stand up-Auftritt nicht.

Beide Shows liefen an diesem Wochenende im Rahmen des „Schall & Rauch-Festivals für brandneues Musiktheater“, das die Komische Oper Berlin vom 9.-18. Februar 2024 an mehreren Neuköllner Orten veranstaltet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/12/schall-und-rausch-komische-oper-kritik/
Leserkritik: Von Schmetterlingen ..., Melchingen
Spiegel im Spiegel

Wer bist Du? Und wie erkennst Du, was wirklich ist? Was ist real, was Illusion? Sind Illusionen realer als die sogenannte Realität oder sind Illusion und Realität sogar deckungsgleich? Das sind zentrale Fragen im ZEN und auch im Theaterstück »Von Schmetterlingen und Steckenpferden«, inszeniert und geschrieben von “ZenMeister“ Marc von Henning für das Theater Lindenhof in Melchingen auf der Schwäbischen Alb.

Für Zuschauerinnen und Zuschauer entpuppt sich die Eintrittskarte als Backstage-Pass. Die Bühne zeigt Rückseite und Garderobe eines Theaters. Das Raunen eines imaginären Publikums auf der Rückseite der Rückseite, also der Vorderseite der imaginären Bühne, lässt ahnen, dass die Vorstellung bald beginnen wird. Wir - das reale Publikum - in unserer Wirklichkeit sind Voyeure der realen Theatertruppe, die gegenwärtig vor uns - dem realen Publikum - agiert und in Kürze auch vor dem imaginären Publikum, das sich hinter der Bühne befindet, auftreten wird.

Wir - das reale Publikum - beobachten dabei - etwa so wie Krimikommissare durch verspiegelte Glasscheiben in den Verhörraum blicken, die Mitglieder der Theatertruppe, wie sie sich vor imaginären Spiegeln schminken und unterhalten; werden Zeugen kleiner und größerer Kabbeleien und Konflikte. Schnell stellt sich heraus, dass nichts so bleiben wird, wie es bisher war, denn das Theater soll abgeschafft werden, so dass die heutige Vorstellung die letzte sein wird. Was also tun, wenn die Welt Risse bekommt und alles ins Wanken gerät. Aufgeben? Yogalehrer werden oder noch einmal die beste Vorstellung aller Zeiten abliefern? Sich verpuppen und als Schmetterling einen Neuanfang wagen? Fragen, die offen bleiben, denn die imaginäre Vorstellung beginnt, das imaginäre Publikum will unterhalten werden und wir - reales Publikum - können nur in Ansätzen erahnen, was das imaginäre Publikum geboten bekommt.

Dann geschieht etwas Magischen in der Pause. Das Bühnenbild wird gedreht und das reale und das imaginäre Publikum verschmelzen zu einem einzigen. Die Ansätze werden zu etwas Ganzem, Bruchstücke der Handlung fügen sich zusammen. Es kann jetzt auch viel gelacht werden, aber in jedem Lachen steckt auch eine Ahnung der Vergänglichkeit und der Trauer über die Unzulänglichkeit alles Menschlichen. Diese Grundhaltung ist wird auch in allen Spielszenen widergespiegelt und erzeugt eine Stimmung heiterer Melancholie, wie sie im besten Fall auch für die gegenwärtige Lage der Welt angemessen erscheint. Wie allerdings die Steckenpferde in diese Analyse passen
hat sich mir nicht erschlossen. Das muss es aber auch nicht, denn das Stück lässt viele Deutungen zu.

Ein
Premiere.
wunderbarer und nachdenklicher Abend auf der Alb im kleinen Melchinger Theater mit einer Schauspieltruppe, die alles gibt, einer wunderbaren Location, eindrucksvoller Bühnenausstattung und tollen Kostümen.

Zurecht frenetischer Applaus für diese gelungene
Leserkritik: Eingeschlossene Gesellschaft, SHL
Am Freitag hatte die gesellschaftssatirische Komödie von Jan Weiler „Eingeschlossene Gesellschaft“ in der Regie von Jörg Gade in den Kammerspielen des SHL in Rendsburg Premiere. Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel von J. Weiler und war 2022 von Sönke Wortmann verfilmt worden. Die Uraufführung des Theaterstückes fand 2022 am Wolfgang-Borchert-Theater in Münster statt. Der Titel ist eine Anspielung auf das Drama „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre. In diesem Stück entlarven sich die persönlichen Abgründe dreier eingesperrter Personen, die konstatieren: „Die Hölle, das sind die anderen.“. Weilers Story ist folgende: Eines Freitagnachmittags klopft es an der Lehrerzimmertür eines Gymnasiums. Sechs Lehrkräfte sind anwesend: der beliebte Sportlehrer Peter Mertens (Gregor Imkamp), die gehasste Musiklehrerin Heidi Lohmann (Illi Oehlmann), der Vertrauenslehrer Holger Arndt (Kai Möller), der Chemielehrer Bernd Vogel (Felix Ströbel), der konservative Lateinlehrer Klaus Engelhardt (René Rollin) und die junge Referendarin Sarah Schuster (Annika Utzelmann). Vor der Tür steht der ehrgeizige Vater Manfred Prohaska (Dennis Habermehl), der erreichen will, dass sein Sohn zum Abitur zugelassen wird. Ausschlaggebend ist ein fehlender Punkt, den der Lateinlehrer keinesfalls geben will. Verzweifelt zieht der Vater eine Waffe und verschließt das Lehrerzimmer. Die Lehrkräfte sollen über die Vergabe dieses einen Punktes diskutieren. Doch schnell geht es nicht mehr um den Schüler, sondern es bröckeln die bürgerlichen Fassaden und jahrelang angesammelte Schmutzwäsche wird gewaschen, wodurch die persönlichen Abgründe der Lehrkräfte deutlich werden. Am Ende steht die Frage, ob diese Menschen überhaupt berechtigt sind, über einen Schüler zu richten. Mit geschliffenen Dialogen und spitzen Pointen wird dies erzählt, was für Lacher im Publikum garantiert. Die Bühne ein mit Landkarten vollgestopftes Lehrerzimmer und in Kostümen heutiger Zeit (Bühne, Kostüme: Martin Apelt). J. Gade inszeniert diese Komödie recht getreu am Drehbuch des Filmes. Der Lehrkörper wird mit Wortwitz und überzeichneten, klischeehaften Charakteren aufs Korn genommen. Im Zentrum der Lateinlehrer, dem ein grandios spielender R. Rollin das knarzig, schrullige Profil des unbelehrbaren Altsprachlers und pädagogischen Richters verleiht. Von ähnlichem Kaliber steht ihm zur Seite in glänzender Spiellaune I. Oehlmann als Französischlehrerin Lohmann, die Minderleister verhöhnt, an baseborn Schülern*innen keine Energien verschwendet und Fächer verachtet, die keine Kultur vermitteln. Gegenspieler sind der bei der Schülerschaft beliebte Sportlehrer auf Grund seines jovialen, antiautoritären Auftretens, das G. Imkamp pointenreich auf die Bretter zaubert und die Referendarin als Kritikerin am herrschenden Bildungssystem, die den Schulalltag revolutionieren möchte, wird von A. Utzelmann als selbstbewusste, selbstbestimmte Frau verkörpert. Kai Möller verkörpert präzis und überzeugend den Vertrauenslehrer und Problemversteher zwischen wechselnden Fronten da. Felix Ströbel brilliert als verklemmter und gemobbter Kollege im Kollegium. Ungeliebter Chemiepauker, in dessen Labor eine Versuchsanordnung brodelt - eine Zeitbombe - während im Lehrerzimmer die Geiselname läuft. D. Habermehl als besorgter Vater um die Zukunft seines Sohnes übt überzeugend Selbstjustiz. Am Beeindruckendsten fand ich im glänzend aufspielenden Ensemble R. Rollin und F. Ströbel. Diese sechs überzeichneten Charaktere liefern sich einen skurril, komödiantischen Mehrfrontenkrieg, der das Publikum bestens unterhielt und 120 Minuten im Fluge verstreichen ließ. Ein vergnüglicher Abend indem auf engstem Raum Weltansichten aufeinanderprallen - und Egos, jede Menge Egos. Enden tut dieses vergnügliche Spektakel mit einem Knall, den man selbst erleben sollte.
Leser*innenkritik: Dave, Berlin
"Dave", nach dem Roman von Raphaela Edelbauer, Regie: Wilke Weermann, DT Berlin Box

Als Raphaela Edelbauers Roman „Dave“ im Frühjahr 2021 erschien, schwärmten die Feuilletons von einem spannenden KI-Gedankenspiel und einem philosophischen Actionroman voller popkultureller und geistesgeschichtlicher Referenzen. Im selben Jahr erhielt die Wiener Autorin auch den Österreichischen Buchpreis.

Für die Box des Deutschen Theaters Berlin machte sich Wilke Weermann an die schwierige Aufgabe, aus dem Roman eine 100minütige Spielfassung zu destillieren. Wesentliche Passagen werden aus dem Off eingesprochen, als innerer Monolog der Hauptfigur Syz, die von Alexej Lochmann verkörpert wird.

Für jene, die die Romanvorlage und ihre Handlungsstränge nicht gelesen haben, bleibt die Stückfassung schwer zugänglich. Das Publikum wird mitten in die Dialoge eines Teams hineingeworfen, das an einem neuen Super-Computer arbeitet, Syz soll die Künstliche Intelligenz „Dave“ mit seinen ganz persönlichen Scripts (Kopien seiner Erfahrungen und Gefühle) füttern. Hektisch wuseln die KI-Laboranten über die von Alexander Naumann gestaltete kleine Bühne, werfen mit Fachbegriffen um sich.

Regisseur Weermann entschied sich für komödiantische Auflockerung: zu Beginn tragen die Hightech-Nerds klobige Schweißerbrillen, die zerstreute Professorin Babusch (Almut Zilcher), die in einem Kinderprogramm davor warnt, in die unberechenbare Außenwelt zu gehen, taucht regelmäßig auf einem alten, klobigen Röhrenfernseher voller Schlieren auf. Das restliche Ensemble (neben Lochmann sind dies Lorena Handschin, Bernd Moss und Lenz Moretti) unterstreicht seine Sätze durch skurrile Posen, für die in der Stückfassung exakte Regieanweisungen hinterlegt sind.

Syz dämmert langsam, dass er in einer Simulation gefangen ist, umgeben von Bots und eingezwängt in Loops, so muss Bernd Moss in der „Restaurant Himmelreich“-Szene kurz vor Schluss ständig Suppe für Lenz Morettis Figur Witteg servieren.

Das Projekt, einen preisgekrönten Roman zum Thema KI zu adaptieren, ist ambitioniert, die Theaterfassung von „Dave“, die am 29. Februar 2024 in der Box des DT Berlin uraufgeführt wurde, funktioniert aber nur sehr eingeschränkt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/01/dave-deutsches-theater-berlin-kritik/
Leserkritiken: "Club Amour", Berlin
"Club Amour", Pina Bausch/Boris Charmatz, Tanztheater Wuppertal, Performing Arts Season, Berliner Festspiele

Den Abschluss der ersten „Performing Arts Season“ bildete ein Tanz-Klassiker: Pina Bauschs Wuppertaler Klassiker „Café Müller“ war in einer restaurierten Fassung zu erleben. Sehr werktreu taumeln und stolpern die jungen Tänzerinnen und Tänzer durch das Labyrinth an Stühlen, das Rolf Borzik entworfen hat. Die Choreographie erzählt zur klagenden Barock-Musik von Henry Purcell von verzweifelten, einsamen Seelen, die nach Halt und Geborgenheit suchen und sich doch immer wieder verfehlen. Manchmal wird dies slapstickhaft, wenn ein Mann seine Partnerin im Loop immer wieder aus seinen Armen zu Boden fallen lässt. Mittendrin war in der Original-Inszenierung Pina Bausch, ihre Rolle tanzt nun Naomi Brito.

Viereinhalb Jahrzehnte nach der Premiere gibt es die Gelegenheit, mit der Wiederaufführung eines Klassikers als Reise in die Theatergeschichte zu erleben. Nach Bauschs Tod 2009 geriet ihr Ensemble in schwierges Fahrwasser, die Leitung wechselte häufig, seit 2022 führt der Franzose Boris Charmatz die Compagnie. Er ist dem Berliner Publikum von vielen Tanz im August-Gastspielen bekannt und vor allem auch durch die Arbeiten, die in Chris Dercons zu Beginn sehr löchrigem Spielplan während seiner früh abgebrochenen Volksbühnenintendanz im Sommer/Herbst 2017 auf dem Tempelhofer Feld zu sehen waren.

Es zeugt von nicht gerade geringem Selbstbewusstsein, dass Charmatz den Bausch-Klassiker mit zwei eigenen Frühwerken kontrastiert. Vor oder nach einer längeren Umbaupause wird das Publikum auf die Bühne gebeten: auf den drei Ebenen eines großen Stahlgerüsts von Gilles Touyard streifen zwei Tänzer und eine Tänzerin ihre Jogginghosen ab, behalten nur ein weißes T-Shirt an. Zum vorwärtstreibenden Alternative Rock der Britin PJ Harvey lassen sie ihre Körper zucken und zappeln: jeder für sich allein, isoliert. Als er dieses Stück „Aatt enen tionon“ im Februar 1996 in Frankreich herausbrachte, war Charmatz erst Mitte 20 und tanzte noch selbst mit.

Dies tut er auch beim Berliner „Club Amour“-Gastspiel im 15minütigen Ausschnitt „herses, duo“ aus „herses (une lente introduction)“, das aus dem Jahr 1997 stammt: Johanna Elisa Lemke und er halten sich an den Händen, purzeln dann engumschlungen über den Bühnenboden. Die Suche nach Geborgenheit und Intimität ist auch in diesem kürzesten Teil des Triptychons Thema.

Zu unverbunden stehen die drei Teile aus verschiedenen Zeiten nebeneinander. Das überwiegend ältere Publikum war jedoch dankbar, endlich wieder ein Stück der Ikone Pina Bausch zu sehen: für die einen ein Abend der nostalgischen Erinnerung, für manche andere eine erste Begegnung mit ihrem Werk.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/09/club-amour-berliner-festspiele-kritik/
Leser*innenkritik: Family Affairs, Stuttgart
»family affairs« waren schon vor Beginn der Vorstellung im Stuttgarter Studiotheater das individuelle Thema von Zuschauerinnen und Zuschauern in der Reihe hinter mir. Davon Details zu erzählen, wäre jetzt mehr als indiskret, obwohl diese nicht zu überhören waren. Aber das war nur ein Vorgeschmack auf das, was Gundi-Anna Schick, Eberhard Boeck und Paulina Pawlik auf der improvisierten Drehbühne entfesselten. Gundi-Anna Schick als dominante, herrschsüchtige, selbstgerechte, bösartige Mutter duelliert sich bis zum Äußersten mit Paulina Pawlik, ihrer erduldenden Tochter, die sich in Gefühlsverstrickungen hilflos windet, während sich der konflikscheue Vater, Eberhard Boeck, in als Demenz getarnte innere Emigration flüchtet.

Die Drehbühne dient dabei sowohl als Spielfläche für die verschiedenen Schauplätze, wie auch, metaphorisch gesehen, als Tretmühle dieser Familienstrukturen und als Instrument, Wut und Verzweiflung auszudrücken. Indem die überforderte Tochter in tödlichem Furor auf die katastrophale Entladung zusteuert, geschieht das dadurch, dass sie die Drehbühne wie ein Kinderkarussel auf dem Spielplatz oder wie ein steinernes archaisches Mühlrad mit purer Muskelkraft bis zur körperlichen Erschöpfung antreibt.

Family affairs ist ein hartes Stück, das einen letztendlich ratlos nach Hause schickt. Im Gedächtnis bleibt die schauspielerische Intensität bis zur totalen emotionalen und körperlichen Verausgabung.
Leser*innenkritik: Hedda, Berlin
"Hedda" von Henrik Ibsen, Regie: Heiki Riipinen, Berliner Ensemble/Werkraum

Nach einem sechsstündigen „Insomnia“-Trip durch die Welt der Trolle zum Spielzeitauftakt nahm sich Heiki Riipinen, Regisseur, Kurator und Dragqueen, zum Frauentag am 8. März einen Klassiker des 19. Jahrhunderts vor. In Ibsens „Hedda Gabler“ sind die Normen einer patriarchalen Welt so tief eingeschrieben, dass die Titelfigur keinen anderen Ausweg sieht, als sich ihr Leben zu nehmen.

Überraschend ist, wie nah Riipinen in seinem Abend, der „Hedda“ nach Ibsen überschrieben ist, an der Vorlage bleibt. Auf ein kurzes Intro im Foyer folgt eine Inszenierung, die bestes Schauspielertheater bietet und die Vorlage mit frischem, queerem Blick und einigen komödiantischen Überzeichnungen auf die Bühne bringt.

Eine der wenigen Abweichungen, die sich Riipinen und sein Team gönnen: Pauline Knofs Hedda liegt zu Beginn schon tot im Saal, als Tante Julle (Max Gindorff im gouvernantenhaften Drag-Look) ganz aufgekratzt hereinstürzt. In den zwei Werkraum-Reihen ist das Publikum sehr nah am kammerspielartigen Geschehen im Wohnzimmer der Familie Tesman. Hedda ist in dieser Inszenierung eine selbstbewusste Frau, die ihrem tölpelhaften Mann (Marc Oliver Schulze) deutlich überlegen ist und der die Aussicht auf ein Leben als Hausfrau und werdende Mutter in einem schönen Eigenheim zu langweilig ist.

Ibsens Hedda haben regelmäßige Theatergänger vermutlich schon mehrfach gesehen, legendär ist Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierung aus dem Jahr 2005 mit Katharina Schüttler, Lars Eidinger und Jörg Hartmann in schicken Glaskästen am Kudamm, die dort immer noch im Repertoire ist, aber selten gespielt wird. Riipinen gelingt es, einen frischen, sehr zeitgenössischen Blick auf diesen Klassiker zu werfen, der die tragische Verstrickung und die Komik der Figuren sehr klar herauspräpiert. Für dieses Experiment bekam er sehr erfahrene Spieler*innen aus dem Ensemble an die Seite gestellt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/22/hedda-berliner-ensemble-kritik/
Leser*innenkritik: I´m a girl ... , Berlin
"I´m a girl you can hold irl", Text und Regie: Zelal Yeşilyurt, Gorki Theater/Studio

Mit Ovid-Zitaten steigt Regisseurin Zelal Yeşilyurt überraschend in den Abend ein, findet dann aber einen Gorki-typischeren Zugriff: ihr Pygmalion (Tim Freudensprung aus dem Ensemble) ist ein KI-Forscher, der nach enttäuschter Liebe die Roboterin Galatea (Sofia Iordanskaya aus dem aktuellen UdK-Abschluss-Jahrgang) nach dem Ebenbild seiner Ex geschaffen hat. So kann der Abend nicht nur das Trend-Thema KI, sondern auch toxische Männlichkeit verhandeln.

Der schmale Text steuert recht schnörkellos und erwartbar auf eine feministische Lesart des Mythos zu: die KI nimmt Rache an den Unterwerfungsphantasien des Wissenschaftlers und emanzipiert sich von ihrem Schöpfer.

Sehenswert machen den Abend die ausgefeilten 3D-Animationen von Berfîn Karakurt, die das Intro prägen, und die Kamera-Einspieler von Luna Zscharnt. Das ist auf einem technischen Niveau, wie man es auf den Studiobühnen selten sieht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/24/im-a-girl-you-can-hold-irl-gorki-theater-kritik/
Leser*innenkritik: Dinge, die ich sicher weiß
Am 6.4.2024 hatte das Schauspiel „DINGE, DIE ICH SICHER WEISS“ des australischen Dramatikers Andrew Bovell in der Übersetzung von Maria Harpner und Anatol Preissler am SHL in Rendsburg Premiere. Das vielschichtige, humorvoll-melancholische Stück Bovells erstreckt sich über die vier Jahreszeiten eines Jahres, indem die Familie Price Identitätskrisen und Veränderungen erlebt.
Bovells perfekt konstruiertes Stück enthüllt die Erwartungen, Sehnsüchte und Begierden, die unter der Oberfläche einer idealen Mittelstandsfamilie brodeln. Er erzählt die Story in klarer Sprache geradeheraus, realitätsnah und gesellschaftskritisch mit Humor. Eine Alltagsgeschichte über Verbundenheit, Abhängigkeiten und die Komplexität des Familienlebens. Alles, was sich Eltern wünschen, ist dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen. Doch diese Erwartungen stimmen nicht mit der Realität überein – und die scheinbar ideale Familie stürzt ins Chaos. Das Leben ist halt unvorhersehbar, besonders in Familien mit erwachsenen Kindern und so begreift man schnell, dass es nur wenige Dinge gibt, die man sicher weiß. Dieses Familiendrama inszeniert Bettina Geyer im Bühnenbild und Kostümen von Merle Leuschner. Die Kostüme sind in Pastelltönen gehaltene Alltagskleidungen mit einer Grünpräferenz nur bei der Mutter überwiegen Blautöne. Das Bühnenbild ist funktional mit Sitzecke, Rollrasen, der an der Bühnenrückwand herabhängt und bei Bedarf auf den Bühnenboden ausgerollt werden kann, Skateboard Rampe, die auch zur Küchenzeile umfunktioniert wird und dem schachbrettartigen Bühnenboden mit beigen und grün wechselnden Quadraten sowie den Accessoires Rasenmäher, Bobby Car, belaubter Baum und einer Tür von ca. 100 cm Höhe. In diesem Setting kann die Regisseurin ein Fest für Schauspieler*innen arrangieren. B. Geyer erzählt die Geschichten dieser Alltagsfiguren holzschnittartig. Die Lebenslüge der Mutter Fran (I. Oehlmann) mit ihrer Dominanz wird sukzessive entlarvt. Im Laufe des Stückes offenbaren sich die Identitätskrisen der vier erwachsenen Kinder und verändern das Leben der Familie nachhaltig.
Rosie (J. Wollny), das Nesthäkchen, hat sich auf einer Weltreise in den falschen Mann verliebt. Der Versuch sich abzunabeln ist gescheitert und sie sucht wieder Zuflucht im elterlichen Hause.
Wollny spielt die Rosie etwas eintönig und klischeehaft, was aber der überwiegend monologischen Erzählweise geschuldet ist. Pip (A. Utzelmann) hat den richtigen Mann, der sich rührend um die gemeinsamen Kinder kümmert, doch ihre Liebe zu ihm ist verloren gegangen. Da auch Pip viel monologisch berichtet, bleibt auch in diesem Bild der Mutter-Tochter-Konflikt holzschnittartig. Dies ändert sich erst mit den Söhnen. Mark (S.R. Scholz) hat erkannt, dass er im falschen Körper lebt und eine Geschlechtsumwandlung zur Frau machen will. Jetzt beginnt das Spiel Fahrt aufzunehmen und die Konflikte zwischen den Personen werden sichtbar. Die Inszenierung gewinnt an Schärfe und die Konflikte fangen an einen zu berühren. Auch die Szene mit Ben (A.R. Schridde) einem Asset Manager, der Gelder seiner Bank hinterzogen hat führt zu starken emotionalen Bildern mit seinem Vater Bob (R. Schleberger). Am Beeindruckendsten in dieser Inszenierung sind aber die Eltern Fran (I. Oehlmann), die im Hause Price das Regiment führt und Bob (R. Schleberger), der Harmonie bedürftige Schlichter. I. Oehlmann und R. Schleberger haben das Spielfeld für differenziertes Spiel mit wechselnden Emotionen in allen Szenen und wissen sie voll zu nutzen. Sie geben diesem Abend das Gesicht insbesondere in der Szene ihrer Ehekrise, die durch den Umbruch des scheinbaren Familienidylls zu Tage tritt. Der teilweise restringierte Sprachcode sorgte im Publikum für Lacher, brachte aber die Inszenierung nie in Gefahr in eine Seifenoper abzugleiten. Am Ende nimmt Bob das Telefonat an und man erfährt, dass Fran tödlich verunglückt ist. Ein beeindruckendes Boulevardstück über das Beziehungsgeflecht Familie, das mit viel Beifall bedacht wurde.
Leserkritik: Malina, Berlin
"Malina" von Ingeborg Bachmann, Bühnenfassung/Regie: Fritzi Wartenberg, Berliner Ensemble

Das Neue Haus ist glücklicherweise nicht vom verheerenden Wasserschaden am Berliner Ensemble betroffen, so dass dort weiter gespielt werden kann. Die neueste Produktion ist dennoch sehr düster: Fritzi Wartenberg, die sich im vergangenen WORX-Jahrgang mit ersten Werkraum-Arbeiten, darunter Alias Anastasius, vorstellte, nahm sich einen Klassiker der feministischen Literatur vor. Ingeborg Bachmann erzählte in ihrem einzigen Roman vom Zusammenbruch einer Frau.

Die enormen Textmassen der Strichfassung verteilte die Regisseurin auf Spielerinnen aus drei Generationen: Maeve Metelka, die als gebürtige Wienerin in einer Szene auch die originale Sprachfärbung aus der Ungargasse, dem Schauplatz des Romans, einbringen darf, ist gerade im letzten Ernst Busch-Studienjahr. Neben ihr spielen im beigen Einheitslook aus Bob und Hornbrille die erfahrenen Ensemble-Mitglieder Constanze Becker und Josefin Platt.

Der 95minütige Abend hat mit dem üblichen Problem vieler Romanadaptionen zu kämpfen: fast ohne Dialoge prasseln Unmengen an Text auf das Publikum ein. Es handelt sich um das Selbstgespräch einer unglücklichen namenlosen Frau zwischen den Männern Ivan und Malina. Wesentliche Erzählstränge wie die Erinnerung an den Holocaust und die Schuld des Vaters wurden stark eingedampft, so dass manche Sätze ohne Kontext verloren wirken. Um so mehr konzentriert sich der Abend auf den feministischen Leidensweg.

Für die wenigen spielerischen Akzente in dieser wortlastigen Roman-Adaption sorgt der überdimensionale Telefonhörer, der Janina Kullmanns Bühne dominiert. Die drei Frauen, die auf die Anrufe von Ivan warten, turnen und krabbeln in ihrer Verzweiflung auf dem Apparat herum. Das sort für kurze „comic relief“-Momente in einer sehr düsteren, Konzentration fordernden Arbeit der jungen Regisseurin.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/10/malina-berliner-ensemble-theater-kritik/
Leser*innenkritik: La strada molesta, Berlin
LA STRADA MOLESTA, VIRTUAL REALITY PERFORMANCE von Silvia Albarella, TD

Die virtuelle und begehbare Performance "La strada molesta" von Silvia Albarella ist etwas ganz Besonderes: eine 3D Welt, die nicht von einem Computerprogramm berechnet ist, sondern komplett von Hand gemalt. Und zwar zuerst als Entwurf jedes einzelnen Bildes- etwa wie ein gezeichnetes Storybord beim Film – und dann noch einmal im Computer dreidimensional gemalt. Das sieht aus wie Skulpturen aus Pinselstrichen.

Diese Straße, die Strada molesta, belästigt die Menschen, bedrängt sie, hält sie in ständiger Alarmbereitschaft. Silvia Albarella beschwört in dieser Performance die Atmosphäre herauf, die im Neapel ihrer Kindheit geherrscht hat: die Gewalt, die in der Luft liegt, das Marktschreierische, Heißblütige, den Machismo. Während die meisten Schöpfer virtueller Realität versuchen, dass ihre Welt so echt wie möglich wirkt, plastisch, plausibel und realistisch, benutzt Silvia Albarella eine ganz andere Ästhetik. Alles ist skizzenhaft hingeworfen. Die Hauswände, zwischen denen man geht, sind bemalte Kulissen. Geht man um sie herum, zeigen sie ihre Hinterseite: flirrend weiße Leere. Das treibt einen zur rastlosen Suche nach der Wirklichkeit hinter den Kulissen, die, so fühlt man, einfach da sein muss. Man beginnt, die vielen Leerstellen mit eigenen Erinnerungen und Träumen zu flicken und gerät in einen Zustand, der erstaunlich nah an das Traumbewusstsein herankommt. Silvia Albarella gelingt, was auch T.S. Eliot den Besuchern seines "Wüsten Landes" verspricht: I show you fear in a handful of dust.

Die ganze Kritik finden Sie hier: gretelwallfisch.blogspot.com/2024/04/la-strada-molesta-virtual-reality.html
Leser*innenkritik: Der K. von Inishmaan, Reutlingen
Der K(rüppel) von Inishmann, von Martin McDonagh inszeniert von Marc von Henning im Theater in der Tonne, in Reutlingen.

Weil das Wort »Krüppel« heutzutage zum »K-Wort« degeneriert ist, taucht es im Begleittext, im Programm und auf der Theaterwebseite zurecht nicht auf. Im Stück selbst dagegen umso mehr und verletzt die Hauptperson - Billy -, einen Mensch mit Behinderung, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Ihm wird das Wort ständig um die Ohren gehauen, und das, obwohl er es sich jedesmal verbittet. Billy wird gespielt, oder eher nicht gespielt sondern »dargestellt« von Santiago Österle, der auch im richtigen Leben auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Billy lebt auf einer kleinen irischen Insel zusammen mit nur wenigen Einwohnern, von denen Alle fast alles von allen Anderen wissen, aber nur wenig von Allem was Außerhalb abgeht. Billys Traum ist es, die Insel zu verlassen. Diese Gelegenheit ergibt sich, als auf einer Nachbarinsel ein Hollywoodfilm gedreht wird. Aus dieser Konstellation entwickelt sich die Handlung in Form eines szenischen Hörspiels. Sämtliche Akteure stehen vor ihren Mikrophonen, vor denen jeweils Pappschilder angebracht sind, auf denen die Rollennamen geschrieben stehen. Eine Erzählerin beschreibt nun die Handlung. Einzig die wörtliche Rede wird von den Rollendarstellern und -darstellerinnen übernommen. Unterstützt wird der Hörspielcharakter durch Geräuschemacher, die ebenfalls auf offener Bühne agieren und etwa Meeresrauschen oder Teekocher akustisch in den Raum bringen. Auf den Bühnenhintergrund werden dabei Aufnahmen projiziert, die zu den jeweiligen Szenen passen. So ergibt sich ein Gesamtbild, wie ich es im Theater noch nie erlebt habe.
Wenn z. B. die Erzählerin vorträgt: „Helen geht zu Billy, beugt sich zu ihm hinunter und sagt:“…..
Dabei bleibt Helen regungslos hinter ihrem Mikrophon stehen und spricht ihren Text, ohne tatsächlich auf Billy zuzugehen, oder sich ihm überhaupt zuzuwenden. Trotzdem hört man die Schritte oder das Quietschen einer Tür.

Für mich als Zuschauer ist das schwierig, weil das, was in meinem Kopf passiert und das, was in der Wirklichkeit auf der Bühne nicht passiert, trotzdem irgendwie gleichzeitig passiert. Es wird einem, im übertragenen Sinne, der gewohnte Boden unter den Füssen weggezogen. Man fühl sich in seiner Rolle als Zuschauer irgendwie gehandicapt. Für mich schafft das eine besondere Verbindung zum Kernthema des Stückes und das ist für mich das ganz Besondere dieses Theaterabends.

Auch für die Darstellerinnen und Darsteller ist dieses Setting keine einfache Situation. Man bemerkt wie sie sich zwingen müssen, das nicht zu tun, was sie normalerweise bei einem üblichen Theaterstück mit Elan tun würden. Ihnen bleibt nur die Stimme um Stimmung zu erzeugen. Das gelingt ihnen erstaunlich beeindruckend gut, wenn auch die eine oder andere Geste nicht unterdrückt werden konnte.

Dass es in dem Stück auch noch um die großen Fragen des Lebens geht, sollte nicht vergessen werden : Zusammenhalt, Familie, Krankheit, Tod, Sehnsucht, Illusion, Verletzung, Mut und Ausbruch aus der Enge und einiges mehr haben die Herzen der Zuschauer berührt und erwärmt, was im eher kühlen Ambiente der neuen Spielstätte fast einem kleinen Wunder gleichkommt.

Eine wirklich außergewöhnliche Inszenierung von Marc von Henning, mit tollen darstellerischen Leistungen. Zurecht großer Applaus für alle Beteiligten!
Leserkritik: Cabaret, SHL Flensburg
Am SHL in Flensburg hatte CABARET eine bittere Gesellschaftsanalyse im Gewand eines Musicals nach dem Stück „Ich bin eine Kamera“ von J. van Druten und Erzählungen von Ch. Isherwood Premiere. Das Buch stammt von J. Masteroff, die Gesangstexte von F. Ebb, die Musik von J. Kander, die Übersetzung von R. Gilbert und die reduzierte Orchesterfassung von Ch. Walker. Das Stück spielt zur Zeit der Weimarer Republik, vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und passt gut in unsere Zeit, in der Menschen wieder nach einfachen Antworten suchen, die ihnen Populisten geben – und so die Gesellschaft zu spalten. Cabaret wird im SHL nicht vom Musiktheater sondernd vom Schauspiel performt. Eine kluge Entscheidung der Intendantin, da man mit den Ausstattungen der Musicaltheater an einer Landesbühne nicht konkurrieren kann. Die Musicalszene in London und New York zeigen, dass neue Musicals zunächst oft an kleinen Häusern gespielt werden, bevor sie zum pompösen Kassenschlager an großen Bühnen werden. M. Paulovics inszenierte das Musical in der Ausstattung von P. Arndtz und der musikalischen Leitung von F. Bundel beeindruckend mit den Mitteln einer Landesbühne. Sie inszeniert Cabaret als emphatisches Entertainment mit politischer Botschaft, die oft nur angedeutet wird. Die Besonderheit und Stärke ist, dass das Nazi-Regime fast unbemerkt im alltäglichen Leben der Protagonisten aufkeimt und nach der Pause der Kipppunkt zur Katastrophe nahezu unbemerkt überschritten ist. Wer hier nicht schreckhaft auffährt, hat es immer noch nicht begriffen! Währet den Anfängen! Der Kit Kat Club ist die Bühne und die anderen Spielorte werden mit Versatzstücken bei Bedarf auf die Bühne geschoben. Der Funke muss also von den Akteuren und der Musik auf das Publikum überspringen. Der Abend beginnt mit „Willkommen, bienvenue …“ des Conférenciers (T. Wild). Wow, was für ein Einstieg. T. Wild gibt dieser Figur seine persönliche Note in den eigenwilligen Songperformances. Er ist der windige Conférencier eines halbseidenen Cabarets, der sein Publikum zum ekstatischen Tanz auf dem Vulkan verführt. N.F. Maak als Sally Bowles mit ihrer eigenwilligen Interpretation aller Songs macht sie zu neuen, eigenen Songs. Tom Wild und Neele F. Maak kreieren die Songs neu und eigenwillig und dann brennt die Hütte bis in die letzte Reihe. Klug ist auch das Gastengagement der Kit Kat Girls (H.L. Schlewitt, L.R. Reinke, S. Wälti) um die Choreografie von Simona Semeraro voll zu entfalten. Die Story zwischen Fräulein Schneider (K. Winkler) und Herrn Schultz (R. Rollin) ist berührend und beklemmend. Auch die Story von Sally und Clifford (G. Imkamp) zeigt, dass Schauspieler*innen am Werk sind, die nicht primär auf sängerische Virtuosität setzen, sondernd eine Story erzählen wollen. So klingen bei der Darbietung der Songs immer wieder Stilelemente Brechts, Weills und Eislers an, was der Inszenierung einen besonderen Reiz verleiht. Ein Gewinn ist auch die fünfköpfige Kit Kat Band (D.J. Hansen, J. Joswig, J. Richter, H. Rüter, S Wright) die besser zum halbseidenen Cabaret passt als ein großes Orchester. Das glänzend aufspielende Ensemble wird vervollständigt durch F. Ströbel als Ernst Ludwig, F. Pasch als Fräulein Kost und D. Habermehl und T.I. Heise in weiteren Rollen. Der Song „Der morgige Tag ist mein” und dessen Reprise hätten im Sinne von E. Schleef und V. Lösch als energetischer Gesangskörper diesen theatralen Augenblick des aufblühenden Nazi-Regimes deutlicher konzentrieren und vergrößern können, um den Schecken vor totalitären Systemen zu vergrößern. Das Schlussbild erfüllt diese Aufgabe deutlich besser den Zuschauer physisch zu affizieren und das Publikum ins Spiel zu ziehen.
M. Paulovics hat mit CABARET gezeigt, dass im Theater die Identität unserer Gesellschaft verhandelt wird. Zunehmende Intoleranz und Populismus die unsere Demokratie bedrohen, verpackt im Entertainment. Mögen wir trotz Entertainment den Kipppunkt nicht verpassen. Bravo, Merci & Chapeau!
Leserkritik: La Cage aux Folles, Berlin
"La Cage aux Folles", Regie: Barrie Kosky, Komische Oper Berlin im Schillertheater

Der damals 17jährige Barrie Kosky war hin und weg, als er dieses Stück und seine Emanzipations-Hymne „I am what I am“ in New York erlebte, wie er im Programmheft-Interview sagte. Vier Jahrzehnte später lud Kosky sein Publikum zu einer Nostalgie-Reise ein. In seiner ersten Regie-Arbeit nach dem Ende seiner Intendanz an der Komischen Oper, der er als Hausregisseur mit zwei Inszenierungen pro Spielzeit weiter verbunden bleibt, bringt er das Musical mit großem Orchester, queerer Opulenz und 50 Drag Queens auf die Bühne.

Die Begeisterung für und die Ehrfurcht vor diesem Zeitdokument sind der Kosky-Arbeit deutlich anzumerken: er erlaubt sich kaum Aktualisierungen oder Eingriffe, obwohl der Plot sichtlich aus einer anderen Zeit stammt. Der Grundkonflikt zwischen dem Sohn Jean-Michel (Nicky Wuchinger), der sich vor dem reaktionär-rechtspopulistischen Politiker und. Schwiegervater in spe (Christoph Späth) dafür schämt, dass sein Vater Georges (Peter Renz) einen Drag-Club besitzt und mit seinem Hauptdarsteller Albin alias Zaza (Stefan Kurt) seit Jahrzehnten eine Beziehung führt, wirkt heute aus der Zeit gefallen. Mit der eingetragenen Partnerschaft und später der Ehe für alle hat sich unsere Gesellschaft glücklicherweise deutlich liberalisiert.

Kosky nimmt die Dramen seiner Jugend ernst und bietet vor allem seinem vom Sprechtheater kommenden Stargast Stefan Kurt eine Bühne für große Auftritte. Die Rolle der Zaza spielte er vor einigen Jahren auch an der Oper Basel und nun in den tollen Drag-Kostümen, die Klaus Bruns für diese Show entwarf.

„La Cage aux Folles“ wird bei Kosky zur großen queeren Nostalgie-Show in einem von Tom of Finland inspirierten Bühnenbild (Rufus Dwidwiszus). Die Rolle der Jaqueline, die als Verbündete für das Happy-end sorgt, besetzte er in der vergangenen Spielzeit mit Helmut Baumann, der den Broadway-1985 ans Theater des Westens im Herzen des damaligen West-Berlin holte und das Stück nicht nur inszenierte, sondern auch die Hauptrollle spielte. Statt des mittlerweile 84jährigen Ex-Intendanten spielt nun Angelika Milster die Jaqueline.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/14/la-cage-aux-folles-komische-oper-kritik/
Leser*innenkritik: Anne-Marie die Schönheit, Berlin
"Anne-Marie die Schönheit" von Yasmina Reza, Regie: Friederike Drews, DT Berlin

Mehr als zwanzig Jahre spielte er in den Ensembles von Uli Khuon, erst am Thalia Theater (2000 – 2009), dann am Deutschen Theater Berlin (2009-2023): der Österreicher Helmut Mooshammer. Eine der letzten Inszenierungen der Ära Khuon wurde vor einem Jahr zum Abschiedsgeschenk für diesen Schauspieler.

Das Publikum ist eingeladen, über den Bühneneingang, der der Öffenlichkeit sonst verschlossen bleibt, über steile, enge Treppen in den Raum 315 zu steigen. Dort wartet eine ältere Dame im graukarierten Rock: Anne-Marie Mille alias Helmut Mooshammer. Eine Stunde lang plaudert sie sich durch ihr Leben: eine Schauspielerin, die nie die ganz großen Rollen bekam, immer im Schatten der Stars wie Brigitte Bardot oder ihrer Freundin Gigi stand. Ihr Mann hat sie verlassen, alt und einsam blickt sie auf ihr Leben zurück.

Yasmina Reza, eine der meistgespielten Autorinnen der 1990er bis 2010er Jahre, hat diesen Monolog für einen Mann geschrieben, der auf mehreren deutschsprachigen Bühnen inszeniert wurde: in Freiburg spielte Robert Hunger-Bühler die Anne-Marie, am Münchner Residenztheater ist Robert Dölle in dieser Rolle zu sehen. Wohl nirgends wird „Anne-Marie die Schönheit“ so minimalistisch und intim gespielt wie in dieser Inszenierung von Friederike Drews am DT. Mooshammer braucht nur den Kaffeebecher, an dem er sich festhält, und die Garderobenschränke, aus denen diverse Utensilien eines langen Lebens purzeln, und sucht den Blickkontakt zu den Zuschauern, die direkt vor ihm sitzen. Auch durch einen alkoholisierten Mann, der nach der Hälfte des kurzen Abends alle Geduldsfäden so strapazierte, dass er vom Abenddienst hinauskomplimentiert wurde, ließ er sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Anne-Marie die Schönheit“ hatte am 1. April 2023 Premiere und wurde von Khuons Nachfolgerin Iris Laufenberg übernommen. Mooshammer ist als Gast außerdem noch in drei Inszenierungen von Bastian Kraft zu sehen: in „Biografie. Ein Spiel“, „ugly duckling“ und „As you fucking like it„, in den beiden letzten Rollen ebenfalls mit Drag-Auftritten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/15/anne-marie-die-schoenheit-deutsches-theater-kritik/
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