Vom Leid im Licht der Städte

von Sarah Heppekausen

Essen, 16. April 2013. Einmal bewegt sich ohne ein Zutun die Marshmallow-Tüte, sie rutscht ein wenig tiefer in sich zusammen. Völlig unspektakulär eigentlich. Ähnliches passiert im Alltag ständig und bleibt in der Regel unbemerkt. Nicht so bei Philippe Quesne. Da wird das kleine Knistern zu einem Ereignis, das Beachtung verdient. Zwei der Schauspielerinnen verharren kurz und regungslos in der Beobachtung dieser Tüte. Nicht, weil eine Dramaturgie das so vorgibt. Vielmehr, weil die Bühnenatmosphäre eben eine mit Aufmerksamkeitsüberschusssyndrom ist.

Eigensinnige Weltenbebilderung

Wenn der französische Regisseur und sein Vivarium Studio ein Stück entwickeln, wird zunächst mal improvisiert. "Manche Dinge sind durch Unfälle passiert", hat Quesne über eine frühere Arbeit erzählt, nach dem Prinzip "Trial and Error". Der ehemalige Set-Designer durchdenkt seine Performances eher visuell als intellektuell. Er lässt sich gern inspirieren von vorhandenem Material, von seiner realen Umgebung, von seinen Darstellern in dieser Umgebung. Sie erproben das Da-sein in seiner Zeitlichkeit. Und der Zuschauer wird einer langsamen, eigensinnigen Weltenbebilderung ausgesetzt, die den Blick auf außergewöhnliche Gewöhnlichkeiten lenkt. Zurückgeworfen auf die Einfachheit ist wieder Raum für große Entdeckungen.

Anamorphosis 560 VivariumStudio uEinmal die Welt durch eine Brille mit Visionssoftware sehen! © Vivarium StudioIn "Anamorphosis" begeben sich vier Frauen auf virtuelle Ereigniserwanderung. Mithilfe einer Visionssoftware und verkabelter Brillen antizipieren sie zukünftige Abenteuer. Die vier Schauspielerinnen der Tokioter "Seinendan Kompanie" – Quesne kreierte sein Stück in Japan, im Februar wurde es in Tokio uraufgeführt – gehören nicht zum bekannten Vivarium Studio-Ensemble und sind in ihrer Unangestrengtheit doch typische Quesne-Darsteller.

"Was tut der Wind, wenn er nicht weht?"

Einzeln kommen sie auf die kleine Bühne im Essener PACT Zollverein, ziehen sich die Schuhe aus, nehmen Schal und Mütze ab und gehen wohngemeinschaftlichen Beschäftigungen nach. Musik abspielen, Englisch lernen, ein leeres Aquarium anstarren. Nein, "starren" klingt eigentlich zu offensiv für dieses emotionslose Schauen. Den vieren ist die Nicht-Beteiligung zwar nicht annähernd so eindrucksvoll ins Gesicht geschrieben wie Serge in "L'Effet de Serge" (2007) – die Stimmung ist hier heiterer. Trotzdem ist Unaufgeregtheit wieder die Grundlage für wunderbare Glücksmomente.

So einen erleben die Bandmusikerinnen zum Beispiel beim geburtstäglichen Geschenkeauspacken, das ihnen naive Entzückungsschreie entlockt. Eine hatte das Festtagsvergnügen visioniert, sie bekommt unter anderem ein T-Shirt (mit der aufgedruckten Kinderfrage: "Was tut der Wind, wenn er nicht weht?") und eine handliche Nebelmaschine. Die Bühne ist selbstverständlich schon von Beginn an eingeräuchert, Nebel ist ein Quesne-Dogma.

Neuer Nebel, sphärische Musik

"Es fühlt sich an, als wären wir wirklich in der Natur", meint eine. Aber ihre Wald- und Wiesenwanderung ist genauso gefaked wie das Mini-Lagerfeuer, über dem sie ihre Marshmallows rösten. Die Städterinnen träumen sich aufs Land, schlagen ihr Zelt im Probenraum auf und entdecken dennoch lauter grün leuchtende Glühwürmchen. Aus Fantasie wird Erleben, aus Technik entsteht Atmosphäre. So wird Kunst gemacht.

Nach einer Biologiestunde in Sachen Leuchtkäfer, deren Fortpflanzung und Bioluminiszenz wird noch die Konsequenz immer heller leuchtender Städte erörtert: Die Glühwurmmännchen finden keine Weibchen mehr. Aber Worte sind keine Bedeutungsträger bei Quesne, sie sind Impuls für neue Bilder. Also werden die kleinen grünen Leuchtkäferlämpchen zu Laternen im Modell einer Hochhaussiedlung. Da herum wandeln dann die Darstellerinnen mit tänzelnden Stoffmeerestieren. Neuer Nebel, gedämmtes Licht, sphärische Elektromusik. Ein feierlicher Abgesang auf natürliche Lebensräume? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Quesnes Kunst beantwortet keine Fragen. Sie offenbart das Dasein als Möglichsein. Möglich wäre zum Beispiel, das Schlagzeug und die Gitarren zu bespielen, die auf der Bühne bereit stehen. Macht aber keine. Ihre Kunst ist eine scheinbare. Und die ist einfach schön anzusehen.

 

Anamorphosis
von Philippe Quesne / Vivarium Studio
Konzept, Bühne, Regie: Philippe Quesne, künstlerische Mitarbeit: Cyril Gomez-Mathieu, Technik: Aiko Harima.
Mit: Ami Chong, Yuko Kibiki, Makiko Murata, Mao Nakamura.
Dauer: ca. 75 Minuten, keine Pause

www.vivariumstudio.net
www.pact-zollverein.de

 

Kritikenrundschau

Philippe Quesne entwickle seine Theatersprache hier wundersam weiter, schreibt Max Florian Kühlem in der Rheinischen Post (18.4.2013). "Anamorphosis" treibe ein geschicktes Spiel mit den Erwartungen des Publikums. "Wie in einem Versuchslabor probieren die Frauen-Figuren ein naturverbundenes Leben, übernachten im Zelt, entdecken Glühwürmchen (…). Am Ende haben sie eine moderne Stadt im Schaukasten erschaffen, alle Gebäude krönt ein Glühwürmchen – und irgendwo steht ein verfallener Tempel. Ein Symbol für das Heilige, das wir verloren haben?"

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