"Wir sind unschuldig"

von Martin Pesl

St. Pölten, 20. April 2013. Er stellt sich vor und lächelt uns an. Verbindlich, freundlich, einnehmend. Und heißt auch noch Amor. Dass dieser sympathische junge Mann also dunkelhäutig ist und dennoch kein islamistischer Attentäter, das steht von Anfang an fest. Obwohl wir freilich wissen, dass er weiß, dass wir das denken könnten.

i call my brothers2 280h alexi pelekanos uJerry Hoffmann als Amor   © Alexi Pelekanos Viel Zeit zum Nachdenken jedoch lässt uns Michael Ronen in seiner Inszenierung des neuen Stückes von Jonas Hassen Khemiri nicht. In 70 Minuten erzählt Amor (Jerry Hoffmann) seine Geschichte, pausenlos, nahtlos und doch irgendwie unaufgeregt. Ronen ist Hausregisseur am Berliner Ballhaus Naunynstraße, das die Produktion im November übernimmt. Und damit ist gleich noch etwas klar: Der St. Pöltner Intendantin Bettina Hering ist mit der Koproduktion "I call my brothers" (an der auch das Berliner Maxim Gorki Theater mitmischt) in ihrer ersten Spielzeit ein prestigeträchtiger Coup gelungen.

Am Tag nach dem Anschlag

"Ich rufe meine Brüder. Ah, ich sehe, ein paar Schwestern sind auch dabei", beginnt der nette Amor schmunzelnd, und alle schmunzeln mit. Immer wieder im Laufe des Abends holt er das Publikum auf seine Seite, lässt es im Chor "Wir sind unschuldig", sagen, teilt die Fantasien mit, die ihn am Tag nach dem Anschlag beschäftigen. Anschlag? "Boston!", flüstert unweigerlich jemand im Publikum. Ja, diese Premiere hat sich in ein brennendes Aktualitätsnest gesetzt, denn die mit aller Polizeiwucht vollzogene Tätersuche nach den Bomben auf den Boston Marathon geht einem nicht aus dem Kopf. Dagegen ist hier konkret ein Anschlag in Stockholm 2010 gemeint, bei dem zwei Passanten verletzt wurden und der Attentäter selbst ums Leben kam.

Menschen als Elemente

Wie jener (und wie der Autor) ist Amor Schwede mit arabischen Wurzeln. Ein normaler junger Mann, vielleicht etwas unreif, teilt er doch die Menschen seines Umfelds gerne den Elementen des Periodensystems zu und nennt sich selbst das noch unbestimmte Ununtrium. Die Kusine im "zweiten Land" hält ihn für unzuverlässig, in die Sandkastenfreundin ist er allzu beharrlich verliebt, der beste Freund nervt, seit er ein Baby hat und in Elternzeit ist, wo er früher doch noch Helium war, weil mit ihm alles leicht ging. Amors Probleme, in Rückblenden erzählt, sind keine politischen, es sind fast niedliche Coming-of-Age-Geschichten, aber weil er aussieht wie jemand, den man für den Gehilfen des Attentäters halten wollen könnte, ist alles irgendwie anders.

Dabei, und das ist die Pointe dieses Textes, passiert eigentlich gar nichts an diesem Tag danach. Als Amor einem von Polizisten umzingelten "Bruder, der unsere Sprache nicht versteht" zur Hilfe eilen will, hat der Tourist einfach nach dem Weg gefragt. Die Verfolgung durch eine Polizistin findet womöglich nur in Amors Kopf statt, und er ist geradezu traurig, als sie ihn für unverdächtig erklärt. Denn wenn er in den Spiegel schaut, findet er sich selbst doch ziemlich verdächtig.

Zeichnungen spielen mit

Ob Paranoia oder echte Bedrohung, die Angst vor dem Racial Profiling in einer angeblich offenen Gesellschaft bleibt. Dazu assoziiert der Illustrator Olivier Durand Comichelden und düstere Graphic-Novel-Welten. Seine behutsam animierten Zeichnungen umgeben die Bühne von drei Seiten und sind kunst- und humorvoll in die Dramaturgie des Abends eingewoben; die Schauspieler interagieren mit ihnen, was den Text belebt und Tempo schafft. Damit etwa die Schauspielerin die Rolltreppe hinauffahren kann, muss nur das Bild der Rolltreppe hinunterfahren.

i call my brothers1 560 alexi pelekanos u Jan Walter und Jerry Hoffmann   © Alexi PelekanosAndererseits weisen die schwarz-weißen Comics gepaart mit Yavuz Akbuluts Musik auch auf eine gewisse, unbequeme, Simplifizierung. Der Illustrator als bedrohlicher Schwarz-Weiß-Maler, die Schwarz-Weiß-Malerei als Wurzel allen Übels. Vor der freilich auch der Autor nicht gefeit ist. Auch Khemiris eigene Figuren, wie die in ihrer Zurückweisung sehr selbstgefällige Angebetete, präsentieren sich ziemlich platt. Sogar der souverän durch das Stück erzählende Jerry Hoffmann scheint nicht den Auftrag zu haben, seinem Romantiker Amor viel Tiefe zu verleihen. Khemiris Botschaft allerdings ist das comichaft Vage durchaus dienlich: Die Gesellschaft vereinfacht nun einmal in rassistischer Manier, und den Einzelnen macht das verrückt.

Regisseur Ronen gelingt es, durchgehend einen Sog in den Moment aufrechtzuerhalten. Rasante Dialoge, Bildgewalt und entwaffnende Freundlichkeit beim Umgang mit den – zumindest bei der St. Pöltener Premiere vorwiegend bürgerlichen – Zuschauern gehen makellos ineinander über, sodass diese erst im Anschluss ein diffuses kollektives Schuldgefühl bei sich feststellen, davongehen und weiter an Boston denken, aber irgendwie anders.

 

I call my brothers – Ich rufe meine Brüder (DSEA)
von Jonas Hassen Khemiri, Deutsch von Jana Hallberg
Regie: Michael Ronen, Ausstattung: Sylvia Rieger, Illustration und Animation: Olivier Durand, Video: Benjamin Krieg, Hanna Slak, Guillaume Cailleau, Musik: Yavuz Akbulut, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Jerry Hoffmann, Jan Walter, Marion Reiser, Nora Abdel-Maksoud. Länge: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.landestheater.net
www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Kritikenschau

Gelungen finden Elisabeth Hochwarter im Standard (22.4.2013) die deutschsprachige Erstaufführung von "I call my brothers". Dass sich Jugend- und Migrantensprache mischten, überzeuge allerdings nicht restlos. Neben Sprache und Thema sei auch das Bühnenbild jugendgerecht: Vor dessem Schwarzweiß führe Amor "den Zuschauer in die Grauzonen der Wirklichkeit".

 

 

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