Fußnotenhimmel im Jenseits

von Grete Götze

Marburg, 20. April 2013. Die rechte Bühnenhälfte, auf der Purl Schweitzke und Lum leben, sieht überschaubar aus: Purl steckt mit den Beinen bis zum Knie in Heimwerker-Rindenmulch, er kann nur senkrecht knien oder nach vorne gekippt auf dem Bauch liegen. Und Lum kommt durch seine mit einem Gürtel zusammengeschnürten Beine auch nicht recht voran mit seiner Gartenarbeit. Die Beiden sind zwei verkrüppelte Figuren in Wolfram Lotz' zweitem Stück "Einige Nachrichten an das All", wie sie auf einem Zettel lesen müssen, der ihnen auch nicht erklärt, warum sie da sind. Damit sie sich keine Sinnfragen mehr stellen müssen, wollen sie zusammen ein Kind bekommen – eine genauso lustige wie tragische Vorstellung.

nachrichtenausdemall1 560 ramon haindl uLdF, Brit und die himmlischen Fußnoten in "Einige Nachrichten an das All" © Ramon Haindl

Wäre da nicht der Leiter des Fortgangs, der LdF, der erklärt, dass für Purl und Lum laut Stück kein Kind vorgesehen sei. Der Lackschuh tragende Bühnenmagier erklärt ihr Schicksal kurzerhand für besiegelt und die linke Bühnenseite zur Showfläche. Nur keine Leere entstehen lassen, Unterhaltung ist alles, lautet das Motto des Conehead-Kopfes im schrillen Tierprint-Anzug. Denn diese Leere, diese Angst vor der eigenen Sterblichkeit, die er mal hatte, möchte der LdF nie mehr spüren. Untermalt von schlechtester Quizshow-Musik und pastellrosa Licht schildert er vorwärts, rückwärts und seitwärts trippelnd alle Versuche, die er seitdem unternommen hat, um keine Angst mehr zu bekommen: Zum Beispiel hat er Praktika absolviert oder Wildwasserrafting gemacht oder Rhönradturnen oder Computerspiele programmiert, oder oder oder... Dieser Monolog, der in seinem nicht enden wollenden Aufzählungskapitalismus an Philipp Löhles "Genannt Gospodin"-Supermarkt-Monolog erinnert, beschert dem immer schriller werdenden Leiter des Fortgang am Ende seines verbalen Ergusses zu Recht Zwischenapplaus.

Sehnsuchtsbekundungen im Fatsuit

Dieser Applaus ist es aber auch, der die Marburger Theaterbesucher selbst entlarvt in ihrer unkritischen Lust, sich unterhalten zu lassen und sie derart zu Protagonisten macht. Sie gehen dem LdF genauso auf den Leim wie seine Bühnenfiguren aus Historie und Medien, die auf einer Zirkustrommel Ein-Wort-Botschaften über einen von der Decke hängenden Lautsprecher ins All senden können. Da ist zum Beispiel Britt, "Die dicke Frau" aus der Talkshow, in Marburg urkomisch verkörpert von Stefan A. Piskorz. Sie steht verschämt auf der Trommel, greift sich dauernd an ihr pinkes Fatsuit und erzählt mit zunächst fiepsender Stimme, was sie in der Talkshow gesagt hat: Dass auch sie Augenblicke des Trostes in dieser misslungenen Welt haben möchte. Und dass sie plötzlich das tiefe Gefühl gehabt habe, ein Rosenstrauch zu sein. Dass diese Sehnsuchtsbekundung aber aus der Sendung herausgeschnitten worden sei.

Sie ist so absurd und passt so wenig ins Konzept des Leiters des Fortgangs, dass er die Frau sofort von der Vorderbühne jagt. Hinter eine Leinwand aus Metall, von der aus kommend Piskorz auch den Alleinerziehenden Klaus Alberts, den amerikanischen Forscher Rafinesque und den halbnackten Politiker-Händeschüttler Ronald Pofalla spielt. Zwei weitere Schauspieler verkörpern von hier aus Figuren wie Heinrich von Kleist und Schwester Inge.

Spiel mit den Ebenen und Grenzen

Die Fußnoten in Lotz' Stück, lyrische Einschübe, die nicht unbedingt zum gerade gesprochenen Text passen, sprechen die Schauspieler in eine Kamera, die ihr Bild schwarz-weiß auf die Leinwand wirft. So entstehen insgesamt drei Inszenierungs-Ebenen: vorne rechts jene von Lum und Purl, vorne links die Show-Ebene des LdF und dahinter die Leinwand als Fußnoten-Himmel im Jenseits. Gemeinsam haben die Figuren der drei Ebenen aber, dass sie, so unterschiedlich sie sich dagegen wehren, sowohl Gefangene ihres Stückes als auch Gefangene ihres Lebens und ihrer Wünsche sind. Purl, der sich die ganzen 90 Stückminuten über unbeweglich glaubte und nur immer wieder seinen unerfüllbaren Verlangen nach einem Kind und einer so entstehenden eigenen kleinen Welt äußerte, steht am Ende einfach auf und verlässt die Bühne. Hätte das Leben vielleicht ganz anders laufen können?

Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, mit denen zu spielen das Stück einlädt, tippt Regisseur Jonas Knecht sanft an. Er lässt die Protagonisten danach fragen, ob ein Stück eine Handlung braucht oder ob ein Schauspieler im Monolog unterbrochen werden darf. Die Inszenierung will sich in dieser Frage aber nicht überbieten. Im Zentrum des Abends stehen die Schauspieler mit ihren komisch-tragischen Figuren. Jeder von ihnen zeigt auf seine Weise, wie unwichtig der Inhalt ihrer erzählten Geschichten ist, wie zufällig das Leben Rollen verteilt und wie schwer das in seiner Sinnlosigkeit auszuhalten ist. Wie witzig und leicht es trotzdem sein kann, darüber einen Theaterabend zu sehen.


Einige Nachrichten an das All
von Wolfram Lotz
Regie: Jonas Knecht, Bühne und Kostüme: Markus Karner, Musik: Boris Hegenbart, Dramaturgie: Florian Heller.
Mit: Ogün Derendeli, Timo Hastenpflug, Stefan A. Piskorz, Marina Schmitz, Tobias M. Walter, Charles Toulouse.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

theater-marburg.com

 

Kritikenschau

Das Stück frage nach der Freiheit des Handelns in einer Welt, in der alles bereits vorgegeben scheine, so Vera Zimmermann in der Oberhessischen Presse (22.4.2013). "Dass wir Zuschauer eines Theaterspiels sind, daran lässt die Inszenierung übrigens keinen Zweifel. Immer wieder wird darauf hingewiesen, etwa wenn Lum im Rindenmulch eine Seite des Manuskripts findet und seinen Text mit monotoner Stimme vom Blatt abliest, was Purl zu spontanen und witzigen Antworten veranlasst - die aber natürlich alle bereits im Text vorgegeben sind." Dafür, dass der Abend darüber hinaus nicht zur drögen Philosophie-Vorlesung verkomme, sorgten "die gefühlvoll agierenden Toulouse und Walter, die Lum und Purl mit einer naiven Warmherzigkeit ausstatten, die zu Herzen geht".

Knecht gelinge trotz (oder gerade wegen) seiner Schwerpunktsetzung auf die Irrungen und Unterbrechungen des Stücks "eine runde und sehenswerte Vorstellung", so Tobias Welz in der Gießener Allgemeinen (23.4.2013).

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