Ein einziger Ödipuskomplex

von Falk Schreiber

Hamburg, 20. April 2013. Es war nicht alles schlecht. Zuletzt hatte man den Eindruck, dass man vom Hamburger Schauspielhaus grundsätzlich nichts mehr erwarten dürfe, weswegen die bei aller berechtigten Kritik durchaus vorhandenen Qualitäten des Hauses völlig unter den Tisch fielen. Aber, wie gesagt, nicht alles war schlecht. Zum Beispiel, dass sich hier immer wieder interessante Schauspielerpersönlichkeiten in den Vordergrund spielen konnten: Jana Schulz, die eine todernste Körperlichkeit auf die Bühne brachte. Marion Breckwoldt, die fluchend und schwitzend Weiblichkeitsklischees den Mittelfinger zeigte. Oder Samuel Weiss, ein Ironiker vor dem Herrn, der im Zweifel alleine eine misslungene Inszenierung über die Ziellinie retten konnte.

rittindiesonne2-560 kerstinschomburg uEnsemble mit Bar und elektrischem Bullen © Kerstin Schomburg

Weiss hat schon mehrfach selbst Regie geführt, und er verantwortet auch die letzte Inszenierung, bevor sich das Ensemble auflöst, weil die neue Intendantin Karin Beier im November das Haus neu aufstellt: "Ritt in die Sonne", weniger ein Stück, eher eine Assoziation. In die Sonne reitet der Westernheld, nachdem sein Job getan ist – die Bösen (und einige von den Guten) sind tot, das Städtchen liegt in Schutt und Asche, die Ideale ebenso, aber Richtung Westen, Richtung Sonnenuntergang geht's weiter.

Die Geister von Gründgens und Goebbels

Das Bild des Ritts in die Sonne ist ein Bild der Hoffnung, und Weiss ruft diese Hoffnung ab, wenn er zu Beginn das (beinahe) vollzählige Ensemble aus der Unterbühne nach oben schweben lässt, in einen angedeuteten Saloon mit Bar und elektrischem Bullen (Bühne: Ralph Zeger). "Wir sind die, welche dachten, es würde immer weitergehen", skandieren die Darsteller, aber schon die Landkarte beweist, dass jeder Ritt in die Sonne irgendwann am Pazifik enden muss, und da geht es dann nicht mehr weiter, da muss man neue Ziele suchen. Wie auch die Schauspieler: Kaum einer von denen, die da auf der Bühne stehen, wird im Herbst noch am Schauspielhaus sein. (Ironischerweise bleibt ausgerechnet Weiss, der Regisseur des Abends.)

Also macht sich Resignation breit. Michael Prelle haut sich eine Flasche über den Schädel, Martin Pawlowsky singt "Der Wind hat mir ein Lied erzählt", verschwindet hinter der Bühne und begegnet dort den Geistern von Gründgens und Goebbels, Maria Magdalena Wardzinska fragt sich, wie lange es sich wohl anfühlt, eine Minute nackt auf der Bühne zu stehen. Und nach und nach schält sich die Struktur des Abends heraus: Jeder bekommt noch einmal Gelegenheit für ein kurzes Solo, ein paar Minuten nur, aber immerhin.

Fresst doch Euer Niveau!

Was als Idee sympathisch klingt, langweilt aber nach einer Weile. Auch weil die meisten eben doch nur singen, Sören Wunderlich Tocotronic, Juliane Koren Charles Trenet. "Ritt in die Sonne" rutscht langsam in Richtung der am Schauspielhaus so beliebten wie austauschbaren Liederabende, und irgendwie hätte man sich hier doch etwas mehr Schärfe gewünscht, etwas mehr Wut, Frust, Ehrlichkeit. So swingt sich die Inszenierung einfach nur nett und harmlos durch die Szenen.

Szenen, die allerdings immer wieder überraschenden Charme aufblitzen lassen, gerade wo nicht musiziert, sondern Dönekes erzählt wird. Tristan Seith gibt dann das Tier, das am liebsten Schubert singen wurde, aber die bösen Regisseure erwarten immer nur Triebgesteuertes, und die Kritiker ("Ja, ich weiß schon, dass ihr alle da seid!") werfen eben das hinterher dem Schauspieler vor. Julia Nachtmann traut sich, dem Publikum eine peinsam lieblose Szene hinzurotzen, in der ein Teddy zum Leben erweckt wird, der eine Prinzessin küssen soll: Da, fresst, ist doch euer Niveau! Und Martin Wißner jagt durch seine gespielten Rollen, von "Hiob" über "Krabat" bis zum "Tatort", nur um am Ende festzustellen, dass jede Rolle doch nur das verkorkste Verhältnis eines Sohnes zum Vater thematisiert: das Theaterleben, ein einziger Ödipuskomplex.

Weiss als Regisseur macht hier freilich kaum etwas, außer den eher gewollten Westernbezug halbwegs durchzuhalten. Es entwickeln sich Bilder, das schon, aber doch eher zufällig. Am Ende wird David Byrnes "Road to Nowhere" gesungen, die Gitarre walzt schwer durch die Strophen, der Chor sitzt auf der Bar, und in der Mitte ruht Sandra Maria Schöner auf dem Bullriding-Tier, das sich langsam, träumerisch zu drehen beginnt – das ist ein Bild von cooler Schönheit. Aber es wird nicht aufgebaut, und Weiss weiß auch nichts wirklich damit anzufangen, er will einfach nur diesen Song singen, dessen Text für ihn zum Schauspielhaus passt. Und doch: Schlecht ist es deswegen noch lange nicht, dieses Bild. Überhaupt ist nicht alles schlecht.
 
Ritt in die Sonne
von Samuel Weiss / Ensemble
Regie: Samuel Weiss, Bühne: Ralph Zeger, Kostüme: Hannah Petersen, Musik: Jan Christof Scheibe, Dramaturgie: Kristina Ohmen.
Mit: Katja Danowski, Stefan Haschke, Janning Kahnert, Juliane Koren, Hedi Kriegeskotte, Hanns Jörg Krumpholz, Julia Nachtmann, Martin Pawlowsky, Michael Prelle, Julia Riedler, Sandra Maria Schöner, Tristan Seith, Jürgen Uter, Maria Magdalena Wardzinska, Samuel Weiss, Martin Wißner, Sören Wunderlich, Musiker: Johannes Wennrich.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

Kritikenrundschau

"Es war ein launiger, kein großer Abend." So fasst es Armgard Seegers den Abschiedsabend des Schauspielhaus-Teams in der Welt und im Hamburger Abendblatt (22.4.) zusammen. "Geheime Leidenschaften kamen da zum Vorschein, Verzweiflung über Regieeinfälle oder auch die ganz normalen Tücken des Schauspieler-Seins, wenn es um schnelle Umzüge oder Stimm- und Atemübungen geht." Eine "kurzweilige Nummernrevue" sei das, "deren Entstehung den Mitspielern offensichtlich großen Spaß gemacht hat". Nicht alles, was man höre und sehe, sei jedoch amüsant. "Schade eigentlich, denn es gibt kaum etwas Schöneres als Theateranekdoten." Und man sehe auch wieder, "was die größte Krux dieses Teams war (…): Es sind auch Schauspieler dabei, die diese große Bühne nicht im Entferntesten ausfüllen können".

Dagmar Fischer von der Hamburger Morgenpost (22.4.2013) hat die Premiere "pausenlos hochemotional und kurzweilig" unterhalten: "Was Sie schon immer über Theater wissen wollten, aber bisher nicht zu sehen bekamen", zeigten die 17 Schauspieler und ein Musiker in diesem Abschiedsstück.

"Ritt in die Sonne" dreht sich laut schreibt Peter Kümmel von der Zeit (25.4.2013) "um die Vergeblichkeit der Kunst". "Aber es macht den Scheiternden Spaß, davon zu handeln: Hier geht jeder ein bisschen der Angst, der Peinlichkeit entgegen. Man kann offen sprechen, man hat ja in dieser Stadt nichts mehr zu verlieren." Der Abend sei "unfertig und von schwankender Dichte, aber immer wieder blitzen Momente der Wahrhaftigkeit auf. Hier wird verraten, wie Theater gemacht wird. Und es wird verraten, was Theater kostet. Es ist gar nicht sehr teuer; es kostet nur das Leben seiner Spieler." In der Revue, die immer wieder große Momente habe, gehe es "um die Betriebsgeheimnisse eines liquidierten Betriebs". Wenn Samuel Weiß verrät, wie er sich selbst auf der Bühne zum Weinen bringt (indem er an die Brüste seiner an brustkrebs gestorbenen Mutter denkt), verspiele er "buchstäblich die eigene Haut, die eigene Würde. Doch er verrät viel über das Theater." Dieser "Ritt" sei ein Abschied, aber in seinen starken Momenten hat er den Mut eines Anfangs; leider viel zu spät".

Kommentare  
Ritt in die Sonne, Hamburg: das nächste Schinden
Ringelnatz schreibt, dass Kapitaen und Steuermann, nachdem sie die Mannschaften ueber Monate geschunden hatten, immer freundlicher wurden, desto naeher sie dem Heimathafen kamen. Die neue Freundlichkeit war allerdings keine Folge einer selbstkritischen Befragung. Vielmehr sollte sie den Geschundenen beim Vergessen aushelfen, auf dass diese sich bereitwillig auf ein naechstes Schinden einlassen.
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