Freejazz der Tomatenstauden

von Jürgen Reuß

Freiburg, im April 2013. Noch sind Löwenzahn und Hundekot die Hauptakteure auf der neuen Spielstätte des Theater Freiburg. Das liegt daran, dass es auf der programmatischen Suche nach Zukunftspotenzialen für seine Zunft diesmal auf ein großes Stück Brachland namens Gutleutmatten gestoßen ist, das mit dem einsetzenden Tauwetter allerdings nicht nur von den Repräsentanten der darstellenden Kunst, sondern auch vom Frühling und den Hundehaltern des umliegenden Freiburger Stadtteils Haslach als Projektfläche für sich reklamiert wird. Vor drei Jahren begann auf den Gutleutmatten zur gleichen Jahreszeit noch geordnetes Kleingärtnergewusel. Dann beschloss die Stadt, das Kleingartenareal zu planieren und dort ein neues Wohngebiet auszuweisen. Die Kleingärtner waren schnell geräumt, aber der Baubeginn verzögerte sich. Zwei Jahre liegt das Land nun brach. Seitdem verrichten dort nur steuerpflichtige Hunde und der natürliche horror vacui des Biologischen regelmäßig ihr Geschäft.

Und jetzt das Theater. Wo im Herbst Bagger mit dem Aushub für den neuen Wohnraum beginnen sollen, will es in der Zwischenzeit einen "fliegenden grünen Teppich" für eine neue Form des "open air" ausrollen, nicht im Sinne von Massenveranstaltung, sondern im Sinne eines zeitweilig undefinierten Ortes "jenseits alltäglicher ökonomischer Prinzipien" unter einem wirklich "freien Himmel", der dort das zweckfreie Dazwischen zwischen "natürlichem Kunstraum" und "künstlichem Naturraum" überspannt – so jedenfalls die Ankündigung beim spielstätteneröffnenden Richtfest.

Natur als Mitspieler

Das Richtfest ist als Form für die erste Veranstaltung auf der neuen Spielfläche durchaus angemessen, denn bisher sind zunächst nur Aufbauten zu besichtigen: Ein Obstbaum, der rundum bis zur Krone von einem Erdwall umschlossen ist, oder eine Wiesenfläche, die aus der Verankerung gerissen und zu einer schiefen Ebene geneigt wurde. Eine Holzrampe ragt etliche Meter von der einen Seitenbegrenzung in das Gelände hinein, eine wie von einem Einsturzparanoiker mit einer Überdosis Gebälk gesicherte Höhle wölbt sich unter der Grasnarbe und ein akkurates Rasenrechteck wird von einem ebenso akkuraten Erdwall umschlossen, als wäre es ein Stadion für die nächste Maulwurfs-WM.

gutleutmatten 560 TheaterFreiburg uDie Kunst liegt auf der Brache: "Gutleutmatten" © Theater Freiburg

Tatsächlich hat das Theater die Natur durchaus als Mitspieler eingeplant, zunächst allerdings vor allem als unbezahlte Bühnenarbeiterin, der "Frisch bepflanzt"-Warnschilder die nötige Muße zur Erledigung ihres Jobs der Begrünung diverser Erdhügel verschaffen sollen, bevor die Bespielung richtig einsetzen wird. Das Holz für die Aufbauten stammt von einer weiteren Außenspielstätte des Theater Freiburg, dem Finkenschlag, einer ehemaligen Schluckerkneipe im Zentrum des Stadtteils, zu dem auch die Gutleutmatten-Wiese gehört. Die hat PVC, die Tanzsparte des Theater Freiburg, seit Oktober 2011 angemietet und mithilfe monatlich wechselnder internationaler Artists in Residence in eine Mischung aus sozioethnologischer Forschungsstation, künstlerischer Interventionszentrale und Utopiekaschemme verwandelt. Ausgehend von dem speziellen Sensorium des Tanzes versucht man dort seitdem in einer Art Langzeittheaterexperiment, die Choreographie der eigenwilligen und unfreiwilligen Lebensentwürfe, Mythen und sozialen Verhältnisse sicht- und erlebbar zu machen.

Palastfassaden auf der Wiese

Der kleine, mit 50 Leuten im Grunde schon überfüllte Raum hat sich seitdem zum Ort für unerwartete und besondere Momente gemausert. Ob Sandra Hüller dort erstmals mit ihren Lovesongs auftritt, Theaterautor Paul Brodowsky als Koch mit einem Mehr-Gänge-Menü für 3,50 Euro regelmäßig die übliche Geldwertlogik aus den Angeln hebt oder Choreograph und Tänzer Graham Smith einfach zum Tanztee bittet – nicht selten verlassen die Teilnehmer der Veranstaltungen den Finkenschlag mit dem unbestimmten, aber doch irgendwie beglückenden Gefühl, dass ein anderes Leben möglich ist.

Diese anderen Leben sieht man dem Finkenschlag auch äußerlich an. Je nach Artist in Residence verwandelt er sich in ein psychedelisches Kinderwunderland aus Schaumstoff, einen flüchtlingslagerähnlichen Bretterverhau oder, wie zuletzt, in ein Stadtpalais. Dafür hat ein Züricher Künstlerkollektiv die Frontseite mit einer sozialistisch anmutenden Palastfassade versehen. Deren Reste bilden nun die Grundlage für die Aufbauten auf den Gutleutmatten.

Kommunistischen Klosterparallelwelt

Die Weiterentwicklung auf dem neuen Areal ist durchaus symptomatisch für die tastenden Bewegungen, mit denen sich das Theater Freiburg unter der Intendanz von Barbara Mundel auf die Suche nach der eigenen Zukunft macht: Wie ist das, wenn man außerhalb der Zentrale des Großen Hauses ein weiteres Kraftzentrum installiert? Was tun Künstler, die in einem Stadtteil ausgesetzt werden und sich mal freudig, mal eher gequält, mal geradezu genial, mal einfach nur fleißig mit dieser ungewohnten Umgebung auseinandersetzen? Was tun die Anwohner? Welche Dynamiken entstehen? Wie reagiert die Politik? Darf man die Tanzsparte für solche Projektarbeit von der Zentrale abkoppeln?

Während auf den Gutleutmatten das Züricher Kollektiv die Fassade des einen Kunstortes in Akzente einer Freifläche umwandelt, hat das Theater die freischwebenden Konstruktion von PVC aufgelöst und die Tanzsparte wieder stärker ans Haupthaus gebunden. An den Außenspielstätten wird irgendwie anders weitergewuselt. So greift Club Real aus Berlin nun etwa die baulichen Vorgaben der Züricher auf, baut sie um, legt selber Schichten des Areals frei, entdeckt, dass die "guten Leute", die der Fläche ihren Namen gaben, Leprakranke waren, die dort jahrhundertelang in einer Art kommunistischen Klosterparallelwelt gelebt haben, entwickelt daraus die Idee zum Projekt "Der unsichtbare Kranke – oder was hat meine Einsamkeit mit der Politik zu tun".

Mit den Augen zum Himmel

Im Sommer wird Club Real dort in einem Aktionscamp probieren, ob sich individuelle Krankheitserfahrungen in exemplarisches politisches Handeln umsetzen lassen. Vielleicht wird die Wiederentdeckung des Leprosoriums in Freiburg der Beginn eines Wanderprojekts zu den Hunderten anderen Leprosorien, die es in Deutschland gab. Vielleicht sprießt daraus tatsächlich eine neue Bewegung zum Umgang mit Krankheit, Tod und Kapital. Die Keime wurden gelegt. Bis dahin werden auch die Keime des Urban Gardening, das die Rasenflächen vor dem Freiburger Theaterbau in eine Gartenkooperative verwandelt hat, gesprossen sein. Vielleicht wird man an beiden Orten dann dem "Freejazz der Tomatenstauden" lauschen können, wie es auf dem Richtfest auf den Gutleutmatten angekündigt wurde.

Und während die Zuschauer dann auf dem Rücken mit den Augen zum Himmel in unendlicher Langsamkeit auf einer Rollbahre die lange Rampe in das neue Open-air-Theaterareal hineingezogen werden, wobei ihnen Club Real Vergänglichkeit und andere Zukunftsoptionen näherbringen wird, mag daraus auch der eine oder andere kluge Gedanke zur Zukunft des Theater sprießen. Man darf gespannt sein auf die Ernte dieses biodynamischen Theaterexperiments. Die Beteiligten sind guten Mutes, nur in puncto Nachhaltigkeit sind sie skeptisch: Der große Tanker Stadttheater wird sich nicht allzu lange von den kleinen Beibooten schleppen lassen, die er zu Wasser gelassen hat. Auf Dauer müssen sie schon eine eigene Insel finden oder sie werden wieder eingeholt.

 

www.theater.freiburg.de
pvc-haslach.de
diegutenleute.com

 

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