Rrrevolution!

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 24. April 2013. Wieviele Lebensjahre an diesem Abend wohl insgesamt auf der Volksbühne versammelt sind? Es dürften ein paar hundert sein. Es handelt sich bei Johann Kresniks "Villa Verdi" ja auch um ein Altersheim, in dem ehemalige Künstler an ihrem Gnadenbrot mümmeln – der Abend basiert auf Daniel Schmids Dokumentarfilm "Il Bacio di Tosca", der in dem von Giuseppe Verdi gegründeten Mailänder Asyl für alte Opernsänger "Casa di riposo" umherschweift. Oder?

VillaVerdi3 560 ThomasAurin hAufstand der Alten – die Bewohner der "Villa Verdi". © Thomas AurinSchnell wird klar: Ums Gnadenbrot geht es in dieser Inszenierung, mit der Castorfs alter Glanzzeit-Kumpan Kresnik zum ersten Mal seit 2002 wieder an dessen Haus arbeitet, schon mal nicht. Gleich in einer der ersten chorischen Szenen pfeffern die papageienhaft aufgeputzten Villa-Verdisten ihre blechernen Suppenschüsseln auf den Bühnenboden und machen eine Percussion-Nummer draus. Diese paar hundert Lebensjahre kriegen eine gehörige Portion Wut zusammen. Jetzt geht es darum, diese Wut zu richten. Beziehungsweise zu verwandeln in Kunst – um die Villa Verdi, das alte Haus, zu retten. Was die mit dem Volkstheater Rostock zu tun hat, von dem die Alten auf einmal anfangen? Beider Niedergang kann sinnbildlich für den Niedergang des klassischen Vierspartentheaters stehen, dessen Fanal dieser Abend sein will. Aber auch noch mehr.

Die Oper lebt!

Wir wohnen als Publikum einer hastigen Generalprobe zur Rettungs-Gala der Villa Verdi bei, in der keine Szene zuende gespielt werden kann, denn die Zeit rennt. Eigentlich ist es sogar schon zu spät. Die Villa fällt bereits in sich zusammen. Während in einer Probenpause darüber diskutiert wird, ob Oper politisch sein kann, kommt der Kronleuchter von der Decke. Die übertrieben theatralen "Ah! Oh!"-Reaktionen darauf entlarven das vorhergehende Gespräch als Spaß an der Freude. Denn egal, ob Oper politisch ist oder nicht, und wer hier auf der Bühne eine dezidierte Meinung dazu hat und wer nicht, fest steht: Die Oper lebt. Und das gestandene Bühnenvolk befindet sich mitten in einer.

Mit allem, was dazugehört: wahnsinnigen Kostümen, großkotzigen Perücken, pathetischen Gesten, hölzernen Sprechdialogen. Und Musik. Von Verdi, Wagner – und Johann Strauss. Als dessen Prinz Orlofsky entsteigt Jochen Kowalski in der Mitte des Abends einem Schrank und tiriliert "Chacun à son goût" – Jeder nach seinem Geschmack. Damit gibt er ein weiteres Motto dieses Abends vor, der in seinen vielen starken Momenten ganz einfach und unbeschwert die Freiheit in der Kunst sucht, auf so vielen individuell probierten und erprobten Wegen, wie Darsteller auf der Bühne stehen. Ilse Ritter würde Frrreiheit sagen. Sie repräsentiert das Sprechtheater und ruft im schweren Nerz zur Rrrevolution auf. Im übrigen markiert sie sich selbst und quittiert die Hingerissenheit des Publikums davon mit kokettem Lächeln. Sie streckt dabei sogar einmal die Zunge raus!

VillaVerdi1 560 ThomasAurin hDer Tanz geht an Krücken: Yoshiko Waki sägt sich selbst den Fuß ab. © Thomas Aurin

Und wenn das Dach auch bricht

Auf so etwas würden die beiden Balletttänzer, die wie Aufziehpuppen über die Bühne wirbeln, bestimmt nie kommen. Die Perfektion ihrer Darbietung wird unmittelbar konterkariert von der drastischsten Szene des Abends, in der sich die Tänzerin Yoshiko Waki unter weitbogigem Kunstblutgespritze einen Fuß absägt. Dieses Direkt-Hintereinander sehr unterschiedlicher Bühnen-Ausdrucksmittel weitet die Vorstellungskraft – auch wenn, was dann folgt, ein bisschen arg dick aufgetragen ist: Waki humpelt als Der Tanz, so wie es ihm heute geht, auf Krücken, neben ihr siecht die schöne junge Sarah Behrendt als Die Oper Heute mit abgebundenen Beinen im Rollstuhl.

Eine schönere Variation seines Anliegens bietet der Abend ganz zum Schluss, wenn der Baldachin der Villa Verdi runterkracht und Jutta Vulpius einfach trotzdem weitersingt. Klar: The show MUST go on. Demnächst eröffnen Vegarrrd Vinge und Ida Müller im Prater der Volksbühne ein 12-Sparten-Haus. Man darf gespannt sein.

 

Villa Verdi
frei nach dem Film "Il Bacio di Tosca" von Daniel Schmid
Regie: Johann Kresnik, Text: Christoph Klimke, Komposition/Arrangements: Walter Haupt, Bühne: Marion Eisele, Kostüme: Erika Landertinger, Konzeptionelle Mitarbeit/ Musikdramaturgie: Joachim Rathke, Licht: Torsten König, Dramaturgie: Sabine Zielke.
Mit: Hildegard Alex (Johanna Edel), Sarah Behrendt (Nora Melrose), Annekathrin Bürger (Ebba Kühn), Cornelia Kempers (Anni Schmidt), Jochen Kowalski (Max Wallstein), Roland Renner (Antonio Ristuccio), Ilse Ritter (Maria Janson), Andreas Seifert (Karl Grün), Jutta Vulpius (Katerina Skolonski), Harald Warmbrunn (Hans Borowski), Osvaldo Ventriglia (Tänzer), Yoshiko Waki (Tänzerin), Frank Maus (Musikdirektor Kurt Leider), Sandor Farkas (1. Geige), Karl-Heinz Brößling (2. Geige), Erhard Starke (Bratsche), Daniel Roither (Cello), Studenten der Staatlichen Ballettschule Berlin und 30 Bewohner der Villa Verdi.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Von Johann Kresnik besprach nachtkritik.de zuletzt Sammlung Prinzhorn aus Heidelberg (Premiere im Februar 2012) und das von den Kommentatoren heftig diskutierte Fürst Pücklers Utopia aus Cottbus (Premiere im Oktober 2010).

Kritikenrundschau

Michael Laages schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (25.4.2013): Das Stück baue zum Glück recht wenig auf durchgehende Texte - die fixierten Passagen seien von kaum "unterbietbarer Dürftigkeit". Kresniks Hommage an Daniel Schmids dokumentarischen Film lebe "besser, intensiver und amüsanter" von den "lebendigen Erinnerungen der Beteiligten" und die "liebliche Altersmilde in Kresniks Arrangements" breche auch nur auf, wenn sich Osvaldo Ventriglia Hemd und Trikot zerschneide, als schneide er sich selbst die Haut vom Körper, und sich seine "Duo-Partnerin" einen Tanz-Fuß abschneide. "Villa Verdi" erzähle jenseits der Ausweglosigkeit auf der Flucht vor dem Alter und dem unabwendbar heraufziehenden letzten Vorhang auch vom "unbändigen Willen zum Überleben; oder, trauriger gesagt, vom Nicht-Abschied-nehmen-Können".

Michaela Schlagenwerth schreibt in der Berliner Zeitung (26.4.2013): Die Idee sei "genial", und was hätte man mit so einer Besetzung - "wirkliche Legenden" wie die 85-jährige einstige Koloratursopranistin Jutta Vulpius bei Walter Felsenstein oder die Schauspielerin Ilse Ritter oder Ann-Kathrin Bürger - und einem solchen Stoff für Möglichkeiten gehabt. Eine Verdi-Gala mit "einschlägigen Arien", alle Schauspieler trügen "bizarre Fundus-Kostümen", Schminktische würden zu Gehhilfen, es werde angesungen und wieder abgebrochen. Im zweiten Teil überlasse Kresnik seinen Stars die Bühne. Jutta Vulpius mit immer noch beachtlicher, nicht mehr großer Stimme aber "mit Spielfreude, Würde und Ausstrahlung", beeindrucke, besonders im Duett mit Jochen Kowalski, der wiederum dramatisch an Stimme verloren habe. Das wäre der Stoff gewesen: Die Kluft zwischen dem, was war und dem, was ist. Stattdessen folge Nummer auf Nummer, doll sei das nicht, aber auch "nicht langweilig", dafür sorgten die Stars.

Auch Christine Wahl in der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (26.4.2013) findet, dass bei dieser Idee doch eigentlich wenig schiefgehen könne, "oder?" Zumal angesichts der geballten "künstlerischen Kompetenz" in der Volksbühne. Doch statt das Potenzial auszunutzen, habe Kresniks Librettist Christoph Klimke den Abend "geradezu ärgerlich in Richtung Putzigkeit" verschoben. Großartige Schauspieler wie Roland Renner sprächen Sätze à la "Die Villa Verdi ist ein Symptom. In diesen Zeiten werden nach und nach alle Kulturinstitutionen geschlossen!". Jeder "x-beliebige Bühnenmonolog" wäre ein "eindrücklicheres Plädoyer gegen kulturelle Kahlschlagsbedrohungen" gewesen. Kresnik bebildere in der ihm eigenen Direktheit. "Punktuell interessant" werde es allenfalls dann, wenn die Rahmenhandlung verlassen würde und die Akteure tatsächlich nummernrevueartig ihre Kunst ausüben könnten.

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.4.2013): Die Stimmen seien "dünner" geworden, "die Kräfte geringer", die "Art zu singen, zu spielen, zu sprechen habe sich gehörig verändert". Einerseits seien die betagten KünstlerInnen "rührend bis besorgniserregend in der wilden Entschlossenheit, ihrer Berufung treu zu bleiben", andererseits sei das "ihr gutes Recht". Lose folgt Nummer auf Nummer, dazwischen werde über Politiker geschimpft. "Die Frauen schälen manchmal Kartoffeln, die Männer wischen den Boden, alle erinnern sich oft an längst verschwundene Aufführungen und Rollen." Realität und Fiktion vermischten sich. Am Schluss donnerten Kronleuchter und Plafond auf die Bühne herab, ein Schminktisch brenne. Johann Kresnik, noch "nie ein Regisseur der leisen Töne", versuche keine "theatralische Versöhnung der Generationen", sondern verweise auf "die kulturellen Schäden, die gesellschaftlicher Gedächtnisverlust nach sich zieht".

Als einen "Abend über alternde Künstler" versteht es Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (14.5.2013) – zunächst. Aber: Kresnik gehe es dabei nicht um Figuren, ihre Eigenheiten und Nöte. "Stattdessen setzt er auf Bilder." Das eigentliche Thema des Abends sei "die Abrechnung mit dem Kulturbetrieb". "Kresnik, so scheint es, inszeniert in 'Villa Verdi' vor allem sein eigenes Drama mit dem Älterwerden: dass die Zeiten sich ändern. Auch im Theater."

 

Kommentare  
Villa Verdi, Berlin: Publikum, das er verdient
Jedes Publikum bekommt die Aufführung, die sie verdient!
Was ist in Kresnik und Castorf gefahren? Wieder besseren Wissens inszenieren sie einen DDR-Nostalgie-Wohlfühlabend. Entsprechend angereist ist das Publikum und klatscht und lacht oder beides immer genau an den falschen Stellen. Nein das war kein revolutionäres Tanztheater wie in den 70er und 80er Jahren. Es war auch keine beeindruckende Gesellschaftskritik wie in den 90er Jahren an der Volksbühne. Billiger Klamauk wechselte mit Seufzern:So schlecht war es früher eigentlich eigentlich gar nicht bei uns. Wenn man beim Rausgehen den Zuschauern zuhört, dann weiß man , warum sie gekommen sind. Sie wollten ihre alten Legenden wiedersehen, das Stück jedoch sei ja leider sehr schräg.Beim Absägen des Fußes und dem anschließenden Tanz auf Krücken wurde herzlich gelacht oder sich kleinkindhaft geekelt (igitt). Keine Ahnung von Nichts...
P.S. Auch jeder Regisseur und Intendant bekommt nur das Publikum, was er verdient.
Villa Verdi, Berlin: selbstmitleidige Biederkeit
Uwe Fischer hat es genau so beschrieben, wie ich es erlebt habe (Aufführung am 10. Mai): Anbiederung, hölzerne Sprechmonologe und -dialoge und platte Agitation (Annekathrin Bürger, Roland Renner) von kaum zu unterbietender Dürftigkeit und Hilflosigkeit. Und im Publikum: Seeliges-besoffenes Einverständnis, ""Es war ja nicht alles schlecht früher bei uns...das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!" Ja, ein wirklich schönes Duett zwischen Jochen Kowalski
und Jutta Vulpius. Aber Kreativität und Komik? Oder ein liebevoll-verständlicher Blick auf die Alten? Absolute Fehlanzeige. Schade dieser lehrlaufende, uninspirierte Aufwand. Und traurig dieses Nicht-Abschied-nehmen-Können. Könnte man schnell vergessen, wenn es nur das Drama mit dem Älterwerden bei Kresnik wär. Aber dass nicht fühlen können und die selbstmitleidige Biederkeit dieser Vorstellung sitzen tiefer.
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