In jeder Ampel steckt ein Diktator

von Christian Rakow

Berlin, 24. April 2013. Gerüchteweise sollen Autofahrer, die sich zu sklavisch ihrer GPS-Navigation unterworfen haben, schon mal in einem Baggersee gelandet sein. Daher die gute Nachricht vorab: Alle rund 50 Freiluft-Theatergänger, die bei der Premiere "Remote Berlin" von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) von einer ebensolchen GPS-Stimme vom HAU weg quer durch Berlin gelenkt wurden, haben den Trip unbeschadet überstanden. Es gab allerdings mit Ausnahme eines künstlichen Teichs im Europacenter auch keine vergleichbaren Gefahrenquellen.

Mit Kopfhörern auf den Ohren geht es auf die gut zweistündige Tour, an einem frühlingssonnigen Premierennachmittag, der rein wettermäßig einen guten Vorgeschmack auf einige der Stationen geben dürfte, an denen diese internationale Koproduktion noch Halt machen wird (u.a. São Paulo, Avignon, Lissabon). Die Laune ist entsprechend gut, auch weil neben Kaegi selbst zahlreiche Künstler der freien Szene unter den Spaziergängern sind. Und weil man die Arbeit schnell als kleine, charmante Etüde wahrnehmen kann. Die Navigationsanweisungen und kleinen Infotexte werden als vorbereitetete Digital-Tracks situationsbezogen von mitwandernden Tour-Assistenten eingespeist (insofern ist das GPS hier eher ein Local Positioning System).

Uuuuund Jump!

Kaegi, der in seinen Recherchearbeiten immer wieder hochkonzentriert unvertraute soziale Wirklichkeiten und Berufsfelder ausleuchtet, bleibt dieses Mal in der Erkundung des öffentlichen Raumes erstaunlich oberflächlich. Die Gruppe passiert das Gebäude der Postbank und es wird im Kopfhörer kurz eine Rede von Angela Merkel zur Bedeutsamkeit der europäischen Union eingespielt. Das schrammt am Gemeinplatz.

RemoteBerlin1 560 StefanKaegi uGutgelaunter Schwarm schwimmt über die Ampel. © Stefan KaegiEinen Sog entwickelt "Remote Berlin" nicht so sehr im Blick in die Umgebung, sondern in der Choreographie des Gruppenverhaltens. Durch unterschiedliche Ansagen der herrlich synthetisch zusammengesampelten Navigationsstimme trennen die Stadtwanderer sich immer wieder, werden kurzzeitig zu Beobachtern und unwillkürlichen Spielern füreinander. Ein "Schwarmverhalten" sollen diese Herden-Tänze veranschaulichen, heißt es. Was weniger überzeugt. Dafür ist das Geschehen durch den Radiosender denn doch zu sehr zentral gesteuert, bleibt zu sehr Befehlskette. Aber die Theatralität der weichen, einfachen Gruppenbewegungen hat ihren Reiz.

Einen weiteren Schub Stadtraum-Theatralik gibt es dann im U-Bahnhof Möckernbrücke, wo wir zuschauen, wie Passanten von der Rolltreppe "ausgespuckt" werden. "Ein Stück voller Melancholie", meint die Radiostimme. Fürwahr. Anschließend folgt das Satyrspiel: eine U-Bahnfahrt, die mit dem befreienden Van-Halen-Klassiker "Jump" vom Band endet – und die Kühnsten unter den "Remote Berlin"-Pfadfindern verlassen denn auch wirklich mit einem weiten Luftsprung den Zug. Überhaupt: Das elektromusikalische, von Stadtgeräuschen durchsetzte und eben gelegentlich poppig aufgelockerte Sound-Design von Nikolas Neecke, das die Reise atmosphärisch einfärbt, ist das große Faszinosum dieser Arbeit.

Regime der Maschine

Gegen Ende der Tour in Charlottenburg nahe Bahnhof Zoo richtet Kaegi den Blick zunehmend auf das Regime der Maschine, die uns steuert. "Jede Ampelkreuzung ist eine kleine Übung in automatisierter Diktatur", heißt es nahe dem Deutschen Institut für Normung (DIN). Und spätestens wenn man dann auf Geheiß des Apparats keuchend einen 200-m-Sprint hinlegen muss, weiß man, was das besagt: dass der Mensch im digitalen Zeitalter zur peripheren Erweiterung der Maschine wird.

Der Beat des Automaten treibt uns schließlich ins Franziskus-Krankenhaus hinein. Wir passieren ein Kruzifix: "Sein Programmierer hat ihn ausgeschaltet", heißt es über Jesus. Und dann geht es hinauf aufs Dach. Im Kopfhörer erklingt der letzte Kampf des Menschen gegen den Super-Computer HAL (aus Stanley Kubricks Filmklassiker "2001 – Odyssee im Weltraum"). Der Blick streift über die Dächer Berlins. Kunstnebel wird gezündet, ein kleiner Raketenrauch. Aber das Haus bleibt stehen. Nur das GPS verabschiedet sich.

 

Remote Berlin
von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)
Konzept & Skript/Regie: Stefan Kaegi, Sounddesign: Nikolas Neecke, Co-Regie: Jörg Karrenbauer, Dramaturgie: Juliane Männel, Aljoscha Begrich, Regieassistenz und Grafik: Ilona Marti, Übersetzung: Daniel Belasco Rogers (Plan B Performances), Produktionsleitung: Juliane Männel, Lena Mody, Technische Leitung: Sven Nichterlein, Assistenz Produktionsleitung: Katharina Lauck, Assistenz Recherche: Caroline Lippert.
Tour-Guides: Philip Gann, Mirjam Malorny, Michael Schulz, Tour-Assistenz: Vivi Karsioti, Produktion: Rimini Apparat.
Dauer: 2 Stunden

Koproduktion: HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Maria Matos Teatro Municipal (Lissabon) und Goethe-Institut Portugal, Festival Theaterformen (Hannover/Braunschweig), Festival d'Avignon, Zürcher Theater Spektakel und Kaserne Basel. Eine Koproduktion von House on Fire mit Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Union. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds (Berlin). Unterstützt durch Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

www.hebbel-am-ufer.de

 

Mehr Wanderungen durch den öffentlichen Raum: Zuletzt sah nachtkritik.de das Open-World-Game T.R.I.P. in Schwerin. Ein großes Get-Togehter der Szene kuratierten Stefan Kaegi und Lola Arias 2010 mit dem international tourenden Event Ciudades Paralelas / Parallele Städte.

Kritikenrundschau

Patrick Wildermann schreibt auf www.tagesspiegel.de (25.4.2013, 17:44 Uhr), eine Gruppe von 50 Menschen zeige sich bereit, "die Kontrolle über Weg, Zeit und Ziel in die nicht existenten Hände der allwissenden Technik zu legen. Also quasi ein ganz alltäglicher Vorgang". Darum gehe es Kaegi: das Bewusstsein dafür zu schärfen, "wie fremdgesteuert" wir uns durch unser "geregeltes Dasein" bewegten. Die zunehmend dringliche Erkenntnisfrage dieser Wanderung laute denn auch: "Künstliche Intelligenz, quo vadis?" Nebenher erlebe man die "Stadt als Bühne". Auf dem U-Bahnhof Möckernbrücke werfe sich wie bestellt ein "renitentes Kind auf den Boden. Abgang der genervten Mutter nach rechts. Der Mensch ist des Menschen Performer." Allerdings wirke dieser urbane Parcours selbst mitunter wie genormt. Jedes Festival, das auf sich hält, habe heute solche Kopfhörer-Events im Programm. "Remote Berlin" erschließe keine "unentdeckten Seiten" der Stadt.

Doris Meierhenrich konstatiert in der Berliner Zeitung (26.4.2013), bald sei klar, trotz der Ansage der Stimme Julia im Kopfhörer, sie wolle verstehen -, müssten die Zuhörer Julias Anweisungen folgen. Von außen sähe die Kopfhörermenschenhorde wohl aus wie "ferngesteuert", von innen betrachtet sei dieses Fernsteuerungstheater ein teils subtiler, im Ganzen nicht ganz ausgereifter Versuch, "die Automatismen und schleichenden Manipulationen des Alltags bewusst zu machen". Man erkenne Stefan Kaegis "feinlistige Methode, denn allmählich mutiere auch die nette Menschensimulantin "Julia" in die "menschenverachtende Perfektionsmaschine" "Klaus". Wie immer bei Kaegi sei der Parcours "stimmig ausgedacht", trotzdem fehlten ihm im Vergleich zu seinen Vorgängern "Ciudades Paralelas" oder "50 Aktenkilometer" Momente "wirklicher Neuheit" und auch "der Freiheit, die auch das komplexere 'Selbststeuern' mit in den Blick nähmen". Es fände zu wenig Austausch statt zwischen "der Kopfhörer-Realität und dem Außen".

 

Kommentare  
Remote Berlin, Berlin: Leserkritik
Drei Jahre nach der Premiere von "Remote Berlin" am HAU und nach zahlreichen Stationen kehrt das Projekt von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) zurück nach Berlin.

Die neue Tour "Remote Mitte" wurde in Kooperation mit dem Gorki konzipiert und beginnt auf dem Invalidenfriedhof.

Mit Kopfhörern ausgestattet setzt sich eine buntgemischte fünfzigköpfige Gruppe in Bewegung, brav den Anweisungen des Navigationssystems "Julia" folgend.

(...)

Die Teilnehmer werden mit einem schönen Blick über Berlin für die Mühen (inclusive Sprint) belohnt. Der Erkenntnisgewinn des Kopfhörer-Stadtspaziergangs hält sich aber in Grenzen. Die Ausführungen von "Julia", die kurz vor Schluss von "Peter" abgelöst wird, sind oft zu banal. Auch die spielerische Auseinandersetzung mit Entscheidungsprozessen und Verhaltensweisen in Gruppen kratzt nur an der Oberfläche.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/07/theater-kritik-audiowalk-remote-mitte-mit-rimini-protokoll/
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